Bittersüße Weihnachtszeit - Andrea Nagele - E-Book

Bittersüße Weihnachtszeit E-Book

Andrea Nagele

5,0

Beschreibung

Ein fesselnder Weihnachtskrimi, gewürzt mit einer Prise Humor und Romantik. Die alleinerziehende Emma reist mit ihrer kleinen Die alleinerziehende Emma reist mit ihrer kleinen Tochter Lucy ins verschneite Prag, um dem Weihnachtsstress zu Hause zu entkommen. Doch statt Adventszauber erlebt Emma ihren schlimmsten Alptraum: Auf dem Weihnachtsmarkt in der Altstadt wird Lucy entführt. Mitten im Schneetreiben beginnt die fieberhafte Suche nach ihr – mit Unterstützung des Rezeptionisten Jo, für den Emma bald mehr als bloße Dankbarkeit empfindet ...

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Andrea Nagele leitete über ein Jahrzehnt ein psychotherapeutisches Ambulatorium. Heute arbeitet sie als Autorin und betreibt in Klagenfurt eine psychotherapeutische Praxis. Sie pendelt zwischen Klagenfurt am Wörthersee, Grado und Berlin.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer mit einem Motiv von shutterstock.com/Tanya Shulga

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-998-3

Ein Weihnachtskrimi

Originalausgabe

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Für Günter J. – meinen Lebensmenschen,

If you want to keep a secret, you must also hide it from yourself.

1

Emma rekelte sich auf der Couch. Vor dem großen Fenster rieselte der Schnee. Es hatte sich bereits eine dicke, watteweiche Schicht auf dem Mauervorsprung gebildet. Die Vorhänge waren weit geöffnet, damit Emma das winterliche Treiben besser beobachten konnte.

Es schien, als verschluckte das herrliche Weiß alle Laute. Eine wundervolle Welt lag dort draußen, eine, in der es weder Verkehrslärm noch Rettungssirenen und vor allem kein Gegröle betrunkener Touristen gab, die auf dem Weihnachtsmarkt einen Glühwein zu viel getrunken hatten.

Genüsslich spreizte Emma ihre Zehen in den kuschelig warmen Socken.

Niemand, absolut niemand würde sie stören. Sie hatte den ganzen Nachmittag und Abend für sich allein.

Heute würde ihr nur Gutes widerfahren, von der überfälligen Pediküre bis hin zu einem erholsamen Bad im nach Zimt und Bratäpfeln duftenden Bubbleschaum. Von den Honigkerzen ganz zu schweigen, die würden dazu das genau richtig gedimmte Licht spenden. Die neue Bodylotion versprach, ihre Haut samtig, und der Conditioner, ihre Haare seidig zu machen.

Natürlich wäre es kein Fehler, sich auch sonst ein bisschen mehr um das eigene Wohlbefinden zu kümmern. Doch mit einer quirligen Vierjährigen an der Seite war das eben so eine Sache. Kaum hatte Emma alles Erforderliche für einen Wohlfühltag hergerichtet, kam meistens etwas Unaufschiebbares dazwischen. Wie zum Beispiel eine dringend benötigte heiße Schokolade mit schmelzenden Marshmallows oder ein Kaffeekränzchen in der Puppenküche, an dem sie selbstverständlich teilnehmen musste.

Dann legte sie ihr Buch weg oder räumte den Nagellack und die Gesichtsmaske wieder zurück ins Badezimmerschränkchen.

Es war ja nicht so, dass Emma das nicht gern tat. Sie freute sich über jede einzelne Sekunde mit ihrer Tochter. Lucy war das Beste, das Allerbeste in ihrem Leben. Das einzige wahrhaftig Tolle, was ihr jemals passiert war.

Emmas Blick wanderte zu dem silbern gerahmten Foto ihrer Tochter auf dem Regal. Lucy lachte, ihre Grübchen malten zwei dicke Punkte in ihr Gesicht, und eine vorwitzige Strähne ihres weizenblonden Haares fiel frech über ihr linkes Auge.

Mutter zu sein, hatte Emmas Leben erst den Sinn gegeben, der ihm früher gefehlt hatte. Durch das schutzlose kleine Wesen, für das sie nun verantwortlich war, war sie in eine komplett andere Sphäre eingetaucht. Das Alltägliche hatte sie gänzlich erobert, hatte Emma immer weiter weggetrieben von der kindischen Idylle, in die sie wohl geflüchtet war, gespeist von den vielen Büchern, die sie gelesen, Hochglanzmagazinen, in denen sie bewundernd geblättert, und Filmen, die sie gesehen hatte.

Stillen, wickeln, in den Schlaf singen und wiegen, kochen, putzen, einkaufen, Arztbesuche, endlose einsame Spaziergänge, Geplapper in einer neuen, ihr unvertrauten Sprache, die aus Lauten und eigenartigen Geräuschen bestand und weit entfernt war von den zusammenhängenden Worten, die sie verstehen konnte.

Ihr Leben hatte sich auf einmal so verwirrend angefühlt. Es war, obwohl es sich simpel und vielleicht auch normal anhörte, wenn sie ihrer Mutter davon erzählte, ausgesprochen kompliziert und sehr ermüdend, teilweise schier unerträglich, aber auf eine berauschende Art. Sogar der fehlende Schlaf barg neben tiefer Erschöpfung ausgelassenes Entzücken, wenn Lucy ihre strahlend blauen Augen aufschlug. Die hatte sie eindeutig von ihr geerbt.

Das kleine Wesen hatte all ihr Denken und Fühlen von der ersten Sekunde an auf sich fokussiert. Emma wunderte es nicht, dass ihr Ex-Mann dabei außen vor geblieben war.

Sicher, das Zusammensein mit Josef war zu Beginn ihrer Beziehung reizvoll, sexy, spannend und in gewisser Weise auch verträumt gewesen. Manchmal hatte sie jedoch eine Kluft zwischen ihnen erahnt, die sie verunsicherte, insgeheim wissend, dass Josef diese Lücke nicht mit seiner Liebe würde ausfüllen können. Stillschweigend hatte sie ihm das vorgeworfen, an der Tiefe seiner Gefühle und im Lauf der Zeit auch immer häufiger an der ihrer eigenen gezweifelt. Dass sie ein völlig unterschiedliches Weltbild hatten und politisch nie der gleichen Ansicht waren, trug ebenfalls nicht zu einer harmonischen Partnerschaft bei.

Wobei solche Diskussionen mitunter durchaus auch etwas Prickelndes haben konnten.

Josef war das verwöhnte Einzelkind kühler Eltern. Der Vater scheffelte Unmengen an Geld, die Mutter strahlte nach außen, stets wie aus dem Ei gepellt. Beide protzten mit ihrem Reichtum, schmissen eine Party nach der anderen und beschäftigten ein kleines Heer an Dienstboten. Das Beste war eben stets gut genug. Auch musste ihr Sohn überall der Erste sein, sei es beim Sport oder in der Schule. Und Josef erfüllte spielerisch ihre Erwartungen. Er musste um nichts wirklich kämpfen, alles war ihm schon in die Wiege gelegt worden. Kein Wunder, dass aus ihm ein Snob geworden war.

Emma hingegen hatte bei ihren biederen, aber herzlichen Eltern aufwachsen dürfen, die ebenso ihre Wertvorstellungen hatten, auch wenn es andere waren als die von Josefs Familie. Konzert-, Theater- und Museumsbesuche waren Emma seit ihrer Kindheit vertraut, es gab jedoch klare und eindeutige Regeln, denen sie sich fügen musste. So waren fixe Schlafenszeiten ein Grundsatz, sie durfte aber zu ihrem Ärgernis bei keiner ihrer Freundinnen übernachten. Selbstverständlich half sie im Haushalt mit, kochte oft mit ihrer Mutter gemeinsam, und natürlich hatten ihre Eltern, ebenso wie die von Josef, ihre festgefahrenen Vorstellungen darüber, wie das Leben funktionieren sollte. Nicht immer teilte Emma ihre Ansichten. Sie hatte daher lernen müssen, sich durchzusetzen. Zu einem richtig bösen Streit war es in ihren jungen Jahren aber nie gekommen.

Erst später, in der Pubertät, hatten ihre Kämpfe begonnen, zunächst im üblichen Maß, die Abnabelung von den Eltern betreffend. Dann jedoch war Emma zufällig auf etwas gestoßen, das ihre Mutter vor ihr zu verbergen suchte und ihr bis heute um keinen Preis verraten wollte.

Emma hatte sich verraten und verkauft gefühlt, hatte ihrer Mutter verübelt, dass sie der eigenen Tochter nicht vertraute und durch ihre Weigerung, aus einer für Emma unverständlichen Sturheit heraus, sogar die Beziehung zu ihr aufs Spiel setzte. Frieden war erst wieder eingetreten, als Emma nicht mehr zu Hause wohnte.

Es war ihre Mutter gewesen, die sie durch die schwierige Schwangerschaft begleitet hatte, und nicht Emmas Ehemann. Der war lieber auf Partys gegangen oder mit Freunden zum Abendessen, als ihr den Rücken und die Füße zu massieren.

Von gutem Sex hatte Emma in den ersten Monaten nach Lucys Geburt nicht mal träumen wollen. Allein die Vorstellung, Josef würde ihre mit Milch gefüllten Brüste kneten, bereitete ihr körperliche Schmerzen.

»Du gehst ja vollkommen in deiner Mutterrolle auf. Wir leben doch nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert. Du bekommst keinen Orden für deine Hingabe«, hatte er ihr mehr als einmal entgegengeschleudert, und selbstverständlich waren Josefs Vorwürfe durchaus berechtigt gewesen, nicht jedoch die Heftigkeit, mit der er sie ihr an den Kopf warf.

Sie wurde immer zurückhaltender, wies jeden seiner noch so unbeholfenen Annäherungsversuche ab, vernachlässigte ihn. Vielleicht hatte er sich damals auf seine Art wirklich um sie bemüht. Nur war ihr das erst viel später bewusst geworden.

Zuerst war da nur so ein ungerechter Groll gegen Josefs Art, Kaffee zu machen, gewesen. Überall lag das Pulver verstreut herum. Dann konnte sie nicht mehr hören, wenn er den Rotz geräuschvoll durch die Nase hochzog, und die leeren Klopapierrollen, die er ebenso wenig wie den Küchenmüll entsorgte, gaben Anlass zu täglichen Wortgefechten. Kleinigkeiten, die ihr am Beginn ihrer Liebesgeschichte nicht mal richtig aufgefallen waren oder über die sie schmunzelnd hinweggesehen hatte. Sie war sich dabei sogar großzügig vorgekommen.

Als sie Josef in der barocken Frauenkirche mitten in Dresden das Jawort gegeben hatte, gratulierten ihr alle zum schönsten Tag in ihrem Leben. Einer ihrer früheren Freunde hatte ihr unter der berühmten Kuppel jedoch bedeutungsschwer die Worte des einstigen Ratszimmermeisters der Frauenkirche ins Ohr geflüstert: »Von Grund aus bis oben hinauf gleichsam nur ein einziger Stein.«

Den kalten Schauer, der über ihren Rücken gekrochen war, konnte sie noch immer spüren.

Hatte er Josef damit gemeint?

Emma hatte sich nach diesen Worten seltsam einsam und verloren gefühlt zwischen der Marienstatue, Moses mit den Gesetzestafeln, dem einschüchternden Altar, Paulus mit seinem Schwert und all den frohlockenden dicken Engeln. Auf der Toilette hatte sie heimliche Tränen vergossen und sich mit kaltem Wasser und Papiertüchern die Wimperntusche unter den Augen weggerubbelt.

Ihre Hochzeit war durchaus die Hochzeit des Jahres gewesen.

Die Schwiegereltern waren betört von Emmas natürlichem Liebreiz, ihren Eltern hingegen war der Argwohn überdeutlich anzusehen. Von Anfang an hegten sie einen für Emma unbegründeten Groll gegen Josef und seine Sippe.

Er war ihnen zu reich, zu verwöhnt und viel zu unpassend für ihr Töchterchen vorgekommen.

Selbstverständlich hatten sie, als Emma ihnen von der Schwangerschaft erzählte, ihren Entschluss, diesen Mann zu ehelichen, letztendlich akzeptiert. Jedoch erst nach ausgedehnten Diskussionen und Überzeugungsversuchen. Es wäre zu früh, zu überstürzt, sie würden sich ja noch nicht allzu lange und gut genug kennen, man müsse nicht gleich heiraten, wenn man ein Baby bekäme, so ein Schritt sei gründlich zu durchdenken. Damit würde Emma eine Weiche in ihrem Leben stellen.

Im Nachhinein betrachtet, sagte sie sich oft: Ja, okay, letzten Endes haben sie recht behalten.

Ihre überbesorgten kleinbürgerlichen Spießereltern, von denen sie eher erwartet hätte, dass Schwangerschaft und Ehe für sie zusammengehörten, hatten den tiefen Graben zwischen Josef und ihr von Beginn an erkannt.

Josef hatte sie zweifelsohne nur wegen des kleinen Bratens in ihrer Röhre geheiratet. Und aus keinem anderen Grund. Sein Vater hatte ihm unmissverständlich klargemacht, dass er diesmal Nägel mit Köpfen machen musste. Sie, die naive, schüchterne und hübsche Emma, passte perfekt in das Konzept ihrer Schwiegereltern. Von ihr war wenig Widerstand zu erwarten. Das Enkelkind würde die beste Erziehung erhalten, der alteingesessenen Familie aus Dresden angemessen, und später dann alles erben. Sich diesen Wünschen entgegenzustellen, dazu fehlte es Emma der Einschätzung ihrer Schwiegereltern nach an Kraft.

Warum sollte sie auch Einwände haben?

Mit Reichtum gesegnet, wohlbehütet und versorgt mit dem Allerbesten.

Damals wusste Emma nicht, dass ihr Liebster ein Wiederholungstäter war, einer, der nichts anbrennen ließ, niemals. Eine Affäre folgte auf die nächste. Emma war ahnungslos. Bis sie die SMS seiner damaligen Gespielin las.

Ihre nach Lucys Geburt durch Unstimmigkeiten ohnehin schon strapazierte Liebe war mit einem Krachen auf dem Boden der Tatsachen gelandet. In ihrer Verwirrung hatte Emma sich zu dem Menschen geflüchtet, der Josef am besten kannte.

Die Worte ihrer Schwiegermutter, als sie sich nach dem Betrug bei ihr ausweinte, hallten jetzt noch in ihr nach: »Kind, du musst erwachsen werden. Männer sind halt so. Glaubst du denn, ich hätte es immer leicht gehabt? Schau einfach nicht so genau hin. Du machst dir das Leben nur unnötig schwer.«

Emma hätte sie und ihren missratenen Sohn am liebsten gevierteilt.

Doch schließlich gab es Lucy.

Und für ihr gemeinsames Kind hatte sie Josef so zu akzeptieren, wie er nun mal eben war.

Lange Zeit war sie auf diesem Trip gewesen, hatte die Realität vollkommen ausgeblendet und der kriegerischen Stimme in ihr entschieden das Wort verboten. Josef tat sein Übriges, überschüttete er sie und Lucy seit seinem angeblich einzigen und letzten Seitensprung doch mit hingebungsvoller Fürsorge und teuren Geschenken.

Wenn nicht er, wer war dann der Vater des Jahres?

Er hielt das schreiende Kind nächtelang im Arm, damit sie schlafen konnte, er besorgte Windeln und wickelte die strampelnde Tochter, er kaufte im Supermarkt sogar Tampons für Emma.

Welcher andere Mann hätte das getan?

Noch dazu, wo er sich in der Schwangerschaft nicht den Deut um sie gekümmert hatte.

Josef war eben einzigartig.

Trotz seiner Affäre, die er zutiefst bedauerte.

Er war ihr Gefährte, der Mann, den sie sich in ihren Teenagerjahren erträumt hatte, der Mensch, mit dem sie lachen konnte und den sie von Herzen liebte.

Natürlich gab es ernst zu nehmende Hindernisse, die ihr neues Glück trübten. Jeden Sonntag mussten sie pünktlich um zwölf Uhr dreißig in der herrschaftlichen Villa ihrer Schwiegereltern an der Elbe erscheinen. Emma hatte den Geruch des Flusses nie gemocht. Er stank nach Fäulnis und Verderben. Und diese Mittagessen auf der Terrasse waren für sie geprägt von unterdrückten Emotionen. Allein die Art, wie ihre Schwiegermutter mit dem Personal umging, verursachte bei Emma Brechreiz. Diese subtile Form der Herablassung war schwer zu durchschauen.

Und dann hatte eines Tages eine blasse junge Frau vor ihrer Wohnungstür gestanden und wollte Josef sprechen. Als Emma ihr erklärte, dass er erst später käme, und Lucy zu schreien begann, fragte die junge Frau, ob sie Josefs Schwester wäre, die mit ihrem Kind zu Besuch sei. Er hätte sie einmal erwähnt.

Emma war das Blut vom Kopf in die Beine gesackt, und sie war kurz davor gewesen, ohnmächtig zu werden. Aber sie riss sich zusammen und bat die Frau hereinzukommen. Sie servierte ihr eine Tasse Tee und klärte sie über die wahren Verhältnisse auf. Die Frau begann zu weinen und erzählte Emma, dass sie erst kurz mit Josef zusammen sei und gerade eine Abtreibung hinter sich habe. Der Zeitpunkt für ein Kind sei gerade ungünstig, habe er gemeint, da er beruflich überlastet sei. Außerdem sei der Bengel seiner Schwester die reinste Nervensäge, und schon aus diesem Grund wolle er kein Baby.

Als Emma von ihr wissen wollte, warum sie Josef nun zu Hause aufsuchte, schluchzte die junge Frau auf und gestand unter Tränen: »Weil er mir noch immer das Geld für die Abtreibung schuldet.«

Eine halbe Stunde später kam Josef nach Hause und rief fröhlich aus dem Vorzimmer: »Wo sind denn meine beiden Schätze?«

Emma rief zurück: »Hier, im Wohnzimmer! Wir trinken Tee und plaudern. Du bist unser Thema, bester Ehemann und Vater der Welt.«

Lachend kam er herein und blieb wie erstarrt mitten im Raum stehen. Dann, als er sich einigermaßen gefasst hatte, fragte er vorwurfsvoll: »Elisabeth, was machst du hier bei uns zu Hause?«

Danach war alles in die Brüche gegangen.

Schon wenige Monate später waren sie geschieden worden. Emma und Lucy blieben in der Wohnung, Josef zog zu seinen Eltern in die Villa.

Emma gähnte ausgiebig und schlug mit der flachen Hand auf ihre Stirn. »Weg mit euch bösen Erinnerungen, und zwar dalli«, befahl sie sich selbst.

Wenn sie bloß nicht ständig so katastrophal müde und ausgelaugt wäre. Sie fühlte sich wie ein nasser Fetzen. »Müßiggang« und »Wellness« waren Wörter, die sie schon lange aus ihrem täglichen Repertoire gestrichen hatte. Auch an den Abenden und Wochenenden, an denen Lucy bei Josef oder ihren Schwiegereltern war, gab es einen Berg an Hausarbeit, den Emma abzutragen hatte.

Als alleinerziehende Mutter mit Eltern, die sehr weit entfernt an der Ostsee in einem netten Reetdachhaus lebten, durfte Emma kaum auf familiäre Unterstützung hoffen. Abgesehen von Ostern, Weihnachten und den Sommerferien. Da nahmen die Großeltern Lucy zärtlich in die Arme und verwöhnten Enkelin und Tochter gleichermaßen hingebungsvoll. Angefangen bei den Lieblingsspeisen bis hin zu Kinobesuchen und endlosen Wanderungen am Strand mit Muschelsuchen.

Und Emma für ihren Teil durfte schlafen, lesen oder sich ohne schlechtes Gewissen Netflix-Serien angucken und dabei ungestört die Reste der Mahlzeiten vertilgen.

Das Gleiche galt für die kitafreie Zeit, die Emma mit ihrer Tochter zur Hälfte – wenn Lucy nicht bei Josef war – bei ihren Eltern verbrachte. Für eine ausgedehnte Urlaubsreise mit ihrer Tochter verdiente sie zu wenig Geld. Seit der Scheidung musste sie wieder für ihren Unterhalt arbeiten. Als Verkäuferin in einem Dekorationsladen hatte sie stets die schönen Dinge vor Augen, die sie sich jetzt selbst nicht mehr leisten konnte.

Dumm gelaufen, sagte sie sich ein ums andere Mal, wenn sie an ihre Scheidung dachte. Sie war so dämlich und naiv gewesen.

»Emma, bist du noch ganz bei Trost?«, hatte ihre Cousine Clara geschimpft, als sie von der Scheidungsvereinbarung erfuhr. »Du hättest diesen Geizhals abzocken sollen, so gut du nur kannst. Josef ist reich. Aber so was von. Und du lässt ihn mit dem Unterhalt für Lucy davonkommen? Dieser Betrüger müsste viel mehr bezahlen. Für dich und das Kind. Spinnst du?« Sie war kurz davor gewesen, ihr eine zu klatschen.

Selbstverständlich hatte Clara recht.

Ihr Ex-Mann war ein berechnender, von Empathie gänzlich befreiter Geizhals.

Doch Emma war zu geschockt vom abrupten Ende ihrer Beziehung gewesen, um für sich einzustehen, und sie befand sich in gewisser Weise noch immer in einem Ausnahmezustand. Gar keine Frage, Josef hätte um einiges mehr blechen müssen. Mit dem richtigen Anwalt an ihrer Seite wäre das auch so gekommen. Nur hatte sie das Geld für einen Rechtsbeistand, der dem Anwalt der Familie gewachsen wäre, nicht aufbringen können. Von der Nervenstärke für einen üblen Rosenkrieg ganz zu schweigen.

Und so lebte Emma nun seit über einem Jahr mit Lucy in der zwar hübschen, einstmals gemeinsamen Wohnung, ohne sich den Wohlstand der Vergangenheit auch nur ansatzweise leisten zu können. Das schöne Leben von früher war einfach viel zu teuer, sie musste Prioritäten setzen.

»Dummerchen«, »Kleines«. Wie sehr hatte sie diese »Kosenamen« verabscheut. Es waren, nicht unerwartet, die ersten Worte ihres Ex-Mannes gewesen, kaum dass sie damals das Gerichtsgebäude verlassen hatten: »Du kannst zufrieden sein, dass dir meine Großzügigkeit ein Heim garantiert, Dummerchen.«

Emma, die sich ihm stets unterlegen gefühlt hatte, war heftig zusammengezuckt. Die Luft war ihr irgendwo zwischen Kehle und Magen stecken geblieben, und ihr fiel keine passende Antwort ein.

»Die einzigartige Altbauwohnung gegenüber der Semperoper ist seit jeher im Besitz meiner Familie. Nicht mal den Amis ist es gelungen, sie zu zerbomben. Dass ich sie dir überlasse, bis Lucy aus dem Gröbsten raus sein wird, ist ein großes Glück für dich. Sobald sie auf eigenen Füßen steht, musst du dir etwas Neues suchen. Irgendwann hört nun mal jede Unterstützung auf. Wohlgemerkt, ich mache das alles für meine Tochter, für meinen kleinen Augenstern.«

»Danke«, hatte Emma hervorgequetscht und wollte sich im nächsten Moment am liebsten dafür ohrfeigen.

Sie atmete tief durch und verscheuchte erneut ihre trüben Gedanken.

Draußen vor dem Fenster fiel der Schnee jetzt heftiger.

Sie beschloss, etwas später am Abend einen Spaziergang durch die märchenhafte Altstadt zu machen. Sie würde in einer der netten kleinen Kneipen einkehren und sich einen Orangenpunsch genehmigen.

Oder einen Glühwein, dachte sie und lächelte grimmig.

Aber vorher waren das heiß ersehnte Schaumbad und die Pediküre dran. Ihre Fingernägel mussten warten, stattdessen wollte sie sich eine Gesichtsmaske gönnen.

»Feuchtigkeit pur, von Kopf bis Fuß. Das ist meine Devise«, murmelte sie und stand auf.

Ein schrilles Klingeln ließ sie zusammenschrecken. Verdammt, dachte sie, wer wagt es, mich zu stören? Hoffentlich nur der vergessliche Nachbar, dem mal wieder irgendwas ausgegangen war.

Wieder wurde anhaltend geläutet.

Unbeholfen wickelte Emma sich aus der Decke und tappte auf Wollsocken durchs Wohnzimmer in den Flur.

Als sie die Tür öffnete, stand sie unerwartet zwei bis zum Hals vermummten Gestalten gegenüber, und Emmas Stimmung schlug um. Trotz der Überraschung, ihre Tochter zu sehen, überwog die Freude und verdrängte den aufkeimenden Ärger.

»Mami!«, rief Lucy, »Mami, es schneit.«

Emma spürte Tränen in sich aufsteigen, wie es in letzter Zeit viel zu häufig der Fall war. Sie schluckte sie hinunter, nahm ihre Kleine fest in die Arme und hob sie hoch. Lucy roch nach frischer, sauberer Winterluft. Ihre Gesichtshaut war feucht, ihre Hände eiskalt, und auf ihrem Haar schmolzen silbrig weiße Flocken.

»Warum«, fauchte Emma ihren Ex-Mann an, »hast du ihr keine Mütze aufgesetzt? Wo sind die Fäustlinge? Und wolltest du Lucy nicht erst morgen zurückbringen?«

Josef stand mit verknoteten Fingern da, auch er trug weder Handschuhe noch Mütze.

»Emma, bitte lass gut sein. Ich hatte heute schon genug Zoff. Zuerst in der Firma und dann zu Hause. Habe komplett unseren Jahrestag vergessen.«

Es fehlte nicht viel und Emma hätte ihm eine gescheuert.

»Was hat dein persönliches Liebes-Minidrama mit unserer Abmachung zu tun? Die Tage, an denen Lucy bei dir schläft, sind fix und zudem übersichtlich in unsere Kalender eingetragen.«

»Dummerchen«, sagte Josef salopp und versuchte sich an einem lausbübischen Grinsen. »Du verstehst sicher, dass ich Mary nicht hängen lassen kann. Also musst du dich diesmal großmütig zeigen und mich mit ihr zu einem romantischen Abendessen gehen lassen. Und danach …«

Weiter kam er nicht, denn Emma drückte Lucy fest an sich und knallte Josef die Wohnungstür vor der Nase zu.

»Mami?« Lucy blickte sie aus ihren blauen Augen verunsichert an. »Freust du dich denn gar nicht, dass ich früher nach Hause gekommen bin?«

»Ach, Schatz.« Emma stellte ihre Kleine auf den Boden und schälte sie aus dem Anorak. »Natürlich bin ich glücklich, dass du da bist.«

Während sie Lucys feuchten Schal über den Heizkörper hängte und die kleinen Winterstiefel darunterstellte, kämpfte Emma gegen den Zorn an.

Was erlaubte sich dieser Kerl?

Ein rücksichtsloser Egomane war Josef schon immer gewesen, nur war ihr das erst viel zu spät bewusst geworden.

Sie würde sich trotzdem einen schönen Abend machen. So viel stand fest.

Statt mit einem Orangenpunsch in der Altstadt saß sie nun eben mit Lucy vor dem Fenster. Die Kleine war gebadet, gebürstet und trug ihren Rentierpyjama. Laut zählte sie die Schneeflocken, sie schaffte gerade mal acht, dann begann sie von vorn.

Emma sah ihr lächelnd zu.

Pediküre, Maniküre, Honigkerzen am Wannenrand, Gesichtsmaske und Bodylotion konnten warten. Das alles war nichts gegen das Glück, Lucy bei sich zu haben.

Als hätte die Kleine ihre Gedanken gelesen, drehte sie sich zu Emma um und streckte ihr die Arme entgegen. »Mami«, flüsterte sie. »Ich muss dir ein Geheimnis verraten. Aber erzähl es nicht Papa. Sonst wird er böse mit mir und schreit.«

Emmas Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sie würde mit Josef demnächst über seinen Umgangston mit Lucy sprechen müssen.

Schreien ging gar nicht.

»Du musst es mir nicht sagen, Lucy. Geheimnisse sind dazu da, wohlverwahrt zu bleiben. Deshalb sind sie doch auch geheim.«

Lucy kicherte. »Mami, stell dir vor, ich habe bald einen Bruder.«

»Was?«

Hatte sie sich verhört?

Josef war damals entschieden gegen ein Geschwisterchen für Lucy gewesen. Er hatte seine Geliebte sogar zur Abtreibung gezwungen.

»Mary bekommt ein Baby.«

Nun denn. Emma biss sich auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte.

»Dann hat Josef endlich seine Maria gefunden, und die Heilige Familie erwartet ihr Jesuskind«, sagte sie.

Lucys Wangen glühten vor Aufregung. »Zu Weihnachten? Liegt das Christkind dann im Stall bei den Eseln?«

»Wo sonst?«, antwortete Emma geistesabwesend und vergaß, dass eine Vierjährige noch keine Ironie verstehen konnte. »In einer Holzkrippe auf Stroh gebettet, umgeben von Tieren, und über allem schwebt der Duft nach Heu. Später kommen dann die Heiligen Drei Könige und bringen Geschenke aus dem Morgenland.«

»Krieg ich auch eines?«

»Ein Geschwisterchen?«

»Mama!« Lucys Augen funkelten. »Das krieg ich doch eh. Ich meine ein Geschenk von den Königen aus dem Morgenland.«

Emma schüttelte den Kopf. »Dir wird das Christkind viele Geschenke bringen, und ich gebe dir noch extra eines dazu. Wir beide brauchen keine Heiligen Drei Könige.«

Damit gab Lucy sich zufrieden.

»Können wir Kekse backen?«

»Es ist schon spät, Schatz, das machen wir morgen, versprochen.«

»Heute, heute«, bettelte Lucy.

Und Emma gab wie üblich nach.

Seufzend ging sie mit Lucy an der Hand in die Küche und holte Vanillezucker, Mehl und die Sternchenformen aus dem Regal.

2

Am nächsten Morgen erwachte Emma ruckartig von Lucys durchdringendem Geschrei.

»Schnee! Überall. Mami, aufstehen!« Ihre Tochter stand vor ihr und sah sie vorwurfsvoll an.

Benommen lehnte Emma sich gegen das Kissen und wischte sich den Schlaf aus den Augen. Die Nacht war viel zu kurz gewesen. Nach der aufwendigen Back-Aktion, es gab vier Kuchenbleche mit Keksen in unterschiedlichen Formen, hatte sie die klebrigen Teigreste wegschrubben müssen und Lucy eine Geschichte aus ihrem Lieblingsbuch vorgelesen. Zweimal wäre sie dabei fast eingenickt, aber ihre Tochter hatte sie nachdrücklich daran gehindert.

Emma ging mit Lucy zum Fenster, öffnete es und beugte sich hinaus.

Schnee, überall Schnee.

So viel weiße Pracht hatten sie im Dezember seit Jahrzehnten nicht mehr gehabt. Die Erinnerung an ihre unbeschwerte Kindheit stieg in Emma hoch und machte sie fröhlich. Sie hatte schon lange keine »weiße Weihnacht« mehr erlebt.

»Ich habe eine Idee, Engelchen. Ab mit dir zum Zähneputzen, zieh dich rasch an, und dann fahre ich dich auf dem Schlitten durch die Stadt. Das wird ein Spaß.«

»Juhu!«

Emma wusste, wie sie ihrer Kleinen eine Freude bereiten konnte. Und was sonst sollte sie an einem Tag wie diesem anfangen? Die vielen kleinen Geschenke waren bereits verpackt, und ihr Urlaub hatte gestern begonnen.

»Aber nur wenn wir das Gleiche anziehen, Mami.«

Emma gab sich geschlagen. Es war inzwischen eine Art Ritual zwischen ihnen beiden geworden, sich farblich übereinstimmend zu kleiden.

Vor der Haustür blies ihnen ein feiner Wind Schneeflocken ins Gesicht. Lucy stand in ihren Pelzstiefeln, dem blauen Daunenmantel mit dem Fellbesatz an der Kapuze und eingemummelt in Schal und rote Mütze da wie eine Eisprinzessin, ihr Gesicht dem Himmel entgegengereckt. Mit ihrer Zungenspitze fing sie eine Schneeflocke nach der anderen auf.

»Schmeckt nass.«

Emma lachte über so viel Begeisterung.

Was ein unerwarteter Wintereinbruch doch bei Kindern und manchen Erwachsenen an Ausgelassenheit auslösen konnte!

Überall tummelten sich die Kleinen, warfen mit Schneebällen oder bauten Schneemänner in den Gärten und Parkanlagen. An einer schneebedeckten Grünfläche hielten sie kurz an, legten sich rücklings auf den Boden und strampelten lachend mit Armen und Beinen.

»Sieh nur, Mama, es sieht aus, als würde dein Schneeengel meinen an der Hand halten!«, rief Lucy entzückt.

Emma fühlte sich erneut in ihre eigene Kindheit zurückversetzt. Da sie damals keinen Garten besaßen, hatte sie ihren Schneemann in einem großen Blumentopf aus Ton auf dem Balkon gebaut und ihm eine orange Karotte als Nase und grinsende Lippen aus zwei Schokobananen verpasst. Als Augen hatten zwei Dörrpflaumen herhalten müssen. Dabei hätte sie gern Edelsteine gehabt, die ebenso blau strahlten wie ihre eigenen Augen.

Darüber, dass Emma dem eiskalten Mann Papas besten Seidenschal um den Hals gewickelt und Mamas Strohhut aufgesetzt hatte, waren ihre Eltern keine Minute böse gewesen. Jetzt noch konnte sie dem Geschmack der Kokosnusskekse und des heißen Kakaos in ihrem Mund nachspüren, die sie anschließend bekommen hatte.

Schon seit Monaten hatte sie sich nicht mehr so unbeschwert gefühlt.

Beschwingt zog sie den Schlitten über die verschneiten Gehwege und lächelte Entgegenkommende freundlich an. Trotz oder vielleicht gerade wegen des Wetters waren die Straßen noch bevölkerter als sonst. Die Luft roch herrlich nach frisch gebügelter Bettwäsche. Aus den Geschäften schallte Weihnachtsmusik. Auch wenn Emma die meisten Lieder schon oft gehört hatte und sie beinahe auswendig mitsingen konnte, mochte sie die Songs. Nicht einmal die Berieselung, die aus den Kaufhäusern drang, störte sie.

Wenn sie ehrlich war, stand sie auf diese weihnachtlichen Klänge, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Josef hatte sich darüber mehr als einmal lustig gemacht.

»So mag ich mein Dummerchen«, konnte sie ihn im Geiste sagen hören und sah ihn spöttisch grinsen.

Ihre Stimmung verdüsterte sich, aber nur für einen klitzekleinen Moment.

Lucy saß nach allen Seiten blickend auf dem Schlitten und lutschte den Schnee von ihren Fäustlingen. Ihre Wangen waren rot gefärbt, und ihre Augen strahlten.

»Das machen wir, bis das Christkind kommt«, sagte sie in einem so bestimmten Ton, dass Emma ihre Kleine schon als gestrenge Majorin im Militär vor sich sah. Diese Karriere schien jedenfalls gesichert.

»Das muss ich unbedingt meiner Mutter erzählen«, dachte sie laut.

»Von Papas Christkind?«

Emma zuckte zusammen.

»Vielleicht schneit es bis Weihnachten ja wirklich ununterbrochen, und wir fliegen mit dem Schlitten durch die Stadt und die vielen Parks«, antwortete sie, um Lucys Frage zu übergehen.

»Mama, schau, da vorne ist schon der Striezelmarkt. Der gehört meinem Papa.«

»Unsinn«, presste Emma hervor.

Josef belieferte zwar fast alle Getränkestände des circa zweihundertdreißig Buden umfassenden Dresdner Striezelmarktes mit seinem Glühwein, und wenn man bedachte, dass der Gesamtumsatz in Deutschland knapp fünfzig Millionen Euro jährlich betrug, kam ihm auch davon ein nicht unbeträchtlicher Teil zu. Dennoch gehörte ihm kein einziger Stand. Aber es sah ihm ähnlich, sich vor seiner Tochter als der Besitzer des traditionsreichen Marktes aufzuspielen.

Mit der Herstellung von Glühwein hatte Josef vor Jahren das Glückslos gezogen und galt jetzt, nicht unberechtigt, als erfolgreicher Unternehmer. Er war zu Recht stolz darauf, etwas Eigenes geschaffen zu haben und dadurch später nicht auf das beträchtliche Erbe seiner Eltern angewiesen zu sein.

Was Emma bis heute ironisch schmunzeln ließ: Josef war extrem allergisch gegen dieses Gebräu. Schon nach dem ersten Schluck lösten die Sulfite und Histamine bei ihm Atemnot und rasende Kopfschmerzen aus. Die Gewürzmischung im Wein verursachte zudem juckende Ausschläge auf seiner Haut.

»Bitte, Mama, zieh mich zu der Bude dort. Ich will Pflaumentoffel.«

»Überredet«, gab Emma klein bei.

Es fiel ihr schwer, ihrer süßen Tochter einen Wunsch abzuschlagen.

»Und mit dem Riesenrad will ich auch fahren.« Lucy holte tief Luft, saugte ein paar weitere Schneeflocken von ihren Fäustlingen und fuhr verzückt fort: »Auf den Schwibbogen gehen wir auch, ja, Mama?«

»Jetzt mach mal halblang, Schatz. Wegen des Schneetreibens wird wohl nicht alles möglich sein. Es gibt Sicherheitsvorschriften. Dort oben ist es glatt.«

»Gar nicht«, murrte Lucy.

Emma verspürte nicht die geringste Lust, mit rutschigen Sohlen und einer wenig umsichtigen Vierjährigen an der Hand über die fünfzehn Meter hohe erzgebirgische Stufenpyramide zu klettern oder sich ihr Hinterteil auf den klammen Metallsitzen des Riesenrads abzufrieren.

Natürlich hatte der seit dem fünfzehnten Jahrhundert existierende älteste Weihnachtsmarkt Deutschlands etwas an sich, das auch an ihr nie spurlos vorüberging. Doch bei diesem Wetter blieb sie lieber am Boden.

Der Schnee klatschte in so fetten Flocken herab, dass ihre Pudelmützen bereits durchweicht waren. Blöderweise trug Emma ihre Wollhandschuhe, die ebenfalls klitschnass waren. Ihre Finger fühlten sich vor Kälte schon ganz steif an. Lucy erging es nicht anders, aber sie war so begeistert, dass sie die klamme Kälte nicht spürte.

Da half nur ein heißes Getränk.

»Glühwein!«, rief Emma fröhlich, blieb an einer der ersten Buden stehen, lehnte den Schlitten an die Wand und nahm Lucys Hand. Erwartungsvoll kicherte sie in sich hinein. In Josefs Gegenwart hatte sie darauf verzichten müssen, Glühwein zu trinken. Ganz selbstverständlich orderte er auch für sie immer Eierpunsch. Aber das war nun vorbei.

»Krieg ich eine Coca-Cola? Bitte, liebe Mami, weil doch bald das Christkind kommt.«

Einmal ist keinmal, dachte Emma, der es wie üblich schwerfiel, sich den Schmeicheleien ihrer Tochter zu entziehen, und bestellte das Gewünschte.

Am Arm zog sie ihre Tochter näher zu sich. »Du musst immer neben mir sein, hörst du? Hier sind überall so viele fremde Menschen, und wenn dich einer mitnimmt«, sie stockte, »das würde ich nicht ertragen.«

»Keine Sorge, Mami, ich lauf nicht davon. Und hier sind auch gar keine Fremden. Schau, da vorne gehen Papa und Mary.«

Prompt verschluckte Emma sich am Glühwein.

Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

»Papi!« Jubelnd lief Lucy auf ihren Vater zu. Josef schwenkte seine Tochter zur Begrüßung durch die Luft und kam dann auf Emma zu.

»Glühwein und Cola?« Er deutete verärgert auf die Getränke in Emmas Händen. Mary stand verlegen neben ihm und brachte ein schüchternes »Hallo« heraus. Ihre Fellmütze verdeckte die Ohren und ihre halbe Stirn, doch ein paar dunkle Haarsträhnen hatten sich den Weg nach außen gebahnt. Die Nasenspitze war weiß und hob sich von den rosa gefärbten Wangen ab.

Ja, doch. Ob es Emma nun gefiel oder nicht, Mary war mit ihrem sanften Charakter und den zarten Zügen eine der schönsten Frauen, die ihr je begegnet waren.

Sie sah genauer hin und war baff. Damit hatte sie nicht gerechnet. Als Lucy ihr gestern vom Brüderchen erzählte, hatte sie sich Mary bestenfalls im dritten Monat vorgestellt. Doch der Daunenmantel von Josefs neuer Frau spannte sich um einen hochschwangeren Bauch.

»Wollt ihr auch etwas trinken?«, fragte sie, um ihre Betroffenheit zu verbergen.

Sie fühlte sich hilflos.

»Danke«, wehrte Josef sogleich empört ab. »Wenn es nach dir ginge, bekäme meine arme Liebste wahrscheinlich Gimber, und das in ihrem Zustand.« Er schüttelte angewidert den Kopf.

Wenn es nach mir ginge, dachte Emma, bekämst du einen ordentlichen Humpen Glühwein mitsamt dem darauffolgenden Krankenhausaufenthalt.

»Ich möchte sehr gerne ein Glas von diesem Gimber«, mischte Mary sich zaghaft ein, »der scharfe Ingwersaft würde mir jetzt guttun.«

»Kriegst du aber nicht. Für dich gibt’s Rosenwasser. Alles andere schadet dem Baby.«

»Und Pfefferkuchen für mich!«, schrie Lucy.

Josef legte seine pralle Brieftasche auf den Tresen. »Es weihnachtet, da werde sogar ich schwach«, murrte er und bestellte.

»Nun, da ihr an Weihnachten wohl euer eigenes Jesuskind in die Krippe legen werdet, ist es eine durchaus angemessene Reaktion, ›Schwäche‹ im Bestellen zu zeigen. Darauf sollten wir anstoßen.« Emma war ein klein wenig stolz auf ihre anerkennenden Worte.

Da hatte sie sich mal tapfer geschlagen.

Marys Wangen röteten sich noch eine Spur mehr. »Es tut mir leid, ich wollte es dir schon viel früher sagen, aber Josef …« Sie brach ab, als ihr Blick dem seinen begegnete.

Emma kannte ihren Ex-Mann viel zu gut, um seine vermeintliche Zurückhaltung nicht zu durchschauen. Er wollte sie verletzen, und so knapp vor der Geburt und dem Weihnachtsfest war der genau richtige Zeitpunkt dafür. Natürlich tat es ihr weh, auch wenn sie sich emotional immer weiter von ihm und der gemeinsamen Zeit entfernte.

Eine steife Brise trieb ihr die Schneeflocken ins Gesicht. Sie fühlten sich wie piksige Nadelstiche an. Überhaupt fror sie und wollte nichts wie abhauen.

»Mary, ich freue mich für dich und wünsche dir alles Gute. Bitte gib uns Bescheid, wenn das Baby da ist. Lucy kann sich vor Begeisterung kaum mehr halten.«

»Das ist lieb von dir. Ich habe mich ohnehin gewundert, dass deine Kleine meinen Bauch nicht schon viel früher entdeckt hat. Aber sie wird wohl meinen Appetit bemerkt und gedacht haben, dass ich vom vielen Essen so kugelrund geworden bin.«

»Mary«, kam es scharf von Josef. »Das Programm für nach der Geburt haben wir schon besprochen. Du kriegst die überflüssigen Pfunde im Nu wieder runter und wirst so gertenschlank sein wie zuvor.«

Wie hatte sie sich nur in diesen Mann verlieben können?

Emma zitterte, und das nicht bloß wegen der alles durchdringenden feuchten Kälte.

Wie er so dastand in seinem Lammfellmantel, den teuren Stiefeln und dem Markenschal, mit diesem protzigen Gehabe und der näselnden Stimme, war Josef derselbe wie immer und ihr gleichzeitig fremder als je zuvor.

Arme Mary, auf dich kommt noch so einiges zu, dachte Emma düster. Aber du wolltest ihn ja um jeden Preis haben.

Vielleicht hätte sie mit Mary ein ernsthaftes, von jeglicher Konkurrenz befreites Gespräch führen sollen, damals, als dafür vielleicht noch Zeit gewesen wäre.

»Was gaffst du so blöd, Dummerchen? Die Überraschung mit dem Nachwuchs scheint mir ja bestens gelungen zu sein«, erklärte Josef zufrieden.

»Ich bin nicht dein Dummerchen«, setzte sie sich gereizt zur Wehr. »Du hast mich nur für blöd verkauft.«

»Kleines, du kannst es sehen, wie du es willst. Jeder malt sich seine eigene Welt. Eine Tatsache jedenfalls bleibt bestehen. Wir waren einmal ein vielversprechendes Pärchen. Aber nach Lucy wollte ich mit dir kein weiteres Kind, wie du ja bemerkt hast. Du bist zwar keine gänzlich schlechte Mutter, denkst jedoch in erster Linie an dich und deinen Vorteil. Oder irre ich mich etwa?«

Emma stand kurz vor einem Ohnmachtsanfall. Die Luft kringelte sich irgendwo zwischen ihrem Hals und dem Zwerchfell zu einem filzigen Knäuel zusammen.

Am Rande ihres Gesichtsfeldes nahm sie wahr, dass Mary verzweifelt an Josefs Ärmel zerrte.

»Ich bin eine gute, eine sehr gute Mutter«, flüsterte sie und stürzte den Rest des immer noch heißen Glühweins hinunter.

Shit, jetzt brannte auch noch ihr Rachen.

»Meine Mami ist die beste Mami der Welt. Auch wenn ihr nach mir kein Jesuskind mehr bekommen habt.«

»Ach, Lucylein.« Josef tätschelte die Wange seiner Tochter. »Dafür haben wir jetzt ja auch Mary. Die schafft das. Nicht wahr, mein süßer Schatz?«

Mary machte einen Schritt zur Seite und sah Emma hilflos an. »Er meint es nicht so«, sagte sie leise.

»Ich verstehe sehr gut, wie Josef das meint. Nämlich genau so und nicht anders.«

Josef zog Mary gereizt an sich. »Sei still, mein Engel. Du musst mich nicht verteidigen. Damit eines klar ist«, ergänzte er an Emma gerichtet: »Meine Großzügigkeit kennt keine Grenzen, was Lucy angeht. Das gilt allerdings nicht für dich. Also mach keine unnötigen Faxen. Ich werde sonst eine Kürzung des Unterhalts einklagen, weil du das Geld nur für Schnickschnack ausgibst, für wertlosen Plunder. Schau dich und Lucy mal an. Wie billig ihr euch kleidet. Wohin verschwindet denn die ganze Kohle, die ich dir überweise, hm? Dummerchen, hast du das verstanden?«

Emma hatte verstanden.

Sie wollte sich nicht vor Josef rechtfertigen, wollte ihm nicht vorhalten, dass niemand, nicht einmal er, von seinem angeblich so großzügigen Unterhalt in der von ihm erwarteten Weise haushalten konnte. Ihr Stolz verbot das. Sie kam finanziell über die Runden, weil es für sie kein Problem darstellte, ohne Markenklamotten oder teure Kosmetika auszukommen.

Hoffentlich, überlegte sie, hat Mary eigenes Geld, um im Falle einer Scheidung ihre Unkosten zu decken. Sonst wird es ihr nicht anders ergehen als mir.

»Und du, mein süßes Mädchen, du kommst doch an Weihnachten zu uns? Vielleicht haben wir dann schon das Christkind in der Wiege liegen.«

Lucy strahlte. »Darf Mama mit? Sonst ist sie an Weihnachten ganz allein.«

»Klar«, sagte Mary rasch, »natürlich feiern wir alle zusammen.«

Josef warf ihr einen bösen Blick zu. »Eine Einladung zum Weihnachtsessen bei uns daheim? Die spreche üblicherweise ich aus. Dass Emma dabei sein soll, passt mir absolut nicht in den Kram. Es bringt nur Unfrieden.«

»Es ist sehr lieb, Mary, ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber ich hätte es ohnehin nicht angenommen.«