Bewusst anders - Georg Schweisfurth - E-Book

Bewusst anders E-Book

Georg Schweisfurth

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Beschreibung

Bio – fair – nachhaltig  Eigentlich waren Georg Schweisfurth und seine Geschwister prädestinierte »rich kids« einer Familie, die unter der Führung des Vaters Karl Ludwig Schweisfurth den größten fleischverarbeitenden Konzern Europas besaß. Wenn's um die Wurst geht, Herta - so hieß das damals. 25.000 Schweine und 5.000 Rinder wurden in der Woche geschlachtet, in Folie verpackt und in ganz Europa verkauft. Das fand statt auf der Basis von Massentierhaltung. Es führte zu steigendem Unbehagen bei der Familie und schließlich zu einem radikalen Kurswechsel. Nach dem Verkauf der Firma erfolgte der Einstieg in die ökologische Landwirtschaft, in den 1980er-Jahren, zu einem Zeitpunkt, als es dafür noch wenig Vorbilder gab und viele »Bio« einfach nur für eine Spinnerei hielten. Es dauerte einige Jahre und kostete schmerzhafte Erfahrungen, bis die neu gegründeten Herrmannsdorfer Landwerkstätten rentabel waren und es gelang, die liebevoll erzeugten Produkte auch gut zu verkaufen.   Georg Schweisfurth erzählt hier die Geschichte seines Lebens, er erzählt von seinen eigenen Unternehmungen und Projekten, aber auch von vielen anderen, die zeigen, wie viel jeder einzelne tun kann.  

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Seitenzahl: 197

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Georg SchweisfurthChristine Koller

Bewusst anders

Erfahrungen eines Öko-Pioniers

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe 2012

© 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41575-0 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-24951-5

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

»Über der Veränderung liegt stets ein Hauch von Unbegreiflichkeit.«

Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007)

INHALT

Vorwort

Teil der Natur

Begegnung mit dem japanischen Agrar-Revolutionär Masanobu Fukuoka

»Das ist die falsche Landwirtschaft!«

Hallo, Wurstfabrik!

Kindheit im Ruhrgebiet

Avantgarde & Bodenständigkeit

Kehrtwende

Zurück zur Natur

»Basic – Bio für alle«

Studienreisen

Ein Ausflug in die Medienwelt

Gründungsfeuer

Vier Freunde sollt ihr sein

Auf und Ab

Jetzt läuft's!

Begehrlichkeiten

»Basics« dunkles Kapitel

Lidl raus! oder Die Stärke der Konsumenten

Collaborative Consumption

Utopisches Engagement

»Mittagstisch für Kinder und Jugendliche« bei »Basic«

Jugendakademie »Oikos«

Greenpeace Deutschland

Utopia

Unternehmen und Nachhaltigkeit

Die Schweisfurth-Stiftung

Küchengarten, Gartenküche

Sehnsucht »Neo Nature«

Zurück zu den Wurzeln

Probe-Wohnen im Grünen

Moderne Visionen vom naturnahen Leben

Get basic!

Jesses-Maria, aufs Land!

Selbstversorgung

Vita

VORWORT

Der Name Schweisfurth steht heute für ökologische Pionierarbeit, für Nachhaltigkeit und ethische Werte. Meine Familie und ich haben lange vor den ständig wiederkehrenden Lebensmittelskandalen und ökologischen Katastrophen der letzten Jahre darüber nachgedacht, wie es weitergehen kann: wie es möglich ist, unsere Welt lebenswert zu erhalten und den Turnaround zu schaffen. Und wir haben gehandelt.

Ich war mehrere Jahre Geschäftsführer der »Herrmannsdorfer Landwerkstätten«, gründete das ökologische Tagungshotel »Gut Sonnenhausen« und mit ein paar Freunden die Bio-Supermarktkette »Basic«. Seit vier Jahren bin ich im Aufsichtsrat von »Greenpeace Deutschland«, ich engagiere mich in der »Umweltakademie München«, in der »Utopia«-Stiftung und beim Schweizer Ethikkomitee »Invera«, das große, börsennotierte Unternehmen auf Nachhaltigkeit hin analysiert. Ich bin Mitglied des Kuratoriums der von meinem Vater 1985 gegründeten »Schweisfurth-Stiftung«. Brachte sie zu Anfang vor allem über Vorträge und Seminare Bio-Bauern und Wissenschaftler zusammen, unterstützt die Stiftung heute unter anderem die Gründung von Lehrstühlen für nachhaltiges Wirtschaften und Tierethik, arbeitet an der Erstarkung regionaler Kreisläufe und macht Leitbildarbeit für das Lebensmittelhandwerk.

Beim Arbeiten für diese ökologische Wende wechselten sich Glücksphasen und Erfolge ab mit Fehlschlägen und Enttäuschungen. Das Leben ist keine Autobahn, sondern ein sich windender Weg in luftige Höhen wie in tiefe Täler. Man weiß nie, was hinter der nächsten Biegung auf einen wartet. Nie ist etwas ganz fertig, perfekt – alles ist im Fluss, in Wandlung. Dieses Buch ist eine Art Tagebuch über meine bewegte und längst nicht abgeschlossene Reise auf dem Weg, die Welt lebenswerter zu gestalten.

Bevor es dazu kam – vor dem ökologischen Richtungswechsel –, verdiente unsere Familie ihr Geld mit Lebensmitteln aus Massentierhaltung. Nämlich mit der Marke »Herta«. 25 000 Schweine und 5000 Rinder wurden pro Woche in der »Herta«-Fabrik geschlachtet, weiterverarbeitet und, in Folie verschweißt, in ganz Europa verkauft. Im Lauf von 50 Jahren hatten mein Großvater Karl und mein Vater Karl Ludwig aus der kleinen Ladenmetzgerei meines Urgroßvaters Ludwig im westfälischen Herten den größten fleischverarbeitenden Konzern Europas gemacht. Das hatte Folgen: Je weitläufiger die Handelsstrukturen, umso größer die Distanz zwischen Erzeuger, Verarbeiter, sprich Metzger, und den Kunden. Im Vordergrund standen Margen, Marktanteile und Preise, die Qualität blieb mehr und mehr auf der Strecke. Die wachsende Produktion war verbunden mit Massentierhaltung, die zur Missachtung der Würde und natürlichen Lebensform der Tiere führte. In unserer Familie gab es nächtelange Diskussionen. Was wir im privaten Bereich schätzten und lebten, war etwas vollkommen anderes als das, womit wir Geld verdienten. Meine ganze Familie, vor allem meine beiden Geschwister Anne und Karl, mein Vater Karl Ludwig und ich, war sich bewusst, dass wir für diese Tierquälerei mitverantwortlich waren. Immer häufiger war von Aufhören die Rede. Bis mein Vater 1985 einen Schlussstrich zog und die Firma an den Schweizer Lebensmittelgiganten Nestlé verkaufte.

Back to the roots. Die Vision meines Vaters war es, inmitten einer ökologischen Landwirtschaft einen Handwerksbetrieb zu errichten mit Metzgerei und Schlachthaus, Bäckerei, Käserei, Brauerei, Hofladen, Biergarten und Wirtshaus – ganz im Sinne der dörflichen Tradition, die immer mehr durch die Supermärkte an den Stadträndern verdrängt wurde und vielerorts verloren ging. In den ersten Jahren war ich bei der Entstehung der »Herrmannsdorfer Landwerkstätten« – mit einer Unterbrechung – voll dabei und mittendrin. Ein hartes Stück Arbeit! Denn die Umsetzung war alles andere als leicht. Damals waren wir Einzelkämpfer. Noch dazu wollten wir zu viele Ideen gleichzeitig realisieren. So sollte es ganze zehn Jahre dauern, bis sich nach einer langen Durststrecke endlich betriebswirtschaftlicher Erfolg einstellte. Von der Presse wurde die Kehrtwende als Wandlung vom »Saulus« zum »Paulus« gefeiert. Wir wurden zur Anlaufstelle der alternativen Agrar- und Umweltszene. Sogar internationale Größen wie Declan Kennedy, Bill Mollison oder Robert Jungk besuchten uns.

Da mein Vater jedoch andere Ziele verfolgte als ich und damit wir uns im Generationenkonflikt nicht aufrieben, schied ich 1993 als Geschäftsführer aus, um meinen eigenen Traum zu verwirklichen. Ich wollte eine Antwort auf die Frage finden: Wie kann man es schaffen, noch mehr Menschen mit Bio-Lebensmitteln zu versorgen und nicht bei drei Prozent Bio-Konsum stehen zu bleiben? Meine Recherche führte mich zuerst nach Yokohama zur Konsumentenkooperative Seikatsu Club Seikyo. Das Handelsunternehmen hatte in Stockholm den von Jakob von Uexkuell gestifteten sogenannten Alternativen Nobelpreis, den »Right Livelihood-Award«, verliehen bekommen, weil es zum Beispiel Kunden am Kapital beteiligte – das interessierte mich. In dieser Zeit traf ich in Tokio auch den Lebensstilforscher Toshihiro Imai und auf der Insel Shikoku den Agrarrevolutionär Masanobu Fukuoka. Beides waren Begegnungen, die meine Entwicklung und meine Weltanschauung tief beeinflussten. Anschließend reiste ich in die USA und nahm den Lebensmitteleinzelhandel unter die Lupe, um den Verkaufsgeheimnissen der Amis auf die Schliche zu kommen. 1997 war es dann – nach ein paar Geschäftsgründungen und Umwegen – so weit: Zusammen mit drei Freunden, die ich aus der Herrmannsdorfer Zeit kannte, gründete ich die Handelskette »Basic« in München.

»Bio für alle« war unser Slogan. Unser Ziel war, mehr Menschen für den ökologischen Gedanken zu gewinnen und Bio-Lebensmittel auch für die Menschen begehrenswert zu machen, die bislang eher Vorbehalte hatten. Auch hier waren einige schmerzliche Erfahrungen fällig, von der Standortfindung und Asbest-Altlasten in Läden, die wir eröffnen wollten, bis hin zu finanziellen Engpässen und persönlichen Enttäuschungen. Dennoch ging das Konzept auf. Wir vier waren Überzeugungstäter. Deshalb hielten wir durch und schafften es, die Bio-Vermarktungs-Szene zu revolutionieren. Wir waren Vorreiter und die Leute sahen, dass Bio in der Größe funktioniert. Aktuell gibt es 27 Märkte von Hamburg bis Wien.

2004 schied ich aus dem Vorstand aus. Das war sehr wahrscheinlich der größte Fehler. Denn ab diesem Zeitpunkt entwickelte sich das Unternehmen nicht nur anders, als es für mich gut und selbstverständlich gewesen wäre. Sondern auf der Suche nach einem passenden Investor haben die damals Verantwortlichen die Basis von »Basic« verlassen. Ich war fassungslos, als ich 2007 von den geheimen Verhandlungen mit der Schwarz-Gruppe (Lidl) erfuhr. Mir war klar, dass die anspruchsvollen, aufgeklärten Kunden diese Liaison nicht akzeptieren würden. Als die Beteiligung von Lidl durch eine Pressemitteilung bekannt wurde, bestätigte ihr wirkungsvoller Boykott der »Basic«-Läden, der zu schweren Einbußen führte, diese Vermutung. Die Folgen: Der Discounter verkaufte im Laufe eines Jahres alle seine Anteile wieder, und der Erfolg des Kundenwiderstands blieb positiv in Erinnerung. Die Auseinandersetzungen im Hintergrund hingegen haben alle viel Kraft gekostet und dem Unternehmen harte Jahre beschert.

Heute besitze ich noch einen guten, aber kleinen Anteil an »Basic« und betreibe das Tagungs- und Veranstaltungshotel »Gut Sonnenhausen« sowie eine ökologische Landwirtschaft mit einem eigenen Küchengarten für unsere ökologische Gutsküche. Zusätzlich engagiere ich mich ehrenamtlich für Natur und Umwelt. Mein Motto ist: Du bist als Mensch Teil der Natur und stehst nicht außerhalb von ihr. Du musst deinen Lebensraum mit allem, was du tust, beschützen. Wenn jeder mit anpackt und wir gemeinsam Hand in Hand loslaufen, schaffen wir das. Das kann man nicht nur dem »Staat« überlassen, dessen Politik oft von anderen Interessen beeinflusst ist. Obwohl es seine Aufgabe wäre, den Rahmen für ökologisches Wirtschaften zu setzen, etwa Steuern auf den Verbrauch von Umwelt zu erheben. Bis jetzt hat das niemanden gekümmert: Im Kapitalismus gilt die Natur als preisgünstiges, kostenloses Gut. Sie ist einfach da, hat keinen Wert, und ihr Schutz muss nicht in die Produkte eingepreist werden. Das muss sich ändern, wenn wir einen Umwelt-Kollaps abwenden wollen: Ohne ein intaktes Ökosystem können wir nicht überleben. Wir nicht und die Generationen nach uns nicht. Der staatliche Gesetzesrahmen ist dabei genauso wichtig wie die allmähliche Veränderung des Bewusstseins der Individuen.

Das heißt für uns alle, dass wir Stück für Stück unser Verhalten ändern müssen. Es geht da nicht nur um die Reduzierung des CO2-Ausstoßes. Was nutzen Autos mit weniger Benzinverbrauch, wenn der motorisierte Individualverkehr ständig wächst und beispielsweise die ökologische Belastung durch Erdölförderung in entlegeneren und ökologisch sensiblen Gebieten wie etwa der Arktik die Folge sind? Das reicht nicht.

Konsumenten haben durch ihre Kaufentscheidungen viel Macht. Das habe ich als Mitbegründer und Teilhaber von »Basic« selbst erlebt. Diese Power können wir nutzen, um zum Beispiel gemeinschaftlich zu konsumieren, wie Autos und andere Gebrauchsgegenstände zu teilen. Setzen Sie auf Second-Sale, Swapping, Genossenschaften, Consumer Supported Agriculture (CSA). Man kann sich ehrenamtlich engagieren oder als Förderer. Es gibt viele Möglichkeiten, wieder stärker mit und bei der Natur zu leben. Wie das geht, was sich im Einzelnen hinter CSA & Co. verbirgt, warum ich »Small is beautiful« und Ordoliberalismus gut finde, darum geht es in diesem Buch. Viele Projekte und Ideen gehören zu den Stationen meiner Lebensreise als Öko-Pionier, ebenso wie Ausflüge in die Geschichte der grünen Bewegung und ermutigende Beispiele von der Courage anderer Menschen, die etwas bewusst anders als alle anderen machten. Es ist einfach gut, über den Tellerrand zu blicken und sich inspirieren zu lassen.

TEIL DER NATUR

Begegnung mit dem japanischen Agrar-Revolutionär Masanobu Fukuoka

Er hatte einen langen, weißen Bart und war ganz klein und zierlich. Aber er strahlte Größe aus. Masanobu Fukuoka war 81 Jahre alt, als ich ihm 1994 das erste Mal begegnete; 2008 ist er mit 95 Jahren gestorben. Eigentlich Mikrobiologe, wurde Fukuoka mit seiner von ihm selbst so bezeichneten »Nichts-tun-Landwirtschaft« zum berühmtesten Bauern Japans. In der Zeitung las ich von seinen spektakulären Begrünungsaktionen in der Sahelzone. Dort hatte er aus einem Flugzeug lehmumhüllte Samenkapseln abgeworfen, um zu demonstrieren, dass selbst Wüsten begrünt werden könnten. Zusätzlich sorgte sein Bestseller ›Der große Weg hat kein Tor‹ weltweit für Furore. Darin ging er der Frage nach: Wie kann es gelingen, ein Leben im Einklang mit der Natur zu führen? Seine Antwort lautete: mit Permakultur. Das heißt, dass man mehrjährige statt einjährige Nutzpflanzen anbaut, um »permanent« – also jedes Jahr – ernten zu können. Fukuoka plädierte für eine natürliche Landwirtschaft, in der anders als in der modernen Landwirtschaft die menschlichen Eingriffe auf ein Minimum reduziert sind. Die Natur kann sich selbst erhalten, man muss nur ihre Kraft nutzen, das war seine Ansicht.

Es war nicht leicht, an den alten Herrn heranzukommen. Telefonisch konnte man ihn nicht erreichen und auf Briefe antwortete er nicht. Ich dachte schon, ich müsste mein Vorhaben wieder aufgeben. Auf einer Kimono-Show in Tokio aber lernte ich den Lebensstilforscher Toshihiro Imai kennen, später Sensei für mich, weil er mir ein wichtiger Lehrmeister wurde. Er half mir weiter. Japaner gehen gerne auf Studienreise, und so begleitete mich Imai auf meiner Reise nach Shikoku, der kleinen Insel im Süden Japans, auf der Fukuoka lebte. Ein befreundeter Architekt aus Tokio kam auch mit. Er sprach gut Englisch und bot an, zu übersetzen. Nur ganz wenige Japaner sprachen damals passables Englisch – auch Imai war der Fremdsprache kaum mächtig. Man verständigte sich durch Gestikulieren und gemeinsame »Anschauung«.

Im Mai 1994 flogen wir von Tokio nach Osaka. Dort holten uns Freunde aus Kyushu mit dem Geländewagen ab; Sawa-San war dort Landschaftsarchitekt. Mit der Fähre setzten wir nach Shikoku über. In dieser Gegend war es viel wärmer als in der nördlich gelegenen Hauptstadt. Die Menschen waren traditionell gekleidet und trockneten Tintenfisch und Seetang in der Sonne, um ihn haltbar zu machen. Ein Fischer erklärte uns den Weg zu Fukuoka. Fast eine Stunde schaukelten wir durch Bambuswälder und urwaldartiges Gesträuch, bis wir in Fukuokas wild wucherndem Berggarten ankamen.

Er trug blaue Baumwollhosen und eine blaue kimonoartige Arbeitsjacke – die landestypische Kluft der Bauern – und hatte einen Stapel Brennholz im Arm. Mit einer kurzen Verbeugung begrüßte er uns und lud uns ein, in seiner Hütte Tee zu trinken. Ich war tief beeindruckt. Nie hätte ich erwartet, dass die Lebensumstände des legendären Masanobu Fukuoka, der für sein Schaffen gar den Friedensnobelpreis des Fernen Ostens, den Ramon Magsaysay Award, erhalten hatte, so bescheiden waren. Er lebte in einer einfachen Hütte mit zwei Räumen, die Küche, Ess-, Wohn- und Studierzimmer zugleich waren. Auf dünnen Reisstrohmatten saßen wir um eine offene Feuerstelle herum, auf Fukuoka das Teewasser in einem Eisenkessel erhitzte. Ringsherum auf dem Boden lagen Schriftrollen, türmten sich Stapel mit Büchern, Briefen und Dokumenten. Eine dünne mit Reispapier gespannte Schiebetür trennte Fukuokas Schlafbereich ab. Durch ein großes Fenster mit Sprossen und vielen kaputten Scheiben sahen wir hinaus auf seinen Garten Eden.

Über die Schweisfurth-Stiftung war ich vielen Philosophen und Pionieren der alternativen Szene begegnet, aber niemand von ihnen lebte so konsequent, was er predigte. Fukuoka-Sensei ernährte sich ausschließlich von selbst angebautem Obst, Reis und Gemüse, verzichtete auf Strom, Heizung und fließend Wasser; die Feuerstelle war die einzige Wärmequelle. Ein Telefon gab es nicht. Die Unmengen Post, die er aus aller Welt erhielt, half eine Studentin aus Kobe zu beantworten. »Ich spreche kaum Englisch und schon gar keine anderen Fremdsprachen. Sag den Leuten draußen in der Welt, dass sie nicht so viel schreiben sollen und wenn, dann auf Japanisch übersetzt. Die Leute denken immer, ich hätte ein Riesenbüro …«, brummte er beim Teetrinken.

Gut, dass ich einen Übersetzer dabeihatte, dachte ich, schließlich wollte ich wie viele Briefschreiber Rat von ihm. Ich wollte wissen, ob wir richtig lagen mit unserem Landbau in Herrmannsdorf, wo wir 1986 damit begonnen hatten, Landwirtschaft, Lebensmittelhandwerk und Handel unter einem Dach, nämlich unter dem der »Herrmannsdorfer Landwerkstätten«, zu vereinen. Ich hatte ein Fotoalbum mit vielen Fotos und Skizzen aus unserem Betrieb zusammengestellt: die Gärten, die Weiden, die Tierhaltung …

»Das ist die falsche Landwirtschaft«, war die lapidare Antwort. Kurz, knapp, hart.

Ich dachte, ich höre nicht recht, und war im ersten Moment fast gekränkt. Da fahre ich um den halben Erdball, sagte ich mir, um seine Meinung zu erfahren. Ich wollte ihn sogar nach Deutschland einladen. Und was passiert? Er haut mir unser Konzept um die Ohren.

»Das ist reine Monokultur«, begründete er sein hartes Urteil. »Ihr habt da kaum mehrjährige Pflanzen … Arbeitet mit zu großen Maschinen, da werden Lebenskreisläufe auseinandergerissen … Und Schweineställe? Das ist nicht die richtige Tierhaltung.«

Mit Masanobu Fukuoka (Mitte) und Toshihiro Imai 1994

Es war starker Tobak! Aber was Fukuoka sagte, gab mir zu denken. Insgeheim hatte ich schon immer das Gefühl gehabt, dass wir noch konsequenter sein könnten. Die technikgläubigen Berater hatten sich durchgesetzt. Unsere Input-Output-Rechnung war zwar besser als im konventionellen Landbau, wo viel synthetisch gedüngt wird und etwa mit Herbiziden gespritzt. Trotzdem war damals der Energie-Input zu hoch. Mir wurde klar, dass Fukuoka-Sensei recht hatte mit seiner harschen Reaktion. Heute haben wir in Herrmannsdorf viel von der Permakultur gelernt und verändert. Wir pflegen eine symbiotische Landwirtschaft und lassen die Enten, Gänse, Hühner, Rinder, Schweine und Lämmer frei laufen, statt sie in Ställen mit befestigtem Auslauf zu halten.

Fukuoka-Sensei war der Ansicht, dass wir Menschen bescheidener leben sollen, dass wir so wenig Energie und Ressourcen wie möglich verschwenden sollen. Nach dem Teetrinken zeigte er uns in einem langen Rundgang durch seinen vielleicht 20 Hektar großen, wild wuchernden Garten, wie er die einjährigen Früchte zog. Er baute wasserlos Reis an und zog im Wechsel mit Reis Wildgerste, um den Boden nicht durch Monokultur auszulaugen, sondern ihn durch sogenannte stickstoffsammelnde Zwischenfrüchte zu nähren.

Der Garten wirkte auf den ersten Blick wie ein unglaubliches Durcheinander, aber er war dennoch gepflegt. Fukuoka ließ die Bäume und Sträucher wachsen, wie Mutter Natur es vorsah, er sorgte nur dafür, dass sie einander nicht erdrückten und sich verdrängten. Er hatte in den Bergen Shikokus einen Garten Eden geschaffen. Beim Durchstreifen dieser üppigen Vegetation, in der viele Vögel und Schmetterlinge umherschwirrten, hatte man das Gefühl, man könnte einfach hineingreifen und die Früchte pflücken. Pfirsiche, Kakis, Mandarinen, Weintrauben, Mangos …

Bis dahin hatte ich so etwas noch nie gesehen. Erst Jahre später im Osten der Elfenbeinküste traf ich auf ein ähnliches Paradies. Dort war ich mit meinem ivorischen Freund Dr. Dodo Liadé hingereist, um die Bauern für ökologischen Kakaoanbau zu gewinnen. Der Westen dieses Ökosystems war durch Brandrodung und Monokultur schon der Palmöl- und Kakaoproduktion im großen Stil zum Opfer gefallen. Ich wollte meinen Beitrag dazu leisten, dass das im Osten nicht auch geschah, und 2007 nach dem vorläufigen Ende des langen Bürgerkriegs ein Entwicklungshilfeprojekt mit aufbauen. Es stellte sich jedoch als politisch völlig unmöglich heraus, und wir ließen die Finger davon.

Fukuoka-Senseis Philosophie fußte auf dem Buddhismus. Er sah sich als Teil der Natur und lebte in ihr mit großer Demut. Er sah sich »als eine Nussschale im großen Fluss des Lebens«, wie er sagte. Dieser Gedanke war dem Westen fremd. Schließlich heißt es schon in der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments: »Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.« Aus dieser Sichtweise resultierte der Glaube, mithilfe von Technik und Wissenschaft alle Probleme lösen zu können. Kaum einer hat wirklich weitergelesen. Nur wenige Seiten weiter steht: »Der Herr setzte den Menschen in den Garten Eden, auf daß er ihn bebaue und bewahre.« (Genesis, Mose 2.)

Das ist schade, denn die Folgen von zuviel Technik sind Hungersnöte, Klimakatastrophen, die Verknappung der Ressourcen, die zunehmende Verschmutzung und Vergiftung unseres Lebensraums. Schließlich führt der weltweite Irrweg der industriellen Landwirtschaft, mit seinem Monokausal-Denken und Monokultur-Handeln, letztlich zu immer mehr Biozid-, Pestizid-, Herbizideinsatz. Das Immer-mehr-Dogma treibt den Bau von immer mehr Autobahnen, von immer mehr Logistik-Zentren und Einkaufsarealen voran. In Deutschland wird täglich die Fläche von 130 Fußballfeldern zugebaut. Dabei haben wir schon doppelt so viel Einzelhandelsfläche pro Einwohner wie die Franzosen.

Daher meinte Vordenker Fukuoka: Lernen wir nicht mit der Natur und bescheiden zu leben, ziehen wir den Kürzeren. Als junger Mann war er Agrarbeamter in seiner Präfektur gewesen. Die Erfahrungen in dieser Position veranlassten ihn, sein Leben radikal zu ändern. Die Begegnung mit ihm wiederum war für mich der Grund, mein Leben zu ändern. Sie prägte viele meiner zukünftigen Entscheidungen. Von meinem Elternhaus her war ich eher antikapitalistisch und bescheiden erzogen worden, was kaum jemand vermutet, denn schließlich gelte ich in der Öffentlichkeit immer noch als »Sohn der Herta-Wurst«. Aber Fukuokas Lebenskonzept war noch einmal radikal anders in seiner Konsequenz. Er war seiner Zeit weit voraus.

»DAS IST DIE FALSCHE LANDWIRTSCHAFT!«

Hallo, Wurstfabrik!

Es roch nach gekochtem Fleisch, nach Buchenholzrauch oder reifer Salami – je nachdem, was gerade hergestellt wurde. Sozusagen inmitten dieser Fleischküche wurde ich am 12. August 1959 geboren. Meine Eltern lebten damals neben der Kantine und über der Metzgerei auf dem Betriebsgelände der neu erworbenen Fleischfabrik meines Großvaters an der Schleißheimer Straße in Dachau bei München. Mein Vater, ein durchsetzungsstarker Charismatiker – Drittgeborener neben drei Schwestern – war 29 Jahre alt und nach einer Metzgerlehre und Studium gerade ein paar Jahre im elterlichen Betrieb beschäftigt, als ich zur Welt kam. Oder besser gesagt, »wir«. Denn wir waren zu zweit: Als zweieiiger Zwilling kam ich zwanzig Minuten nach meinem Bruder Karl zur Welt.

Die Hebamme orakelte damals über Karl: »Das ist der Bauer«, und deutete dann auf mich: »Das ist der Künstler.« Tatsächlich unterschieden wir uns in unseren Fähigkeiten, auch wenn wir bei vielen Fragen immer gleich »tickten«. Zunächst traten wir beide in die Fußstapfen der Familie – vor allem in die meines Vaters. Bis ich später erkannte, dass mir das Suchen und Erspüren neuer Ideen, dass mir der Vertrieb, der Handel und das Marketing mehr lagen als das Handwerk und die Landwirtschaft. Beides muss gut gemacht werden, doch ich wollte und will, dass viel mehr Menschen – am besten alle – vom ökologischen Landbau profitieren, dass Systeme und Rahmenbedingungen entstehen, die ein lebenswertes Leben auch in Zukunft garantieren. Dass Nachhaltigkeitsgedanken und Ressourcenmanagement möglichst viele infizieren, dass es einen Gegenpol zur Hochgeschwindigkeitsökonomie gibt, zum Egoismus und zur Ignoranz der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Dass ich die Möglichkeit habe, mich mit solchen Themen zu beschäftigen, sehe ich als großen Luxus an. Dafür hat meine Familie sicherlich die Grundlagen geschaffen.

Mein Bruder wurde nach dem Großvater väterlicherseits benannt, ich nach dem Vater meiner Mutter. Der eine war in der zweiten Generation Fleischfabrikant im westfälischen Herten, der andere Inhaber und Chef einer Pappkartonfabrik in Opladen bei Köln. Beim Tanzen hatte mein Vater Karl Ludwig Schweisfurth 1951 meine schöne, selbstbewusste Mutter Doris Rath kennengelernt. Er studierte damals in Köln Betriebswirtschaft, sie war gerade mit dem Abitur fertig. Gelegentlich trafen sie sich wieder, verliebten sich. Im Sommer 1958 heiratete mein Vater die angehende Fremdsprachenkorrespondentin und Dolmetscherin in Opladen und zog mit ihr nach Dachau. Dort übernahm er die Betriebsleitung der Wurstfabrik. Mein Großvater hatte sie erworben. Zu einem Zeitpunkt, als eine neue Produktgruppe – das vakuum-frischeverpackte Wurstsortiment zur Selbstbedienung – in den Supermärkten langsam an Fahrt aufnahm. Das Wirtschaftswunder und die guten Gewinne dieser Jahre ermöglichten es meinem Großvater, Firmen aufzukaufen, seine Marktposition zu stärken und sich zu diversifizieren.

Unser erstes Jahr verbrachten Karl und ich also inmitten von Schlachthaus, Metzgerei, Kantine und Büros. Die Geräusche und Gerüche der prosperierenden Wurstfabrik erlebten wir aus unserem blauen Zwillingskinderwagen. Wir waren die Stars in der Wurstfabrik, wie man auf dem folgenden Foto erkennen kann!

Unsere Mutter Doris mit Kinderwagen und einigen Werksangehörigen

Als mein Großvater älter wurde und in Herten Verstärkung brauchte, zogen wir 1960 dorthin, in die Stadt meiner Vorväter, eine blühende Kleinstadt in Westfalen. Die Stadt lebte von der Fleischverarbeitung und vom Bergbau und wurde mit ihren Fachwerkhäuschen, dem Wasserschloss, der Kolonialwarenhandlung und dem großen Buchladen als »Europas stolzeste und größte Bergbaustadt« bezeichnet. In den zwei der drei größten Zechen des Ruhrgebietes, Schlägel & Eisen, Ewald und dem Schacht Westerholt, lag die Fördermenge an Steinkohle in den Hochzeiten bei 36 000 Tonnen am Tag.

In diesem stolzen Städtchen, das man vor der Beton-Modernisierung in den 70er-Jahren als idyllisch bezeichnen konnte, befand sich der Stammsitz der 1947 von »Schweisfurth« in »Herta« umgetauften Firma. Bei einem Preisausschreiben unter den Angestellten hatte eine Mitarbeiterin die spontane Idee, die Marke nach ihrem Vornamen »Herta« zu benennen – auch wegen des Bezugs zu Herten. Das gefiel meinem Großvater Karl, einem Vollblut-Entrepreneur, der für die Firma lebte. Er fackelte nicht lange.

»Herta«-Fahrverkäufer. 1948 wurde der »Herta«-Schnelldienst aufgebaut.

Schließlich bereitete er die Expansion ins europäische Ausland vor. Sein Werbeberater Hubert Strauf (»Mach mal Pause – Coca-Cola«, »Pril entspannt das Wasser«) empfahl ihm, den Markennamen mit einem Claim zu versehen. Heraus kam: »Herta – Wenn’s um die Wurst geht«. Herta war zu dem Zeitpunkt keine kleine Metzgerei mehr, sondern zählte damals bereits mehrere tausend Mitarbeiter. Das hätte sich der Vater meiner Großmutter Erna – ein höherer Beamter – wohl nie träumen lassen. Er neckte seine Tochter gerne damit, einen kleinen, dicken Metzgermeister geheiratet zu haben.

Ab 1946 gab es »Herta«-Filialen mit Selbstbedienung; eine Revolution!