Biografie - Maxim Biller - E-Book

Biografie E-Book

Maxim Biller

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Beschreibung

Maxim Biller hat den jüdischsten, amerikanischsten, komischsten Roman der deutschen Gegenwart geschrieben Dies ist die verrückte Geschichte von Soli und Noah, beste Freunde und fast Brüder seit ihrer Bar-Mizwa in der Hamburger Synagoge im Jahr 1976, verbunden durch ihre Herkunft, ihren Humor und ihre bizarren sexuellen Fantasien – und gemeinsam verstrickt in eine groteske Erpressungs- und Entführungsstory globalen Ausmaßes. Soli Karubiner, Schriftsteller und Erzähler dieses epochalen Romans, muss Deutschland verlassen, nachdem er in einer Sauna einen Skandal verursacht hat und ein deutscher Jungschriftsteller droht, das dabei aufgezeichnete Video online zu stellen. Aus Prag verfolgt Soli, wie Millionärssohn Noah Forlani, Gründer der NGO Goodlife und wild entschlossen, sein Erbe durchzubringen, den Hollywoodstar Gerry »El Dick« Harper dazu bringt, in seinem neuesten Kunstvideo mitzuwirken – in dem Noah selbst Joseph Goebbels spielt, natürlich nackt. Während es bei den Dreharbeiten im Sudan zu einer Entführung kommt, muss Soli sich mit seiner hysterischen, besitzergreifenden jüdischen Familie herumschlagen – und sieht den Ausweg aus diesem ödipalen Superdrama nur in der Flucht nach Tel Aviv. Von dort reist er mit Noah weiter nach Buczacz, dem Herkunftsort ihrer Familien, und kommt dem Geheimnis seines undurchschaubaren Vaters, eines Ex-Kommunisten, Geschäftsmanns und Doppelagenten, auf die Spur. Einmalig: Etwas wie diesen Entwicklungs-, Liebes-, Künstler-, Familien-, Wende-, Spannungs-, Heimat- und Holocaustroman hat es in der deutschen Literatur noch nicht gegeben. Schnell, episch, dialogisch und bei aller Ernsthaftigkeit sehr komisch!

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Seitenzahl: 1313

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Maxim Biller

Biografie

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Maxim Biller

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Vom selben AutorMottoWidmungPersonenErstes Buch1 Party bei Walhalla Film2 Noah macht sich Sorgen3 Café Balzac4 Wowa der Schreckliche5 In der Sauna6 Eine Frage an den Psychologischen Weltkongress7 Der falsche Buddha8 Und jetzt an die Arbeit!9 O wie A10 Die Litze der Hammerbachs11 Feuer im Schatzkästchen12 Solomon und seine Schwester13 »Wir haben schon mehr gelacht!«14 Ein Brief vom StaatsanwaltZweites Buch1 Los Angeles macht arm2 Der gefügige Deutsche3 Zwischen Masada und Berlin4 Vicodin5 Schwimmen mit Serafina6 Soli Karubinsex7 Mord am WerbellinseeDrittes Buch1 Der falsche Mönch und seine Methoden2 Agentenmärchen3 L.A. – T.A. – N.Y.C.4 »Warum, Tal?« – »Warum nicht?«5 EMDRViertes Buch1 Good morning, Über-Ich!2 Aufruhr am Gordon Pool3 Der große Awi-Blumenschwein-Trick4 Oritele revisited5 Die Braut, ihr Vater und Rabbi BalabanFünftes Buch1 Nach Buczacz2 Jewlysses3 Jour fixe im Café Slavia4 Erleuchtung auf dem Achad-Ha’am-Friedhof5 Das Ende des Goldenen Podolischen ZeitaltersDisclaimer
zurück
Vom selben Autor

Wenn ich einmal reich und tot bin

Die Tempojahre

Land der Väter und Verräter

Harlem Holocaust

Die Tochter

Kühltransport

Deutschbuch

Esra

Bernsteintage

Moralische Geschichten

Menschen in falschen Zusammenhängen

Liebe heute

Der gebrauchte Jude

Kanalratten

Im Kopf von Bruno Schulz

zurück

»Nichts gelingt wie geplant.«

Joseph Heller, Gut wie Gold

zurück

Für Anna

zurück

Personen

Die Forlanis
Noah,

Erbe, Gründer von Goodlife und Direktor des 1. Psychokatalytischen Instituts

Schloimel,

sein Vater und Multimillionär

Fruma,

Noahs Mutter, geborene Zirkelstajn

Thekla,

die einbeinige bayerische Haushälterin der Forlanis

Merav,

Noahs israelische Ehefrau

1 und 2,

Noahs Töchter

Malgorzata,

Noahs Ex-Kinderfrau und Prostituierte

Die Karubiners
Solomon,

genannt Soli, Schriftsteller

Papascha, Wowa der Schreckliche,

genannt sein Vater, Schriftsteller, Exkommunist, Geschäftsmann und Doppelagent

Mamascha,

Solis Mutter und Schriftstellerin

Serafina,

Solis Schwester und ebenfalls Schriftstellerin

Mendel,

genannt Djeduschka, Wowas Vater und Solis Großvater

Ingrid,

Wowas deutsche Geliebte

Die Wechslbergs
Mel,

sowjetischer Agent

Valja,

sein Sohn und Serafinas leiblicher Vater

In Hamburg
Rabbi Schmuel Balaban,

Autor des Bestsellers Geld ist alles und Serafinas Verlobter

Awi »Blumenschwein« Blumenstein,

Millionär und Jugendfreund von Noah und Soli

Abigail,

Awis Schwester

Die beiden Gartenstein-SchwesternNatascha »Nataschale« Rubinstein,

Anästhesistin und Noahs und Solis große Liebe

Ethel Urmacher,

Kommunistin und Noahs Geliebte

Karol »Kapitan« Urmacher,

Ethels Vater, Immobilienhändler und Multimillionär

In Los Angeles
Gerry Harper,

genannt El Dick, Bronco oder New Casanova, Hollywoodschauspieler, Regisseur und Junkie

Lou Harper,

Singer-Songwriter und Gerrys Vater

Haimele Rotgast,

Mafiaboss, Lous Vater und Gerrys Großvater

Conny Lockhart,

Gerrys Mutter

Tal »The Selfhater« Shmelnyk,

israelischer Elitesoldat, Friedensaktivist, Agent, Drehbuchautor und Gerrys bester Freund

Fritz von Dunckenberg,

Regisseur und Geliebter von Ethel Urmacher

Jeff Goldblum,

Hollywoodschauspieler

George Costanza,

Hollywoodschauspieler

In Buczacz
Der Gestapochef von StanislauDer Apotheker HucinerGoldstein,

der Redakteur des Jiddischen Weckers

Wajs und Weiss,

die Vorsitzenden des Shomer Hatzair und Hechalutz

Jechiel Karubiner,

der Leiter der Sprachschule Safa Brura, Bruder von Djeduschka Karubiner und Solis Großonkel

Dr. Geldzaler-Lewin,

der perverse, aber beliebte Direktor des städtischen Gymnasiums

Motke Zirkelstajn,

der berühmte Furzartist, Vater von Fruma, der Mutter von Noah

Die Ärzte
Dr. Endre Savionoli,

Ungar, Antisemit und Psychiater, Hamburg, Berlin, später Budapest

Dr. Czupcik,

Naturopath, zuerst Hamburg, dann Tel Aviv

Tissa Ehrenstein,

Psychotherapeutin und Lacan-Schülerin, Petach Tikwa

Dr. Kohn-Prokopova,

Psychologin und EMDR-Spezialistin, Prag

Dr. Selgado,

Gerrys drogensüchtiger Hausarzt, Los Angeles

Schwester Cummings,

Palo Alto

Außerdem
Oritele Cohen,

Videokünstlerin und Solomons israelische Ex-Geliebte

Zoar Turgeman,

Popstar und Oriteles Verlobter

Shula Cohen,

née Sasson, Oriteles irakische Großmutter

Claus Müller,

genannt Claus die Canaille, Schriftsteller und Erpresser

Rami Bar-On Rashnawala Pranjabba Shaki »7« Inch,

alias alias israelischer Elitesoldat, Antiquitätenhändler und buddhistischer Mönch, verliebt in Merav, Noah Forlanis Ehefrau

Kostja Kostos,

früher Wowas Führungsoffizier, später Unternehmer und Kunstmäzen

Major Sekora,

StB

Regierungsoberinspektor »Börne«,

BND

Ute,

genannt Knute, Direktorin von Goodlife

Michail Chodorkowski,

ihr Geliebter

Uri Avnery,

ihr Geliebter

Avishai Glick-Apfelbaum,

Jugendfreund von Tal, verbrannt bei einem Terroranschlag

Abulafia Shmelnyk,

Tals lesbische Mutter

Lilly Schechter,

genannt Lilly the Pilly, Comedian und Noahs sowie Solomons Internet-Geliebte

Julča,

minderjährige Roma und Prostituierte

Ms Muhammad Ali,

sudanesische Lift-and-Carry-Domina

Guinevere,

die englische Riesin

Bunny Glamazon,

Schlammcatcherin

zurück

Erstes Buch

1Party bei Walhalla Film

Vielleicht, aber nur vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn Noah Forlani, mein Freund und Bruder, an Silvester 2005 nicht nach Berlin geflogen wäre, wo er bei einer kleinen, verwirrenden Filmparty in der Schliemannstraße 12 erst den Tisch mit den Wasabi-Canapés und dem südafrikanischen Prosecco umwarf und danach Ethel Urmacher vor allen Leuten die linke Wange streichelte. War also alles seine eigene Schuld? Er hätte genauso zu Hause in Herzlia Pituach bleiben können, wo seine etwas zu klein geratene Frau Merav mal wieder ein Essen gab, bei dem zehn langweilige Israelis den ganzen Abend leise sprechend um ihren drei Kilometer langen Mogensen-Tisch herumstanden und Krevetten auf Rucola aßen. Ja, genau die Merav – die mit dem Nan-Goldin-Komplex, den Prada-Stilettos, dem eher warmen als kalten Herzen und der unangenehmen Angewohnheit, Noahs Freunden extra muros zu erzählen, er könne nur, wenn er sich in einem schmutzigen Hemd aufs Bett setzte, die Hände ans imaginäre Steuer legte und zu ihr sagte: »Und, Kleine, wohin soll ich dich mitnehmen?«

Ich war in dieser Nacht nicht in Berlin und nicht in Herzlia Pituach, und wäre ich nicht nach Prag gefahren, um die Saunasache und alles andere zu vergessen, hätte Noah auch nicht meine Wohnung niederbrennen können – und die Shylock war hier-Datei wäre noch da und Noah nicht ein ganzes Jahr tot gewesen. Aber vielleicht wäre es, was mich angeht, noch klüger gewesen, in Herzlia Pituach bei Meravs Abendessen dabei zu sein und eine von diesen Tel Aviver Cantina-Schabracken kennenzulernen, die zwar alle genug jiddische Mame in sich haben, aber trotzdem wissen, dass beim Sex die Finger der Frau nicht dazu da sind, heimlich unter der Bettdecke zu zählen, wie lange es noch dauert, bis der zukünftige Ehemalige endlich k.o. gehen wird.

Während ich, der alleswissende, nichtsverstehende Solomon Karubiner, in Prag auf einem Balkon des Hotels U Dvou koček stand, auf dieses blasse frühkapitalistische Silvesterfeuerwerk über dem Hradschin guckte und überlegte, was der Unterschied zwischen Neoliberalismus und Kommunismus war – kommt darauf an, wer fragt –, rutschte Noah in Berlin fast aus bei dem Versuch, sich Gerry Harper zu nähern, in Brentwood und Umgebung wegen seiner sexuellen Möglichkeiten auch »El Dick« genannt. Gerry war mit Tal »The Selfhater« Shmelnyk da, dem manischen, rotgesichtigen, matzebrotdünnen Israeli, der für Noah das zweite Goebbels-Video drehen sollte, was er aber noch nicht wusste. Noah wollte Gerry ein gutes neues Jahr wünschen. Er wollte ihn auch fragen, ob sie sich nicht mal in L.A. sehen könnten – entre nous –, er habe dort wegen der Beteiligung an einem Fairtrade-Kosher-Nacho-Inn bald zu tun. Und er wollte ihm sagen, aber erst später, er könne nur in der Gegenwart besonders berühmter, bedrückter Leute seine eigenen Geld- und Post-Holocaust-Depressionen vergessen. Vor allem, wenn diese Leute wie Gerry »El Dick« Harper im letzten Bryan-Singer-Film den neuen Obernazi Tom Cruise an die Wand gespielt hatten, an der dieser zum Schluss von den anderen Gojim in gehackte Leber verwandelt wird.

Noah machte, nachdem er das Gleichgewicht wiedererlangt hatte, einen Schritt zu viel. Er stand jetzt so dicht vor Gerry, dass der genauso tief in seine aufgerissenen Augen blicken konnte wie ein Betrunkener in die Toilette, in die er sich übergeben wird. Und während Noah noch den Mund öffnete, um wie immer etwas völlig Falsches zu sagen, und sich dabei wie in einem Film vorkam, der in Superzeitlupe lief, sagte Gerry: »Easy, du Homo.« Easy, du Homo? Noahs Film rollte langsam weiter, Noah dachte, wo ist Mamas Kamera, die mich schon wieder filmt, und er sagte gleichzeitig: »Ähm … Happy New Year, Gerry!« Dann küsste er ihn auf beide Wangen, wie es sonst die Alten und die Jungen an Roschaschana in der Synagoge tun, er leckte ein bisschen zu lange das Gesicht des besten Freunds von Owen Wilson, Conan O’Brien und Senator Kennedy ab, und der Rest von Noahs Film lief im Zeitraffer. El Dicks Faust flog gegen Noahs platte, tatarische Nase, worauf Noah in den Tisch mit den Wasabi-Canapés und dem Prosecco stürzte. In diesem Moment wusste Noah noch nicht, dass er bald keinen Cent mehr haben würde, nichts mehr von dem sagenhaften Schatz, den sein Vater, der alte Schloimel Forlani, in fünfzig schnellen Nachkriegsjahren zusammengeklaut hatte. Aber es fühlte sich schon genauso an.

Fünf Sekunden später kam Ethel Urmacher ins Spiel. Ethel war groß und ein bisschen fett – aber wer sie im Badeanzug sah, dachte, so fett ist sie gar nicht, und wenn ihre Pflaume nicht so groß ist, wie sie eigentlich sein müsste, wenn sie so angenehm schmeckt wie Rosenwasser in einem japanischen Shintotempel (das fiel mir gerade so ein) und denselben pH-Wert hat wie die eigene Zunge, dann, ja dann könnte sie sogar die Frau fürs Leben werden. Noah hatte Silvester 2005 aber schon die Frau fürs Leben, und zwei Kinder hatte er auch mit ihr, und obwohl er und Merav seit Tisch b’Aw 5763 nicht mehr Autostopp gespielt hatten, stand auf keinem der vielen kleinen Notizzettel, die überall in seinen Taschen steckten: »Merav in den Arsch treten, ihr das Haus und den Rest von allem überschreiben und zu Ethel ziehen.« Doch. Aber erst viel später.

Noah kannte Ethel seit der achten Klasse. Er und ich kannten uns auch seit der achten Klasse, aber während wir beide fast immer alles zusammen gemacht hatten – Hausaufgaben, Rekordmasturbieren, das Valium und die Kondome unserer Eltern ausprobieren, Strandhosen von Dries van Noten zum Schreiben anziehen, vorletzte Silben zu lang dehnen –, verband Noah und Ethel nur ein paar Jahre derselbe Schulweg. Rutschbahn, Hallerplatz, die Bogenstraße hoch bis zum HLG, wo Ethel im ersten Stock nach links abbog, während Noah weiter in den dritten musste, und nach der Schule wieder dieselbe Strecke zurück.

Damals war Noah sexuell noch in der Übergangsphase. Die Schläge der polnischen Kinderfrauen, mit denen er aufgewachsen war, brannten auf seinem Rücken und seinem Arsch, wann immer er an sein Leben zwischen dem zweiten und siebten Jahr dachte. Das passierte dreimal am Tag, und dass er davon eine Erektion bekam, fiel ihm auf, aber nicht, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Ständer und der Erinnerung an die bösen, bösen Frauen gab. Das begriff er erst viel später, 1985, auf Sardinien, in diesem kleinen, nach Putzmitteln stinkenden Hotel in Punta del Giorno, wo wir unsere Wir-schreiben-jetzt-beide-einen-Roman-Ferien machten. Dort gab es, als Sommer- und Herbstdauergast, diese unglaubliche, riesige, englische Kuh, die mit uns am liebsten Fangen spielte. Ja, Fangen. Wir rannten um den Pool hinter ihr her, oft stundenlang, und natürlich griff auch ich ab und zu in ihre speckigen Hüften, aber mir gab das nicht viel. Noah wollte, wenn er sie hatte, dass sie ihn gegen das bröckelnde Mäuerchen neben dem Strandcafé drückte, und war niemand in der Nähe, zog er seine Wasserpumpgun raus, schob sie der Engländerin mit dem Griff in die Hände und bat sie, ihm einen kräftigen Schuss zwischen die Augen oder, noch besser, auf den nackten Bauch zu verpassen. Zu der Zeit dachte Noah bereits, er sei pervers. Aber war er das wirklich? Hätte er dann nicht wenigstens als Dreizehnjähriger Ethel Urmacher auf dem Weg vom HLG ins Grindelviertel angefleht, ihn ins Gebüsch zu stoßen oder ihm von hinten in die Hacken zu treten? Dass für ihn Gewalt plus Ständer gleich Liebe war, begriff er erst auf Sardinien. Warum? Weil ihn der Wasserstrahl, der ihn traf, zwar happy machte, sehr happy, aber nicht verliebt. Was ist der Unterschied zwischen Liebe und Sex? Wie soll ich, Soli Karubiner, der Sohn eines Familienstalin und einer treulosen Mutter, das wissen, wenn ich selbst nicht weiß, was Liebe ist?

Als Ethel sich an Silvester 2005 über Noah beugte, hatten die beiden sich seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. »Schlimm?«, sagte Ethel. Sie hatte Noah nicht erkannt. Sie guckte in ein hübsches schmales, dämliches Gesicht, an dem ihr zuerst auffiel, dass es zwar rasiert war, aber nicht überall. Kleine braune Büschel klebten am Hals und unter dem Kinn, und sofort blinkte in Ethels Erinnerung ein anderes Gesicht auf. Als würde sie im Dunkeln fotografieren, leuchtete immer wieder, wie vom Blitz erhellt, die aufgescheuchte Miene dieses unglaublich süßen, schlecht rasierten Kerls auf, der damals, wenn sie ihn fragte, was er nach der Schule noch mache, frech stotterte: »Ich hol mir einen runter.« Pause. »Nein, das war ein Witz, Ethelein. Ich mach Hausaufgaben, dann würge ich den Weltraumfraß meiner Mutter herunter, und dann gucke ich mit meinen Eltern und Thekla, unserem einbeinigen bayerischen Dienstmädchen, bis zwei Uhr nachts fern. Das war übrigens kein Witz.« Es war zwar genauso, wie Noah sagte, nur dass er immer wieder in seinem Zimmer verschwand, sich aufs Bett warf und den Bauch und alles andere, was er unten hatte, so oft gegen die Matratze stieß, bis er kam.

»Schlimm?«, wiederholte Ethel, und in ihrem Kopf klingelte es wie bei Börsenschluss in New York. Dann sagte sie: »Noah? Noah Forlani? Ich dachte, du bist verheiratet und lebst in Tel Aviv.«

Noah, benommen von Gerrys Boxschlag, hatte auch eine Vision. Das runde jüdische Frauengesicht, behängt mit dichten, fettigen Locken, das sich so unerwartet über ihn beugte, blieb in dieser Vision allerdings, wie es war. Er sah kein beglückendes inneres Blitzlichtgewitter wie Ethel, er hatte kein metaphysisches Wiedersehensgefühl oder den Eindruck, seine Gene hätten es jetzt endlich nach Hause geschafft. Noahs Vision war nur ein Gedanke. Ich Blödmann, dachte Noah, ich könnte doch auch mal mit einem von unseren Girls ringen! Und dann sagte er zu Ethel: »Kennen wir uns? Ist ja auch egal. Hast du nicht Lust auf ein bisschen Armdrücken?« Dabei fiel ihm seine herrische israelische Ehefrau Merav ein, die komischerweise trotzdem immer alles machte, wie er es wollte, und er wurde traurig und bekam eine von seinen Klein-Midas-Depressionen. Meravs Körpergröße: ein Meter zweiundfünfzig. Meravs Gewicht: an schlechten Tagen fünfundvierzig Kilo, sonst zweihundert Gramm mehr. So viel wog wahrscheinlich allein schon der linke Schenkel dieser gigantischen Super-Golda, die sich gerade so mütterlich um ihn sorgte.

Ethel lächelte. Ja, er war’s! Wie lange hatte sie darauf gewartet, ihn wiederzutreffen? Überhaupt nicht. Aber als sie begriffen hatte, dass vor ihr der konfuse, lustige, hyperaktive Noah aus der 8b lag, wusste sie sofort, dass sie ihn brauchte, dass sie nur mit ihm wieder Boden unter die Füße bekäme, den Boden ihrer fast schon verloren geglaubten ostjüdischen Mütterlichkeit, und sie wunderte sich, wie sie es ohne diesen schmächtigen Jeschiwa-Boy die letzten zwanzig Jahre ausgehalten hatte. »Ja, ich liebe Armdrücken«, log sie, »aber nur, wenn ich gewinnen darf!«

Noah stand auf, klopfte sich die Canapés und die Scherben vom Anzug, wankte und setzte sich gleich wieder hin. Ethel reichte ihm die Hand, er nahm sie, und sie zog ihn hoch. Nein, sie hob ihn eher hoch, mit einer Leichtigkeit, als bestünde er aus Luft und überflüssigen Gedanken.

»Du blutest«, flüsterte Ethel.

»Was? Wieso?«

»Hier … deine Hand.«

Noah hielt ihr – wie einer Krankenschwester, die ihn verbinden sollte – beide Handflächen hin. In der linken steckte ein funkelnder Glassplitter, und er überlegte, ob ihm jetzt schlecht werden sollte. Eigentlich ging es ihm sehr gut. Es war seine Schuld, dass Gerry ihn geschlagen hatte, und es hatte ihm sogar ein bisschen gefallen. Natürlich nicht auf diese »besondere« Art, denn er war zwar alles – ängstlich, geil, unterwürfig, planlos –, aber ein masochistischer Homo war er nicht. Leider. Das sagte er manchmal so ernst zu mir, dass ich ihm sein Bedauern fast glaubte. »Leider, mein lieber Karubiner«, erklärte er, wie immer, ohne zu stottern, wenn wir unter uns waren, »leider hat Gott mich straight gemacht. Straight und schüchtern. Lieber wär ich natürlich schwul. Schwule sind nicht schüchtern, oder? Und sie haben jeden Tag Sex.«

Ganz früher hatten Noah und ich uns manchmal die Faust hingehalten und gesagt: »Wonach riecht das?« Dann hatte man antworten müssen: »Nach Friedhof.« Gerry Harpers sehnige, harte Hollywood-Faust roch nach »Strafe«. Nach Strafe für das ganze irreversible Glück, das der junge Noah Forlani als Sohn des alten Schloimel schon immer gehabt hatte. Er konnte sich fast alles und fast jeden kaufen – bis auf das richtige Loch, wie Tal »The Selfhater« an dieser Stelle einwerfen würde –, und er war mit Sätzen seines Vaters wie diesen aufgewachsen: »Hunderttausend Dollar sind besser als eine Million, mein Kleiner. Die Million liegt irgendwo herum, aber mit den Hunderttausend muss man arbeiten. Muss ich arbeiten, Noahle. Du geh lieber studieren, oder amüsier dich ein bisschen!«

Wer vom ersten Tag seines Lebens an umspült wird von einem solchen Liebes- und Geldstrom, wer eine solche Kindheit und Jugend geschenkt bekommt, der weiß nicht, was Unglück und Schmerz ist, und das empfindet er als eine große Gemeinheit. Wo ist Gerry, der durchtrainierte und unsentimentale Kalifornier, dachte Noah überglücklich, ich muss ihn suchen und ihm für den warmen, überraschenden Schmerz danken, den er mir mit seinem Schlag zugefügt hat. Und dann gehe ich mit Super-Golda in Solis Wohnung, und wir ringen ein bisschen.

»Wir sollten die Wunde sauber machen«, sagte Ethel.

Noah nickte.

»Und die Hand verbinden.«

Er nickte wieder.

»Ich wohne in der Wörther Straße, das ist gleich hier.«

Er nickte und sagte: »Bei mir ist es aber auch ganz bequem.«

Sie lächelten sich an. Das heißt, Ethel lächelte und Noah zog haifischhaft die Mundwinkel hoch.

»Was hast du eigentlich zu ihm gesagt?«, sagte sie.

»Würdest du in meinem Goebbels-Video spielen?«

»Das hast du zu Gerry Harper gesagt? Wirklich?«

»Nein, das sag ich zu dir.«

»Bist du in Israel verrückt geworden? Was für ein Goebbels-Video? Lebst du überhaupt noch dort?«

»Und wie«, sagte Noah. Dabei seufzte er wie ein Jecke, der seit August 1935 dreimal täglich auf die Hitze, die Stadtverwaltung, die Araber und die anderen Juden schimpft, während er im Café Mugrabi auf der Allenby jungen Frauen zwischen die Beine guckt.

»In Tel Aviv?«, sagte Ethel.

»In Herzlia. Herzlia« – wieder dieses Seufzen –, »Pituach«.

Inzwischen standen ein paar Leute um die beiden herum. Die Sorte »Nicht hässlich, aber auch nicht schön und trotzdem beim Film«, und wenn jemand Statisten für eine Stalingrad-Serie gesucht hätte, hier hätte er sie gefunden. Noah war die verklemmte deutsche Stimmung, die sich gerade über seinem niedergestreckten Körper ausbreitete, egal. Seit er in Israel lebte – und als Sohn eines menschenfreundlichen Vaters –, interessierten ihn ethnische Unterscheidungen kaum noch. Außer jemand war eine achtzig Kilo schwere ukrainische Nutte, die sich, damit es ihm richtig schön schlecht ging, auf seinen Brustkorb setzte. Die hatte er dann besonders gern.

Die Leute stierten ihn an und sagten nichts, Noah stierte genauso dämlich zurück. Dann drehten sich alle schnell weg, weil sie merkten, dass Ethel bei Noah stand, ihn verliebt ansah und seine blutende Hand streichelte. Die meisten dieser überempfindlichen neuen Deutschen, die für den Rückzug ihrer Soldaten aus Afghanistan waren und gegen die Neoprenburkas, in denen sich muslimische Mädchen immer häufiger in Berliner Schwimmbädern zeigten, hatten natürlich noch nie erlebt, dass jemand niedergeschlagen wurde. Und darum würden sie jetzt leiden. Sie würden am Ende dieser Neujahrsnacht bedrückt ins Bett gehen, sie würden bedrückt wieder aufstehen, sie würden denken, was für ein Scheißomen für dieses neue Scheißjahr. Und später würden sie sich lange an diese Party erinnern – die Walhalla Film feierte Silvester und eine neue Avid-Maschine, die automatisch alles, was witzig und jüdisch war, rausschnitt –, eine Party, bei der zuerst ganz lange nichts passierte. Bis, ja, bis ein plötzlicher amerikanischer Gewaltausbruch gegen diesen dünnen hektischen Stotterer mit flaumübersäten mongolischen Wangenknochen sie daran erinnerte, dass das Leben doch nicht perfekt war. Palästina, Ruanda, Darfur, Schliemannstraße 12.

Gerry und Tal »The Selfhater« Shmelnyk waren natürlich verschwunden. Noah löste sich aus seiner Erstarrung und sagte zu Ethel: »Kann die Scherbe noch ein bisschen drinbleiben? Ich muss schnell was erledigen.« Er zog die blutende Hand weg, machte einen Schritt nach vorn und blieb wieder stehen. So männlich wie jetzt war er sich das letzte Mal in der Synagoge an Jom Kippur vor dreißig Jahren vorgekommen, als Rabbi Balaban uns angefahren hatte, wir sollten nicht reden. Worauf Noah laut stammelte: »Gott h-h-hört nur, was er hören will, Sie jeckischer Blödmann!« Und dreihundert Hamburger Juden, die sonst immer brav und still wie eine evangelische Sonntagsgemeinde in der kalten, weißen Fünfzigerjahre-Schul an der Hohen Weide herumsaßen und mit latentem Übelkeitsgefühl darauf warteten, dass Balabans lahmer Gottesdienst endlich vorbei war, applaudierten. »Wir verbinden die Hand später«, sagte Noah zu Ethel in der tiefsten Stimmlage, die er hatte. Dann rubbelte er vor allen Leuten ihre dicke, haarige Wange, als wäre sie ihr Allerheiligstes.

Ethel, die sofort Angst bekam, dass ihr in letzter Sekunde die Beute ihres Lebens entwischen könnte, erwiderte geistesgegenwärtig: »Aber ja. Jaja, gar kein Problem. Ich komm mit.« Sie hakte sich bei Noah ein, und Noah wurde von ihrem dicken Arm halb zu Boden gedrückt. »Soll ich dich tragen?«, sagte Ethel. Sie lächelte. Sie meinte es nicht ernst. Und sie wusste nicht, wie gern Noah Ja gesagt hätte – gerade heute. »Ich hab euch früher immer beim Sport zugeguckt«, sagte Ethel plötzlich, von ihren eigenen Worten überrascht, als sie im Treppenhaus auf den Fahrstuhl warteten. »Du warst immer der Schlechteste, das hat mir gefallen.«

»Ja, mir auch«, sagte Noah. »Leider mussten wir ohne euch Mädchen ringen.«

»Ihr hattet Ringen?«

»Ihr nicht?«

 

Gerry und Tal standen auf der Straße und rauchten. Tal, auch so ein Dünnling wie Noah, aber drahtig und furchtlos, grinste vor sich hin wie jemand, bei dem man nicht weiß, steht er unter Drogen, wartet er auf Drogen oder hat er mal im Gazastreifen einen zwölfjährigen Palästinenser umgelegt, weil der sein Magnum-Eis so bescheuert hielt, dass man denken musste, es sei ein Molotowcocktail, den er gleich gegen Tals Mannschaftswagen schleudern wird. Gerry lächelte nicht. Er trug in seinem jungen eckigen Crocodile-Dundee-Gesicht die antrainierte Ernsthaftigkeit eines Schauspielers, der zwar seine Drehbücher zuerst falsch herum hält, aber – weil er schon hundertmal im Leben Auf Wiedersehen zur geliebten Filmteam-Familie sagen musste – über eine emotionale Intelligenz verfügt, die man sonst nur von achtjährigen Scheidungskindern kennt.

Als die beiden Noah und Ethel aus dem Haus rauskommen sahen, nickten sie sich stumm zu.

»Hey, du Homo«, sagte Gerry zu Noah, »alles klar?«

»Klar, alles klar«, sagte Noah. »Aber ich bin kein Homo.«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Gerry.

»Ja – leider.«

»Leider? Okay. Leider.«

Gerry sah Tal an, und der nickte wieder stumm, aber Gerry schüttelte – auch stumm – den Kopf. Tal grinste noch mal, jetzt nicht mehr so nervös. Es war das Grinsen eines Menschen, der etwas will, unbedingt will, und sich deswegen schämt, aber so sehr auch wieder nicht, denn er ist von der Richtigkeit seiner Forderung überzeugt.

»Frag ihn doch selbst«, sagte Tal zu Gerry. Aber Gerry zuckte wieder herrisch mit dem Kinn.

»Ich wollte nur …«, sagte Noah langsam.

»Hör zu, Homo«, unterbrach ihn Gerry, »ich hab gehört, du hast ein paar ziemlich gute Ideen.«

»Ich wollte dir«, wiederholte Noah, »Danke sagen.«

»Danke? Wofür?«

»Ich hab Gerry von Goodlife erzählt«, sagte Tal plötzlich.

»Wirklich, Gerry«, sagte Noah, »das war ein super Schlag. Wow!« Und dann, als ob er gerade aufgewacht wäre, fiel er sich selbst ins Wort: »Ach so, ja, Goodlife. Zurzeit denke ich viel über so ein … Video nach.«

»Dritte Welt interessiert mich auch«, sagte Gerry und schnippte seine Zigarette weg. Sie trudelte durch die Luft auf die andere Straßenseite, wo eine alte Frau ein Fahrrad neben sich herschob, an dem zehn schmutzige Plastiktüten hingen. Sie hob den Stummel auf und rauchte ihn weiter, und als Gerry das sah, wirkte sein melancholisches Gesicht für eine Sekunde wie ein ausgewrungenes Handtuch.

Noah war die Szene natürlich egal. Das Unglück, das er mit eigenen Augen sehen konnte, interessierte ihn nicht, er stand nur auf medienvermittelte Dritte-Welt-Desaster. Allerdings hasste mein armer Noah nichts so sehr wie die Bezeichnung »Dritte Welt«. Wahrscheinlich auch deshalb, weil das wie »Drittes Reich« klang, aber sicher bin ich mir nicht.

»Gerry«, sagte er, »es gibt keine Dritte Welt. Sonst gäbe es ja auch eine Erste Welt. Und so arrogant wollen wir doch nicht sein. V-v-verstehst du?«

Gerry nickte und guckte jetzt so, als hätte ihm jemand seinen ungewaschenen Finger ganz tief hinten reingeschoben. Jemand? The Incredible Hulk. Mindestens.

So ging es weiter: Tal sagte, Gerry plane eine Doku im Michael-Moore-Stil, nur viel besser, über einen jüdischen Ex-Marine, der letztes Jahr im Sudan als UN-Beobachter von den Dschandschawid angeschossen, vergewaltigt und als Sexsklave durch die Wüste mitgeschleppt wurde. Noah sagte, das ist ja sehr interessant, ich plane gerade mit Goodlife eine Kampagne gegen Fettsucht an den Hamburger Schulen. Tal sagte, das ist was anderes, Blödmann. Gerry sagte, nein, lass ihn, Erste Welt, Dritte Welt, wo ist der Unterschied, und er guckte so entspannt, als hätte Hulk den Finger wieder aus ihm rausgezogen. Tal grinste und nickte. Noah sagte noch mal, das ist ja sehr interessant. Tal sagte, Gerry braucht fünf Millionen, wir wollen in den Sudan und ein paar Szenen mit Jeff – Jeff Goldblum! – nachspielen, zum Beispiel, wie er die Fackel auf das christliche Hüttendorf wirft und Hora tanzt, während es niederbrennt und die Dschandschawid ihn dabei filmen. Stockholm-Syndrom, sagte Noah. Was soll denn das sein?, sagten Gerry und Tal gleichzeitig. Das ist, mischte sich Ethel ein, wenn sich Geiseln in ihre Geiselnehmer verlieben oder umgekehrt, und sie presste sich noch enger an Noah. Wir dachten, sagte Tal, du könntest den Film finanzieren, Blödmann! Klar, sagte Noah, aber nur, wenn du für mich das Goebbels-Video drehst. Was für ein Goebbels-Video?, sagte Gerry. Ich spiele Joseph, wie er mit Magda im Bunker die Kinder vergiftet und dabei Eine jiddische Mame singt, sagte Noah, das gibt gleich tausend Nazis weniger in den Suburbs von Karl-Marx-Stadt. Tal sagte gedehnt, o-kay. Gerry sagte, bist du verrückt?! Und Noah sagte, nein, nein, bin ich nicht, und du, Gerry, spielst für mich den netten Herrn Rüstungsminister Speer, sonst rückt Goodlife keinen einzigen Dollar raus. (Das alles natürlich auf Englisch.)

Fühlte Noah sich in diesem Moment endlich mal wieder so, als hätte er zwei Eier, und zwar auch noch aus Stahl? Sorry, das war jetzt zu schnell. Ich habe ja noch gar nicht Noahs Ein-Ei-Drama erwähnt, das über uns kam, als Noah Mitte dreißig war und gerade Kind Nummer eins gemacht hatte. Diesen Angriff der Ewigkeit auf seine unewige Existenz hatte er damals wie einen Schnupfen abgewehrt. Vielleicht auch deshalb, weil wir alle, ihn eingeschlossen, zuerst nicht begriffen hatten, was los war. Ich machte Witze, Noah auch, und Schloimel Forlani, der zu der Zeit noch mehr oder weniger am Leben war, sagte zu Noah, als er ihn nach der OP in der St.-Jesus-Klinik von Professor Paulus am Innocentiapark besuchte: »So, mein Kleiner, jetzt weißt du endlich, wie es ist, wenn dir ein Deutscher dort unten reintritt.« Die kleine zielstrebige Merav nahm die Sache als Einzige ernst, weil sie noch Kind Nummer zwei von ihm wollte. Und das hat Noah ihr sogar gemacht – mit einem Ei, fast drei Jahre später, aber ohne viel Liebe.

Nein, Noah fühlte sich in diesem großen Augenblick überhaupt nicht gut. Während er mit Gerry und Tal draußen auf der eisigen Schliemannstraße stand und redete, den Ethel-Urmacher-Koloss sicher im Schlepptau, während er so tat, als wisse er genau, was er von diesen beiden Kleingangstern wollte, und dabei ähnlich zufrieden guckte wie Schloimel Forlani zwischen Morgenkaffee und Morgenzeitung auf seinem Carrara-Marmor-Klo, während über ihnen die ersten Silvesterraketen explodierten, dachte er eigentlich nur an die Datei von Shylock war hier, und er hasste mich. Aber nicht dafür, dass ich seine Geschichte gestohlen oder erzählt hätte. Und auch meine Übertreibungen – Noah Forlani aka Itai Korenzecher dringt zu Prez Ahmadinedschad vor und überschüttet ihn mit Hühnerbrühe, Itai Korenzecher verschenkt alles, was er geerbt hat, an ein Slow-Sex-Institut in Dhaka, Itai Korenzecher schubst den Kantor von der Bima und singt tausend Hamburger Juden statt des Kol Nidre ein paar alte Songs von Joseph Schmidt und Heinz Rühmann vor, worauf ein Blitz in die Hohe-Weide-Schul einschlägt, Korenzecher verpasst und dem Kantor ein Loch in die Hose brennt –, ja, auch meine Übertreibungen fand Noah ziemlich genial. Na ja, halb genial vielleicht, aber immerhin. Und trotzdem hasste er mich, denn leider waren sie nicht von ihm.

Wie lange wollte Noah, mein Noah selbst diese Art von Buch schreiben? Nein, wie lange wollte er genau dieses Buch schreiben? Geplanter Titel: XY – den Namen für seinen Helden hatte er noch nicht – und seine Fälle und Unfälle, von ihm selbst erlebt, überlebt und erzählt. Noah hatte, bevor er in die Schliemannstraße gefahren war, bei mir zu Hause in meinem Computer gestöbert – mit den Büchern, Briefen und offen herumliegenden Manuskripten war er schon durch – und dabei die Shylock war hier-Datei entdeckt. Schon wieder selber schuld!

»Es könnten auch sechs Millionen werden, Blödmann«, sagte Tal »The Selfhater« Shmelnyk jetzt.

»Und es könnte auch sein, dass wir noch einen dritten Teil vom Goebbels-Video drehen werden«, sagte Noahs Mund ironisch, während sein Hirn sich zusammenzog wie bei anderen Leuten der Magen, wenn ihnen übel wird. »Also, was ist, bist du dabei, Freund?«

»Bist du dabei?«, sagte Tal. »Sieben Millionen. E-uro!«

Und schon wieder rollte in Noahs kotzendem Gehirn die übliche Assoziationswelle. Zuerst sah er sich selbst, bei seinem allerersten Mal, als seine Mutter reingekommen war und gesagt hatte: »Ach, Noahlein, wie schön, lass dich nicht stören, mach nur weiter.« Drei Minuten später stand die dicke, einbeinige Thekla in der Tür. Sie flüsterte auf Bayerisch: »Deine Mutter hat gemeint, ich soll deine Bettwäsche wechseln, wenn du fertig bist. Und, Spatzl, bist schon so weit?« Also drehte er sich auf die andere Seite und verschob die Selbstentjungferung um zwei Jahre.

Dann sah Noah mich und Natascha Rubinstein in Auschwitz, April 1988. Er saß damals die ganze Woche an seiner Seminararbeit über Potenzstörungen bei der Second Generation, während Nataschale mir in Breslau, Warschau und Oświęcim ganz untraumatisiert die Kronjuwelen polierte und wir uns gegenseitig ewige Liebe versprachen. Noah hatte ihr auch etwas versprochen, kurz vor unserer Polenreise: ein Haus in Othmarschen, eine Finca in Palermo (gibt’s so was überhaupt?) und eine Duplex-Wohnung im obersten Stock des Kolbo-Schalom-Hochhauses in Tel Aviv. Als Nataschale und ich aus Polen zurückkamen, hatte sie genug von meiner Selbstverliebtheit und dem ewigen Judengerede. Sie rief Noah an, und sie trafen sich, beide ziemlich unaufgeregt, vor Burger King auf der Mönckebergstraße, Nebeneingang für Türken und deutsche Islamkonvertiten. Als sie sagte, sie habe sich jetzt doch für ihn entschieden, sagte er: »Aber nicht mehr als zehntausend im Monat, Pupkale, ist das k-k-klar?« Und schon war sie verschwunden.

An diesem Punkt brach die Welle seiner trostlosen Assoziationen, Noah trudelte durch den weißen Schaum seines Minderwertigkeitskomplexes, und dann war Oxford dran, seine Ur-Niederlage. Jewish Studies, Wolfson College, morgens immer um sechs aufstehen, sechs Kilometer laufen im Park, acht Stunden Bibliothek jeden Tag, Punting am Wochenende und Saufen mit diesen englischen Juden, die alle wie Gaddafis Söhne aussahen, aber später Kibbuzmanager oder Volontäre in Jad Vaschem werden wollten. Leider war Noah nie bis Oxford gekommen. Er hatte es fest vorgehabt, er wollte es, wie er nie etwas gewollt hatte (außer einmal zwischen den Brüsten von Natascha Rubinstein zu kommen), und darum sagte er, dachte er, seufzte er, wenn ihm mal wieder etwas misslang: »Wär ich doch damals nach Oxford gegangen!« War ich in seiner Nähe, sagte ich: »Ja, und was wäre dann?« Und er sagte: »Alles genauso sinnlos. Aber ich hätte jetzt zumindest einen Master in-in-in …« Ich guckte ihn mit meinem karubinerhaften Eidechsenblick an. »Bist du sicher?« Worauf er deprimiert den Kopf schüttelte.

Nein, Noah war nicht sicher. Armer Noah. Warum war nie etwas so, wie er es wollte? Warum wurde es nie so? »Vielleicht« – das hatte zum Schluss der käferartig hässliche Savionoli zu ihm gesagt, sein ungarischer Therapeut, den der sonst so menschenfreundliche Noah von der ersten Sitzung an hasste, da »dieser Psychomane, Klein-Noah-Manipulator und heimliche Pfeilkreuzler« ihm nie in die Augen schaute, auch nicht, wenn er ihm die Kleenex-Box reichte –, »vielleicht, weil Sie das Gelingen nicht wollen, Herr Forlani. Wie kommt eigentlich einer wie Sie zu einem italienischen Namen?« Noah hatte Savionoli danach sofort rausgeschmissen. Aber vorher hatte er ihm noch die Meinung gesagt. »Und übrigens finde ich«, stammelte er, während Savionoli ihm den Scheck für die nächsten zwölf Sitzungen, die nicht stattfinden würden, aus den Fingern zog, »dass ein Therapeut nie seinem Klienten raten sollte, seine Familie zu verlassen, Sie ungarischer Kinderhasser und Goj.« Trotzdem hatte der Kinderhasser natürlich recht.

Noah hörte immer kurz vorher auf, einen Flügelschlag bevor der Erfolg kam, der Umsatz, die letzte Seite, der Cumshot. Vor Goodlife hatte er am Anfang der Israelzeit in ein Streckbankstudio in Neve Zedek investiert. Damals lachten noch alle in der Cantina über ihn, auch wenn er da war, und über seinen Studiochef Uri (oder Uzi oder Udi), der nach drei Jahren Indien einen Bart bis zum Bauchnabel hatte. Denn damals hielten alle Pilates noch für eine besonders großflächige Perforierung weiblicher Oberschenkel oder für einen römischen Provinzgouverneur in Palästina in der Zeit von Joschua ben Josef. Als aber nach zwei trostlosen Jahren, in denen Noah alle paar Monate von seinem geheimen Bordellkonto Notüberweisungen an die Bank machen musste, bei Pilatus Pilates Pilati kein Termin mehr zu kriegen war, als sogar ich, obwohl ich nach jeder Stunde auf Uris Streckbank drei Tage Migräne bekam, bei jedem Israelbesuch unbedingt in Neve Zedek vorbeischauen musste, verkaufte Noah PPP. »Warum hast du das gemacht, Noahle, willst du nicht selbst auch mal etwas verdienen?« Das war ich, fast schon wütend. »Hast du endlich mein Drehbuch fürs Goebbels-Video gelesen?« Das war er, leicht abwesend, und es klang nicht wirklich nach einer Antwort. »Ach so, Scheiße, ich hab’s ja noch gar nicht fertig geschrieben! Ich hab’s aber bald, mein lieber Karubiner, und dann kriegst du es natürlich als Erster. Woran arbeitest du gerade?« Ich sagte, ich hätte ausgerechnet am Jom Haschoa den zweiten Teil meiner Anti-Familiensaga Die Rubiners beendet. »Wie viele Seiten?«, sagte er. »Achthundert und ein paar Zerquetschte«, sagte ich so cool-uncool, wie es nur ging. Er pfiff leise und guckte süß und neidisch.

 

Zurück in die eiskalte Schliemannstraße. Oben flogen immer noch Silvesterraketen durch den orangegrauen Berliner Stinkhimmel und knallten trocken, während unten hart weiterverhandelt wurde. Tal wollte inzwischen acht Millionen für Gerrys Darfur-Film, und wie viel er davon für sein eigenes Gaza-Projekt behalten würde, sollte nie jemand erfahren, nicht einmal Gerry. Noah sagte wieder »Ja, aber«, Tal sagte wieder gedehnt »O-kay«, und plötzlich war auch Gerry einverstanden. Er würde also im Goebbels-Video den Kriegsminister und Unschuldswitzbold spielen, von Noah meist französisch Albért le Speer ausgesprochen, und zwar, wie der in den Bunker reinkommt und die Goebbelskinder eins nach dem anderen umkippen sieht, und dann singt er: »Sorry, ich hab mich in der Tür geirrt und im Führer auch.«

Wahnsinn, ist das nicht ein Wahnsinn?, sagte ich, als Noah mich am übernächsten Tag in Prag anrief und ich noch nicht wusste, was sonst alles in den letzten achtundvierzig Stunden in Berlin passiert war. Ja, Wahnsinn, entgegnete er deprimiert.

Ich wiederhole: Der Gerry Harper, dessen Bronco-Bullet-Filme seit Jahren so populär waren wie früher Gladiatorenkämpfe, beim Volk und beim intellektuellen Nichtvolk, dieser neue, leicht beschränkte kalifornische Alleskönner, der in den letzten beiden Tarantinos als einziger Protagonist alle Massaker überlebte, der Freund von Owen Wilson und Senator Kennedy, er würde tatsächlich in Noahs Goebbels-Video mitspielen. Aber Noah konnte sich nicht freuen. Erstens: weil er schon wieder jemanden kaufen musste, diesmal mit acht Millionen, also fast der Hälfte seines von Schloimel geerbten Schatzes. (Warum, zischte N. dann noch arrogant ins Telefon, macht nicht einer von den Schleimern da draußen mal etwas umsonst für mich, warum sagt keiner, gute Idee, guter Typ, überwältigende Ausstrahlung und wahrscheinlich zwei Eier?) Und zweitens – Dr. Savionoli, der Psychomane, hatte es schon gesagt – fühlte sich Noah kurz vor einem Erfolg immer so gut wie ein iranischer Drogenschmuggler, den sie auf dem Marktplatz von Isfahan mit verbundenen Augen und vollgepinkeltem Pyjama auf diesen haushohen Baukran hochziehen, um ihn danach mit einem Strick um den Hals gleich wieder runterfallen zu lassen.

Bei mir selbst nannte ich diese Art von Gefühl präkoitale Depression. Bei Noah war es das Entsetzen darüber, etwas geschafft zu haben. »Wenn etwas geschafft ist, Herr Forlani«, sagte Savionoli, nachdem Noah ihm einen zweiten Scheck für seine Diskretion gegeben hatte, »kann man von nichts mehr träumen, wenn man so ein Luftmensch ist wie Sie. Sehen Sie mich an: Ich bin einfach nur froh, dass Sie nie wieder meine Praxis, dieses Buda und Pest meines Herzens, vollstinken werden. Und jetzt raus hier, Sie Ungoj. Kezet csókolom!« Daraufhin war es Noah kurz sogar richtig gut gegangen.

Wo sollte das Goebbels-Video eigentlich laufen? Bestenfalls auf seiner neuen Seite im Internet. Sonst kam ja nur noch das Gaza-Filmfestival infrage. Den ersten Goebbels-Film – Dr. Josephs Studienjahre – hatte Noah zusammen mit Awi Blumenschwein (eigentlich Awigdor Blumenstein) und dessen 5000-Euro-Nikon bei Awi im Büro, im Badezimmer und im geheimen SM-Raum von Awis Eltern abgedreht. Zuerst saß Noah, der auch hier schon den Dr. Joseph Goebbels spielte, am Schreibtisch und diktierte der kleinen schielenden Schwester von Awi, die mit ihren Dreifachhüften wie Awi vor einer seiner Kürbisdiäten aussah, die letzten Zeilen von Goebbels’ Roman Michael. Danach duschte Noah in einem silbernen Ledertanga, trällerte Lili Marleen und pinkelte kurz in den Abfluss, und der perverse Awi hielt die Kamera etwas zu lang auf den gelben Wirbel zwischen Noahs nackten Füßen. Zum Schluss die vorweggenommene Sportpalastrede in Papa Blumenschweins Handschellen und Ketten. Ich: »Was soll das, Noahle?« Er: »Frag ich dich, warum du in deinen Büchern Witze über die Unbeschnittenen machst, Karubiner? Warum hast du zum letzten Kant-Jubiläum in der New York Times geschrieben, alle deutschen Intellektuellen seien Chaoten? Du, der Autor von Post aus dem Holocaust, erkundigst dich nach dem tieferen Sinn von IRGENDWAS?« Ich: »Schon gut.«

Auf Noahs Internetseite – www.Goodlife.co.il – konnte man alles Mögliche machen und sehen. Zum Beispiel zusammen mit computeranimierten uigurischen Bauern ihre sehnigen Bergziegen melken. Je weniger man von dem weißgelben Rinnsal aus diesen lebenden Kadavern herausbekam, desto mehr E-uros (wie Tal es aussprechen würde) musste man auf das Konto von Save Uiguria überweisen. Der Link blinkte dunkelrot, und es tropfte aus ihm virtuelles Uigurenblut. Oder es gab die neuesten Nachrichten aus dem Amazonas. Wann immer dort ein Baum fiel, machte es klack. Wer hier zu lange hängen blieb, konnte nachts nicht mehr einschlafen, weil er ständig das Geräusch des sterbenden Regenwalds hörte. Klack, klack, klack. Neben Noahs persönlichem Blog – Überschrift: Alles, was auch dir wehtun würde, worunter er Meldungen über Frauenbeschneidungen, Massen-Phimose und Gangbangübergriffe auf deutsche Neonazis sammelte –, gab es drei Calypsolieder umsonst zum Herunterladen, die Noah mit den Jajahwes, unserer alten ZJD-Band, in einem Studio in einer offengelassenen Moschee in Jaffa aufgenommen hatte, auf Jiddisch, mit jamaikanischem Akzent. Mathildele, Oj Angelina und Coconut Diaspora.

Und dann war dort auch der erste missglückte Doc-Joe-Film. Doch den hatten nur hundertundzweiundfünfzig Leute gesehen. Wenn die gewusst hätten, wie es mit Noah weitergehen würde, hätten sie sich ihre kranken Kommentare vielleicht gespart. »Eine einzige atonale Scheiße! Und eine Beleidigung für alle Opfer russischer Massenvergewaltigungen. AH« Oder: »Hier, Forlani, ein geladener Revolver. Nehmen Sie ihn, gehen Sie ins Nebenzimmer und seien Sie ein Mann.« (Dieser witzige Zweizeiler stammte von mir.) Oder: »Noah Forlani, du musst nur sagen, dass du an die Allmacht Allahs glaubst, und dreimal den Namen des Propheten aussprechen, ohne dabei zu jiddeln, und schon gehörst du zu uns. Islamisches Zentrum, Neu-Ulm.«

»Wir sollten aber bald drehen«, sagte Gerry. »Noch eine Woche Berlin und ich träume auf Deutsch. Ich hätte morgen zum Beispiel eine halbe Stunde Zeit.«

»Hahaha!«

»Hahaha?«

»So lange werden wir nicht brauchen.«

»Im Ernst?«

»Ich lüge nie«, sagte Noah, »nur w-w-wenn es sein muss.«

(Sie redeten natürlich immer noch englisch.)

Der dünne Tal summte ironisch die ersten Takte von The Star-Spangled Banner, brach hustend ab und verdrehte die Augen, aber das konnte in der Dunkelheit keiner sehen. Er steckte sich eine Zigarette falsch herum an und spuckte sie fluchend aus. Dann nahm er eine neue und rauchte sie mit tiefen, hungrigen Zügen.

»Los, pitch mich«, sagte Gerry. »Worum geht’s in deinem kleinen Film überhaupt?«

»Das erfährst du erst nach dem Dreh«, sagte Noah.

»Jetzt komm schon. Nur die Zusammenfassung. Oder hast du es mir schon erzählt?«

»Ich kann mich nicht konzentrieren. Sorry, Gerry. S-s-sorry …«

»Was? Du hast das auch?«

»Was ›das‹?«

»ADS«, sagte Gerry. »Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom.«

»Sag das noch mal.«

Gerry guckte ihn an, als hätte er ihn nie vorher gesehen. Seine großen schwarzen Augen sahen aus wie die Augen einer Mangafigur.

»ADS«, sagte Ethel. »Man stirbt nicht daran – aber es nervt.«

»Genau. Woher weißt du das?«

Noah, der Ethel vergessen hatte, drehte sich viel zu schnell zu ihr herum. Aber Ethel, groß und schwer wie die Venus von Milo, sog, statt vor Schreck zusammenzuzucken, nur etwas zu laut ein bisschen Luft durch ihre Zucchininase ein. Solche Nasen sieht man sonst auf den Keiltafeln von Ninive, dachte Noah erstaunt, und sie gehören immer nur Männern. Sehr interessant. Und was dachte Ethel? Er starrt. Der Kleine starrt mich an wie ein russischer Jude die Klagemauer, ich sollte zurückstarren, wenn mein individuelles Rückkehrerprogramm Erfolg haben soll. Dann spürte sie, wie jemand eine festgezogene Schraube in ihr löste. Zwanzig Jahre, in denen sie dem Traum von der Mischehe nachhing, waren plötzlich genug. Was hatten diese großen humorlosen deutschen Männer von ihr gewollt? Vaters Geld vielleicht? Oder einmal in ihr jüdisches Krötengesicht spritzen und sich danach so schuldig fühlen wie ihre Väter und Großväter?

Ethel wusste natürlich, dass sie nicht schön war. Sie wusste aber auch, dass Menschen wie sie an Ausstrahlung gewannen, wenn sie sich hässlicher machten. Sie schnaubte wieder, jetzt lauter. Sex war Macht. Zumindest, wenn man wie sie einen kleinen, süßen Mann wie Noah aus der 8b hochheben konnte. Wie wäre es, wenn … Der Gedanke kam ihr ganz plötzlich, und ihr fiel ein, wie Noah vorhin ihre haarige Wange gestreichelt hatte, als wäre sie ihre Punani. Sie schnaubte wieder und legte den Arm so fest um ihn, dass er husten musste. Wie wäre es, wenn … Familie, Kinder, ewiger Streit, Leben und Denken von der Hand in den Mund. Ich, die hässliche Kröte, endlich der Chef.

»Mach dir nichts draus«, sagte sie zu Noah. »Besser als JSS.«

»Was ist denn das?«, sagte Gerry. »Jüdisches Selbsthass-Syndrom?« Er grinste stolz.

»Das hab ich mir ausgedacht, Zeitlupe«, sagte Ethel, »um meinen Jugendfreund hier zu beruhigen.«

Gerry hörte sofort auf zu grinsen, und Tal fing wieder an, leise etwas zu summen. Er wurde rot, was wieder keiner sehen konnte, und machte ein paarmal ein Geräusch wie ein Deutscher, der lacht oder niest. Noah hatte wie immer nicht zugehört.

»Hattest du das damals auch schon, Noahlein?«, sagte Ethel.

»Was?«

»Na ja, dieses … Unstete.«

»Es ist nicht meine Schuld, ich hab zu wenig Mikronährstoffe«, antwortete er und bückte sich innerlich, also dort, wo es zählte. Und dann spielte er mit singender Kinderstimme wieder 8b: »Frau Albus, Frau Albus, es tut mir leid, meine Eltern haben heute Morgen vergessen, mir meine Ritalinportion in den Tee zu kippen. Ich find’s ja auch nicht gut, dass ich beim Diktat immer dazwischenrede.«

»Die Frau Albus?«, sagte Ethel. Sie lachte leise.

»Ja«, sagte Noah, »Deutsch, Geschichte, Sport.«

»Hallo«, sagte Gerry.

»Ja?«

»Hallo, ich bin vielleicht auch noch da?«

Noah hatte aber wirklich keine Lust mehr. Er hatte es geschafft, sie würden das Video drehen, egal, was es kostete. Was war die nächste unmögliche Idee, mit der er alle nerven konnte? So ein Triumph schmeckte jedes Mal wie der kalte, ungesüßte Pfefferminztee, den Thekla fast fünfzig Jahre lang zum Abendbrot gemacht und den bis auf seine debile Mutter nie einer getrunken hatte. »Ich muss jetzt. Wir telefonieren. Ruf mich an, wenn du bis zehn zählen kannst.«

»Wie? Ich soll dich anrufen?« (Gerrys amerikanischer Eishockeyspieler-Bariton.)

Du sollst mir noch mal so richtig schön eine verpassen, dachte Noah, bestimmt geht’s mir danach besser. Er zog flehend die Augenbrauen zusammen. »Na gut«, sagte er, »gib meiner Jugendfreundin hier deine Nummer. Ich bin gerade nicht so gut drauf.«

»Und mein Agent ruft dann ihren Agenten an?«

»Du kannst ja witzig sein, Zeitlupe«, sagte Ethel.

In der Sekunde fing es zum Glück wieder an, aus Noahs verletzter Hand zu tropfen. Die kleine dunkle Pfütze vor seinen Füßen sah zuerst wie ein Herz, dann wie Afrika, dann wieder wie eine Pfütze aus. Noah versank in Gedanken. Das war wahrscheinlich das Einzige, was er wirklich gut konnte. Eben noch hier, einen Gedankenfetzen später schon auf dem Noah-Planeten. Dort lebte er die meiste Zeit, zufrieden und unzufrieden, zusammen mit seinem Charme, seinem Neid und seinem schlechten Gewissen, und es gab eine Videokamera, die filmte, was er tat. Aber wer stand hinter der Kamera? Jemand, der alles sah. Die alles sah. Die abends kalten Pfefferminztee trank und ihrem Sohn beim Masturbieren applaudierte. Noah berührte kaum den Boden, so leicht war auf einmal alles, so sinnvoll, und er freute sich auf ein paar Runden mit Super-Golda auf meinem Futon.

»Kannst du mir noch eine runterhauen, Gerry?«

»Was, du Homo?«

»Ach nichts, das war nur ein Witz.«

2Noah macht sich Sorgen

Meine Mutter verschwand, als ich 40 war. In dem Alter war Abel schon tot, glaube ich. Sie ging zum Vater meiner Schwester zurück, den sie das letzte Mal in Moskau im Dezember 1960 gesehen hatte, in der Gorkistraße, ungefähr um acht Uhr früh. An der Hand hatte sie viel zu fest ein genervtes dreijähriges Mädchen gehalten, das zwei schwarze Zöpfe und zwei schwarze Augen hatte und ein kleines schwarzes Herz, das es niemandem zeigte.

Das Mädchen ahnte, was kommen würde. Ein halbes Jahr später stiegen meine Mutter und sie in Prag aus dem Flugzeug und gingen über das brüchige Rollfeld von Ruzyně auf das Flughafengebäude zu. In der Glastür stand mein Vater (der damals noch nicht mein Vater war), und als meine Mutter ihn sah, sagte sie zu meiner Schwester: »Schau mal, da ist dein Papascha!« Serafina öffnete die Arme und, ohne dass es jemand sehen konnte, ihr Herz. Und obwohl sie es mit ihren dreieinhalb Jahren besser wusste, rannte sie zu diesem kleinen, fremden, nervösen Mann mit der bronzefarbenen Huzulenhaut und den bösen Geheimratsecken. Sie sprang an ihm hoch wie ein Hündchen, und nach dem dritten oder vierten Mal beugte sich mein Vater (wusste er da schon, dass er mich wollte?) endlich zu ihr hinunter und nahm sie in den Arm, und beim Versuch, sie auf die Wange zu küssen, küsste er sie auf den Mund. Was ist der Unterschied zwischen einer Adoption und einer Lüge? In Serafinas Fall eine überflüssige Frage, denn sie haben ihr nie gesagt, dass ihr richtiger Vater die Null Valja Wechslberg war, der Sohn des großen Spions Mel Wechslberg. Und als sie es endlich erfuhr, nachts um drei am Telefon von Valjas bestem Freund Kostja Kostos, dem Sammlersohn, schlug ihr großes schwarzes Herz ein paarmal im falschen Takt, aber danach war fast alles wieder okay.

Meine Schwester Serafina – emphatisch und launisch, intelligent, aber nicht sehr intellektuell, verfressen wie Ethel Urmacher und immer genau fünf Jahre älter als ich – ging ausgerechnet am 9. November 2003 zusammen mit meiner Mutter zu Valja Wechslberg zurück. Diese dicke selbstverliebte Zwiebel (sie nennt mich übrigens Karotte, raten Sie mal, warum) schickte mir, statt Bye-bye zu sagen, nur von ihrem Blackberry eine von ihren witzigen Nachrichten: »Bin weg, wahrscheinlich Miami. Wenn es mir dort besser geht als in den letzten 50 Jahren, hol ich dich nach. Wie fändest du das, kleiner verwöhnter Original-Karubiner? Dann hättest du auch mal einen Vater, der nicht dein Vater ist.« Und Mama? Die überreichte mir bei meinem letzten Besuch in Hamburg mit russischer Pathos-Miene eine Tupperwarebox mit Erdbeeren, als wären sie alter Familienschmuck, gerettet vor der Gulag-Leitung und gierigen Mithäftlingen auf Kamtchatka in Großvaters Verdauungssystem. »Die mochtest du immer so gern, Solitschka«, sagte sie. »Die mochte ich noch nie, Mamascha«, sagte ich. Sie fing natürlich sofort an zu heulen. Wahrscheinlich dachte sie an die Abertausenden von Erdbeeren, die sie für mich seit meiner Geburt gewaschen, geschnitten und gezuckert hatte, und plötzlich war alles umsonst, denn ich hatte sie angelogen, ich hatte immer nur so getan, als ob. »Warum hast du dich nie beschwert?«, sagte sie. »Hab ich. Du hast es nicht gehört.« Sie schüttelte, so selbstgefällig wie nur Steinböcke es können, den Kopf. Dann ging meine winzige grauhaarige, silberäugige Mutter ins Schlafzimmer zu ihren Koffern und enttäuschten Hoffnungen zurück und packte weiter ihre Mandelstam-Bücher, Mandelstam-Poster und Mandelstam-Handtücher zusammen. Ich glaube – ich hoffe –, diese Szene hat es ihr leichter gemacht, mich mit meinem Vater alleinzulassen.

Noah konnte meinen Vater natürlich nicht ausstehen. Er nannte ihn immer nur bei seinem Namen – er sagte nicht »dein Vater« oder »dieser Idiot« –, er sagte »Wowa« oder »Wowa Mendelewitsch« oder, wenn er ihn richtig bescheuert fand, »K-k-karubiner«. Ging es um seinen Vater, sagte er auch bloß »Schloimel«, also bedeutete das erst mal nicht viel, denn ich habe selten, nein, ich habe überhaupt noch nie jemanden gesehen, der den Menschenaffen, der ihn in acht bis zehn Sekunden gezeugt hat, so geliebt hätte wie Noah den riesigen freundlichen, arroganten Schloimel mit seinem kaputten Fuß. Und das trotz des Geldes, mit dem Schloimel ihn von Anfang an fertiggemacht hatte, trotz der tausend legalen und nicht ganz legalen Konten, die die Forlanis überall hatten, trotz ihrer sieben Pluto-Hotels in Tel Aviv, Bad Homburg, Quedlinburg, Cham, Prag, Hamburg-Harburg und Hamburg-Wilhelmsburg, trotz der hässlichsten New-Brutalism-Bürohäuser von ganz City Nord, die jeden Monat so viel Gewinn abwarfen wie ein afrikanischer Kleinstaat Schulden machte, trotz der Tennis- und Polostunden, die Schloimel seinem Noah seit der Bar-Mizwa bezahlte, ohne dass der je hingegangen wäre, trotz der geheimen Bordellkasse, die er für ihn an seinem sechzehnten Geburtstag eingerichtet hatte. Ja – Noah liebte seinen Vater trotz und nicht wegen des ewigen Geldstroms, gegen dessen Fluss selbst Schloimel am Ende so wehrlos war wie die Palis gegen die hübschen weißen jüdischen Siedlungen von Judäa und Samaria, und wenn es schon sein musste, wenn er unbedingt Isaak und Abraham spielen sollte, dann war Geld das Einzige, was Noah dem groißen Gangster und Menschenfreund Schloimel verübelte. Toll, nicht wahr? Nicht jeder hat einen so moralischen Freund wie ihn. Hatte, meine ich.

Und was nervte Noah an »K-k-karubiner«, an meinem Zehn-Sekunden-Papá? Einmal – ich glaube, es war in Italien, 1985, in Punta del Giorno – stellte sich Noah auf den Tisch, um mich aufzuklären. Er ballte die Faust, zog sein rosa Strandhöschen hoch (damals noch nicht von Dries, sondern wahrscheinlich von Paul Smith oder, vergib ihm, Elohim, von Fiorucci), und dann ging es los. »Jetzt weiß ich, warum du so eine arme Sau bist«, sagte er, und er sprach »Sau« wie Thekla mit weichem bayerischen »S« aus. »Der eiskalte Wowa hat dich auf dem Gewissen! Wenn ich als Kind zu Hause so viel Angst gehabt hätte wie du …« Ich unterbrach ihn: »Dann wärst du heute nicht so faul, Mäuschen. Dann hättest du, so wie ich, vor tausend Sachen Angst, zum Beispiel davor, dass du nie etwas schaffst, dass du nie selber mal jemand sein wirst, dass du nie genug Geld zusammenkriegst, um von zu Hause wegzugehen.« Ich sah Noah in die verschwommenen, stierenden Augen, von unten nach oben, denn er stand immer noch – jetzt bin ich mir sicher – auf diesem wackeligen Hotelschreibtisch in der Albergo Rossi, und dabei grinste ich idiotisch. Die riesige englische Kuh, die auf unserem Bett saß und versuchte, sich die Zehen rot zu lackieren, aber wegen ihres Bauchs nicht richtig herankam, schaute uns verliebt an. »Wer will denn überhaupt ausziehen?«, sagte Noah. »Genau!«, kreischte ich, »genau!« Die Engländerin stellte deprimiert den Nagellack wieder weg, zog das Flintstones-T-Shirt über ihren Riesentitten glatt und fing an, vor Aufregung schwer zu atmen. »Hör zu«, sagte Noah, »dein Alter ist doch selbst als Kind so geprügelt worden, wie-wie-wie … wie Spartacus vor dem Aufstand.« Ich fing an, künstlich zu lachen. »Wie Spartacus vor dem Aufstand?! Tolles Bild, du Schriftsteller! Oder eher wie Nero vor dem Brand Roms? Oder wie Jesus vor der Kreuzigung? Ich hoffe, in deinem Roman gibt’s noch mehr von diesem Scheiß! Satire, mein lieber Forlanicus, auch wenn man sie nicht wollte, kommt ja immer sehr gut an. Hast du eigentlich heute Morgen geschrieben, du Nichtswürdiger?«

Es waren, wie ich sagte, unsere ersten Wir-schreiben-jetzt-beide-einen-Roman-Ferien. Aber wer hätte voraussehen können, dass wir die meiste Zeit im Strandcafé herumsitzen oder mit Guinevere, der britischen Gulliverfrau, Fangen spielen würden? Wir selbst. Einmal – es war unsere einzige literarische Leistung in drei Wochen – fuhren wir zum Amphitheater von Cagliari und marschierten in geisteskranker Hitze im Kreis herum und sangen unsere Version eines berühmten deutschen Lieds: »Und wenn der Führer auf dem Hochstand sitzt und Rebbe Goldzahn an ihm vorüberflitzt, ja, dann ist alles klar, SA applaudiert!« Noah las morgens, wenn jeder sein Pensum erfüllen sollte, italienische Pornocomics – »Scopami! Che bel culo! Più profondo!« –, und beim Mittagessen fragte er mich mit neidischem, aber nicht unsympathischem Harpo-Marx-Lächeln, wie viel ich schon geschrieben hätte. Was sollte ich sagen? Ich schrieb auch nicht – aber nicht, weil ich wie er faul gewesen wäre. Ich war zu aufgeregt. Ich spürte, dass ich es konnte, dass mindestens zehn Bücher in mir steckten, zehn große, grelle, komplizierte, schrecklich ernste Bücher, und neun handelten von Wowas kleinen und großen Verbrechen in Moskau und Prag. Als ich genau das Noah sagte, machte ich ihn zuerst glücklich. Sehr glücklich. Ich war also auch nicht besser als er, ich hatte auch eine Ladehemmung! Aber weil er mich so liebte und weil er der Sohn von Holy Schloimel, dem Gangsterphilosophen, war, und weil wir beide nicht ahnen konnten, dass sich eines Tages die Sache mit Nataschale Rubinstein und mir zuspitzen und Noahs sexuelle Entwicklung mehr bremsen würde als die prügelnden polnischen Kinderfrauen, kletterte mein Noahle an diesem allerletzten Sardinientag auf den Tisch. Er war Lenin, der Tisch war der Panzerwagen, und mein Vater war die ganze Zarenfamilie. Nein – eher Jossif Wissarionowitsch Stalin.

»Du lesensunwerte Kreatur!«, schrie Noah und presste die Faust so fest gegen die Stirn, dass sie kurz rot wurde. »Dass ich nichts hab, ist doch egal. Es ist mir egal, und es ist Schloimel egal, und meiner schwachsinnigen, allgegenwärtigen Mutter ist es sowieso egal. Ich muss nur genug essen, verstehst du, ich muss regelmäßig verdauen und meine junge Prostata dreimal am Tag per masturbationem durchpusten, und dann sind sie glücklich, das reicht den alten Forlanis schon. Weil sie mich lieben. Aber der eiskalte Wowa liebt dich nicht. Der liebt niemanden. Wie war das? Babuschka Karubiner hat die Familie mit Import–Export ernährt? 1935? Im Jahr acht nach dem Ende der NEP? Und weil es auf dem Schwarzmarkt in Kapustowo hundert Dosen eingelegte Gurken zum Kaufen und Weiterverkaufen gab, ist die alte Gurke bei minus zwanzig Grad auf einem offenen Lastwagen nach Kapustinograd gefahren und hat sich dabei die usbekische Todesgrippe geholt, worauf Klein-Wowa arme Halbwaise wurde und ein von seinen sieben Makkabi-Brüdern misshandelter Hund ohne Liebe? Na ja« – er räusperte sich ironisch –, »wahrscheinlich stimmt das sogar, mein geliebter Soltschik. Und genau das ist dein Problem.«

»Ich weiß, was mein Problem ist«, sagte ich. Es war August 1985, nicht November 2003, und ich ahnte noch nicht, dass Monate und Jahre kommen würden, in denen ich ausgerechnet mit Papascha allein bleiben würde, sonst hätte ich natürlich etwas anderes gesagt. »Mein Problem ist mein Charakter, das hat nichts mit ihm zu tun – höchstens genetisch.« Noah verdrehte wegen meiner offensichtlichen Blödheit die Augen, kletterte vom Tisch runter und strich mir durchs verschwitzte Haar, von dem ich damals noch ziemlich viel hatte. (Ich trug es wie Wowa auf seinen Prager Jugendfotos oben lang und im Nacken militärisch kurz ausrasiert, aber ich sah auch ein wenig wie Jabotinsky in seiner weißrussischen Phase aus.) »Ich will, dass du glücklich bist«, fauchte er mich an, »ich will einmal m-m-mit ihm reden.« »Warum stotterst du?« »Weil ich aufgeregt bin.« »Und worüber willst du mit ihm reden?« »Über deine Schreibblockade.« »Ich hab keine Schreibblockade, ich hab bloß noch nie was geschrieben.« »Genau.« »Genau was?« »Vielleicht g-g-gönnt er’s dir einfach nicht.« »Ach so? Wir machen Ferien, wir sind Anfang zwanzig, also mach kein Drama.« »Warum hat er nur unter den Kommunisten Karriere gemacht? Warum gibt’s kein Buch von ihm, das die Leute heute lesen wollen?« »Du spinnst.« »Das werden wir sehen.«

Ich seufzte und machte ein Geräusch wie ein Fahrradreifen, aus dem Luft entweicht. Und ich dachte an die Geschichten, die meine Eltern immer erzählten: Goldstücker beim Kafka-Kongress auf Schloss Liblice 1963, wo er versuchte, einem holländischen Germanisten die Pilsener Haggada seiner Großtante Sura und Rabbi Löws angeblichen Siddur anzudrehen. Kundera, der beim Chinesen in der Vodičková Mama auf die Toilette folgte und ihr dort seinen Schwanz zeigte. Havels Krawattensammlung, zusammengeklaut in Pariser Kaufhäusern, und seine verschwiegene Mitgliedschaft im Opus Dei. Da war mir mein glatter, harter, im Angesicht wichtiger Menschen verpuffender Vater wirklich lieber! Na und, dann hat er eben für den StB Berichte geschrieben über die anderen Kulturanten (altes, abfälliges Wowa-Wort), mit denen er nachts im Keller des Nachtklubs Narcis zwischen Parteichauffeuren, syrischen Geldwechslern und slowakischen Zigeunernutten saß! Wahrscheinlich waren das sogar seine besten Texte, inspiriert vom Glauben an das ewige Glück, das käme, nachdem Gottwalds Thermoskannenkommunismus mithilfe der StB-Gorillas durchgesetzt wäre, die klassische jüdische 20.-Jahrhundert-Fantasie eben.

Ich schweife ab – aber auch nicht wirklich. Sonst würde ich noch viel genauer auf Papaschas fünfzehn Jahre in Bergedorf, im Hilda-Monte-Weg Nummer 9 oder 19, zu sprechen kommen. Immer mittwochs und freitags, von zwei bis drei, lag er im Bett in der dunklen, nach Zigaretten und Sagrotan stinkenden Neubauwohnung einer mir unbekannten deutschen Zahnärztin, die am Ende dieser angeblich reinen Sexgeschichte (so Papascha weinend zu Mamascha, kurz bevor sie zu Serafinas Vater zurückkehrte) mit aufgerissenen Schlaftablettenaugen und ohne Puls auf dem kalten Küchenboden gefunden wurde. Nur an diesem einen Freitag kam er nicht, weil am Donnerstag davor der Exfreund der Zahnärztin bei uns zu Hause anrief und sagte: »Sie kennen mich nicht. Aber ich kenne Sie aus den Erzählungen von Ingrid. Die arme Ingrid. Als hätte sie in ihrem Leben nicht genug Tabletten geschluckt! Ihr Mann, Frau Karubiner, will immer, dass sie sich die Augen zubindet und nicht redet, wenn er da ist – und das ist noch lange nicht alles.« Denunzianten, Ende der Abschweifung, werden in allen Systemen gebraucht, aber dass ein moralisierender, nachtragender deutscher Unmensch nicht merkt, wenn am Telefon statt meiner Mutter meine Schwester Serafina ist, die dann alles sofort herumerzählt, ist natürlich besonders unangenehm. Wie viele Jahre hätte der Telefontyp für seinen Anruf bekommen sollen? Achtundneunzig, ruhig mit Bewährung, aber in Abu Ghraib.

»Ich dachte, wir reden jetzt noch ein bisschen über Wowa den Schrecklichen«, sagte ich. Ich sprach ins Nichts. Noah hatte sich zu der englischen Meerkuh aufs Bett gesetzt, und sie machten Armdrücken. Er war ganz still, nur Guinevere wimmerte schön und leise. Ich erzähle hier keine Märchen. So war Noah immer schon – eben noch hier, dann wieder dort, und das konnte, wenn es nicht nervte, manchmal sehr unterhaltsam sein. Zum Beispiel, als er in seinem ersten Entführungsvideo aus dem Sudan – schwarz-weiß, mit Retro-Graufilter – so hektisch durchs Bild flatterte wie eine Fliege, die sich in einem Lampenschirm verfangen hat. Ich sehe noch immer jede Einstellung: Noah, der an die deutsche Regierung appelliert, umgeben von fünf tieftraurigen, tiefschwarzen Soldaten der African Union. Noah, der sich für seine Save-Darfur-Kampagne entschuldigt. Noah, der vor Todesangst weint. Und der dazwischen den alten Dschandschawid mit dem Mikrofongalgen in seinem übertriebenen US-Englisch davon überzeugen will, dass der seine geschwollene Prostata massieren soll, indem er sich wie ein Brahmanenfürst auf den Kopf stellt und die Arschbacken zukneift und öffnet. Als ich das Video das erste Mal sah und nicht wusste, was daran nicht stimmte, fragte ich mich, warum die Dschandschawid die letzte Szene nicht rausgeschnitten hatten. Dann dachte ich grinsend: weil sie stattdessen Noah, die ADS-Nervensäge, zusammen mit den anderen Geiseln geköpft haben, das machte bestimmt weniger Arbeit.