Bindungsstörungen - Margarete Bolten - E-Book

Bindungsstörungen E-Book

Margarete Bolten

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Beschreibung

Das Konstrukt der Bindungsstörungen umfasst laut den gängigen Klassifikationssystemen eine heterogene Gruppe von Auffälligkeiten der sozialen Funktionen und des Beziehungsverhaltens bei Kindern. Diese entwickeln sich als Folge länger anhaltender vernachlässigender Umgebungsbedingungen, zu denen u.a. Vernachlässigung, Misshandlung oder auch ein häufiger Wechsel der Bezugspersonen gehört. Damit unterscheiden sich die Bindungsstörungen insofern von anderen Störungen, dass bereits in der klassifikatorischen Definition ein ätiologischer Faktor enthalten ist. Der Leitfaden stellt praxisorientiert das diagnostische und therapeutische Vorgehen bei Bindungsstörungen im Kindesalter dar. Aufbauend auf dem aktuellen Stand der Forschung werden Leitlinien zur Diagnostik, Verlaufskontrolle, Behandlungsindikation und Therapie dieser Störungen formuliert und ihre Umsetzung in die klinische Praxis dargestellt. Durch die Bereitstellung zahlreicher Materialien für den diagnostischen und therapeutischen Prozess, inkl. der Arbeit mit Eltern, sowie unterschiedlicher Fallbeispiele soll die Umsetzung der Leitlinien im klinischen Alltag erleichtert werden.

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Margarete Bolten

Christian G. Schanz

Monika Equit

Bindungsstörungen

Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie

Band 30

Bindungsstörungen

PD Dr. Margarete Bolten, Christian G. Schanz, Prof. Dr. Monika Equit

Herausgeber der Reihe:

Prof. Dr. Manfred Döpfner, Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann, Prof. Dr. Paul Plener

Begründer der Reihe:

Manfred Döpfner, Gerd Lehmkuhl, Franz Petermann

PD Dr. Margarete Bolten,geb. 1976. Seit 2016 Leitung der Spezialeinheit Psychische Störungen im Säuglings- und Kleinkindalter an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, Klinik für Kinder und Jugendliche (UPKKJ).

Christian G. Schanz, M.Sc.,geb. 1990. Seit 2017 Doktorand in der Arbeitseinheit Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität des Saarlandes sowie in der Weiterbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten (Verhaltenstherapie).

Prof. Dr. Monika Equit,geb. 1978. Seit 2014 Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leitung der Psychotherapeutischen Universitätsambulanz in der Arbeitseinheit Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität des Saarlandes.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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Merkelstraße 3

37085 Göttingen

Deutschland

Tel. +49 551 999 50 0

Fax +49 551 999 50 111

[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: ARThür Grafik-Design & Kunst, Weimar

Format: EPUB

1. Auflage 2021

© 2021 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2732-4; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2732-5)

ISBN 978-3-8017-2732-1

https://doi.org/10.1026/02732-000

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Diese Bestimmungen gelten gegebenenfalls auch für zum E-Book gehörende Download-Materialien.

Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

|V|Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches

Unter dem Begriff der Bindungsstörungen werden spezifische Auffälligkeiten im Beziehungs- und Interaktionsverhalten von Kindern und Jugendlichen verstanden, welche gemäß dem derzeitigen Stand der Forschung Folge von deprivierenden Lebensbedingungen sind. Zu diesen ungünstigen Umgebungsbedingungen zählen, neben Vernachlässigung und Misshandlung, auch häufige Wechsel der Bezugspersonen. Deshalb gilt es nicht nur die intrapsychische Symptomatik, sondern auch das interpersonale Beziehungsverhalten und die Umgebungsbedingungen sowohl bei der Diagnosestellung als auch in der Therapie zu beachten.

Viele Berufsgruppen (z. B. Erzieher1, Sozialpädagogen, Psychologen, Ärzte) sind in ihrer täglichen Arbeit mit Kindern mit Bindungsstörungen und ihren Familien konfrontiert. Oftmals erfordert die Arbeit mit bindungsgestörten Kindern ein interdisziplinäres und multisystemisches Behandlungskonzept, bei dem die unterschiedlichen Disziplinen eng zusammenarbeiten und sich gegenseitig ergänzen. Das Ziel dieses Leitfadens ist es, eine praxisnahe Anleitung zum diagnostischen Vorgehen und der Behandlung von Bindungsstörungen zu geben.

Der vorliegende Leitfaden gliedert sich in insgesamt fünf Kapitel.

1 Das erste Kapitel des Leitfadens ist dem aktuellen Stand der Forschung gewidmet. Dieses Kapitel beginnt zunächst mit einer Einführung in die klinische Bindungsforschung und die Bindungsentwicklung. Daran anschließend werden Definition und Klassifikation, Epidemiologie und Verlauf sowie Modelle zur Ätiologie, Diagnose und Therapie von Bindungsstörungen zusammenfassend dargestellt.

2 Im zweiten Kapitel werden ausführlich die Leitlinien zur Diagnostik, Verlaufskontrolle, Behandlungsindikation und Behandlung von Bindungsstörungen beschrieben.

3 Im dritten Kapitel werden Verfahren für die Diagnostik, Verlaufskontrolle und Therapie vorgestellt.

4 Das vierte Kapitel enthält eine Materialiensammlung für die Diagnostik und Therapie von Bindungsstörungen. Diese können in der vorliegenden Form kopiert und direkt eingesetzt werden.

5 Im fünften Kapitel werden drei ausführliche Fallbeispiele beschrieben, um die Umsetzung der Leitlinien in der Praxis zu illustrieren.

|VI|Den zentralen Bestandteil dieses Leitfadens bilden die 15 in Kapitel 2 beschriebenen Leitlinien zur Diagnostik, Verlaufskontrolle, Behandlungsindikation und Behandlung von Bindungsstörungen. Die Darstellungen von Verfahren und Materialien in den beiden folgenden Kapiteln ergänzen die Leitlinien und erleichtern ihre Umsetzung.

Dieser Leitfaden wird durch den kompakten „Ratgeber Bindungsstörungen“ (Bolten, Schanz & Equit, 2021) ergänzt, welcher sowohl für Bezugspersonen als auch pädagogische und andere Fachpersonen, die Kinder mit einer Bindungsproblematik betreuen, gedacht ist. Der Ratgeber informiert dabei in verständlicher Art und Weise über die Symptomatik, die Ursachen und den Verlauf von Bindungs- und Vernachlässigungs-/Misshandlungsstörungen und gibt dem Leser konkrete und praktisch umsetzbare Hinweise an die Hand.

Basel und Saarbrücken, Juli 2021

Margarete Bolten, Christian G. Schanz

und Monika Equit

1

Zugunsten einer besseren Lesbarkeit verwenden wir im Text in der Regel das generische Maskulinum. Diese Formulierungen umfassen gleichermaßen alle Geschlechter (m/w/d). Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung. Wenn möglich, wurde eine geschlechtsneutrale Formulierung gewählt.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches

1 Stand der Forschung

1.1 Klinische Bindungsforschung: Von den Anfängen bis zur Gegenwart

1.2 Bindungsverhalten über die Lebensspanne

1.3 Abgrenzung des Störungsbegriffs der Bindungsstörung

1.4 Definition und Klassifikation

1.5 Epidemiologie und Komorbiditäten

1.6 Differenzialdiagnostik und Probleme der Diagnosestellung

1.7 Pathogenese

1.7.1 Elterliches Pflege- und Interaktionsverhalten

1.7.2 Kindliche Merkmale und Interaktionsverhalten

1.7.3 Aversive Erfahrungen in Institutionen

1.7.4 Aversive Erfahrungen in Herkunftsfamilien

1.7.5 Neurobiologische Veränderungen durch pathogene Fürsorge

1.7.6 Resilienz und Schutzfaktoren

1.7.7 Zusammenfassende Bewertung

1.8 Verlauf und Prognose

1.9 Therapie

1.9.1 Erste Säule: Schaffung einer sicheren Umgebung

1.9.2 Zweite Säule: Förderung der Eltern-Kind-Interaktion

1.9.3 Dritte Säule: Behandlung kindlicher Symptome

1.10 Zusammenfassung

2 Leitlinien

2.1 Leitlinien zur Diagnostik und Verlaufskontrolle

2.1.1 Exploration der Eltern und anderer Bezugspersonen

2.1.2 Verhaltensbeobachtung und psychopathologische Beurteilung

2.1.3 Interviewverfahren, Checklisten und Fragebögen

2.1.4 Umgang mit dem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung

2.1.5 Testpsychologische Untersuchung

2.1.6 Körperliche Untersuchung

2.1.7 Verlaufskontrolle

2.2 Leitlinien zur Behandlungsindikation

2.2.1 Indikationen für die Auswahl des Behandlungssettings

2.2.2 Indikationen für die Auswahl der Behandlungsmethode

2.3 Leitlinien zur Therapie

2.3.1 Psychoedukation und Beratung der Eltern/Bezugspersonen

2.3.2 Interaktions- und beziehungsorientierte Bezugspersonen-Kind-Therapie

2.3.3 Einzel- und gruppentherapeutische kindzentrierte Verfahren

2.3.4 Interventionen in Kindergarten/Schule

2.3.5 Pharmakotherapie

2.3.6 Etablierung weiterer Unterstützungssysteme

3 Verfahren zu Diagnostik und Therapie

3.1 Verfahren zur Diagnostik und Verlaufskontrolle

3.1.1 DCL-BIST – Diagnose-Checkliste Bindungs- und Beziehungsstörungen

3.1.2 ILF-KONTAKT – Interview-Leitfaden für Kontakt-Störungen

3.1.3 SIVA: 0-6 – Strukturiertes Interview für das Vorschulalter

3.1.4 FBB-BIST – Fremdbeurteilungsbogen – Bindungs- und Beziehungsstörungen

3.1.5 RPQ – Beziehungsprobleme Fragebogen

3.1.6 Verfahren zur Erfassung weiterer psychischer Symptome und Störungen

3.1.7 Verfahren zur Erfassung der elterlichen Belastung

3.2 Verfahren zur Therapie

3.2.1 Kreis der Sicherheit (Circle of Security; CoS)

3.2.2 Secure Attachment Family Education (SAFE)

3.2.3 Steps Toward Effective and Enjoyable Parenting (STEEP)

3.2.4 Entwicklungspsychologische Beratung für Familien mit Säuglingen und Kleinkindern (EPB)

3.2.5 Watch, Wait and Wonder (WWW)

3.2.6 Parent-Child Interaction Therapy (PCIT)

4 Materialien

5 Fallbeispiele

5.1 Daniel (2;6 Jahre)

5.2 Franziska (6 Jahre)

5.3 Tom (4 Jahre)

6 Literatur

|1|1 Stand der Forschung

1.1 Klinische Bindungsforschung: Von den Anfängen bis zur Gegenwart

In diesem ersten Kapitel werden die Meilensteine der Klinischen Bindungsforschung ab den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts skizziert, die wesentlich zum heutigen Wissensstand beigetragen haben, welcher in den nachfolgenden Kapiteln detailliert dargestellt wird.

Säuglinge kommen mit einem angeborenen Bedürfnis nach Schutz durch soziale und emotionale Nähe zur Welt. Eine fürsorgliche und liebevolle Beziehung ist zentral für die gesunde Entwicklung von Kindern, denn im Rahmen der Interaktionen mit den Hauptbezugspersonen entwickeln sich emotionale und soziale Kompetenzen. Die Folgen einer gestörten Mutter-Kind-Beziehung bzw. eines Aufwachsens in Betreuungssystemen, die durch ein hohes Maß an Diskontinuität und einen Mangel an emotionaler Zuwendung geprägt waren, wurden erstmals von Spitz (1945) untersucht. Spitz beschrieb die resultierenden Verhaltensauffälligkeiten anhand dreier Phasen, von denen die erste durch anhaltendes Weinen und Schreien, die zweite durch Rückzug und die dritte durch Aufgabe mit Verlust der Lebensfreude gekennzeichnet sei. Er bezeichnete die Verhaltensauffälligkeiten als „anaklitische“ (von altgriechisch anaklīnein – sich anlehnen) Depression bzw. bei sehr langer andauernder Deprivation als „psychogenen Hospitalismus“.

Der Begriff der „Bindung“ geht auf die Arbeiten des britischen Arztes, Kinderpsychiaters und Psychoanalytikers Bowlby zurück. Bowlby legte in den 1950er Jahren den Grundstein für die Entwicklung der Bindungstheorie, als er im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die psychische Gesundheit von obdachlosen Kindern im Nachkriegseuropa und die Zustände in Kinderheimen und Erziehungsanstalten untersuchte (Bowlby, 1951). Da vorangegangene psychoanalytische und behavioristische Ansätze in ihrem Erklärungsgehalt nicht ausreichend waren, um die heterogenen Verhaltensreaktionen der untersuchten Kinder zu erklären, formulierte Bowlby in seinem WHO-Bericht erstmals wesentliche Grundannahmen seiner Theorie über die Bindung zwischen Bezugspersonen und ihren Kindern.

Wegweisende empirische Befunde zum Bindungsverhalten stammten in den Sechzigern von dem Primatenforscher Harlow und in den Siebzigern von Ainsworth, welche nach ihrer Promotion in Bowlbys Arbeitsgruppe mitwirkte. In einer Reihe von Experimenten wies Harlow nach, dass ein isoliertes Aufwachsen bei jungen Rhesusaffen zu schwerwiegenden Verhaltensauffälligkeiten sowie einem verringerten Explorations- und Spielverhalten führt (Harlow, Dodsworth & Harlow, 1965a). Ainsworth unter|2|suchte das Verhalten von Kleinkindern mittels des von ihr entwickelten Fremde-Situations-Tests (FST), welcher als standardisiertes Laborparadigma die Reaktionen von Kleinkindern auf Trennungen und Wiedervereinigungen mit ihrer primären Bezugsperson untersucht (Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 1978; Ainsworth & Witting, 1969). Aufbauend auf diesen Befunden konnte das Explorationsverhalten als wesentlicher Bestandteil in die Bindungstheorie integriert werden.

Das Wechselspiel aus Bindungs- und Explorationsverhalten ist entscheidend von einer feinfühligen und sensitiven Interaktion zwischen Bezugsperson und Kind abhängig. Die Bedeutsamkeit dieser feinfühligen Reziprozität wurde seit dem Ende der siebziger Jahre mit dem sogenannten „Still-face“-Paradigma nachgewiesen (Tronick, Als, Adamson, Wise & Brazelton, 1978). Mithilfe dieses Paradigmas konnte eindrücklich gezeigt werden, dass das elterliche Ignorieren des kindlichen Interaktionsangebots zu Unlust, Protest und deutlichen Anzeichen von Stress beim Kind führt (Mesman, van Ijzendoorn & Bakermans-Kranenburg, 2009). Papousek und Papousek (1986) führten elterliche Defizite in dieser eigentlich biologisch angelegten elterlichen Verhaltensdisposition insbesondere auf psychische Störungen, unzureichende eigene Bindungserfahrungen in der Kindheit, gegenwärtige negative Beziehungserfahrungen, psychosoziale Stressfaktoren oder genetische Prädispositionen und damit assoziierte neurobiologische Veränderungen auf Seiten der Bezugspersonen zurück.

Ab dem Anfang der Zweitausender Jahre wurde die klinische Bindungsforschung entscheidend durch das „Bucharest Early Intervention Project“ geprägt (Zeanah, Fox & Nelson, 2012; Zeanah et al., 2003). Durch eine randomisierte Gruppenzuteilung und ein längsschnittliches Design konnte mit diesem Projekt erstmals auf hohem methodischem Niveau nachgewiesen werden, dass frühkindliche Deprivationserfahrungen durch die Verfügbarkeit eines adäquaten Beziehungsangebots in Teilen kompensiert werden können.

1.2 Bindungsverhalten über die Lebensspanne

Sowohl eine sichere Bindungsbeziehung als auch Explorationsverhalten und Selbstständigkeit sind wesentliche Voraussetzungen für die sozial-interaktive Entwicklung eines Kindes. Einerseits brauchen Kinder Schutz und Sicherheit, andererseits sind sie neugierig und wollen die Welt entdecken. Dabei stellen die Bezugspersonen für das Kind den Ort des Rückzugs und Schutzes, also die sichere Basis, dar. Entsprechend wirkt sich eine sichere Bindungsbeziehung positiv auf die Autonomieentwicklung und das Explorationsverhalten aus, da diese Kinder sich sicher sind, dass sie im Falle einer Bedrohung Schutz von ihren Bezugspersonen erwarten können und diese zuverlässig verfügbar sind (Bowlby, 1997).

|3|Die Bindungsentwicklung vollzieht sich in den ersten sechs Lebensjahren in engem Wechselspiel zwischen der Hirnreifung und den damit verbundenen Kompetenzen (motorisch, sprachlich, kognitiv) einerseits und den Erfahrungen mit den Eltern bzw. den Bezugspersonen andererseits. Menschliche Säuglinge sind von Geburt an auf die Interaktion mit ihren primären Bezugspersonen ausgerichtet. Das Bindungsverhalten konzentriert sich in dieser Altersphase vor allem auf einzelne Bindungspersonen und ist primär durch das Herstellen körperlicher Nähe und emotionaler Entlastung durch Co-Regulation durch die Bindungsperson gekennzeichnet. Menschliche Säuglinge sind davon abhängig, dass sie von ihren Bezugspersonen versorgt werden und diese ihre Bedürfnisse erkennen und feinfühlig beantworten.

Ainsworth (1985) unterschied insgesamt vier Phasen der kindlichen Bindungsentwicklung (vgl. Abbilddung 1): In der „Vorphase“ (Pre-Attachment-Phase) zeigen Säuglinge noch personenunspezifische Bindungsverhaltensweisen, wohingegen sie in der „Differenzierungsphase“ (Attachment-in-the-making) zwischen sechs und acht Monaten, bereits Bindungsbeziehungen zu einer oder mehreren spezifischen Bindungspersonen aufbauen.

Abbildung 1: Die Bindungsentwicklung im Überblick

In der Phase der „Ausgeprägten Bindung“ (Clear-cut attachment) bildet sich etwa bis zum Alter von drei Jahren eine klare Bindung zu einer oder |4|mehreren Bezugspersonen heraus. Mittels des FST kann hier im Altersbereich von 12 bis 18 Monaten bereits zwischen sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent und desorganisiert gebundenen Kindern unterschieden werden (vgl. Tabelle 1). Längsschnittstudien zeigten zwar, dass es eine gewisse Stabilität von Bindungsstilen gibt (Main, Hesse & Kaplan, 2005; Sroufe, Egeland, Carlson & Collins, 2005), jedoch auch Diskontinuitäten auftreten, wenn es zu deutlichen Veränderungen in der Beziehungsgestaltung zwischen Bindungspersonen und dem Kind kommt. Ein einmal erworbenes Bindungsmuster bleibt daher nicht zwangsläufig bis ins hohe Alter stabil. So können bestimmte Lebensereignisse, wie z. B. längere Trennungen, schwere Erkrankungen oder Todesfälle von Bezugspersonen, die Bindung ebenso beeinflussen wie neue Beziehungserfahrungen.

Die „Phase der zielorientierten Partnerschaft“ (goal directed partnership) beginnt zwischen dem 2. und 3. Lebensjahr. Ab dieser Phase beginnen die Kinder sich in Gedanken, Gefühle und Ziele der Bezugsperson hineinzuversetzen. Dies ermöglicht es dem Kind, neben den eigenen Bedürfnissen, auch die Bedürfnisse des Gegenübers zu berücksichtigen und somit mit der Bindungsperson in Verhandlung zu treten. Dadurch ist es Kindern möglich, Trennungen auf Zeit (z. B. Kindergartenbesuch) besser zu akzeptieren. Sie nutzen hierfür u. a. die inzwischen gereifteren Kompetenzen zur Selbstregulation und zur Abschätzung einer bestimmten Zeitdauer. Entsprechend brauchen Kinder im Vorschulalter nicht mehr durchgängig die körperliche Anwesenheit der Bindungsperson, um sich sicher zu fühlen, sondern sind in der Lage auf eine verinnerlichte „sichere Basis“ zurückzugreifen. Dennoch erleben Kinder Trennungen auch in dieser Phase als Stress, welcher sich gegenüber der Bindungsperson bei deren Wiederkehr in Wut, Protest und ambivalentem Verhalten äußern kann. In dieser Phase ist es daher besonders wichtig, dass Bezugspersonen mit diesen Wutreaktionen des Kindes adäquat umgehen, also nicht mit eigener Wut und Aggressivität, sondern mit Verständnis und Unterstützung bei der Regulation der negativen Emotionen reagieren.

Insbesondere während der großen Entwicklungsfortschritte zwischen dem ersten und vierten Lebensjahr nehmen die Autonomiebestrebungen und der Wunsch nach Selbstbestimmung des Kindes ständig zu. Es interessiert sich für seine Umwelt und kann schließlich bei Abwesenheit der primären Bezugsperson ohne Trennungsangst bei anderen vertrauten Personen bleiben. Das Kind will vieles selbst machen und ist stolz auf seine neuen Fähigkeiten. In dieser Phase lernen Kinder auch mit Niederlagen und Frustrationen und den damit verbundenen negativen Emotionen umzugehen, denn sie wollen sehr viel, können aber noch nicht alles, und müssen mit viel Geduld durch die Bezugspersonen unterstützt werden. Das zunehmende Streben nach Autonomie ist notwendig, um sich aus der symbiotischen bzw. sehr engen Beziehung mit den Bezugspersonen zu lösen.

|5|Tabelle 1: Klassifikation der Bindungsqualität im Fremde-Situations-Test

Bindungsstil

Verhaltensbeschreibung

Kategorie B: Sicher gebundene Kinder

Diese Kinder zeigen deutliches Bindungsverhalten nach der ersten wie auch nach der zweiten Trennung von der Mutter. Sie rufen nach der Mutter, folgen ihr nach, suchen sie, weinen bzw. zeigen deutliche Anzeichen für Stress. Zum Teil kann sich die Aktivierung des Bindungsverhaltens bei sicher gebundenen Kindern aber auch nur in einem weniger konzentrierten Spiel äußern. Kinder mit diesem Bindungsstil sind meist in der Lage, sich von der fremden Person beruhigen zu lassen. Auf die Wiederkehr der Mutter reagieren sie mit Freude, suchen den Körperkontakt, wollen getröstet werden, können sich aber nach kurzer Zeit wieder beruhigen und wenden sich angebotenen Spielsachen erneut zu.

Kategorie A: Unsicher-vermeidend gebundene Kinder

Diese Kinder reagieren auf die Trennung von der Mutter nur mit wenig Bindungsverhalten. Sie protestieren kaum, folgen der Mutter nicht nach und spielen weiter. Auf die Rückkehr der Mutter reagieren sie eher mit Ablehnung und wollen nicht auf den Arm genommen und getröstet werden. In der Regel kommt es auch zu keinem intensiven Körperkontakt.

Kategorie C: Unsicher-ambivalent gebundene Kinder

Diese Kinder zeigen nach den Trennungen extrem stark ausgeprägtes Bindungsverhalten. Sie weinen heftig und zeigen viele Stresssymptome. In der Regel kann die Mutter sie nach ihrer Rückkehr kaum beruhigen, und es braucht längere Zeit, bis diese Kinder wieder einen emotional stabilen Zustand erreicht haben. Diese Kinder verhalten sich sehr ambivalent in Bezug auf körperliche Nähe. Sie suchen einerseits den Körperkontakt zur Bindungsperson, andererseits wehren sie sich durch Strampeln, Schlagen, Stoßen oder Abwenden dagegen.

Kategorie D: Kinder mit unsicher-desorganisiertem/desorientiertem Verhaltensmuster

Main und Solomon (1986) identifizierten eine vierte Gruppe von Kindern, welche während der Beobachtung kurzzeitig weder Bindungsverhalten noch Explorationsverhalten zeigten. Sie wirkten wie erstarrt, führten begonnenes Verhalten nicht zu Ende und zeigten widersprüchliches Verhalten. Außerdem wurden häufig stereotype Verhaltens- und Bewegungsmuster beobachtet. Diese Kinder wurden als „desorganisiert“ bezeichnet, da sie für kurze Zeit keine organisierte Verhaltensstrategie aufwiesen. Diese Verhaltensweisen wurden so interpretiert, dass das Bindungssystem dieser Kinder zwar aktiviert ist, ihr Bindungsverhalten sich aber nicht in ausreichend konstanten und eindeutigen Verhaltensstrategien äußert.

|6|In der frühen Adoleszenz tritt das Bedürfnis nach körperlicher Nähe zu den Bezugspersonen deutlich in den Hintergrund. Dies bedeutet jedoch nicht, dass in dieser Entwicklungsphase Bindung weniger wichtig würde. Im Jugendalter manifestiert sich das Bindungsverhalten eher in der verbalen Kommunikation mit den Bindungspersonen. Die körperlichen, psychischen und sozialen Veränderungen in dieser Phase stellen für viele Jugendliche Herausforderungen dar, für deren Bewältigung die Bezugspersonen eine große Bedeutung haben. Neben den Bezugspersonen gewinnen aber auch Freundschaften und Partnerschaften immer mehr an Bedeutung. Durch die anwachsenden Bewältigungskompetenzen und -fähigkeiten gewinnen Jugendliche mehr und mehr an Autonomie. Sie werden kompetenter im Umgang mit Problemen und greifen entsprechend seltener auf die Hilfe der Bezugspersonen zurück. Jugendliche haben zumeist ein relativ stabiles inneres Arbeitsmodell hinsichtlich der emotionalen Verfügbarkeit ihrer Bindungspersonen aufgebaut. Dieses steuert die Informationsverarbeitung und die Regulation auftretender Gefühle. Das Verhalten der Bezugspersonen wird hinterfragt, sie werden nicht mehr zwangsläufig als reine Autoritäten betrachtet.

1.3 Abgrenzung des Störungsbegriffs der Bindungsstörung

Der Begriff „Bindungsstörung“ beschreibt zwei diagnostische Entitäten, die Reaktive Bindungsstörung und die Beziehungsstörung mit Enthemmung, deren klassifikatorische Merkmale im nächsten Kapitel detailliert dargestellt werden. An dieser Stelle ist es jedoch wichtig hervorzuheben, dass die in den vorausgegangenen beiden Abschnitten beschriebenen organisierten Bindungsstile (sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent) klar von der diagnostischen Entität der Bindungsstörungen abgegrenzt werden müssen.

Während die organisierten Bindungsstile Normvarianten von Strategien im Umgang mit Belastungssituationen und emotionaler Verunsicherung darstellen, handelt es sich bei den Bindungsstörungen um schwerwiegende Normabweichungen der kindlichen Beziehungsgestaltung. Die Entwicklung von Bindungsstörungen ist dabei ursächlich auf extrem unzureichende Fürsorge, wiederholte Wechsel der Bezugspersonen oder inadäquate Kindspflege zurückzuführen. Lediglich der desorganisierte Bindungsstil wie er von Main and Solomon (1986) beschrieben wurde, weist ein hohes Maß an Überschneidungen mit der Reaktiven Bindungsstörung auf. Dennoch muss ein unorganisiert-desorganisierter Bindungsstil nicht zwangsläufig mit Symptomen einer Bindungsstörung einhergehen (Ainsworth & Witting, 1969; Minnis et al., 2009).

|7|Wie in Kapitel 1.7 deutlich werden wird, hat die Klinische Bindungsforschung dennoch einen entscheidenden Einfluss auf unser heutiges Verständnis der Bindungsstörungen genommen. Dies liegt insbesondere daran, dass sich die klinische Bindungsforschung seit Bowlby zwar sehr intensiv mit der Entwicklung von Bindungsstilen und Bindungsrepräsentationen (Inneren Arbeitsmodellen) beschäftigte, Bindungsstörungen hingegen bislang vergleichsweise wenig systematisch untersucht wurden. Daher basieren die Kenntnisse zur Ätiologie und Therapie von Kindern mit Bindungsstörungen in großen Teilen auf Befunden der Klinischen Bindungsforschung.

1.4 Definition und Klassifikation

Obwohl die Reaktive Bindungsstörung bereits in die dritte Auflage des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM-III) und die neunte Auflage der „International Classification of Diseases“ (ICD) sowie später auch in die „Diagnostic Classification of Mental Health and Developmental Disorders of Infancy and Early Childhood“ (ZERO-TO-THREE) aufgenommen wurde, erfolgten alle Revisionen der Diagnostischen Kriterien bislang nahezu ohne systematische wissenschaftliche Forschung (Zeanah & Gleason, 2015). Die erste Studie, welche die Validität der diagnostischen Kriterien der Bindungsstörungen nach DSM untersuchte, wurde erst von Boris, Zeanah, Larrieu, Scheeringa und Heller (1998) durchgeführt.

Nichtsdestotrotz herrscht inzwischen Konsens dahingehend, dass eine inadäquate Betreuungs- und Erziehungsumwelt hauptsächlich zu zwei klinisch beobachtbaren pathologischen Verhaltensmustern führen kann: dem zurückgezogenen/gehemmten und dem enthemmten/indiskriminanten Phänotyp. Diese Verhaltensmuster konnten in neueren Studien empirisch bestätigt werden (Lehmann, Breivik, Heiervang, Havik & Havik, 2016) und stimmen im Wesentlichen mit den DSM-5-, ICD-10/11- bzw. DC: 0-5-Kategorien der Reaktiven Bindungsstörung und der Beziehungsstörung mit Enthemmung überein.

In Tabelle 2 und Tabelle 3 sind die Diagnosekriterien der Klassifikationssysteme DSM-5, ICD-10/11 und DC: 0-5 gegenübergestellt. Während die Diagnosekriterien nach DSM-5 und DC: 0-5 relativ differenziert sind, werden die Bindungsstörungen in der in Deutschland gebräuchlichen Klassifikation nach ICD-10/11 lediglich anhand allgemeiner Kriterien beschrieben. Wesentliches Merkmal der Kriterien aller Klassifikationssysteme ist (mit Ausnahme der Beschreibung des enthemmten Subtyps in der ICD-10), dass die Symptomatik ursächlich auf Deprivations- und Vernachlässigungserfahrungen in der frühen Kindheit zurückführbar sein müssen. Damit gehören die Bindungsstörungen (u. a. neben der Posttraumatischen Belastungsstörung [PTBS] und der Anpassungsstörung) zu den wenigen Störungen, deren Diagnose einen spezifischen Auslöser erfordert.

|8|Tabelle 2: Diagnostische Kriterien für die Reaktive Bindungsstörung

DC: 0 – 5

Reaktive Bindungsstörung

Verhaltensmuster:

1. Muster aus emotional zurückgezogenem, gehemmten Verhalten gegenüber erwachsenen Bezugspersonen; charakterisiert durch mindestens zwei der folgenden Kriterien:

a) Fehlendes oder deutlich reduziertes Interesse, sich sozial auf andere einzulassen.

b) Fehlendes oder deutlich reduziertes entwicklungsmäßig angemessenes Suchen nach Trost, wenn das Kind gestresst ist

c) Fehlende oder deutlich reduzierte Reaktionen auf Trostangebote

d) Fehlende oder deutlich reduzierte soziale Reziprozität mit erwachsenen Bezugspersonen

2. Muster an Emotionsregulationsschwierigkeiten, charakterisiert durch:

a) reduzierten oder fehlenden positiven Affekt

b) Episoden erheblicher, nicht nachvollziehbarer Ängstlichkeit oder Irritabilität/Ärger gegenüber Bezugspersonen

Entstehung des Verhaltensmusters im Kontext:

… unzureichender Fürsorge (soziale und emotionale Vernachlässigung) oder einem wiederholten Wechsel der Bezugspersonen

Ausschluss:

Autismus-Spektrum-Störung

Beginn/Mindestalter:

Mindestalter ≥ 9 Monate

Beeinträchtigungen:

Signifikante Beeinträchtigung des Kindes oder der Familie in mindestens einem der folgenden Bereiche:

1. Klinisch signifikantes Leiden beim Kind

2. Beeinträchtigung der Beziehungen des Kindes zu anderen

3. Verminderung der kindlichen Teilhabe an entwicklungsbedingten Aufgaben und Abläufen

4. Beeinträchtigung der familiären Teilhabe an alltäglichen Aktivitäten und Abläufen

5. Beeinträchtigung des Erlernens neuer Fertigkeiten und der weiteren Entwicklung des Kinder

|9|DSM-52

Reaktive Bindungsstörung

Verhaltensmuster:

A. Ein durchgängiges Muster von gehemmtem, emotional zurückgezogenem Verhalten gegenüber erwachsenen Bezugspersonen, das sich durch die beiden folgenden Merkmale äußert:

1. Das Kind sucht selten oder nur geringfügig Trost, wenn es bedrückt ist.

2. Das Kind reagiert selten oder nur geringfügig auf Trost, wenn es bedrückt ist.

B. Eine andauernde soziale und emotionale Störung, die durch; mindestens zwei der folgenden Merkmale gekennzeichnet ist:

1. Minimale soziale und emotionale Ansprechbarkeit auf andere.

2. Eingeschränkter positiver Affekt.

3. Episoden unerklärlicher Reizbarkeit, Traurigkeit oder Furcht, die sogar bei nichtbedrohlichen Interaktionen mit erwachsenen Bezugspersonen vorhanden sind.

Entstehung des Verhaltensmusters im Kontext:

C. Das Kind hat ein Muster von extrem unzureichender Fürsorge erfahren, das durch mindestens eines der folgenden Merkmale gekennzeichnet ist:

1. Soziale Vernachlässigung oder Deprivation in Form einer andauernden Missachtung der grundlegenden emotionalen Bedürfnisse des Kindes nach Geborgenheit, Anregung und Zuneigung durch die betreuenden Erwachsenen.

2. Wiederholter Wechsel der primären Bezugsperson, der die Möglichkeit begrenzt, stabile Bindungen zu entwickeln (z. B. häufiger Wechsel der Pflegefamilien).

3. Aufwachsen in einem ungewöhnlichen Umfeld, das die Möglichkeit stark einschränkt, individuelle Bindungen einzugehen (z. B. Institutionen mit einem hohen Kinder-Betreuer-Verhältnis).

D. Die in Kriterium C genannten Fürsorgemerkmale sind vermutlich für das gestörte Verhalten verantwortlich, das in Kriterium A beschrieben wird (d. h. die Störungen aus Kriterium A begannen im Anschluss an die mangelhafte Fürsorge aus Kriterium C).

Ausschluss:

E. Die Kriterien einer Autismus-Spektrum-Störung werden nicht erfüllt

Beginn/Mindestalter:

F. Die Störung ist vor dem Alter von 5 Jahren aufgetreten.

G. Das Kind hat ein Entwicklungsalter von mindesten 9 Monaten.

|10|ICD-11

Reaktive Bindungsstörung (F94.1)

Verhaltensmuster:

Kein Suchen nach Trost oder Unterstützung, auch wenn adäquate primäre Bezugsperson verfügbar ist

Selten sicherheitssuchendes Verhalten bei Erwachsenen

Fehlende Reaktion auf Trostangebote

Entstehung des Verhaltensmusters im Kontext:

… inadäquater Kindespflege (z. B. extreme Vernachlässigung, Misshandlung, institutionelle Deprivation)

Ausschluss:

Autismus-Spektrum-Störung, Asperger-Syndrom, Bindungsstörung mit Enthemmung

Beginn/Mindestalter:

Beginn: vor dem 5. Lebensjahr; nur bei Kindern diagnostizierbar,

Mindestalter ≥ 1 Jahr oder Entwicklungsalter ≥ 9 Monate

Nicht, wenn die Fähigkeit zu selektiver Abhängigkeit noch nicht vollständig entwickelt ist

ICD-10

Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters (F94.1)

Verhaltensmuster:

1. Deutlich widersprüchliche oder ambivalente soziale Reaktionen in verschiedenen sozialen Situationen (mit Variationen von Beziehung zu Beziehung)

2. Emotionale Störung mit Verlust emotionaler Ansprechbarkeit, sozialem Rückzug, mit aggressiven Reaktionen auf eigenes Unglücklichsein oder das anderer und/oder ängstliche Überempfindlichkeit.

3. Nachweis, dass soziale Gegenseitigkeit und Ansprechbarkeit möglich ist, durch Elemente normalen Bezogenseins in Interaktionen mit gesunden Erwachsenen

Entstehung des Verhaltensmusters im Kontext:

Die Symptomatik tritt wahrscheinlich als Folge schwerer elterlicher Vernachlässigung, Missbrauch oder schwerer Misshandlung auf.

Ausschluss:

Asperger-Syndrom, Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung, Misshandlungssyndrome, Normvariationen im Muster der selektiven Bindung, psychosoziale Probleme infolge von sexuellem oder körperlichem Missbrauch.

Beginn/Mindestalter:

Beginn vor dem 5. Lebensjahr

|11|Tabelle 3: Diagnostische Kriterien für die Bindungs-/Beziehungsstörung mit Enthemmung

DC: 0 – 5

Soziale Bindungsstörung mit Enthemmung

Verhaltensmuster:

Anhaltende Tendenz, sich unbekannten Erwachsenen zu nähern und mit ihnen ohne Berührungsängste in Interaktion zu treten; charakterisiert durch mindestens zwei der folgenden Kriterien:

1. Wiederholte Tendenz, in körperlich (z. B. berühren, umarmen) oder verbal (z. B. sehr persönliche, distanzlose Fragen) aufdringlicher Weise Interaktionen zu unbekannten Erwachsenen einzugehen, die altersunangemessen sind

2. Wiederholt fehlendes Rückversicherungsverhalten über den Verbleib erwachsener Bezugspersonen in unbekannten Situationen, z. B. indem das Kind nicht nahe bei der Person bleibt oder sich nicht nach ihr umblickt etc.

3. Wiederholte Bereitschaft ohne Zögern mit unbekannten Erwachsenen wegzugehen

Abgrenzung/Ausschluss:

Sozial enthemmtes Verhalten ist nicht gleichzusetzen mit impulsivem Verhalten (z. B. etwas tun, ohne nachzudenken) und verletzt die kulturell akzeptierten Normen hinsichtlich altersadäquatem sozialen Verhalten.

Entstehung des Verhaltensmusters im Kontext:

... unzureichender Fürsorge (soziale und emotionale Vernachlässigung) oder einem wiederholten Wechsel der Bezugspersonen

Beginn/Mindestalter:

1. Mindestalter ≥ 9 Monate (Vorsicht bei Diagnosestellung ≤ 12 Monaten)

Beeinträchtigungen:

Signifikante Beeinträchtigung des Kindes oder der Familie in mindestens einem der folgenden Bereiche:

1. Klinisch signifikantes Leiden beim Kind

2. Beeinträchtigung der Beziehungen des Kindes zu anderen

3. Verminderung der kindlichen Teilhabe an entwicklungsbedingten Aufgaben und Abläufen

4. Beeinträchtigung der familiären Teilhabe an alltäglichen

Aktivitäten und Abläufen

5. Beeinträchtigung des Erlernens neuer Fertigkeiten und der weiteren Entwicklung des Kindes

|12|DSM-53

Beziehungsstörung mit Enthemmung

Verhaltensmuster:

A. Ein Verhaltensmuster, bei dem das Kind aktiv zu unbekannten Erwachsenen Kontakt aufnimmt und mit ihnen interagiert und dabei mindestens zwei der folgenden Verhaltensweisen zeigt:

1. Verminderte oder fehlende Zurückhaltung bei der Kontaktaufnahme und Interaktion mit unbekannten Erwachsenen.

2. Übermäßig vertrautes verbales oder körperliches Verhalten (das die kulturell angemessenen und altersentsprechenden sozialen Grenzen überschreitet).

3. Verminderte oder fehlende Rückversicherung beim Entfernen von der erwachsenen Bezugsperson während eines gewagten Unterfangens selbst in unbekannter Umgebung.

4. Bereitschaft, ohne zu zögern oder mit geringem Zögern mit einem unbekannten Erwachsenen wegzugehen

Abgrenzung/Ausschluss: