Liebe heute - Maxim Biller - E-Book

Liebe heute E-Book

Maxim Biller

0,0
8,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sehnsüchtige Geschichten über das eine – die Liebe Es ist nicht leichter geworden, zu lieben und geliebt zu werden. Maxim Biller zeigt, was alles passieren kann, wenn Mann und Frau von diesem großartigen Gefühl erfasst werden, das sie eigentlich zusammenbringen soll, oft genug aber auseinandertreibt. Die Konstellationen sind modern, das Thema ist klassisch. Maxim Biller erzählt in seinen Short Stories von Menschen von heute, die sich treffen, wiederbegegnen oder schon lange kennen, die oft mehr voneinander wollen, als sie zu geben bereit sind, die sich ausliefern und abgewiesen werden, die einer lebenslangen Leidenschaft folgen oder sich in immer neue Abenteuer stürzen, die sich endlich trennen oder unbedingt zusammenbleiben wollen, die aber eines eint: die Sehnsucht nach der wahren Liebe. Einer Liebe, die keine Worte braucht, die einfach da ist und bleibt. Doch meist läuft es anders, weil nicht klar ist, ob beide dasselbe meinen, und so werden viele Worte gemacht, ohne dass man sich besser versteht.Der Leser allerdings versteht vieles besser und erkennt manches wieder – und er wird bestens unterhalten, denn eines sind diese Geschichten immer auch: komisch. Maxim Biller erzählt auf ganz eigene Art: klar, warm, zärtlich und mit subtilem Humor. Und man merkt, dass die Sprache der Liebe anders klingt, je nachdem, ob sie in Hamburg, Berlin, Prag oder Tel Aviv gesprochen wird. Der feine Ton, der bereits in »Bernsteintage« angeschlagen wurde, bewährt sich hier aufs Eindrücklichste. Inniger ist von Verliebten, Enttäuschten und Getäuschten noch nicht geschrieben worden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 211

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Maxim Biller

Liebe heute

Short stories

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Maxim Biller

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

zurück

Inhaltsverzeichnis

MottoGroße, grüne, wogende BlätterSieben Versuche zu liebenDie Jahre mit MaseratiDer Brief von OzDer ArchitektMein Name war SingerBagdad um halb achtAvivas RückenEs ist eine traurige GeschichteGelbe SandalenZiggy StardustDie süße HureLieber ArthurLied Nummer 7Im Bett mit Scheich Yassin80 Zentimeter schlechte LauneWir saßen im Cibo MattoMelodyDie richtigen TageDie Angst um IlanaDas Recht der jungen MännerIn einer kalten dunklen NachtDu bist GretaSchmetterlingeDie SelbstmörderZwei Israelis in PragHappy End mit Klebeband
zurück

Wahrscheinlich war das alles im Juli,

denn die Linden blühten.

Boris Pasternak, Geleitbrief

zurück

Große, grüne, wogende Blätter

Er wartete auf sie drei Monate lang. Er sortierte seine Fotos, brachte Ordnung in seine Bücher und räumte ein paar Möbel um, und dann wartete er weiter. Dann las er alle Briefe, die er jemals bekommen hatte, und warf die meisten weg, und er kaufte eine große Karte von Indien und hängte sie über sein Bett. Nein, er kaufte keine Karte von Indien, aber er wollte es wirklich tun, während er wartete. Er wartete und wartete und fing an, eine Geschichte darüber zu schreiben, wie er auf sie wartete, aber er wußte nicht, wie sie endete, und dann hörte er wieder auf damit. Zum Schluß machte er gar nichts mehr; er wartete nicht einmal mehr. Er schlief immer weniger, er aß nur noch Brot und Tomaten und gelben Supermarktkäse, und dann kam sie endlich, sie saßen zusammen bei ihm auf der Couch, und sie sagte: »Es war eine lange Zeit.«

»Ja«, sagte er, obwohl er sich fest vorgenommen hatte, so wenig wie möglich zu sagen, »es war eine sehr lange Zeit.«

Sie hatte abgenommen auf ihrer Reise, und er fand nicht, daß sie besser aussah als vorher. Sie war müde, aber sie war immer müde, deshalb war sie weggefahren, um nicht mehr müde zu sein, und jetzt kam sie noch müder zurück. Und sie war älter geworden. Älter oder ernster oder härter, das wußte er nicht so genau. Ein grauer Schimmer lag auf ihrer sonnengegerbten Haut, wie ihn sonst nur ältere Frauen hatten, ihr Lächeln war viel zu ernst und überlegen, und ihre Wangenknochen traten noch stärker hervor als früher.

Sie stand auf und ging raus, und als sie zurückkam, hatte sie eine bunte Tüte in der Hand.

»Das ist für dich«, sagte sie.

»Danke, meine Liebe«, sagte er. Er machte die Tüte auf. Es war ein kleiner, schwarzer, dicker Elefant aus Mahagoni drin.

»Möchtest du etwas trinken?« sagte er.

»Wasser.«

»Ich hab Wein für dich gekauft.«

»Nein. Wasser«, sagte sie.

Er stand langsam auf und streifte mit seinem Bein ihr Bein. Es war bis auf den flüchtigen Begrüßungskuß ihre erste Berührung seit drei Monaten.

»Wirklich nur Wasser?« rief er aus der Küche, aber sie antwortete nicht. »Kalt oder normal?« rief er wieder, und sie rief leise zurück: »Normal.«

Er zog aus der Kammer eine neue Wasserkiste, schob sie mit dem Fuß gleich wieder zurück und öffnete die Weinflasche, die seit sechs Wochen auf dem Küchentisch stand. Er nahm die Gläser und die Flasche, und bevor er ins Wohnzimmer zurückging, nahm er den Elefanten aus der Hosentasche und warf ihn in den Mülleimer.

»Jordi«, sagte sie, »ich wollte doch keinen Wein.«

»Ja«, sagte er, »es ist noch zu früh für Wein.«

»Ich habe dort überhaupt nicht getrunken«, sagte sie.

»Das ist schade«, sagte er.

»Nein, ich glaube nicht.«

»Doch, ich glaube schon.«

Er schenkte zuerst sich ein, dann ihr, und sie stießen an. Sie sah ihm nicht in die Augen und trank nur einen winzigen Schluck, dann ging sie in die Küche und holte eine Flasche Wasser. Sie setzte sich wieder auf die Couch, genauso weit weg von ihm wie eben, und begann von ihrer Reise zu erzählen – aber er hörte ihr kaum zu. Während sie fort gewesen war, hatte er immer versucht, sich vorzustellen, wo sie gerade war und wie es dort aussah, aber nun war ihm dieses verfluchte Indien egal, er wollte bloß wissen, wie sie sich entschieden hatte. Natürlich wußte er es schon, aber er wollte es noch mal aus ihrem Mund hören. Er wollte, daß sie auch ein bißchen litt, er wollte, daß sie es aussprechen mußte und daß es sie unglücklich machte, ihn zu verletzen. Nein, sollte sie sagen, wir werden nicht heiraten, Jordi, ich weiß jetzt, daß ich es nicht will, und wir werden uns nie mehr sehen, denn so haben wir es verabredet.

»Hast du mich vermißt?« sagte er.

»Nein, Jordi«, sagte sie, »hab ich nicht.«

»Ja klar«, sagte er und nickte.

»Bist du böse?«

»Nein.«

»Da bin ich froh.«

»Ja.«

»Bist du wirklich nicht böse?«

»Aber nein.«

Er sah aus dem Fenster. Als sie weggefahren war, konnte man über den ganzen Platz schauen, bis zur Zions­kirche. Jetzt hatten die Bäume Blätter, und man sah im Fenster nur noch diese wunderbaren großen, grünen Blätter. Bei Wind wogten die Blätter hin und her, und sie erinnerten Jordi an Seetang, der im Meerwasser trieb.

Vielleicht hatte es damit zu tun, daß sie sich so lange nicht gesehen hatten. Sie hatten sich ja fast so lange nicht gesehen, wie sie sich kannten! Er legte den Arm hinter ihr auf die Sofalehne, dort ließ er ihn ein paar Minuten liegen, aber dann zog er ihn wieder zurück. Der Arm fühlte sich an, als wäre er gar nicht seiner.

»Und du?« sagte sie.

»Ich?«

»Was hast du gemacht?«

»Warum«, sagte er, »hast du dich in drei Monaten kein einziges Mal gemeldet?«

»Das weißt du«, sagte sie erschrocken, »wir hatten doch unsere Verabredung.«

Ja, das stimmte. Sie hatte sogar gesagt: »Und was ist, wenn ich ganz dort bleibe?«, und er hatte gesagt, das sei okay, sie sei ein freier Mensch, und wenn sie nie mehr miteinander ein Wort redeten, sei das auch okay. Aber er hatte das nur aus Berechnung gesagt, denn er wußte, daß sie ein Widder war, und versuch mal, einen Widder einzusperren.

»Es gibt eine Geschichte zu dem Elefanten«, sagte sie. Sie machte eine Pause und wartete, daß er fragte, was das für eine Geschichte war, aber er dachte nur daran, wie er den Elefanten aus dem Mülleimer rausholen könnte, ohne daß sie es merkte.

»Es war der vierte«, sagte sie, »wirklich, es war der vierte, ich schwöre es.«

Er sagte immer noch nichts, dann ging er wortlos in die Küche, und bevor er sich über den Mülleimer beugte, drehte er sich vorsichtshalber um.

»Die drei davor hab ich verloren!« rief sie aus dem Wohnzimmer. »Kannst du dir das vorstellen – alle drei. Meinst du, das bedeutet was?«

Er wühlte verzweifelt im Mülleimer, aber er konnte den Elefanten nicht finden. Er griff mit den Händen immer tiefer in den feuchten, stinkenden Müll, und dann begann er, alles rauszunehmen und auf den Boden zu legen.

»Dieser hier ist häßlich, ich weiß!« rief sie wieder. »Den hab ich in Bombay am Flughafen gekauft. Du hättest die andern sehen sollen. Wie hübsch die waren!«

Er konnte ihn nicht finden. Er kniete schwitzend über dem Müll der letzten drei Tage, den er um sich herum auf dem Boden ausgebreitet hatte, und plötzlich merkte er, wie verrückt er war. Er dachte, wenn sie das sieht, wird sie denken, ich bin total verrückt, und er fing an, mit bloßen Händen den Müll wieder aufzusammeln und in den Mülleimer zu stopfen.

»Es stimmt nicht. Ich wollte dir gar nichts mitbringen.« Sie stand plötzlich hinter ihm. »Ich hatte dich einfach vergessen.«

Er drehte den Kopf zu ihr und sah sie von unten an. Sie fuhr ihm mit der Hand durch die Haare und sagte: »Und dann hab ich mich in Bombay am Flughafen wieder an dich erinnert … Was ist? Hast du ihn schon weggeworfen?«

»Ja«, sagte er.

»Dann sind wir jetzt quitt«, sagte sie. Sie kniete sich neben ihn und half ihm, den Müll aufzusammeln. Es ging schnell, und hinterher wuschen sie sich im Bad gemeinsam die Hände, und dabei sahen sie sich im Spiegel an und lächelten.

»Gehst du bitte raus?« sagte sie.

Früher hatte sie sich nicht geniert, in seiner Gegenwart zu pinkeln. Obwohl er das nicht gut fand, hätte er alles dafür gegeben, wenn sie ihn jetzt nicht rausgeschickt hätte. Er machte die Tür hinter sich zu und ging ins Wohnzimmer. Er setzte sich auf die Couch, stand aber gleich wieder auf und machte Musik an. Es war eine CD, die sie zusammen ein paarmal gehört hatten, darum machte er sie schnell wieder aus. Er setzte sich wieder auf die Couch und sah aus dem Fenster, und er betrachtete die im Wind wogenden großen, grünen Blätter, und auf einmal fühlte er sich gar nicht so schlecht. Es war, als wäre er gerade selbst von einer Reise zurückgekehrt, die sehr gut war, aber auch anstrengend und oft bloß langweilig. Jetzt war er also wieder da, froh, nicht immer weiter und weiter fahren zu müssen, sondern einfach nur dazusitzen, dort, wo er seit Jahren saß, und auf die großen, grünen Blätter in seinem Fenster zu schauen und sich an ihnen zu ­freuen und darauf zu warten, bis sie abfielen, damit er auf die Kirche hinter ihnen schauen und sich darauf ­freuen konnte, daß sie schon bald wieder wuchsen.

Bevor sie weggefahren war, hatten sie es noch einmal hier auf dem Sofa versucht. Nein, er hatte es versucht, sie hatte zuerst mitgemacht, aber dann verschränkte sie plötzlich die Arme über ihrem nackten Oberkörper. Er fuhr mit der Hand über ihren Bauch, sie preßte verzweifelt die Beine zusammen, er wandte sich enttäuscht von ihr ab, und sie sagte, es sei gemein von ihm, sie so zu bestrafen. Nachdem sie abgeflogen war, hatte er ihr eine SMS geschickt und sich entschuldigt, und vielleicht hatte sie sie in Zürich bei der Zwischenlandung gesehen, vielleicht aber auch nicht.

Wie lange würde sie noch auf der Toilette sein? Sonst brauchte sie ganz kurz, er wunderte sich immer, wie kurz sie brauchte, aber dafür ging sie sehr oft. Er mußte manchmal auch oft, aber nur, wenn er nervös war, und das hieß, daß sie immer nervös war. Heute war sie noch gar nicht, das war jetzt das erste Mal, und sie war schon seit zwei Stunden hier. Sie war heute also nicht so nervös wie sonst! Kaum hatte er das gedacht, wurde er selbst nervös und mußte auch.

Er blieb noch eine Weile sitzen, es vergingen bestimmt zehn Minuten, und dann hielt er es nicht mehr aus und ging zum Bad. Die Tür war zu, er klopfte, aber er bekam keine Antwort. Er klopfte noch mal, lauter, und nun hörte er sie.

»Ich bin hier«, sagte sie leise.

»Wo?«

»Hier«, sagte sie noch leiser.

Sie war im Schlafzimmer. Sie lag angezogen in seinem Bett, und als er reinkam, sagte sie: »Gut, laß uns heiraten.« Sie lag dort, wo er sonst immer lag, und dann drehte sie sich auf die Seite, sie legte den Kopf aufs Kissen und schob ihre Hände darunter und sah ihn ernst und traurig an.

zurück

Sieben Versuche zu lieben

Das erste Mal saßen sie im Kindergarten in der Slavíkova nebeneinander beim Essen und zeigten sich unter dem Tisch ihre kleinen Geheimnisse. Sie mußte nur ein bißchen ihre Beine öffnen, er knöpfte seine Hose auf. Im Kindergarten war es immer ziemlich dunkel, und sie sahen nicht viel. Nach dem Mittagessen zogen alle Kinder in den großen Schlafraum. Jirka ging langsam hinter Alena her und war traurig, daß sein Bett nicht neben ihrem stand. Danach spielten sie zusammen, daran konnte er sich noch erinnern, aber er wußte nicht mehr, was sie spielten. Als sie von ihren Eltern abgeholt wurden, sagten sie sich nicht auf Wiedersehen. Sie schauten weg, und am nächsten Tag redeten sie nicht miteinander. Ein paar Tage später kniff Alena sich selbst so lange in den Unterarm, bis er feuerrot war. Sie schrie vor Schmerz, und als sie in den Armen der Kindergärtnerin lag, sagte sie weinend, das sei Jirka gewesen.

Alena und Jirka waren Kinder von Vinohrady. Es war ihnen damals egal, aber später dachten sie beide oft daran. Er wohnte mit seinen Eltern in der Mánesova, oben am Platz, wo die große viereckige Kirche mit der durchsichtigen Uhr stand. Wenn das Fenster in seinem Zimmer offen war, hörte er die Straßenbahnen, die auf der Vinohradská fuhren. Sie wohnte in der Chopinova. Sie mußte nur die Chopinova überqueren, schon war sie im Park. Dort sahen sie sich oft, und kurz bevor seine und ihre Familie ’68 in den Westen flüchteten, traf er sie auf der Seite des Parks, von der man auf die Stadt heruntersehen konnte. Es war Spätsommer, die Burg war lila von der untergehenden Sonne, und Alena spielte auf dem Asphaltweg mit ihren Freundinnen Himmel und Hölle. Sie hatten mit blauer und gelber Kreide Linien aufgemalt, zwischen denen sie auf einem Bein hin und her hüpften, und Alena merkte nicht, daß Jirka mit seiner Mutter vorbeiging. Erst als sie beim Sportplatz waren, hörte er Alena seinen Namen rufen. Er drehte sich um, und sie lief ihm entgegen. Als sie vor ihm stand, sagte sie: »Wir fahren bald weg, Jirka.« Er antwortete nicht, nur seine Mutter sagte leise: »Aber Alenka, das darfst du bestimmt niemandem erzählen.« Da wußte er noch nicht, daß seine Eltern auch schon Pläne machten und er Alena bald in Friedland im Durchgangslager wiedersehen würde. »Also dann«, sagte er, er nahm das erste Mal seit langer Zeit wieder die Hand seiner Mutter und zog sie weg.

In Friedland wohnte Alena mit ihren Eltern in der Baracke direkt neben dem Ausgang. Vielleicht gab ihnen das Hoffnung. Sie waren noch da, als Jirka mit seinen Eltern im Winter ankam. Er und Alena entdeckten einander erst nach ein paar Tagen. Alena war in dem halben Jahr, in dem sie sich nicht gesehen hatten, gewachsen, sie hatte einen kleinen Busen bekommen und trug oft den kurzen hellblauen Rock, der in Prag ihrer Mutter gehört hatte. Jirka mochte Alena nicht mehr so gern. Sie las die ganze Zeit, und wenn sie nicht las, war sie genauso abwesend.

»Alena, was machst du heute nachmittag?«

Keine Antwort.

»Wollen wir in die Stadt ins Kino gehen?«

»Ins Kino?«

»Ja.«

»Ich weiß nicht.«

»Alenka, das macht doch keinen Spaß, ständig im Zimmer zu sitzen.«

»Was?«

»Ach, nichts.«

Pause.

»Willst du nicht doch mitkommen, Alenka?«

Wieder keine Antwort.

Als Jirka mit den Eltern im Frühjahr darauf nach Frankfurt zog, schenkte Alena ihm eins von ihren tschechischen Büchern. Auf dem Umschlag war eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren, die wie eine umgedrehte Harfe ihr Gesicht einrahmten. Die Augen waren blau, der Mund schwarz. Jirka stellte das Buch in seinem neuen Zimmer ins Regal, und wenn er an Alena dachte, holte er es raus und schaute es an. Er holte es im Lauf der Zeit immer seltener raus. Manchmal sah er es zwei, drei Jahre gar nicht an, oder es fiel ihm nur zufällig in die Hände. In seiner Erinnerung sah Alena wie die junge Frau auf dem Buch aus, und als er zum Studieren nach München ging, nahm er es mit.

Alena wollte auch in München studieren. Ihre Eltern telefonierten kurz vorher mit seinen Eltern, und Jirkas Mutter meinte, bestimmt könne Alenka bei Jirka wohnen, wenn sie nach München zum Einschreiben fahre. Sie blieb drei Tage. Zuerst erkannten sie sich kaum wieder, dann redeten sie schnell und aufgeregt in Tschechisch aufeinander ein und fühlten sich plötzlich nicht mehr allein. Jirka begleitete Alena in die Adalbertstraße, als sie sich einschrieb, er zeigte ihr die Kantine in der Kunstakademie und das Venezia, und sie schliefen in einem Bett. In der letzten Nacht versuchte er, sie zu küssen. Sie trug ein durchsichtiges Nachthemd, und er legte seine Hand auf ihre Brust. Ihre Brüste waren nicht mehr so klein wie in Friedland. Sie erwiderte seinen Kuß nicht und schob seine Hand weg. Am nächsten Morgen stand sie früh auf und fuhr, bis zum Beginn des Semesters, zurück zu ihren Eltern nach Hamburg. Sie sagte nichts über den Kuß, aber Jirka schämte sich. Er war gar nicht verliebt in sie, dachte er, warum hatte er sie nicht in Ruhe gelassen? Nachdem die Tür hinter ihr zugegangen war, fiel ihm ein, daß sie wie das Mädchen vom Buchumschlag aussah.

Auf dem letzten Filmfest im Künstlerhaus standen sie – das war schon sehr viel später – plötzlich nebeneinander. Ab da waren sie ein Paar. Sonst hatten sie sich einmal im Jahr gesehen, irgendwo in der Stadt oder in der Amalienstraße in der kleinen Konditorei, und sagten nur »Wie geht’s?«. Das gleiche machten sie jetzt eigentlich auch. Sie blieben vier Monate zusammen, und so wie es anfing, endete es – ohne viele Worte. Alena holte Jirka von der Journalistenschule ab, und sie gingen zu Fuß durch die Stadt zur Isar. Sie hielt seine Hand, irgendwann ließ sie sie langsam los, und er wußte, sie würde nie wieder seine Hand halten. Später bei ihm saß sie an seinem Schreibtisch, unter dem großen Face-Plakat mit dem kleinen Jungen mit dem Gangsterhut, und sie drehte sich auf dem Stuhl langsam im Kreis. Er brachte sie noch zum Josephsplatz zur U-Bahn, und während sie an den großen alten Häusern in der Isabellastraße vorbeigingen, dachte er an die großen alten Häuser von Vinohrady.

Drei Wochen nach der Revolution war er schon in Prag. Er sollte für die Weltwoche darüber schreiben, und als er nach München zurückfuhr, träumte er von einer Wohnung in Vinohrady. Er vergaß es schnell wieder, aber nach dem nächsten Prag-Besuch war alles genauso – wieder wollte er bleiben, und wieder war ihm Prag nach einer Woche München egal. So ging es mehrere Male, dann kauften seine Eltern in der Chopinova eine Wohnung. Von nun an fuhr er, wenn die Eltern in Frankfurt waren, jedes Jahr zum Arbeiten für ein paar Monate nach Prag. Manchmal stand er in der Mánesova vor ihrem alten Haus und hörte, wie die Straßenbahnen auf der Vinohradská vorbeifuhren.

Seit dem ersten Kuß seines Lebens hatte Jirka mit achtzehn Frauen geschlafen, neun nur geküßt, mit dreien fast alles gemacht; er hatte drei feste Freundinnen gehabt und eine längere Affäre, die bis heute immer wieder neu aufflammte; und er war vier Monate mit Alena zusammen gewesen. Alena hatte seit ihrem ersten Kuß drei feste Freunde gehabt, von denen einer Jirka war, sie hatte fünfmal jemanden geküßt, und einmal hatte sie einen One-Night-Stand riskiert, der besser war, als sie erwartet hatte. Inzwischen war sie mit einem zwölf Jahre älteren deutschen Architekten verheiratet, sie hatte keine Kinder und dachte oft an Jirka. Als sie im Frühjahr 2002 das erste Mal wieder nach Prag fuhr, war sie sehr aufgeregt. Sie hoffte, sie würde ihn dort zufällig treffen.

Sie traf ihn in der Stadt – vor Tesco. Sie warteten beide auf die 22, und die ersten paar Minuten redete Alena kein Wort. Sie lächelte nur und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Dann kam die Straßenbahn, und sie stiegen zusammen ein. Die Straßenbahn fuhr schnell an, dann stoppte sie, und alle wurden nach hinten gerissen. Alena beschloß, die Chance zu nutzen. Sie fiel Jirka in die Arme, er hielt sie fest und ließ sie nur langsam los. Am Platz des Friedens stiegen sie beide aus und gingen in ihren alten Park.

Jirka und Alena sahen sich jeden Tag. Sie riefen sich morgens an und machten etwas für den Nachmittag aus, und manchmal blieben sie bis zum Abendessen zusammen. Alena wohnte auch in der Chopinova, in dem Haus, wo sie aufgewachsen war, bei Nachbarn, die dort seit vierzig Jahren lebten. Sie wohnte in der Nummer 4, und Jirka wohnte in der 12, und sie trafen sich immer vor der 8, damit es gerecht war.

Nach ein paar Tagen begann Jirka, morgens das Telefon auszumachen. Er rief Alena oft erst am Nachmittag zurück und sagte, er habe zuviel Arbeit gehabt, jetzt sei er leider zu müde, etwas zu unternehmen. Einmal sahen sie sich drei Tage hintereinander nicht, und er hoffte, Alena würde gar nicht mehr anrufen.

Sie rief nicht an, kam aber vorbei. Sie stand vor ihm in der Tür und sah in ihrer weißen Bluse und ihrem kurzen blauen Rock genauso aus wie ihre und seine Mutter früher. Sie sah so aus, wie die tschechischen Frauen in den 60ern fast alle aussahen: streng, sexy und älter, als sie in Wirklichkeit waren.

»Ich fahre morgen«, sagte Alena, und plötzlich war alles genauso wie damals im Park, als sie mit ihren Freundinnen Himmel und Hölle gespielt und er gedacht hatte, er sieht sie nie wieder.

»Komm doch rein«, sagte er.

»Ach, nein«, sagte sie.

»Bitte.«

Sie trat ein und blieb im Flur stehen. Er fragte sie, ob sie etwas trinken wolle, und sie trank im Stehen ein Glas Wasser.

»Hast du jemanden?« sagte sie.

»Nein«, sagte er.

»Na ja«, sagte sie, »ist ja auch nicht so wichtig.«

»Nein«, sagte er.

»Ich komme nie wieder nach Prag«, sagte sie.

»Das kann ich verstehen«, sagte er.

Sie fing an zu weinen, drehte sich um und ging. Er stand in der Tür und sah, wie sie die Treppe runterlief, und dann stellte er sich auf den Balkon und schaute ihr hinterher. Sie ging langsam die Chopinova hinunter, und alle paar Schritte blieb sie stehen und weinte und ging wieder weiter.

zurück

Die Jahre mit Maserati

Es war ein sehr kalter Tag. Er hatte über Nacht die Balkontür nicht zugemacht, und wenn er ausatmete, kam ein kleines Dunstwölkchen aus seinem Mund. Er lag im Bett, nur sein Gesicht schaute unter der Decke hervor, und er machte Dunstwölkchen. Noch fünf, nein, noch zehn, dann würde er aufstehen.

Sie hatte ihn nicht geküßt, bevor sie im Morgengrauen gegangen war. Sie hatte ihn nur angefaßt, und als er auf ihr lag, half sie ihm nicht, aber es ging trotzdem ziemlich leicht. Auch hinterher küßte sie ihn nicht, und er schlief gleich weiter und träumte von einer Flasche Corona, die so groß war wie die Wasserpumpe am Monbijouplatz.

Dann wachte er wieder auf, es war Nachmittag, und er dachte an die große Flasche Corona. Er hätte gern eine Zigarette geraucht, aber er hatte keine mehr. Er ging auf die Toilette, machte das Telefon an und legte sich wieder hin. »Hallo, Kater, bin schwanger. Tut mir leid, daß du es so erfährst. Fahre zu meinen Eltern.«

Es waren noch zwei andere SMS gekommen, beide von der Produktion, und auf die Mailbox hatten sie ihm auch gesprochen und jedesmal etwas wütender gefragt, wo er bleibe, um eins sei Anprobe gewesen, bis sechs wäre noch jemand da.

»Hallo, Kater, bin schwanger. Tut mir leid, daß du es so erfährst. Fahre zu meinen Eltern.«

Fahr zur Hölle, dachte er und machte wieder ein Wölkchen. Nummer vier.

Sie waren drei Freunde, die sich nach vielen Jahren wiedersahen. Einer wurde Sänger, einer Arzt, und der, den er spielte, wurde gar nichts. Er war nie weggegangen, er wohnte noch bei seiner Familie, und er war nicht mehr so schön wie früher, aber man konnte sehen, daß er es mal war. In der einen Nacht, in der dieser Film spielte, würde alles anders werden, für jeden von ihnen. Die große Gerade. Ein guter Titel, fast schon zu amerikanisch.

Er hatte noch den Sherry, den seine Mutter bei ihrem letzten Besuch zum Kochen gekauft hatte, und vielleicht stand irgendwo eine Flasche Wein. Eine Zigarette wäre besser. Er stellte sich vor, wie der Rauch seine Lungen füllte und wie ihm langsam schwindelig wurde, und dann mußte der Rauch wieder raus, obwohl er ihn am liebsten gar nicht mehr ausgeatmet hätte. Wölkchen Nummer fünf.

Ich werde das Auto verkaufen müssen, dachte er plötzlich. Er wunderte sich selbst, daß er das dachte, aber genau das dachte er. Ich werde das Auto verkaufen müssen, das kann ich mir nicht mehr leisten, wenn ich jeden Monat zahlen muß. Jedenfalls nicht dieses Auto. Du gibst einmal zuviel Gas, und schon knallt es, und der Typ aus der Brunnenstraße muß kommen und es abschleppen, und bis er einen neuen Motor besorgt hat, fährst du die ganze Zeit Taxi, und so ein Motor kostet ja auch was. Das sind sie also gewesen, die Jahre mit Maserati, dachte er, und er wurde kurz traurig. Dann wurde er wütend, und dann machte er die Augen zu und schlief ein.

Als er aufwachte, wurde es wieder dunkel. Es war noch nicht ganz dunkel, aber schon ziemlich dunkel. Es war grau, blaugrau draußen – so ein Licht gab es nur Ende November, Anfang Dezember, wenn es um drei, halb vier Abend wurde und Berlin in Finnland lag.

Drei, halb vier – gut. Er stand auf, ging auf die Toilette, und auf dem Weg zurück schaute er in der Küche in der großen Schublade nach, ob vielleicht dort Zigaretten waren. Er fand keine, und er hatte die Sherryflasche schon in der Hand, aber dann stellte er sie zurück. Als er wieder im Bett lag, kam er sich kurz vor wie früher, wenn er als Kind sonntags durch die Wohnung streifte, während die anderen noch schliefen. Weil niemand mit ihm spielen wollte, ging er wieder ins Bett, und die Bettwäsche war so perfekt kühl wie jetzt.