Bis ans Ende der Welt und zurück - Ruthie Knox - E-Book

Bis ans Ende der Welt und zurück E-Book

Ruthie Knox

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Beschreibung

Tom Geiger plant eine Fahrradtour durch die USA. Eigentlich will er allein fahren, doch seine Schwester Taryn überzeugt ihn davon, einen Reisegefährten mitzunehmen, den sie für ihn arrangiert hat, einen gewissen Alex. Toms Überraschung ist allerdings groß, als sich herausstellt, dass sein Reisegefährte in Wahrheit weiblich und noch dazu äußerst attraktiv ist. Auf keinen Fall kann er die junge Frau sich selbst überlassen und allein losfahren, wie er es ursprünglich geplant hatte. Also machen sich die beiden gemeinsam auf den Weg, und mit jedem Kilometer, den sie zurücklegen, kommen sich ihre Herzen ein Stückchen näher ...

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Inhalt

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Über dieses Buch

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Danksagung

Über die Autorin

Die Romane von Ruthie Knox bei LYX

Impressum

RUTHIE KNOX

Bis ans Ende der Welt und zurück

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Antje Althans

Über dieses Buch

Tom Geiger traut seinen Ohren nicht, als seine Schwester Taryn ihm verkündet, dass sie ohne sein Wissen jemanden organisiert hat, der ihn auf seiner geplanten Fahrradtour durch die USA begleiten soll. Tom ist von der Idee, den TransAmerica Trail nicht wie erwartet allein zurückzulegen, wenig begeistert. Nach einem schweren Schicksalsschlag hat er sich von der Außenwelt zurückgezogen. Und obwohl er weiß, dass Taryn ihren lebensbejahenden, kontaktfreudigen Bruder vermisst und es ihr das Herz bricht, dass er sich von seinen Mitmenschen so abschottet, fährt er zu dem vereinbarten Treffpunkt mit der Absicht, seinem arrangierten Reisepartner eine Absage zu erteilen. Toms Überraschung ist allerdings groß, als sich herausstellt, dass Alex nicht männlich, sondern weiblich ist – und noch dazu äußerst attraktiv. Tom weiß sofort: Auf keinen Fall kann er die junge Frau sich selbst überlassen und allein losfahren, wie er es ursprünglich geplant hatte. Also machen sich die beiden doch gemeinsam auf den Weg. Während Tom mit aller Macht versucht, die Mauern, die er so sorgfältig um sich herum erbaut hat, aufrechtzuerhalten, ist Lexie alles andere als angetan von dem wortkargen, launischen Kerl, der ihr den ganzen Spaß verdirbt. Und doch kommen sich ihre Herzen mit jedem Kilometer ein Stück näher ...

1

MITFAHRER GESUCHT.TransAmerica Trail. Start: 1. Juni in Astoria, Oregon. Ankunft: Ende August in Yorktown, Virginia. Übernachtung vorwiegend im Zelt, gelegentlich Hotel. Bin unkompliziert und gespannt auf das große Abenteuer! Mail an [email protected].

Tom wischte sich das Fahrradöl von den Händen und nahm den Hörer des klingelnden Ladentelefons ab. »Salem Cycles.«

»Ich hab jemanden für dich gefunden«, verkündete seine Schwester stolz.

»Wovon sprichst du?«

»Für morgen. Ich hab jemanden gefunden, mit dem du quer durchs Land fahren kannst.«

Schon seit Monaten war das ein Streitthema zwischen ihnen beiden, seit er sie in seinen Plan eingeweiht hatte, im Sommer den TransAm Trail zu radeln. Aber er hatte geglaubt, die Sache wäre erledigt. Er hätte wissen müssen, dass sein Schwesterherz nur einen strategischen Rückzug angetreten hatte.

»Taryn …«

»Lass mich doch mal ausreden. Ich hab über eine Anzeige bei der Adventure Cycling Association einen Typen namens Alex aufgetan. Er will dieselbe Route fahren wie du und sucht einen Begleiter. Du musst nicht mal mit ihm reden, wenn du nicht willst. Er kocht und zahlt die Hälfte der Campingplatzgebühren. Wie schlimm kann es schon werden?«

Es könnte ein Albtraum werden. Tom wollte ein paar Monate allein unterwegs sein, seine Reifen über den Asphalt rollen hören und auf einer Strecke von rund sechstausendachthundert Kilometern die unterschiedlichsten Eindrücke genießen. Er wollte keinen Partner. Dafür war er einfach nicht der Typ.

»Ich brauch keinen Babysitter.«

»Tom, bitte. Du kannst nicht allein quer durchs Land radeln. Das ist verrückt. Du wirst noch von einem Serienkiller abgeschlachtet.«

»Taryn, ich bin fünfunddreißig, alleinstehend, tätowiert und unsozial. Ich bin der Serienkiller.«

»Na schön, schon verstanden. Aber du könntest von einem Auto erfasst werden und am Straßenrand verbluten.«

»Und wie sollte ein Mitfahrer das verhindern?«

»Gar nicht, aber er könnte mich per Handy verständigen, damit du mir noch sagen kannst, dass du mich lieb hast, wenn du deinen letzten Atem aushauchst.«

Tom tigerte durch die kleine Werkstatt, schlängelte sich zwischen den Fahrradständern durch und massierte sich die Schläfe. Er hörte es Taryn an. Sie verschwieg ihm etwas, und was es auch war, es würde ihm nicht gefallen. »Ich bin schon öfter allein auf Tour gewesen. Südamerika, Australien, Death Valley im letzten Winter. Warum sorgst du dich jetzt auf einmal um mich?«

»Ich sorge mich immer um dich. Mich um dich zu sorgen, ist meine Aufgabe. Aber bei den Touren davor hast du mir nicht genug Vorlaufzeit gegeben. Du hast mich von unterwegs angerufen und gesagt: ›Tada, Taryn! Ich radele wie ein Bekloppter durchs Outback! Du brauchst nachts nicht wach liegen und dir vorstellen, wie meine Leiche von Dingos aufgefressen wird!«

Tom zog eine Grimasse. Das stimmte. Er hatte mit voller Absicht zuerst das Land verlassen, bevor er Taryn von seinem Plan erzählt hatte, die Canning Stock Route in Western Australia zu befahren, aber es war nur zu ihrem Besten gewesen. Dadurch hatte er ihr monatelanges Bangen erspart – und sich selbst eine Menge Diskussionen. Und wenn sie ihn nicht eines Nachmittags beim Studieren der TransAm-Landkarten ertappt und es geschafft hätte, ihm seine Pläne zu entlocken, hätte er diesmal dasselbe getan.

Tom hatte nicht vor, sich durch die irrationalen Ängste seiner Schwester von seiner Reise abhalten zu lassen, doch da sie die Einzige in seiner Familie war, von der er sich nicht entfremdet hatte, und so ziemlich seine einzige Freundin, wollte er nicht der Grund dafür sein, dass sie unglücklich war. Da Taryn während des Prozesses zu ihm gehalten hatte, war er ihr etwas schuldig. Sie war so ziemlich der einzige Grund, warum er nicht in einer ungeheizten Hütte im Wald wohnte, paranoide Manifeste über geheime Regierungskomplotte verfasste und sie an dieNew York Timesschickte.

Aber selbst ihr war es nicht gelungen, ihn zu einem Sunnyboy zu machen. Der Besitzer des Fahrradladens bat Tom nicht ohne Grund, sich nur dann hinter die Ladentheke zu stellen, wenn es unbedingt sein musste. Tom wäre der Erste, der zugäbe, dass seine sozialen Kompetenzen eingerostet waren und er die Kunden eher vergraulte. Er werkelte allein vor sich hin, wurde fürs Reparieren der Räder bezahlt, durfte sie zudem gratis fahren, und es gefiel ihm so. Aber Taryn sorgte zumindest dafür, dass er gelegentlich eine warme Mahlzeit zu sich nahm, und organisierte sogar ab und zu ein Rendezvous für ihn. Er wusste es zu schätzen, dass sie sich darum bemühte, seine Verbindung zur Welt der Lebenden – egal, wie fadenscheinig sie auch war – aufrechtzuerhalten.

»Bodenstation an Major Tom«, rief sie jetzt. »Wir führen hier gerade eine Unterhaltung, weißt du noch?«

»Ach ja.« Das war nur eins von vielen Problemen, die man hatte, wenn man ein Eigenbrötler war: Man verlernte die Kunst der höflichen Konversation. »Auf dem TransAm braucht man sich keine Sorgen zu machen wegen Dingos. Die Route ist durch und durch zivilisiert. Sogar asphaltiert.« Er überdachte seine Möglichkeiten und kam ihr entgegen. »Wenn du willst, rufe ich dich alle paar Tage an. Aber ich fahre nicht mit einer Begleitung. Wenn ich mit jemandem reden muss, ist es keine Erholung für mich.«

»Nun ja, da ist noch was. Da ich wusste, dass du das sagen würdest, hab ich nicht auf deine Erlaubnis gewartet.«

Tom lehnte sich mit der Hüfte an die unaufgeräumte Werkbank und widerstand dem Drang, das Telefon so lange und fest auf die Station zu knallen, bis es zerbrechen würde. Niemand mischte sich kreativer ein als seine Schwester, und ihr selbstgefälliger Ton verriet ihm, dass sie diesmal etwas ganz Besonderes ausgeheckt hatte.

»Was hast du gemacht?«

»Wie gesagt, ich hab einen Typen für dich gefunden. Alex Marshall. Du hast ihm seit April hin und wieder E-Mails geschrieben, um die Tour zu planen, und er freut sich total, dass es morgen losgeht. Er hat dir heute Morgen eine Nachricht geschickt und bestätigt, dass er dich morgen früh um sechs in Seaside am Strand trifft.«

»Du hast für mich ein Blind Date mit einem anderen Radfahrer organisiert?«

»Na ja, ich würde sagen, du bist zu ein wenig mehr verpflichtet. Alex zählt darauf, dass du die komplette Tour mit ihm gemeinsam fährst, also bis nach Virginia.« Er konnte praktisch hören, wie sie ihm übers Telefon zuzwinkerte. Taryn war sehr zufrieden mit sich.

»Dann blas es ab.«

Das war absolut nicht sein Problem. Trotzdem beschlich ihn das ungute Gefühl, dass er die Angelegenheit selbst klären musste.

»Auf keinen Fall. Alex ist just in diesem Moment in einem Motel in Astoria, packt seine Ausrüstung zusammen und ist total aufgeregt, dich morgen früh kennenzulernen. Ich werde nicht diejenige sein, die ihn enttäuscht.«

Ach Scheiße. Die Masche zog sie also ab. Jetzt sah er den guten alten Alex Marshall vor seinem geistigen Auge, wie er in seinem besten Trikot am Strand auf ihn wartete, mit gezückter Karte, gepackten Fahrradtaschen und hochgeschraubten Erwartungen, und sich nach einem Mitfahrer umsah, der nicht aufkreuzen würde – es sei denn, Tom nahm einen Umweg von hundertsechzig Kilometern in Kauf, um sich mit ihm zu treffen. Taryn würde ihm bestimmt nicht aus der Patsche helfen. Wenn seine Schwester sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie stur wie ein Esel. Sie hätte kein Problem damit, Alex als Köder für Toms Helfersyndrom am Strand zappeln zu lassen.

Frustriert trat er mit der Stiefelspitze gegen die Werkbank, woraufhin ein paar Kartons mit Schläuchen zu Boden fielen.

Taryn kannte seine Schwäche für hoffnungslose Fälle. Achill hatte seine lausige Ferse gehabt, und Tom war mit einem unerschütterlichen Beschützerkomplex geschlagen und meinte, ständig für Benachteiligte eintreten zu müssen. Leider brachte ihm das genauso wenig Gutes ein wie einst die Ferse dem berühmten Griechen. Wenn Tom nicht darauf bestanden hätte, den Helden zu spielen, hätte er nicht vor Gericht gegen seinen eigenen Vater aussagen müssen und mit einem einzigen verheerenden Schlag seine Familie und seine Ehe zerstört. Er wäre noch immer ein Anzugträger statt eines Typen, dem die Schmiere so tief unter den Fingernägeln saß, dass sie sich nicht mehr abwaschen ließ.

Es war nicht so, dass er sich sein altes Leben zurückwünschte. Aber es wäre schön gewesen, zumindest die Wahl zu haben.

Er seufzte ins Telefon. »Warum treibst du mich immer in die Enge?«

»Weil ich dich nur so dazu bringen kann, zu tun, was ich will«, konterte sie und klang amüsiert.

»Du bist echt eine Nervensäge!«

»Ha! Ich wusste, dass es funktioniert. Du fährst nach Seaside, stimmt’s?«

»Ja«, gab er zu. »Und du wirst mich dort absetzen. Aber ich schwör dir, ich fahre nicht den ganzen Weg mit dem Typen. Ich treffe mich mit ihm und leiste ihm Gesellschaft, bis wir einen anderen Mitfahrer für ihn gefunden haben, und dann verdrücke ich mich.«

»Du könntest deine Meinung ändern«, sagte sie fröhlich. »Vielleicht magst du ihn ja.«

Tom hasste Alex Marshall jetzt schon. Es war sechs Uhr morgens, und er stand in Seaside am Strand rum und wartete auf den Typen, statt noch gemütlich in seinem Bett zu schlummern.

Taryn zufolge hatte Marshall darauf bestanden, die Tour damit zu beginnen, die Räder ihrer Drahtesel in den Pazifik zu tauchen. Dieser Schwachkopf wollte tatsächlich von Astoria hierherradeln, um keinen einzigen Kilometer auszulassen, der auf der offiziellen Karte eingezeichnet war. Doch das war im Grunde nur ganz besonders dämlich, weil es gerade erst hell wurde. Alex musste fast noch bei Dunkelheit in Astoria losgefahren sein. Tom hoffte, dass der Typ zumindest über Sicherheitslichter und ein Frontlicht verfügte.

Er hätte sich viel lieber bei sich zu Hause in Salem mit Marshall getroffen. Das lag nur wenige Kilometer abseits der Route. Welchen Unterschied machte es schon, wenn man sich die ersten hundert Kilometer schenkte, wenn der ganze Trail rund sechstausendachthundert Kilometer lang war? Überhaupt keinen, außer für Menschen, die völlig unflexibel oder unentschuldbar gefühlsduselig waren. Er wusste nicht, was davon auf Alex zutraf, aber beides würde den Typen nicht gerade sympathischer machen.

Zu allem Überfluss verspätete er sich auch noch. So früh war niemand am Strand außer Tom und einer Frau, die vor wenigen Minuten am anderen Ende des Parkplatzes eingerollt war. Offensichtlich wollte auch sie die TransAm-Tour beginnen, denn sie hatte ein cooles Tourenfahrrad mit Stahlrahmen und einen Anhänger für die Ausrüstung. Sie sah aus, als wartete sie auf jemanden, was einen Sinn ergab, da Frauen die Strecke selten allein fuhren.

Er war versucht, auf Marshall zu pfeifen und ohne ihn loszufahren. Taryn hatte sich längst vom Acker gemacht. Eine kurze Umarmung, ein Kuss auf die Wange, und sie war wieder losgefahren, nur ein paar Minuten nachdem er seine Sachen aus ihrem SUV geladen hatte. Sie hatte ihren Plan zwar in die Wege geleitet, wollte aber auf keinen Fall hierbleiben und zusehen, wie er sich weiter entwickelte – zumal die Wahrscheinlichkeit hoch war, dass Tom Alex alles über ihre Einmischung erzählen würde und sie so manipulativ dastehen ließe, wie sie war.

Jetzt, wo Taryn weg war, hielt ihn nur die Erkenntnis hier, wie schuldig er sich fühlen würde, wenn er einen Wildfremden an seinem ersten Tag auf dem TransAm mit voller Absicht versetzen würde. Aber würde sich das nicht irgendwann legen? Wie viele Kilometer würden seine Schuldgefühle ihn quer durchs Land verfolgen?

Er kannte die Antwort. Tausende von Kilometern. Dutzende von Monaten. Schuldgefühle gaben niemals Ruhe.

Die Frau schob ihr Fahrrad langsam auf ihn zu. Na, fantastisch. Jetzt musste er auch noch mit einer Fremden darüber plaudern, wie aufgeregt er vor dem Beginn seiner Tour war, was er von herrschenden Windverhältnissen hielt, bla bla bla.

Er fällte eine Entscheidung. Marshall hatte fünf Minuten, und dann wäre Tom weg.

»Entschuldigung, aber bist du Tom Geiger?« Sie lächelte unsicher.

Es war schon eine Weile her, seit ihn jemand erkannt hatte, doch seine reflexartige Antwort kam so schnell wie immer. »Kein Kommentar.«

Sie blinzelte und schüttelte verwirrt den Kopf. »Heißt das Ja oder Nein?«

»Das heißt: ›Das geht dich nichts an.‹«

Jetzt kniff sie ihre bernsteinfarbenen Augen zusammen und warf ihm einen stechenden Blick zu, der bei einem Neunzig-Kilo-Mann bedrohlich gewirkt hätte. Bei ihr wirkte er irgendwie … süß. Das war wahrscheinlich nicht der Effekt, den sie anstrebte.

»Ist deine Identität eine Art Staatsgeheimnis?«, fragte sie. »Ich will doch nur wissen, ob du Tom Geiger bist. Das ist eine ganz einfache Frage.«

Und dann fiel es ihm auf. Er hätte es schon hören müssen, als sie den Mund aufgemacht hatte. Sie wollte wissen, ob er Tom Geiger war. Nicht Tom Vargas. Tom Geiger. Also hatte sie ihn nicht erkannt. Die Frau suchte nach dem Mann, der er heute war, und nicht nach dem, der er einmal gewesen war.

Während dieser Gedanke noch in sein Bewusstsein drang, fügte sie hinzu: »Ich bin Alex Marshall.«

Scheiße.

»Du solltest eigentlich ein Mann sein.«

Sie zog eine Augenbraue hoch. »Ich habe nie behauptet, ein Mann zu sein. Alex kann auch ein Frauenname sein.«

Als Tom nicht antwortete, zuckte sie mit den Schultern, als wollte sie sagen: Shit happens. »Es ist die Abkürzung von Alexandra. Du kannst mich auch Lexie nennen, wenn dir das besser gefällt. Das machen viele meiner Freunde.«

»Tja, ich bin aber nicht dein Freund.«

»Noch nicht, aber du legst einen Superstart hin.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und starrte ihn wütend an. Wenn sie Feuer hätte speien können, wäre er jetzt erledigt, doch in Anbetracht ihrer Größe und generellen Anbetungswürdigkeit kam es ihm vor, als lieferte er sich ein Blickduell mit Tinker Bell.

»Das wird nicht funktionieren«, sagte er schließlich.

»Weil ich Brüste habe?«

Nicht unbedingt, weil sie Brüste hatte, auch wenn sie im Moment nicht gerade für sie sprachen. Ihre Brüste würden es ihm viel schwerer machen, den richtigen Tourenpartner für sie zu finden, weil er dafür sorgen musste, dass derjenige ein vernünftiger Kerl war. Folglich würde er sie wahrscheinlich noch viel länger am Hals haben, als ihm lieb war.

Das war das Problem. Die Frau war attraktiv, aber darüber hinaus verriet ihm ein einziger Blick auf ihr Fahrrad alles, was er wissen musste. Es war teuer, tadellos in Schuss und mit einigen Extras der Spitzenklasse ausgestattet. Die schmalen Lenkstangen waren mit Zubehör beladen, samt einer Signalhupe, um Hunde zu verscheuchen, einem blinkenden LED-Sicherheitslicht, einem Fahrradcomputer und einer Lenkertasche mit einer Landkartenhülle aus Plastik. In der Hülle steckte eine TransAm-Trail-Karte – mit Anmerkungen auf (wenn seine Augen ihn nicht täuschten) winzigen Wimpelaufklebern.

Von seiner generellen Abneigung gegen die Menschheit einmal abgesehen mochte Tom Frauen genauso sehr wie jeder andere Mann. Aber hyperorganisierte Kontrollfreaks wie diese hier erinnerten ihn an seine Exfrau, und darauf konnte er gut verzichten.

Und wenn er noch ein Argument gegen sie brauchte, war es das zwanzig Zentimeter große, reflektierende orangefarbene Dreieck, das hinten an ihrem Sattel baumelte: In großen schwarzen Lettern hatte sie darauf geschrieben: »Lexie – TransAm – OR bis VA«. Genauso gut hätte darauf stehen können:Hallo! Ich quatsche gern mit Fremden übers Radfahren! Bitte verwickle mich auf der Stelle in ein sinnloses Gespräch!

Echt nicht sein Fall.

Tom war so schlau, das alles für sich zu behalten. Stattdessen begnügte er sich mit: »Das ist keine gute Idee.«

»Was denn genau?«, fragte sie mit einem verständnislosen Kopfschütteln. Sie hatte welliges rotbraunes Haar, das sie sich zu einem festen Pferdeschwanz zurückgebunden hatte. Sehr hübsch.

Ganz unübersehbar kein Mann.

»Zusammen zu fahren«, stellte er klar.

»Aber war das nicht deine Idee? Du hast doch auf meine Anzeige geantwortet.« Sie wirkte verärgert, ein bisschen durcheinander. Verletzlich. Er hätte ihr am liebsten geholfen, dabei war er ihr Problem.

Genau aus diesem Grund hielt er sich von Menschen fern. Man war ihnen behilflich, und ehe man sich’s versah, steckte man bis zum Hals im Treibsand und versuchte vergeblich, einen Weg aus dem Schlamassel herauszufinden.

»Meine Schwester«, sagte er.

»Was ist mit deiner Schwester?«

»Sie hat darauf geantwortet.«

»Ich kann dir nicht ganz folgen.«

»Klar.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte sie wütend an. Wenn er sich unverschämt genug aufführte, würde sie vielleicht aufgeben und wieder nach Hause fahren. Zwar bestand das Risiko, dass sie zuerst weinen würde, und das wäre echt unangenehm, aber das könnte er überstehen, wenn es sein musste.

Doch sie verschränkte ihrerseits die Arme, ahmte seine Pose nach und starrte wütend zurück. »Klar.«

2

Wie um alles in der Welt hatte sie Tom Geiger so völlig falsch einschätzen können?

Lexie hatte sich auf dieses Treffen genauso sorgsam vorbereitet wie auf die gesamte Radtour. Heute Morgen hatte sie sich auf der ganzen Strecke von Astoria hierher überlegt, wie sie reagieren sollte, wenn ihm schließlich klar wurde, dass sie eine Frau war. Für jede mögliche Reaktion – Überraschung, Verwirrung, Empörung – hatte sie sich überlegt, wie sie damit umgehen konnte, wie sie die Wogen wieder glätten und eine gute Basis für eine Kameradschaft zwischen ihnen schaffen konnte.

Aber offenbar hatte sie sich nicht gründlich genug vorbereitet, denn sie hatte keine Ahnung, wie sie mit dem Typen umgehen sollte, der nun vor ihr stand. Sie hätte nicht erwartet, dass er so feindselig sein würde. Oder derart merkwürdig. Oder so … jung.

In ihrer Vorstellung war Tom Geiger ein jovialer, zur Glatze neigender Fünfundfünfzigjähriger gewesen. Der reale Tom ähnelte diesem Bild nicht im Geringsten.

Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie nun tun sollte.

Er handelte in dieser Pattsituation als Erster. Er fuhr sich durch sein kurz geschnittenes schwarzes Haar, trat ein paar Schritte von ihr weg und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Strand. Er gab zwar nicht klein bei, stellte sich aber neu auf. Dennoch machte die Möglichkeit seines Rückzugs sie nervös.

Egal was passierte, sie durfte ihn nicht entwischen lassen.

»Deine Schwester?«, fragte sie in der Hoffnung, ihm eine umfassendere Erklärung zu entlocken.

»Ja.«

Das war alles, nur diese eine Silbe. Himmelherrgott. Sie hatte eine Radtour quer durch das Land mit dem wortkargsten Mann in ganz Oregon geplant.

Du kannst mit diesem Typen fahren oder allein.

Eine Alternative, aber keine gute. Lexie hatte oft genug allein gezeltet, um ihre Grenzen zu kennen. Es war eine Sache, auf den Straßen von Portland eine starke, unabhängige Frau zu sein, und eine ganz andere, am Ende der Welt allein in einem Zelt zu schlafen, ohne sich vor einem Axtmörder zu gruseln. Sie konnte es zwar – sie hatte es schon getan –, würde es aber am liebsten vermeiden.

Natürlich war auch Tom ein Fremder mit genauso viel Axtmörderpotenzial wie jeder andere Mann. Aber man musste versuchen, das Risiko zu minimieren. Selbst in seinem sichtlich gereizten Zustand erschien er ihr nicht gefährlich zu sein, und zumindest war er Sportler. Sie kannte seinen Namen und seine Adresse. Er machte ihr eindeutig weniger Angst als die Alternative.

Lexie konnte sich den Luxus nicht leisten, Tom zu vergraulen. Sie musste rausfinden, was sein Problem war, damit sie es lösen konnte.

»Sie hat dich … ausgetrickst?« Das hatte er zwar nicht gesagt, doch er stand mit verschränkten Armen da, blickte finster auf den Pazifik und wirkte wie ein Mann, den man ausgetrickst hatte.

»Hm-hm.«

Zwei Silben. Volltreffer!

Es war nicht lustig – obwohl sie zugeben musste, dassdiese Geschichte mit Tom Stand-up-Comedy-Potenzial hatte. Monatelang hatte sie schuldbewusst vorsichtige E-Mails mit ihm ausgetauscht und jede Andeutung von persönlichen Details vermieden, damit er ihr keine Frage stellte, die sie dazu zwang, ihr Geschlecht preiszugeben. Jetzt hatte sie den Eindruck, als hätte sie sich die vielen Gewissensbisse sparen können, da der »Tom«, mit dem sie die Tour geplant hatte, genauso wenig real war wie der »Alex«, den seine Schwester sich unter Lexie vorgestellt haben musste.

Das bedeutete, dass dieser Tom – der echte – von zwei Frauen an der Nase herumgeführt worden war. Kein Wunder, dass er sauer war.

Vielleicht sollte sie sich für ihren Anteil an dieser Situation bei ihm entschuldigen, auch wenn sie bezweifelte, dass es etwas bringen würde. Und außerdem war es ja nicht so, als hätte sie den Mann angelogen. Bin unkompliziert und gespannt auf das große Abenteuer! Mail an [email protected]. Daran war nichts gelogen. Sie hatte nur ein einziges, wenn auch entscheidendes Detail ausgelassen.

Dabei hatte sie es nicht mal mit Absicht getan. Jedenfalls nicht am Anfang. Bis die E-Mail-Antworten eintrudelten, war ihr nicht mal klar gewesen, dass sie ihren Namen in der Anzeige nicht angegeben hatte. Leider waren ihre Mailpartner wieder abgesprungen, sobald sie herausfanden, dass »TransAmAlex« eine neunundzwanzigjährige Frau war. Insgesamt vier, einer nach dem anderen. Allem Anschein nach duldeten die Ehefrauen und Freundinnen der furchtlosen Abenteurer der Nation nicht, dass ihre Mannsbilder das Land mit einer fremden Frau durchquerten. Deshalb hatte sie ihr Geschlecht, das alles so verkomplizierte, gar nicht mehr erwähnt und war davon ausgegangen, dass sie ihren Tourenpartner gnädig stimmen könnte, wenn sie ihm erst einmal gegenüberstehen würde.

In der Theorie hatte das alles besser geklungen. Der reale Tom jedoch war ziemlich entmutigend.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte sie.

Er zuckte mit den Achseln.

»Es wäre sehr hilfreich, wenn du den Mund aufmachen könntest.« Und mehr als drei Worte auf einmal sagen würdest.

Mit einem Seufzer sagte er: »Ich will die TransAm-Tour allein machen, aber meine Schwester fand, dass ich einen Partner brauche. Deshalb hat sie mich mit Alex Marshall zusammengebracht, der allem Anschein nach du bist.«

»Warum fand sie, dass du einen Partner brauchst?«

»Sie will nicht, dass ich im Straßengraben verrecke und unbeweint verwese.«

War das ein Scherz? Sie konnte es nicht sagen. Toms Miene ließ nicht gerade den Schluss zu, dass er zu Scherzen aufgelegt war.

»Klingt nach einer netten Schwester.« Ihre Eltern und ihr Bruder James hatten so ziemlich dasselbe Argument vorgebracht, damit sie sich eine Begleitung suchte.

»Ja. Aber sie ist eine penetrante Nervensäge.«

Das muss sie wohl auch sein, um gegen dich anzukommen. Lexie übte sich in Diplomatie und behielt den Gedanken für sich. »Okay, aber ich bin mir noch nicht sicher, ob ich alles kapiert habe. Du hast es dir nicht ausgesucht, hier zu sein, bist aber trotzdem da. Aber du willst nicht mit mir fahren, weil …«

»Weil ich den Sommer nicht damit verbringen will, deine Beziehungsprobleme zu analysieren, deine Platten im Reifen zu reparieren und dich aufzuheitern, wenn es auf den Pässen ein bisschen anstrengender wird.«

Seine beiläufige Frauenfeindlichkeit verschlug ihr die Sprache. »Wow«, sagte sie, nachdem sie sich wieder erholt hatte. »Nimm auf mich bloß keine Rücksicht, Tom.«

»Ich nehme auf niemanden Rücksicht.«

Lexie blickte aufs Meer, atmete tief ein und stieß die Luft langsam wieder aus. So funktionierte das hier nicht. Nicht mal annähernd.

Aber das Problem war, dass es funktionieren musste, denn sie hatte keinen Plan B. Dabei war Tom nicht mal ihre erste Wahl gewesen. Bis letzten Sommer hatte sie noch vorgehabt, die Tour mit ihrem Bruder zu machen. Doch dann war er so dämlich gewesen, eine Frau zu heiraten, die nicht Fahrrad fuhr, und Lexie hatte beschlossen, die TransAm-Tour allein durchzuziehen.

Allerdings hatte ihre Familie die Idee schrecklich gefunden, und ihr selbst waren auch Zweifel gekommen. Sie hatte gehofft, eine weibliche Begleitung zu finden, doch es hatte sowieso nur wenige Inserate gegeben, und in diesem Sommer hatte keine Frau nach einer Partnerin gesucht. Und auf Lexies Inserat hatte sich auch keine Frau gemeldet, mit der sie den TransAm von Westen nach Osten zurücklegen konnte.

Im Grunde war Tom sogar ihre vierte Wahl. Was für ein jämmerlicher Gedanke, sich schon am Tag eins der TransAm an ihre viertbeste Hoffnung auf Gesellschaft klammern zu müssen.

»Wir machen es so«, schlug sie vor. »Du brauchst nicht mit mir zu reden und du musst nicht mit mir zusammen fahren. Nur weil ich per Inserat eine Begleitung gesucht habe, heißt das noch lange nicht, dass ich Hilfe brauche, wenn ich einen Platten habe. Ich bewältige jeden Pass, ohne dass du mir die Hand halten musst, und mein Frauengejammer kann ich mir für jemanden aufsparen, der Verständnis dafür hat. Alles, was ich von dir will, ist ein warmer Körper, neben dem ich nachts mein Zelt aufschlagen kann.«

»Mit dir schlafen werde ich auch nicht«, antwortete Tom missbilligend.

Verdammt, wieso ging jeder davon aus, dass man verzweifelt einen Mann suchte, nur weil man neunundzwanzig war und über Eierstöcke verfügte? Ihre Freunde verkuppelten sie ständig mit gesetzten Apothekertypen, die mit ihr über die Vereinbarkeit ihrer Lebensziele diskutieren wollten, was sie nicht die Bohne interessierte, und jetzt hatte sie Tom am Hals, der unter »Mach mit mir eine Radtour« anscheinend »Reparier meine Platten und warte meine störungsanfälligen weiblichen Teile« verstand.

Sie konnte einfach nicht gewinnen.

Das Schlimmste daran war, dass er unerträglich attraktiv war. Der Tom Geiger in ihrer Vorstellung hatte genauso ausgesehen wie ihr Vater. Okay, das war vielleicht nicht sehr realistisch gewesen, aber wer hätte mit einem Typen mit Latino-Teint, schwarzen Haaren und schokoladenbraunen Augen rechnen können? Wer hätte ahnen können, dass er ein so markantes Kinn haben würde oder derart lange, dichte Wimpern, die in einem weniger maskulinen Gesicht mädchenhaft gewirkt hätten?

Ganz zu schweigen von seinem Körper. Der Mann war durchtrainiert wie Lance Armstrong. Allein schon seine muskulösen Unterarme waren zum Dahinschmelzen, und die breiten Bänder, die um seine Bizepse tätowiert waren, ließen ihn gefährlich und interessant wirken, als würde er dunkle Geheimnisse verbergen.

Jammerschade, dass in der Dunkelheit nur Piranhas lauerten.

Tom Geiger war ohne Zweifel ein Traumtyp, aber nicht für sie. Nach zwei geplatzten Verlobungen hatte sich Lexie schon vor Jahren von Traumtypen verabschiedet. Heutzutage dominierten Räder ihre Träume.

»Wirst du die ganze Zeit über so sein?«, fragte sie.

»Ich meinte nur …«

»Ja, ich hab schon verstanden. Mein Mann wird sehr erleichtert sein, wenn ich es ihm ausrichte.«

Für diese brillante Improvisation klopfte sie sich im Geiste auf die Schulter. Das Problem Sex war gelöst.

Die Stirnfalte zwischen Toms Augenbrauen vertiefte sich, und sein Blick suchte ihre rechte Hand. »Du hast keinen Ring«, bemerkte er.

»Und du keinen Funken Takt.«

Seine Mundwinkel zuckten. »Stimmt.«

Wenigstens wusste er es. Das machte ihn ein bisschen weniger schrecklich. »Legen wir die Karten auf den Tisch?«

Ein brüskes Nicken.

»Du scheinst genauso wenig erpicht darauf zu sein, mit mir zu fahren, wie ich mit dir.«

»Trifft so weit zu.«

»Aber in meinem Fall ist es keine gute Idee, die Tour allein zu machen.«

Noch ein Nicken, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Sie hatte geglaubt, sie müsste es ihm vielleicht erklären. Andererseits hatte Tom eine Schwester. Vielleicht verstand er es.

»Alles, was ich von dir will, ist, dass du an den gleichen Orten zeltest wie ich und meine Familie anrufst, wenn ich einen schrecklichen Unfall erleide.«

Die Pause, bevor er antwortete, konnte nicht länger als ein paar Sekunden gedauert haben, doch sie war lang genug, dass Lexie fast aufgab. Sie würde schon klarkommen, bis sie einen Ersatz für Tom finden würde. Sie war von Natur aus ein geselliger Mensch und hätte eindeutig lieber Gesellschaft, aber sie konnte ihr Bedürfnis nach Unterhaltung stillen, indem sie mit Leuten sprach, die sie unterwegs traf. Und für die Nächte im Zelt hatte sie ein Buch dabei und konnte so lange lesen, bis sie müde genug wurde, dass …

»Na schön«, unterbrach er ihre innerlichen Aufmunterungsversuche. »Aber sobald ich einen Ersatz für dich finde, bin ich weg.«

Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Seltsam, dass sie sich so über seine Gesellschaft freute, wenn man bedachte, wie wenig sie ihn mochte. Andererseits war es ihr Plan gewesen, mit Tom Geiger zu fahren, und sie hasste es, von ihren Plänen abzuweichen. »Das ist für mich in Ordnung. Können wir dann jetzt die Räder eintauchen und losfahren? Ich will heute noch bis Garibaldi kommen.«

Mit der tiefen Falte zwischen den Augenbrauen schüttelte Tom den Kopf und sagte: »Tu dir keinen Zwang an.«

Lexie schob ihr Rad durch den Sand und wünschte, sie hätte vorher den Anhänger abgekoppelt. Es war nicht das Leichteste auf der Welt, ein voll beladenes Tourenrad durch den weichen Sand zu schieben. Es war sogar überraschend schwierig. Aber sie würde ihr Rad in den Pazifik tauchen, und in drei Monaten in den Atlantik. Das war alles.

Tom verzichtete darauf. Was sollte das? Alle tauchten ihr Rad ins Wasser. Wenn der Beginn dieser Tour irgendein Anhaltspunkt war, dann würde er eine echte Spaßbremse sein.

Aber es spielte keine Rolle. Das war ihr Abenteuer, und sie würde es machen, wie sie wollte. Sie hatte sich schon auf diesen Tag gefreut, noch bevor die Stützräder von ihrem ersten Fahrrad abmontiert worden waren. Sie und James waren mit den Geschichten der TransAm-Abenteuer ihrer Eltern aufgewachsen. Im Sommer 1976 hatten Mom und Dad und Tausende andere Amerikaner ihre Zehngangfahrräder aus der Versenkung geholt, sich Kniestrümpfe angezogen und an einer Party auf Rädern quer durchs Land teilgenommen, die als Bikecentennial bekannt wurde. Irgendwo in Kansas hatten sich die Marshalls im Sattel kennengelernt und waren seitdem unzertrennlich.

Solange sie zurückdenken konnte, hatte Lexie sich gewünscht, dieselbe Tour zu machen: das Land zu sehen, neue Leute kennenzulernen und sich zu beweisen, dass sie das Zeug dazu hatte, die vielen Kilometer im Sattel zurückzulegen. Und wenn eine Herausforderung des TransAm darin bestand, es mit Tom Geiger auszuhalten, dann sei es so. Es gab Schlimmeres.

Sie erreichte die Brandung und tauchte ihr Rad hinein, bevor sie sich wieder umdrehte. Der Moment war weit weniger symbolisch, als sie es sich erhofft hatte. In ihren Tagträumen vom Tourstart hatte es weder den Gestank abgestorbener Meeresalgen noch die heiseren Schreie der Möwen gegeben, die am Himmel kreisten, und sie musste sich große Mühe geben, um nicht Tom die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben. Immerhin verdarb er ihr nicht aktiv die ganze Freude an den ersten Augenblicken ihrer Tour. Er stand einfach nur reglos da, und seine Silhouette zeichnete sich gegen die dramatische Kulisse aus Orange-, Rot- und Lilatönen ab. Mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen ignorierte er den Sonnenaufgang und die Schönheit des Ozeans, sondern stierte nur finster zum Parkplatz und wartete auf sie.

Lexie gab es auf, den Moment genießen zu wollen. Sie schlug mit ihrem widerspenstigen Fahrrad einen großen Bogen und schob es zum zornigen Tom zurück.

»Fertig?« Sie schnallte sich ihren Helm fest.

Er setzte seinen ebenfalls auf und schwang sich auf sein Rad.

»Auf geht’s.«

Schon zehn Minuten später kam die aufregendste Reise ihres Lebens mit einem flatternden Geräusch, das stets nur eins bedeutete, zum Erliegen.

Sie hatte einen Platten. Der erste Tag auf der TransAm, und sie hatte einen Scheißplatten. Sie fuhr rechts ran.

»Tut mir leid, ich muss mir am Strand einen Glassplitter eingefangen haben. Du kannst schon mal vorfahren, ich komme dann später nach.«

Ohne ein Wort stieg er ab und klappte den Fahrradständer herunter. Jeder ernst zu nehmende Radfahrer hätte ihn vor der Tour abmontiert – zu viel zusätzliches Gewicht. Wer hatte schon einen Fahrradständer? Wenn sie es sich recht überlegte: Wer hatte schon ein Rad, das aussah wie Toms? Es schien bereits mehrere Kriege überlebt zu haben und ähnelte in keiner Weise den raffinierten, teuren Geräten, mit denen die Leute normalerweise tourten. Auch seine Klamotten waren völlig daneben. Sie hatte jemanden mit Radlerhosen und Trikot erwartet, vielleicht mit einem neongelben Regenmantel zum Schutz gegen den Nebel. Er hingegen trug ein verblichenes Nirvana-T-Shirt und Cargo-Shorts.

Trotzdem war er echt heiß, was sie irgendwie zu ignorieren lernen musste. Sie musste sich einfach auf seinen Charakter konzentrieren. Das sollte seinen Zweck erfüllen.

Während sie den Anhänger abhakte und ihr Fahrrad auf den Sattel stellte, stand er da und beobachtete sie, wodurch sie so nervös wurde wie eine Jungfrau auf dem Rücksitz einer Limousine nach dem Abschlussball. Es half sogar ein bisschen, dass er ein totales Arschloch war. Mit Arschlöchern kam sie klar. Als Highschool-Lehrerin hatte sie tagtäglich mit ihnen zu tun.

Unter Toms kritischen Blicken zog sie ihr Vorderrad ab, sie fühlte sich unwohl. Das war also ein Test. Wenigstens wusste sie, dass sie ihn bestehen konnte. Sie hatte im Lauf der Jahre massenhaft platte Reifen gewechselt. Sie zog den beschädigten Schlauch aus dem Reifen, inspizierte ihn, konnte aber kein Loch entdecken. Bei einer eingehenden Untersuchung des Reifens selbst stieß sie schließlich auf den Übeltäter: eine kleine spitze Glasscherbe.

Erst als sie in ihrer Hecktasche nach einem neuen Schlauch wühlte, beschlich sie ein ungutes Gefühl. Denn dies war nicht das Rad, mit dem sie die Tour ursprünglich machen wollte. Sie hatte sich im letzten Moment umentschieden und die Salsa genommen, die zwar weniger Handhaltungen bot, aber bequemer war als ihr eigentlich vorgesehenes Tourenrad. Die Hecktasche hingegen hatte sie schon vor Wochen gepackt, was bedeutete, dass sie nun Schläuche in der falschen Größe dabeihatte. Folglich konnte sie den Reifen nicht wechseln.

Noch bevor sie auch nur drei Kilometer gefahren waren, stand sie vor Tom also wie der letzte Depp da.

»Schlechte Nachrichten. Ich, ähm, hab die falschen Schläuche dabei. Ich brauche 29er, und die habe ich nicht. Aber fahr doch ruhig vor, und ich suche in der Zeit einen Fahrradladen. Und wenn er öffnet« – in drei oder vier Stunden – »kaufe ich mir einen neuen Schlauch und treffe dich heute Nachmittag wieder.«

»Du kannst den Reifen auch flicken.«

Noch ein katastrophales Versäumnis in ihrer Planung. Lexie hatte kein Flickzeug dabei. Sie hatte lange hin und her überlegt, ob sie es brauchen würde, und war zu dem Schluss gekommen, dass es keinen Sinn ergab, auch noch Flickzeug mit sich rumzuschleppen, wo sie doch massenweise Ersatzschläuche einpackte. Hinzu kam, dass sie noch nie einen Reifen geflickt hatte. Das ganze Verfahren war ihr schon immer ziemlich antiquiert vorgekommen, und sie hatte keinen Grund gesehen, sich die Mühe zu machen, es zu lernen, weil Schläuche schließlich so billig waren.

»Ich weiß aber nicht, wie das geht«, gab sie zu, obwohl sie wusste, dass er die Stirn runzeln, sie böse anschauen und sich in seinen Vorurteilen bestätigt sehen würde.

Er blickte sie wirklich stirnrunzelnd an. Doch dann nahm er ihr den Schlauch ab und fing an, nach dem Loch zu fahnden.

»Das hab ich schon gemacht.«

Tom ignorierte sie. Er pumpte Luft in den Schlauch, hielt ihn sich ans Ohr und drehte ihn langsam, während er nach dem Zischen der ausströmenden Luft lauschte. Zwei volle Umdrehungen später pumpte er noch ein bisschen mehr Luft in den Schlauch. Dann streckte er die Zunge heraus und leckte daran.

»Was machst du da?«

Statt zu antworten fuhr er weiter mit der Zungenspitze an dem Gummischlauch entlang und starrte sie mit seinen durchdringenden dunklen Augen an.

Und Gott stehe ihr bei, es machte sie an.

Sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, und wandte beschämt den Blick ab. Sie war nun beinahe dreißig Jahre alt, und es machte sie an, wenn ein Typ an einem Schlauch leckte. Ein heißer Typ wohlgemerkt, aber trotzdem. Sie musste öfter unter Menschen gehen.

Als sie ihn wieder ansah, hatte er sein Flickzeug herausgeholt und raute das Gummi mithilfe von Sandpapier auf. Anscheinend hatte er das Loch gefunden. Mit seiner Zunge. Herrgott.

Gott sei Dank war das Thema Sex vom Tisch. Wenn man bedachte, wie scharf sie gerade auf ihren Tourenpartner war, würde sich der fiktive Mr Marshall als Segen erweisen. Seit ihrer letzten gescheiterten Beziehung war sie umso vorsichtiger, nicht mit den falschen Typen ins Bett zu steigen, und Tom Geiger hätte gar nicht falscher sein können.

Auch wenn er ihren Reifen flickte.

Tom trug Klebstoff auf, drückt einen Flicken darauf und reichte ihr den Schlauch.

»Halt das fünf Minuten fest. Dann kannst du den Schlauch wieder in den Reifen spannen und ihn aufpumpen.«

»Danke.«

»Gern geschehen.«

Da sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte, drückte sie auf den Flicken und wartete schweigend. Sie fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Ihr großes Abenteuer entwickelte sich nicht nach ihren Vorstellungen. Bisher war es irgendwie Scheiße.

Er zog die Wasserflasche von seinem Rad, nahm einen Schluck, spülte sich den Mund und spuckte aus. »Beim nächsten Mal leckst du am Schlauch«, brummte er. »Es schmeckt zum Kotzen.«

Lexie lachte. Als sie aus dem Augenwinkel einen Blick auf Tom riskierte, ertappte sie ihn dabei, wie er sie anlächelte – und es hätte sie fast umgehauen.

Ein breites Lächeln hatte seine schönen Lippen verwandelt, jede Spur vom zornigen Tom getilgt und ihn durch einen Tom ersetzt, den sie noch nicht kannte – aber kennenlernen wollte. Oh Mann, und wie sie es wollte. Er hatte ein fantastisches, gewinnendes Lächeln. Seine Augen funkelten vor Belustigung, und in den Augenwinkeln bildeten sich tiefe Lachfalten. Er hatte ein Grübchen im Kinn, das ihr zuvor noch nicht aufgefallen war. Seine Zähne strahlten weiß und bildeten einen attraktiven Kontrast zu seiner dunklen Haut. Dieser Tom war absolut zum Anbeißen.

Wunder über Wunder, er wirkte plötzlich so, als könnte man mit ihm viel Spaß haben.

Sie lächelten sich ein paar Sekunden länger an als nötig, bevor Tom leicht die Stirn runzelte und sich abwandte, um seine Wasserflasche zurück in den Getränkehalter zu klemmen.

Lexie stieß die Luft aus, die sie unbewusst angehalten hatte. Vielleicht war er doch gar nicht so übel.

3

Von Seaside, Oregon, nach Corvallis, Oregon

275 zurückgelegte Kilometer

Tom war furchtbar.

Sechzehn Kilometer hinter Seaside auf dem Pacific Coast Scenic Highway bot sich ihnen am Ende eines langen Anstiegs nach einer Kurve eine unglaubliche Aussicht: tiefblaues Meer, zerklüftete Felsen, ein winziges Dorf, das sich an die Küste schmiegte, und darüber ein strahlend blauer klarer Himmel. Genau das hier hatte sie sich von der Tour erhofft. Und es war nicht nur der Ausblick – es war alles. Die saubere, frische Luft an der Küste. Der glatte Asphalt, breit und beeindruckend frei von Schlaglöchern. Das gute Gefühl ihrer behandschuhten Handflächen am Lenker. Am liebsten hätte sie sich diesen wunderbaren Moment eingepackt, um ihn später noch einmal in Ruhe genießen zu können.

Doch stattdessen sprudelte aus ihr heraus: »Wow! Das ist spektakulär.«

»Ich dachte, wir müssten nicht reden«, antwortete er.

So viel zum Thema Spaßbremse. Sie hatte nur eine Sekunde lang vergessen, mit wem sie unterwegs war, und der zornige Tom ließ es sie prompt büßen.

Sie klappte den Mund zu und beschloss, von nun an zu schweigen. Er wollte nicht mit ihr reden? Sie ging ihm auf die Nerven? Na schön. Er konnte mit ihr bis nach Kansas und noch weiter fahren, ohne dass sie ein einziges Wort zu ihm sagte, es sei denn, er begann das Gespräch.

Kein. Einziges. Wort.