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Lera will das Kind nicht behalten und Alexei reist gemeinsam mit Ivan nach Moskau, um die Vaterschaft zu klären. Letztlich landet das Mädchen in der Pralinenschachtel und mischt den Haushalt gehörig auf, während so manche Beziehung innerhalb der Wohngemeinschaft sich wandelt oder Fahrt aufnimmt und "Familie" neu definiert wird. Ein homoerotischer Liebesroman für Erwachsene mit explizitem Inhalt, BDSM, Gewalt - und einer alternativen Zeitlinie.
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Seitenzahl: 582
Veröffentlichungsjahr: 2022
Blaue Augen Band 6
Von N. Jakob
Buchbeschreibung:
Lera will das Kind nicht behalten und Alexei reist gemeinsam mit Ivan nach Moskau, um die Vaterschaft zu klären. Letztlich landet das Mädchen in der Pralinenschachtel und mischt den Haushalt gehörig auf, während so manche Beziehung innerhalb der Wohngemeinschaft sich wandelt oder Fahrt aufnimmt und Familie neu definiert wird.
Diese homoerotische Liebesgeschichte für Erwachsene enthält explizite Inhalte, BDSM (CNC, Fesseln, Sensation Play, Tease&Denial), Gewalt (körperlich, psychisch, Terrorismus), gesellschaftliche Queerfeindlichkeit, fraglichen/fehlenden Konsens (erwähnt Vergewaltigung, Kindesmissbrauch), Drogenmissbrauch (Alkohol, Rauchen, Mischkonsum mit synthetischen Drogen, Medikamentenmissbrauch), Ableismus (erwähnt), Rassismus (unterschwellig) und durchaus nicht besonders einfache familiäre Verhältnisse inklusive psychischer Probleme (PTBS, Depression, Trauer nach Todesfall und Vergleichbares). Mögliche eingleisige Gedanken bei Lebensmitteln seien auch erwähnt. Dies hier ist der nun überarbeitete, sechste Band einer Reihe, die nach und nach endlich ihren Weg auf Papier fand.
Über den Autor:
N. Jakob (Pseudonym) beansprucht diese Figuren, die alternative Zeitlinie und die gesamte Geschichte der Protagonisten und ihrer Begleiter seit Jahren als geistiges Eigentum. Ähnlichkeiten zu tatsächlichen Geschehnissen und Personen sind möglicherweise Zufall oder auch nicht.
Blaue Augen Band 6
Von N. Jakob
2. Auflage, 2023
© 2022 N. Jakob – alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung N. Jakob unter Zuhilfenahme der PicsArtApp
N. Jakob
c/o COCENTER
Koppoldstr. 1
86551 Aichach
Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Liebe ist der Wunsch, etwas zu geben, nicht etwas zu erhalten.
Bertholt Brecht
Im Alltag eine Gegenüberstellung von sich gegenseitig störenden und vorerst unvereinbaren Aussagen, Behauptungen, Meinungen, Sachverhalten, Themen oder von Personen im Streit.
Gesinnung
Alexander hatte wie schon etliche Male alles in die Hand genommen und noch nie zuvor war Alexei ihm dafür so dankbar gewesen. Die Nachricht von Max, dass Lera das Kind nicht behalten, sondern weggeben wollte, hatte ihn seltsam taub werden lassen und dazu vollkommen sprachlos. Wie gelähmt war er dagestanden und kaum mehr Herr seiner Sinne. Fast genau wie damals, als er in der Klinik wieder angefangen hatte, die Welt um sich herum wahrzunehmen.
Der Ältere hatte abgeklärt erst Misha angerufen, dann diesen Roy, der Rechtsbeistand in den Staaten war, gefolgt von einem weiteren Anwalt, den er wohl in Russland kannte. Das Gespräch hatte den Eindruck erweckt, dass sie sich etwas besser bekannt waren, doch Alexei hatte es nicht geschafft, nachzufragen. Ivan hatte ihn in die Arme geschlossen und festgehalten und danach wohl auch Alexander. Irgendwie nahm plötzlich alles seinen Gang.
Binnen kürzester Zeit waren Flugtickets besorgt gewesen und er hatte die Kontaktdaten von gleich zwei Anwälten, die er nicht persönlich kannte.
Beide hatten hauptsächlich mit Ivan telefoniert, doch auch er selbst hatte ihre Telefonnummern. Mitchells Lebensgefährte würde nachreisen, um zu helfen, hatte aber schon einmal alles mit dem Kollegen aus Moskau in die Wege geleitet, damit das Kind blieb, wo es war: in der Klinik. Wie auch immer sie das an einem Wochenende hinbekommen hatten.
Die Behörden hatten eingewilligt, jegliche Inobhutnahme auf Eis zu legen, bis die Ergebnisse eines Vaterschaftstests vorlagen. Lera hatte darauf alles andere als positiv reagiert, aber keine Wahl mehr. Immerhin hatte Alexei, falls er belegen konnte, der Vater des noch namenlosen Mädchens zu sein, auch Rechte an diesem Kind.
„Könnte mir vorstellen, dass es dem alten Mironow überhaupt nicht passt“, hatte Ivan im Flugzeug zu ihm gesagt. „Dass sein Enkel zu Blauen kommen könnte, nachdem es auch noch das Kind von einem ist, stinkt ihm sicher gewaltig. Roma kennt ihn zwangsläufig ein wenig. Mein Vater holt uns am Flughafen ab und fährt uns zur Wohnung. Wir treffen uns am Dienstag mit dem Anwalt in der Klinik. Roy hat gemeint, er kommt am Mittwoch in Moskau an. Früher kann er sich nicht loseisen, hat er gesagt.“
Alexei hatte lediglich genickt und Ivan hatte seine Hand genommen. „Ich weiß, dass dir die Sprache im Moment fehlt, Ljosha. Dir ist das gerade alles zu viel. Wir wissen aber beide, wie wenig du willst, dass das Kind irgendwo landet. Sicher würde es in dem Alter ohne Probleme eine Familie bekommen, die sich sehnlichst ein kleines Mädchen wünscht, aber sie hat verdient, wenigstens zu wissen, wer ihr Vater ist. Roy hat gemeint, es sei bereits klar, dass es nicht Leras Ex ist. Die Blutgruppe passt nämlich nicht. Deine hingegen schon. Das Labor hat nur nichts Verwertbares mehr von dir da, sonst wäre es längst passiert.“
„Ist zu lang her“, hatte Alexei genuschelt und damit endlich wieder etwas sagen können. „Sie soll es besser haben als ich.“
„Ich weiß“, hatte Ivan geantwortet und seine Hand gedrückt. „Ich kenne dich. Wir kennen dich. Deshalb hat Alexander auch sofort zum Telefon gegriffen. Wir wollen alle, dass es dir gut geht. Mit dem Wissen, dass deine Tochter abgeschoben wird, könntest du nicht leben. Du hast unter deinem Alten und Nina genug gelitten.“
„Ich liebe dich“, hatte Alexei schwach gemurmelt. Noch immer war er seltsam taub gewesen und dieses Gefühl hatte erst nachgelassen, als Viktor Morosow sie am Flughafen in Empfang genommen hatte. Leider hielt es nicht lange an, denn der hatte keine guten Neuigkeiten.
„Mironow hat deinen Alten angerufen“, hatte er erzählt, nachdem sie ins Auto eingestiegen waren. „Boris dreht jetzt also auch noch am Rad und will sich einmischen. Da hat er schlechte Karten. Er hat überhaupt nichts zu melden. Es geht ihn einen Scheißdreck an und das weiß er auch. Nur versteht er sich echt erschreckend gut mit Mironow und das hat uns gerade noch gefehlt. Irgendwie war es ja vorhersehbar, dass die beiden sich verstehen. Sie sind sich recht ähnlich. Ich will gar nicht wissen, was die zwei aushecken. Boris hat viel zu viel Zeit momentan.“
Viktor hatte sie an der Wohnung rausgelassen und sich mit einer Umarmung verabschiedet, nachdem er ihnen den Schlüssel gegeben hatte.
„Ich habe euch den Kühlschrank mit dem Nötigsten gefüllt und Kotlety dazu gepackt, damit ihr etwas zum Essen habt, falls ihr jetzt noch Hunger bekommt“, waren seine Abschiedsworte gewesen. „Ich hole euch morgen um neun ab. Um zehn sollst du in der Klinik sein, Aljosha.“
Darauf hatte er nur genickt.
Nun war die Wohnungstür hinter ihnen ins Schloss gefallen und natürlich erkannte Alexei alles wieder. Es hatte sich rein gar nichts verändert, seit er damals morgens zum Dienst gefahren war.
Ivan und er hatten die Wohnung verlassen. Der Dunkelblonde hatte in den Stab gemusst, bevor die Verhandlung begann, und er zur Zentrale.
Dieser verfluchte Tag!, ging es ihm durch den Kopf. Er erstarrte, schloss die Lider und atmete tief durch.
„Alles in Ordnung?“, fragte sein Partner ihn sofort, da ihm aufgefallen war, dass Alexei hatte innehalten müssen.
„Wir waren lang nicht mehr hier“, nuschelte er und erschrak, als der andere ihn fest in die Arme schloss.
„Ich weiß“, wurde gegen seinen Hals gemurmelt. „Willst du Demyan und Iosif sagen, dass du in der Stadt bist? Oder den Kameraden?“
„Weiß ich noch nicht“, gab er mit schwacher Stimme zu und ließ sich mitziehen. Kurz darauf fand er sich sitzend auf der Couch wieder, die er im vergangenen Jahr hassen und lieben gelernt hatte.
„Willst du etwas essen?“, fragte sein Freund ihn, aber Alexei schüttelte den Kopf.
„Ich will neben dir einschlafen“, antwortete er leise.
„Das können wir gerne gleich angehen“, erwiderte Ivan. „Doch du hast seit der Nachricht von Max nichts mehr gegessen und kaum etwas getrunken. Ich will nicht, dass du mir umkippst.“
Er seufzte und gab nach. „Kotlety von Vitya klingen gut“, murmelte er und zog sein Telefon hervor. „Ich schreibe Sanya. Vielleicht können wir Verka treffen? Meinst du, die sind donnerstags noch da?“
„Finde ich heraus“, versprach Ivan ihm.
ABG (21:35): „Sind angekommen.“
Durch die ganzen Telefonate, die geführt worden waren, und den Flug entgegen der Sonne hatte Alexei jegliches Zeitgefühl verloren. Geschlafen hatte er außerdem auch kaum. Er wusste nicht mehr, welcher Tag war.
„Welchen Wochentag haben wir?“, fragte er leise. „Noch Sonntag?“
„Montag“, antwortete Ivan nachdenklich. „Wir haben tatsächlich schon Montag.“
Ein Signalton teilte ihm eine eingehende Nachricht mit.
AAS (21:37): „Sehr gut. Verka weiß, dass ihr in der Stadt seid. Sie rechnet am Donnerstag mit euch, falls ihr Laune dazu habt.“
ABG (21:38): „Okay.“
Ivan kam aus der Küche zurück und stellte ihm einen Teller mit einem Kotlety und einer Scheibe Butterbrot hin. Dass sein Partner den Raum verlassen hatte, war nicht in sein Bewusstsein vorgedrungen. Der andere reichte ihm Besteck. Erschöpft lehnte er sich auf dem Sofa zurück und erst einmal nur an. Er hatte bis eben gebraucht, um zu realisieren, was in den vergangenen achtundvierzig Stunden passiert war.
Am Ende bin ich wirklich der Vater, dachte er erschüttert. Und dann? Was mache ich dann? Ich kann ja schlecht das Kind allein großziehen. Ich bekomme kaum mein eigenes Leben in den Griff. Wie soll ich das überhaupt schaffen? Ich kann nicht reden, wenn der Stress zu groß ist. Wie soll ich denn da mit einem Kind fertigwerden? Wer soll sich darum kümmern? Ich kann das Kind doch auch nicht einfach mitnehmen und dann haben es die anderen an der Backe. So war das doch nicht geplant! Ich kann es doch auch nicht Ivan einfach aufzwingen! Wie genau stellt Sanya sich das eigentlich vor? Gesagt hat er dazu nichts. Er hat einfach zum Telefon gegriffen und alle möglichen Leute angerufen, aber darüber geredet, wie das werden soll, hat er mit mir nicht!
Bedenken
„Worüber zerbrichst du dir schon wieder den Kopf?“, riss Ivan ihn aus den Gedanken.
„Wie? Wie soll das werden?“, fragte er seinen Partner leise. „Ich? Ein Kind? Und du? Die anderen? Wer kümmert sich? Darum? Werden wir dem gerecht? Wie soll das werden? Ich hab keinen Plan! Du?“
Blaugrüne Augen blickten ihn ernst an. Plötzlich lächelte der Dunkelblonde und zuckte mit den Achseln. „Es wäre dein Kind und damit auch irgendwie meines und das von Dima und dann von Sanya und... ja, wir wären wohl eine schräge Familie und das Mädchen hätte mindestens vier Väter, doch das würden wir schon hinbekommen“, meinte er schmunzelnd. „Falls sie eines Tages Fragen wegen Schminken und anderem Weiberkram hat, kann sie sich ja vertrauensvoll an Sanya und Shura wenden. Die kennen so ziemlich alle Kniffe, falls ich dich erinnern darf. Selbstverteidigung lernt sie sicher schon in der Vorschule. Geht ja gar nicht anders mit dir als Vater und Sanya und Nika und Dima. Sie hat gar keine Chance. Daniel ist ja aktuell auch noch da. Der bringt ihr vielleicht das Tanzen bei. Instrumente lernen könnte sie auch genug und falls die weibliche Hand zu fehlen droht, haben wir ja immer noch zwei Dragqueens, die überzeugend einspringen können. Außerdem leben wir in New York. Da gibt’s bestimmt mehr Kinder, die zwei Väter haben. Im Extremfall hätte sie eben sieben oder acht.“
„Bei dir klingt das so einfach“, murrte Alexei stirnrunzelnd und seufzte schwer. „Es ist völlig verrückt.“
Ivans Telefon meldete in dem Moment, in dem er etwas erwidern wollte, eine eingehende Nachricht. Er zog es hervor, entsperrte es und lachte auf. Irritiert blickte er seinen Partner an. „Alexander hat dich durchschaut“, erzählte er und reichte Alexei sein Telefon.
AAM (22:05): „Zerbricht er sich schon den Kopf, wie das alles werden soll? Wir kriegen das schon hin. Shura hat sich vorhin einen Ratgeber besorgt. Ich weiß nicht, ob der etwas taugt, aber irgendeine Frau in Little Russia mit sehr vielen Kindern hat ihm den wohl empfohlen. Dort kauft er sonst immer das Gemüse, schrieb er. Wie soll das Mädchen denn heißen? Andrei plant schon ein Kinderzimmer. Ich weiß noch nicht genau, wo. Würde sie denn bei euch schlafen?“
„Die spinnen doch“, murmelte Alexei fassungslos.
„Soll ich das so schreiben?“, fragte Ivan ihn amüsiert und schob ihm mit Nachdruck den Teller etwas näher hin. „Du isst jetzt, sonst leg ich dich übers Knie!“
„Nicht mein Kink“, nuschelte er ablehnend.
Der Dunkelblonde schrieb eine Antwort an Alexander und setzte sich direkt neben ihn. Das Telefon lag so in seiner Hand, dass er lesen konnte, was der andere geantwortet hatte.
IVM (22:08): „Aber natürlich tut er das und er meint, dass ihr spinnt. Ich muss ihn jetzt erstmal füttern. Das meine ich wortwörtlich. Er hat ewig nichts mehr gegessen und mein Vater hat Kotlety für uns in den Kühlschrank gestellt. Er hatte wohl schon so eine Ahnung. Danach packe ich ihn ins Bett. Wir müssen morgen pünktlich in der Klinik sein. Mein Vater fährt uns.“
AAM (22:10): „Wir sind Familie.“
Ivan lachte auf, legte sein Telefon beiseite und begann selbst zu essen. Dass der andere sich auch einen Teller mitgebracht hatte, war Alexei wohl ebenfalls entgangen.
„Ich liebe dich“, murmelte er. „Und ihn auch. Das ist verrückt.“
„Ach Quatsch“, widersprach der andere ihm sofort. „Mir geht’s doch kein bisschen besser.“
Ernst sah Alexei seinen Partner an. „Sie wird einen Namen brauchen“, nuschelte er und begann zögerlich mit der Gabel in der linken Hand zu essen. Nach dem ersten Bissen fiel ihm auf, wie ausgehungert er war.
„Oh verdammt“, fluchte er und der Dunkelblonde erhob sich, um in die Küche zu gehen. Er kam mit einem Saft für ihn wieder.
„Deine Mutter wollte dich Kira nennen, falls du ein Mädchen geworden wärst“, erinnerte er sich. „Mein Vater hat das erzählt, als ich ihm gesagt habe, wann wir landen. Irgendwie wusste er das noch.“
„Ob ich sie sehen darf?“, überlegte Alexei und Ivan hob den Blick. Die blaugrünen Augen blickten ihn an und ihm fiel auf, dass da etwas war, was der Dunkelblonde nicht sagen, sondern lieber verschweigen wollte.
„Du hast dir das anders vorgestellt“, stellte er fest, während er seinen Partner musterte. „Alles. Du dachtest, wir hätten jetzt Ruhe. In New York, meine ich. Das Chaos sei durch. Ich kann nichts dafür. Lera spinnt. Ich kann das Kind nicht im Stich lassen.“
„Ich weiß“, erwiderte Ivan. „Ich komm klar. Ich habe zwar nie an Frau und Kinder gedacht, doch wenn ich schon eines habe, dann am liebsten mit dir. Volodya wird sich kaputt lachen und Sonya sicher auch, aber lass das mal meine Sorge sein.“
„Warum lachen?“, fragte er irritiert, weil er nicht darauf kam, was daran witzig sein könnte.
„Die beiden haben sicher nicht vergessen, wie sehr mich Toma damals verunsichert hat“, antwortete Ivan grinsend. „Ich war gerade sechzehn und konnte mit Babys wirklich überhaupt nichts anfangen. Sanya wurde fast irre, wenn sie geweint hat. Damit konnte er echt gar nicht umgehen. Keine Ahnung, wie er reagiert, sobald das Kind das erste Mal bei uns im Haus weint und schreit. Damals hielt er es fast nicht aus.“
Alexei seufzte und schüttelte den Kopf. „Du machst dir Gedanken über Dinge“, stellte er kaum hörbar fest. „Kann ich nicht. Ich bin wie überfahren. Wie nach der Bombe damals.“
Er nahm noch einen Bissen und legte dann die Gabel beiseite. Sein Blick schweifte durchs Wohnzimmer. „Unwirklich. Wieder hier sein“, murmelte er und atmete tief durch. „Gefühlt ein anderes Leben.“
Er deutete auf seinen Gehstock. „Zuletzt war ich davor hier.“
„Ich weiß“, erwiderte Ivan nachdenklich und legte sein Besteck ebenfalls weg. „Ich wünschte, ich könnte es vergessen.“
„Ich erinnere mich nur an Bruchstücke“, gab er zu. „Ohne Video nichts mehr darüber. Den Einsatz, mein ich.“
Der Dunkelblonde sah ihm ernst in die Augen. „Wir hatten gemeinsam gefrühstückt und Witze über den Einkaufszettel gemacht“, erzählte Ivan. „Wir haben davon geredet, was wir samstags unternehmen könnten. Wir hatten echt viel gescherzt. Dann wollten wir los und haben dabei über die Nachbarin geredet, die übrigens tatsächlich inzwischen endlich ausgezogen ist. Wir haben über die Pläne für den Samstag gesprochen, weil ich dir die Baustelle zeigen wollte und Sanya nebenan wohnt und so. Im Anschluss haben wir uns geküsst und verabschiedet. Wiedergesehen haben wir uns dann erst, als du in der schwarzen Uniform durchs Fenster reingekommen bist. Ein echt verrückter Tag war das.“
Alexei schob sich noch einen Bissen in den Mund und im Anschluss den Teller von sich, während er eine Weile schwieg, da die Gedanken lose durch seinen Kopf rasten und er sie nicht zu fassen bekam.
„Du hast mich erkannt“, fiel es ihm wieder ein. „Woran?“
Die Frage brannte ihn schon länger unter den Nägeln, doch irgendwie waren sie deshalb noch nicht ins Gespräch gekommen.
„Ich war mir nicht sicher, als ich deine Stimme gehört habe“, gestand Ivan. „Es war nur ein Verdacht, aber dann hast du nach der Explosion deine Brille abgenommen und ich hab es gewusst. Nur warum hast du dich zwischen mich und den Zünder gestellt? Wieso hast du für mich den Schutzschild gespielt?“
Er atmete tief durch und schluckte schwer. „Weil ich es musste“, wisperte Alexei schwach. „Ich hab dich gehört. Hinter mir. Ich habe nicht gedacht. Ich hatte die Weste. Ihr nicht. Ich wusste es. Irgendwie. Dass du da stehst, meine ich. Ich kann nicht ohne dich. Das weiß ich seit Mai. Und Juni. Es geht nicht. Du bist mein Blitz. Ich bin dein Donner.“
„Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sage, aber ich bin gerade echt zu müde für ein Gewitter, Ljosha“, murmelte Ivan. „Willst du noch etwas essen oder gehen wir gleich ins Bett? Ich kann das morgen aufräumen.“
Alexei nickte lediglich. Er war fürchterlich erschöpft.
Genügen
Es war Dienstag und Daniel hatte einen freien Abend, nachdem sie nachmittags für den Dirty Circus am Mittwoch geprobt hatten. Ein wenig seltsam war die Pralinenschachtel ohne Alexei und Ivan schon, stellte er fest. Soweit er wusste, hatte der Jüngere zum Klären der Vaterschaft eine Probe abgeben müssen. Das war inzwischen einige Stunden her und das Ergebnis würde vor Donnerstagvormittag wahrscheinlich niemals da sein. Das galt für die Moskauer Ortszeit und damit war Daniel sich sicher, dass sie es auch erst am Morgen erfahren würden, wenn sie aufstanden.
Die Mädels hatten zum Abendessen ein Reisgericht mit Karotten und Hühnchen gemacht, das er selbst so ähnlich kannte. Irgendwie war er davon überzeugt, dass das ursprünglich orientalische Gericht es seinerzeit nach Russland geschafft hatte. Der Name klang zumindest danach, als wäre es so. Ob man es nun Pilaw oder Plov nannte, war für den Genuss allerdings egal. Geschmeckt hatte es ihm definitiv, denn Shura und Nika konnten wirklich herausragend kochen.
Im Anschluss ans Aufräumen saß er grübelnd am Tisch und spielte mit dem Armband, das Alexander ihm am Wochenende angelegt hatte, bevor die ganze Welt aufgrund einer Nachricht plötzlich Kopf stand. An diesem Morgen war so fürchterlich vieles passiert, das er kaum verstand. Alexei war wie vom Donner gerührt dagestanden und er hatte gesehen, wie der Ältere und der Dunkelblonde darauf reagierten. Es hatte ihn schon sehr nachdenklich gemacht und losgelassen bisher auch noch nicht.
Das Weggehen der Clique am Abend war danach natürlich verworfen worden und er war schließlich allein zur Arbeit gefahren, weil er ja nicht deshalb fehlen konnte. Das hatte niemand von ihnen in Frage gestellt und am nächsten Morgen war er dann doch überrascht gewesen, was die Großen inzwischen gemeinsam mit Alexander organisiert gehabt hatten. Kurz darauf war Ivan mit Alexei bereits zum Flughafen gefahren.
Pass ich wirklich in diese Clique?, grübelte er, während er mit dem Reif spielte und vor allem die Perle daran immer wieder drehte. Sie haben eine echt seltsame Dynamik hier im Haus und ja, der Sex mit Alexander ist geil und er kümmert sich auch irgendwie genauso um mich, aber was er da für Aljosha organisiert hat, war schon krass. Er hat quasi die Zeit für ihn angehalten. Was führen die denn für eine Beziehung? Wie passe ich da mit rein? Es war schräg, was er da gemacht hat. Bin ich für ihn nur eine nette Abwechslung dazwischen? Genüge ich ihm auf Dauer? Ja, der Sex ist gut und irgendwie ist er von irgendetwas an mir begeistert, aber irgendwann wird diese Faszination bestimmt nachlassen und was habe ich ihm dann noch zu bieten?
„Worüber zerbrichst du dir denn jetzt wieder den Kopf?“, riss Alexanders Stimme ihn aus den Gedanken. Der Russe hatte bis eben mit irgendwem in seiner Muttersprache telefoniert.
„Wie geht es ihnen?“, wollte er wissen, obwohl das überhaupt nicht das Thema seiner Überlegungen gewesen war.
„Ich hab nur mit Misha geredet“, erklärte der Ältere ihm gelassen, setzte sich Daniel gegenüber hin und musterte ihn. „Aljoshas Bruder, der in New Orleans lebt. Er arbeitet für den Mann, dessen Mann jetzt einer der Anwälte ist. Er war der Erste, der mir eingefallen ist, um uns mit dem Papierkram für die Staaten helfen zu können. Ich habe zum Glück eher selten mit Anwälten zu tun.“
Die dunklen Augen betrachteten sein Gesicht und dann streckte er auch schon die Hand aus, um sie auf seine nestelnden Finger zu legen.
„Darüber grübelst du allerdings nicht, Mr. Goldberg“, meinte er streng. „Was macht dich so nervös? Willst du das Armband wieder abnehmen? Stört es dich? Was geht in deinem Kopf vor?“
Er hob den Blick und hielt dem des Älteren stand. „Ich habe Zweifel, ob ich hier für lange reinpasse und dir auf Dauer genüge“, gab er beschämt zu. „Ich habe Sorge, dass ich für dich nur eine nette Abwechslung bin und nicht mehr – und ich dann wieder weiterziehen muss und nichts mehr habe. Es war seltsam mitanzusehen, wie du mit Aljosha und Vanya umgehst. Ich habe es nicht so recht verstanden.“
Alexander schmunzelte plötzlich und das irritierte Daniel nicht gerade weniger. Er begriff nicht, was den Älteren belustigte und er ärgerte sich darüber, dass der andere sich im Augenblick über ihn amüsierte.
„Glaubst du etwa an diesen Unsinn, dass man nur einen Menschen lieben kann?“, fragte der Russe und da kam er wirklich nicht mehr mit. „Als ich Vanya kennengelernt habe, war ich gerade in meinem Abschlussjahr. Zuvor war er mir irgendwie nie aufgefallen. Ich habe mich Hals über Kopf in diesen großgewachsenen, jüngeren Burschen verliebt, der so überhaupt keine Erfahrung hatte. Auch wenn wir nicht wirklich perfekt zueinander passten, was so manches anging, kamen wir nicht mehr voneinander los. Das ist jetzt über zwanzig Jahre her und wir haben echt viel miteinander durch. Einige Hochs und Tiefs gab es da und unsere Freundschaft wäre beinahe zerbrochen, als er sich in Aljosha verknallte. Das ist jetzt irgendwie auch schon sechs Jahre her.“ Er machte eine kurze Pause und atmete hörbar durch. „Was habe ich diesen Bengel dafür gehasst. Du machst dir wirklich kein Bild. Ich war außer mir und hatte das Gefühl, er habe mir Vanya weggenommen. Ich war fürchterlich eifersüchtig und das war eigentlich nie meine Art. Dabei passt er echt perfekt zu uns, musste ich feststellen. Hatte ich ursprünglich auch nicht erwartet, aber als ich ihn vor einem Jahr erlebte und kennenlernte, bemerkte ich, was Vanya damals schon in ihm erkannt haben muss. Was genau es war, hatte er wohl selbst nicht gewusst. Nicht einmal geahnt.“
Er lächelte plötzlich verschlagen und schüttelte recht offensichtlich den Kopf über einen seiner eigenen Gedanken. „Er hatte auch eine Weile Angst, dass er Vanya langweilig werden könnte“, erzählte er. „Dabei war uns von Anfang an irgendwie klar, dass der böse Wolf in ihm stecken muss. Nun ja, nicht wirklich klar. Wir haben es wohl mehr vermutet und dreist angenommen. Den mussten wir allerdings erstmal rauslocken aus seinem Käfig. Er hatte sich selbst darin eingesperrt, nachdem sein Vater ihn hineingeprügelt hatte.“
Alexander blickte ihn intensiv an und lächelte gequält. „Woher kommt dein Gefühl, nicht zu genügen? Ist es die Entfremdung von den Eltern nach deren Scheidung oder die Kindheit in Williamsburg?“, fragte er ernst. „Ich habe nicht alles gleich begriffen, was ich bei dir beobachtet habe, doch seit ich dich bei dieser Abschlussvorführung habe tanzen sehen, verstehe ich so manche Zeilen besser. Du warst sehr früh für mich ein offenes Buch, aber ich verstand nicht jede Passage darin. Du bist so unheimlich stolz und stark und dennoch kannst du dich mir unterwerfen, wenn ich es verlange. Das genieße ich mindestens ebenso, wie Vanyas schiere Größe unter mir zu wissen. Du bist ein Kämpfer wie Aljosha und Nika, aber nicht genauso. Es hat einen gewissen Reiz für mich, auf welche Art du fügsam bist. Vor allem deshalb, weil du deutlich empfänglicher bist für das, was ich von dir will.“
Daniel verzog das Gesicht, da er überhaupt nicht nachvollziehen konnte, was genau Alexander ihm sagen wollte. Der schmunzelte plötzlich noch mehr. Schließlich veränderte sich die Miene des Älteren jedoch sichtlich. Der Blick wurde seltsam hart und streng und darauf reagierte er augenblicklich, ohne zu wissen, weshalb.
Kaum merklich wich er zurück und spannte seine Muskeln an. Ein Teil von ihm wollte vor dem anderen auf die Knie fallen, dabei hatte der nichts dergleichen gesagt oder verlangt. Der Ausdruck in den dunklen Augen hatte sich verändert und das löste etwas in ihm aus.
„Genau das meinte ich“, murmelte Alexander. „Wie kommst du nur auf die Idee, mir nicht genügen zu können, Mr. Goldberg? Du bist dermaßen empfänglich für meine Signale, dass es mir manche Tage schon beinahe selbst unheimlich ist.“
Daniel runzelte verständnislos die Stirn. „Du hast zwar gesagt, dass du bei unseren Spielchen im Haus nicht mitmachen willst, aber du passt in die Dynamik hier wirklich seltsam hinein“, erklärte der Ältere ihm jetzt. „So wie Aljosha das war, was Vanya in unserer Beziehung immer fehlte, bist du eben genau richtig für mich. Ich möchte deshalb, dass du aufhörst zu zweifeln und solange bei uns bleibst, wie es sich gut für dich anfühlt.“
Zustimmend nickte Daniel und seufzte nun selbst schwer.
„Ich habe dich inzwischen viel zu gern, um dich wieder ziehen zu sehen, Mr. Goldberg“, gestand Alexander ihm leise. „Also hoffe ich, dass du uns noch eine ganze Weile erhalten bleibst.“
„Mir fallen eigentlich nur Gründe zum Bleiben ein“, murmelte er.
„Sehr gut“, meinte der Ältere lächelnd.
Tatsachen
Roy war am Mittwoch recht spät in Moskau angekommen, hatte sich mit ihnen allerdings dennoch in Verbindung gesetzt und für die Mittagszeit an der Klinik verabredet, da die Ergebnisse des Tests dann da sein sollten. Der russische Anwalt wollte ebenfalls anwesend sein.
„Ich kenne ihn nur vom Telefon“, murmelte Ivan unsicher, als sie beide rauchend vor dem Gebäude standen. Alexei rauchte, seit sie zurück waren, wieder sehr viel, doch der andere kommentierte es nicht weiter. Immerhin waren die Zigaretten in der Heimat wesentlich günstiger. Bei all dem Stress der letzten Tage war es für sie beide ein Ventil, sich an den Filtern der Kippen festzuhalten.
„Du weißt nicht, wie er aussieht?“, hakte er bei seinem Partner nach und der schüttelte aufrichtig den Kopf.
Ein großer, rotblonder Mann im Anzug kam auf sie zu und alles an ihm sah durchweg amerikanisch aus. Vor ihrem Umzug in die Staaten wäre es Alexei niemals so sehr aufgefallen, aber inzwischen erkannte er die New Yorker Anwälte, wenn er sie sah. Irgendwie hatten sie alle einen Hang zu teuren, gutsitzenden Dreiteilern.
In den graublauen Augen des Mannes, den er sofort für Roy Harrison hielt, glänzte Belustigung, als er bei ihnen ankam. Alexei fiel ein, dass er Misha kannte und deshalb auch wusste, wie sie aussahen.
„Mike hat nicht gelogen“, stellte der Amerikaner amüsiert fest. „Sein nicht wirklich kleiner Bruder sieht neben dem riesigen Ivan schon sehr interessant aus.“
Verunsichert blickte er den Anwalt an und dann zu seinem Partner, der irgendwie schockiert aussah.
„Euch ist klar, dass ihr nach dem Recht eures Landes das Sorgerecht für das Kind nicht aufteilen könnt, ja?“, plauderte Roy ungerührt weiter. „Es wäre immer nur seines. Eure Heimat hat da wirklich undankbare Gesetze. Ich hoffe, wir kriegen das Weib dazu, tatsächlich auf sämtliche Rechte zu verzichten. Sie hat sich einen Anwalt genommen, hat mir der Kollege von hier erzählt. Sie hätte lieber gesehen, dass das Mädchen irgendwo landet, anstatt bei dir, Gromow.“
Ivan stand unverändert wie erstarrt da und blickte Roy abwartend an, der spöttisch zurück grinste. Alexei begann zu ahnen, warum. „Woher?“, fragte er schließlich übellaunig. „Wann und wo?“
Sein Anwalt lachte auf. „Miami“, murmelte Ivan. „Ewig her. Bestimmt schon... uff... jetzt fühle ich mich alt.“
Roy grinste schelmisch und nickte. „Noch vor Jared, den ich dort auch kennengelernt habe“, stimmte der belustigt zu. „Das ist tatsächlich schon ewig her. War allerdings trotzdem irgendwie eine geile Party.“
„Ihr seht bestimmt sehr interessant miteinander aus“, murmelte Ivan und Alexei sah ihn fragend an. Dann musterte er Roy, dessen garantiert maßgeschneiderter Anzug unheimlich perfekt seinen athletischen Körper umschmeichelte. Er fragte sich zwangsläufig, wie Jared Mitchell aussah, von dem er nie ein Bild gesehen hatte, wenn Ivan solch einen Kommentar brachte.
Der Anwalt grinste, holte sein Smartphone hervor und zeigte ihm ein Foto, das er bereits kannte. Auf diesem waren Misha, Jay und einige Freunde in einer Bar von New Orleans. Neben einem Roy in Freizeitkleidung stand ein großer Mann mit mutmaßlich afroamerikanischen Wurzeln.
„So gut kennt ihr euch?“, stellte er murmelnd fest und der Rotblonde grinste frech.
„Ja, wir haben schon oft gemeinsam gefeiert“, bestätigte er. „Allerdings musste ich in Miami feststellen, dass dein Kerl nicht unbedingt mein Fall ist. Da passte Jared schon besser zu mir und ich bin überzeugt an, dass Ivan damals auch so einiges mehr über sich herausgefunden hat.“
Nur sehr langsam sickerte durch, was Roy gerade meinte und in dem Moment, in dem Alexei es begriff, wurden seine Wangen heiß. „Deinen Namen hatte er vergessen“, murmelte er, da das Gemeinte verstanden hatte, und so verlegen, wie der Dunkelblonde gerade aussah, war es ihm längst wieder eingefallen, welche beschissene Erfahrung er mit Roy gemacht hatte. „Er ist der Kerl?“
„Oh ja“, bestätigte Ivan ihm. „Er war der missglückte Versuch mit jemanden außer Alexander.“
Alexei seufzte und sein Anwalt grinste plötzlich noch breiter. „An mir lag es nicht, aber ihr beide scheint keine Probleme zu haben, was das angeht“, äußerte er frech seine Vermutung. „Ihr seid ein spannendes Paar. Da hat Mike schon Recht.“ An der Stelle winkte er jedoch ab. „Wir sind aber nicht hier, um über solche alten Geschichten zu reden. Das können wir gerne heute Abend oder so tun. Er erwähnte eine nette Bar nicht weit von eurer Wohnung, die ich mir unbedingt ansehen müsse. Jetzt wollen wir erstmal herausfinden, ob das wirklich deine Tochter ist, und danach gehört der Papierkram vielleicht meinen Kollegen und mir.“
Ivan wirkte schrecklich verlegen.
„So ging es mir in er Zentrale. Als die Streusel gekrümelt haben“, murrte Alexei auf Russisch an ihn gewandt und wechselte dann ins Englische. „Deine Welt ist gerade sehr klein, kann das sein?“
„Oh ja“, gestand Ivan ihm.
Sie diskutierten allerdings nicht weiter und betraten das Gebäude, um sich zum verabredeten Raum zu begeben. Zu seinem Entsetzen stand dort Lera in Gesellschaft von gleich vier Männern, von denen er einen leider bereits sein ganzes Leben kannte.
In dem Moment, in dem er seinen Vater erkannte, versteifte er sich.
Ivan ergriff seine Hand und drückte sie kurz, um ihm zu zeigen, dass er auch noch hier war und ihm zur Seite stand. Darauf reagierten zwei der Männer um Lera ebenso wie sie verschnupft. Dem Alter nach war der Kerl, der neben seinem Vater stehend die Nase rümpfte, der alte Mironow.
„Es hätte Ihnen schon klar sein müssen, dass Herr Gromow nicht alleine kommt“, teilte ein weiterer Anwesender den beiden mit.
Alexei ging davon aus, dass es sich hierbei um jenen Anwalt aus Moskau handelte, zu dem Alexander Kontakt aufgenommen hatte. Damit war es seiner und der übrig gebliebene Mann wahrscheinlich Leras.
Eine Frau im Kostüm kam dazu, blickte in die Runde und seufzte. „Schon beeindruckend, was hier alles aufgefahren wird, nachdem die Kindsmutter vergangene Woche noch gemeint hat, wir sollen das Kind doch besser gleich mitnehmen“, äußerte sie sich verschnupft. „Sie sind also Alexei Gromow? Ist das Roy Harrison? Und sie sind?“
„Ivan Morosow“, antwortete der. „Ich bin als moralische Beistand hier. Herr Gromow kann sich bekanntlich zeitweise nicht gut artikulieren und ihn allein dieser Frau und diesen beiden Männern gegenüber stehen zu lassen, kam für mich nicht in Frage.“
„Pädophiler Wichser“, konnte Alexei seinen Vater murmeln hören und wenn er das gehört hatte, dann sicher auch die Frau, die mutmaßlich für die Familienbehörde oder so arbeitete.
„Ich kann Ihnen nicht verbieten, sich hier aufzuhalten, Herr Gromow, aber ich möchte Sie bitten, sich zu mäßigen“, murrte der Mann, den er für seinen Anwalt hielt. „Ich gebe Ihnen außerdem den unentgeltlichen, juristischen Rat, sich in Gegenwart von gleich drei Anwälten mit solch verbalen Entgleisungen zurückzuhalten. Besonders in Ihrer derzeitigen Situation sollten Sie wirklich vorsichtig sein, Boris Vladimirowitsch.“ Nach diesen Worten wandte er sich dem amerikanischen Anwalt zu. „Brauchst du eine Übersetzung, Roy?“
„Nein, ich kenne inzwischen die gängigsten russischen Schimpfwörter“, winkte Harrison ab. „Ich kam schon in das Vergnügen, ein paar Russen kennenzulernen und kam nicht drum herum. Ein paar Flüche kenne ich auch. Den Rest kann ich mir zusammenreimen. Sehen wir zu, dass wir das hier hinter uns bekommen. Der Papierkram wird sicher noch anstrengend genug.“
Wie gut die beiden sich wohl schon kennen?, grübelte Alexei und warf Roy einen fragenden Blick zu, der mit einem Schmunzeln erwidert wurde. Oder kennt er die dank Mike? So langsam finde ich das hier alles nur noch merkwürdig.
Ivan überlegte sichtlich angestrengt, woher er den Anwalt kannte. Miami kann es schon einmal nicht gewesen sein, entschied Alexei. Ich werde das Gefühl nicht los, dass hier einige Blaue stehen. Mein Vater brodelt jetzt schon. Hoffentlich flippt er nicht völlig aus. Das würde mir gerade noch fehlen.
Die Augen des alten Gromow waren an seinem Gehstock hängen geblieben und glitten nun zum Fuß. Er hatte Alexei zuletzt gesehen, als er noch auf der Intensivstation gelegen hatte. Die einzige Begegnung zwischen ihnen, an die er sich bewusst erinnern konnte, war in Afghanistan gewesen. Danach hatte es nur noch das Telefonat gegeben, bei dem er von seinem eigenen Vater wüst beschimpft und für tot erklärt worden war.
Ja, ich stehe hier vor dir und ich weiß genau, was du gerade denkst, dachte er grimmig. Der Krüppel steht hier mit dem pädophilen Wichser, von dem du ihn damals weggeprügelt hast, während dein Lieblingssohn unter der Erde verfault, nachdem er sich im Juni selbst in die Luft gesprengt hat. Eigentlich fehlt nur noch Misha in unserer Runde und du würdest ausrasten. Ich kenne dich lange genug. Der alte Mironow mag für den Moment dein bester Freund sein, aber wenn der wüsste, was du für ein Mensch bist, würde er dich links liegen lassen. Ihr versteht euch gerade nur, weil ihr beide nicht möchtet, dass das Kind zu mir kommt.
Die Tür des Raums ging auf und zwei Ärzte baten sie herein. Wobei das eine tatsächlich eine Ärztin war, die recht reserviert, abgeklärt und müde wirkte. Der andere erweckte den Eindruck, ihr Vorgesetzter zu sein.
Nachdem sie an einem sehr langen Tisch Platz genommen hatten, erkannte Alexei einen Stapel Papier vor den beiden Weißkitteln, den sie offensichtlich gerade gemeinsam gelesen hatten.
„Ich kürze die Sache ab“, erklärte der mutmaßliche Chefarzt. „Die Vaterschaft von Alexei Gromow wurde bestätigt und damit kann er als Vater in die Geburtsurkunde des Mädchens eingetragen werden.“
Die Frau der Behörde notierte sich das und ließ sich eine beglaubigte Kopie aushändigen. Irgendwie lächelte sie gerade seltsam zufrieden, um nicht zu sagen gehässig. „Und welcher Name soll darauf stehen?“, wollte sie wissen. „Das Kind hat noch keinen erhalten.“
„Kira“, sagte Alexei sofort und er hörte seinen Erzeuger erschrocken nach Luft schnappen. Er hob den Kopf und funkelte ihn trotzig an. Alles an diesem Mann widerte ihn inzwischen nur noch an und so, wie Boris gerade dreinblickte, war er zwar schockiert von der Namenswahl, aber ansonsten genauso angeekelt von ihm und Ivan. Er selbst fühlte sich eher seltsam gleichgültig.
Stellenwert
Die Beamtin notierte das und nickte zufrieden. „Frau Mironowa, ich muss Sie darauf hinweisen, dass es durch den Verwaltungsakt, den sie vergangene Woche in Gang gesetzt haben, schwierig geworden ist, der Eintragung des Vaters und dessen Ansprüchen entgegenzuwirken“, teilte die Frau Lera distanziert mit. „Ich hatte versucht, Sie darüber aufzuklären, dass ein Verzicht auf die Mutterschaft in Ihrer Situation gefährlich werden kann. Sie können jetzt lange versuchen, sich auf Ihre Hormone und dergleichen herauszureden. Ich habe sie mehrfach gewarnt und Sie haben unterschrieben. Herr Gromow hat nun das Recht, das Kind mitzunehmen und dagegen können Sie natürlich juristisch vorgehen, aber kein Gericht der Welt wird Ihnen ohne Weiteres das Mädchen zusprechen.“
„Sie können das Kind doch keiner Horde Blauer überlassen!“, brach es aus dem alten Mironow heraus und der alte Gromow knurrte ebenfalls etwas, das nach einem mehrstöckigen Fluch klang.
„Ich hatte Sie mehrfach gewarnt, Frau Mironowa“ erinnerte die Beamtin Lera kühl und beachtete die beiden Alten hierbei bewusst überhaupt nicht. Die junge Frau saß schockiert da, warf einen verunsicherten Blick zu ihrem Vater, der offensichtlich vor Wut kochte.
Alexei beobachtete seinen eigenen Erzeuger, der mindestens ebenso brodelte und jetzt Ivan so hasserfüllt ansah, dass er ahnte, was folgen würde. „Du kriegst sie nicht auch noch!“, zischte Boris. „Ihr habt mir meine Söhne weggenommen. Meine Enkelin bekommt ihr jetzt nicht auch noch!“
„Boris“, begann Ivan grimmig, doch Alexei streckte die Hand aus, legte sie auf seine und blickte ihn warnend an.
Er atmete tief durch und wandte sich selbst an seinen Vater. „Du hast uns aus dem Haus getrieben“, erinnerte er ihn langsam. „Erst Misha, dann mich. Kolya hat sein Schicksal gewählt. Er hätte mich fast auch getötet. Nina ist mit Vaska und Tanya weg. Wer glaubst du zu sein? Mir geht es gut. So gut wie nie. Ich weiß jetzt, was Familie ist. Das hatte ich bei dir nie. Kira wird es gut haben. Besser als bei dir. Oder bei ihm. Du hast nichts zu melden!“
Alle sahen ihn erstaunt an. Besonders Lera wirkte überrascht. Sicher hatten einige gedacht, dass er niemals so viele Sätze am Stück schaffen würde. Über seine Verletzung war, das hatte er mitbekommen, im Vorfeld mehrfach diskutiert worden. Der Anwalt der Mironows hatte versucht, ihn als unfähig darzustellen. Zufrieden damit, dass er es hinbekommen hatte, sich so auszudrücken, war er gerade insgeheim tatsächlich auch.
„Es mag dir nicht gefallen“, sprach er ungerührt weiter, während sein Vater mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen da saß. „Ich habe einen Job. Ich habe Freunde. Es ist immer jemand da. Wir kriegen das hin. Genau wie alles. Ich bin glücklich. Wir sind Familie. Ja, ich wurde verwundet. Ja, ich hatte Probleme. Jetzt nicht mehr. Jetzt habe ich Familie. Endlich. Sie mag dir nicht gefallen, aber ich habe sie. Im Gegensatz zu dir. Du bist allein.“
Der alte Gromow sprang auf, packte ihn am Kragen und wollte ihn sicher schlagen oder schütteln, doch Alexei dachte gar nicht groß nach. Er griff ihn am Arm, werte den Angriff ab und ein erstaunter Boris blickte vom Boden zu ihm hoch. „Die Zeiten sind vorbei“, knurrte er seinen Erzeuger angewidert an. „Keine Schläge mehr von dir. Auch nicht von Kolya. Den fressen die Würmer. Geh nach Hause! Besauf dich weiter! Verschwinde aus meinem Leben!“
„Aljosha?“, sprach Ivan ihn an und Alexei konnte hören, wie beeindruckt der im Moment war. „Wenn er gehen soll, musst du aber erstmal seinen Arm loslassen.“
Das machte er und ein Teil von ihm hätte seinem Vater nur zu gerne ins Gesicht gespuckt.
Der alte Mironow saß kreidebleich da und warf seiner Tochter einen entsetzten Blick zu. „Mit wem zur Hölle warst du da im Bett, Lera?“, knurrte er sie, die augenblicklich auf ihrem Stuhl kleiner wurde, an.
„Sershant Gromow wurde im Einsatz für sein Land verwundet, Herr Mironow“, klärte sein russischer Anwalt ihn auf und unterdrückte hierbei sichtlich ein Grinsen. „Hat Boris Gromow versäumt, Ihnen zu erzählen, dass Alexei im Juni bei jener Spezialeinheit im Gericht war? Ihre Enkelin wird bei gleich fünf Männern mit Tapferkeitsorden im Haus leben. Unter anderem. Weitere Auszeichnungen sind mir nicht bekannt, aber bestimmt auch vorhanden. Es sind fünf Soldaten und vier davon waren Speznas.“
„Es sind Blaue!“, regte sich der alte Mironow auf.
„Komm damit klar!“, meinte Alexei kaltschnäuzig auf Englisch und er konnte hören, wie nicht nur Ivan ein Lachen unterdrücken musste.
Er wandte sich der Beamtin zu. „Wann kann ich zu ihr?“, fragte er sie ernst. „Das Kind hat eine Familie verdient.“
Die Frau nickte zustimmend und unterschrieb ein Formular. „Von meiner Seite jetzt gleich“, antwortete sie. „Mitnehmen können Sie Kira Gromowa aber erst, wenn die Papiere fertig sind. Das wird vor Montag nicht der Fall sein, fürchte ich. So etwas dauert. Einen Pass braucht das Mädchen dann ja noch und ein bisschen Organisation wird auch nötig sein. Zu Ihrer Tochter können Sie natürlich umgehend, Herr Gromow.“
Lera schluchzte und er sah zu ihr hinüber. Die junge Frau war voller Wut, Frust und ja, auch Traurigkeit.
„Du wolltest nicht reden“, erinnerte er sie. „Ich habe meine Nummer behalten. Du hättest gekonnt.“ Er machte eine kurze Pause. „Du kannst sie besuchen.“
„Einen Scheiß wird sie!“, zischte der alte Mironow. „Ihr seid alle der letzte Dreck! Genau wie Maxim und Amaliya!“
An dieser Stelle hob Alexei erstaunt die Brauen, warf einen Blick auf seinen eigenen Vater, der noch vor ihm auf dem Boden saß und sich die Schulter rieb. „Ihr passt perfekt zusammen“, urteilte er murmelnd und sah zu Ivan. „Wollen wir?“
Der Dunkelblonde nickte und erhob sich.
„Wir kümmern uns um den Papierkram, Alex“, erklärte Roy ihm und er lächelte zur Erwiderung grimmig.
Die Ärztin stand auf und trat an ihn heran. „Ich bringe Sie hin“, murmelte sie. „Kommen Sie mit! Sie ist zauberhaft. Sie werden sehen. Erfreut sich bester Gesundheit und hat einen großen Appetit. Die Pflegerinnen erwarten Sie sicher schon. Die wissen nämlich, dass Sie heute im Haus sind.“
Er nickte und folgte ihr nach draußen. Ivan hing an seinen Fersen, ergriff auf dem Flur seine Hand und drückte sie. „Alles in Ordnung mit dir?“, fragte er besorgt.
Er hob den Blick, um ihm in die blaugrünen Augen zu sehen. „Kriegen wir das wirklich hin?“
Der grinste belustigt und musste jetzt tatsächlich lachen. „Du hast deinen Vater wortwörtlich aufs Kreuz gelegt“, prustete er. „Wenn ich das Sanya erzähle, kriegt der sich nicht mehr ein. Wir gehen heute Abend sowas von zu Verka in die Bar. Ich gebe dir nicht nur einen aus. Das müssen wir feiern, Ljosha! Ernsthaft! Dass das mal passiert, hatte ich ja nicht erwartet. Mir geht da irgendwie gerade wirklich einer ab.“
„Hätte ich viel früher tun sollen“, nuschelte er.
Sie folgten der Ärztin bis zur Wochenstation, auf der einige der Krankenpflegerinnen sehr aufmerksam die Köpfe hoben. „Dass Sie verwundet wurden, ist den Kolleginnen natürlich bekannt“, meinte die Medizinerin. „Ein oder zwei von ihnen kennen Sie wohl auch. Ich bin mir sicher, hier laufen auch Amy und Vera herum, obwohl sie längst Feierabend haben. Die wissen, dass Sie heute hier sind. Wenn etwas in Kliniken funktioniert, dann der Flurfunk.“
Tatsächlich stand er vertrauten Gesichtern gegenüber, als sie das Säuglingszimmer betraten. Leras Schwester Amaliya, Vera und Katenka erkannte er wieder. Der Name der vierten war ihm entfallen, doch sie drückten ihn alle nacheinander zur Begrüßung und er seufzte schwer.
„Soll ich dir deine Tochter bringen?“, fragte Amy freundlich. „Und noch viel wichtiger: dürfen wir es den Jungs erzählen?“
Er lachte auf und nickte zustimmend, was auch Vera aufatmen ließ. Die sah er nun jedoch echt streng an. „Die Überraschung war gemein“, teilte er ihr mit.
„Du kennst ihn doch“, meinte sie frech grinsend. „Er ist gehässig und ärgert dich gerne und das hat sich zum Glück nicht verändert.“
„Gott sei Dank“, murmelte Alexei und schluckte gegen einen Kloß im Hals an, als Amy mit einem kleinen Bündel auf dem Arm näher kam.
„Welchen Namen sollen wir denn jetzt auf das Schild schreiben?“, fragte eine Frau im mittleren Alter im Hintergrund. „Da steht immer noch Baby Mironowa und das finde ich alles andere als gut.“
„Kira Alexeiewna Gromowa“, teilte die Ärztin mit und reichte das Formular der Beamtin weiter. „Sie muss hierbleiben, bis der Papierkram fertig ist, aber das bekommen wir jetzt auch noch hin.“
„Setz dich doch in den Sessel, Aljosha!“, forderte Amy ihn auf und zeigte auf ein Sitzmöbel. „Ich gebe sie dir.“
Er drückte Ivan seinen Gehstock in die Hand und nahm Platz. Max‘ Verlobte übergab ihm das Neugeborene und er wusste zuerst gar nicht so recht, wie er sie halten sollte. Sie war so fürchterlich leicht und wirkte zerbrechlich. Fassungslos sah er in das kleine, runde Gesicht, das von einem großen Schnuller eingenommen wurde. Es war schrecklich surreal, aber als Kira die Augen öffnete, erstarrte er und auch Ivan holte erstaunt Luft.
Ordnung
Sie waren über eine Stunde bei Kira geblieben und auch Ivan hatte sich vorsichtig mit dem Mädchen vertraut gemacht, das Alexei wie aus dem Gesicht geschnitten war. Sie hatte seine dunklen Haare und dieselben dunkelblauen Augen.
„Uns war sofort klar, dass das deine Tochter ist“, hatte Amy ihnen erklärt. „Das haben wir der Beamtin auch gesagt, als sie wegen des Winds vom Anwalt hier aufgetaucht ist. Wir kennen dich ja. Du kannst sie nicht leugnen und deshalb wollte Lera sie nicht behalten. Sie sieht aus wie du. Sehr wie du. Quasi du als kleines Mädchen.“
„Sanya wird ausflippen“, stellte Ivan fest, als sie rauchend vor der Klinik standen, und verschickte eine Nachricht an ihre Gruppe.
„Du hast doch kein Foto gemacht?“, fragte er argwöhnisch und zog sein Telefon hervor.
Projekt NYC
IVV (15:47) hat ein Foto gesendet.
DRS (15:48): „Heilige Scheiße? Ernsthaft?!“
AAS (15:49): „Und wie heißt die kleine Gromowa jetzt mit Vornamen? Alexis? Alexandra? Wann kommt ihr wieder?“
AVF (15:50): „Wir werden früher, als uns lieb ist, wissen, wie Aljosha im Röckchen aussieht.“
NSP (15:50): „Du wieder! XD!“
AIA (15:51): „Soll ich das Kinderzimmer zu euch packen? Zu Sanya? Wie wollen wir das jetzt lösen?“
AAS (15:31): „Auf keinen Fall in meine Wohnung!“
ABG (15:52): „Sie heißt Kira. Wir müssen auf die Papiere warten. Vor Montag ist die Urkunde nicht fertig und dann haben wir noch lange keinen Pass.“
IVV (15:53): „Der alte Gromow war da und wollte auf Aljosha los.“
DRS (15:53): „Und?“
AAS (15:53): „Bitte was?“
NSP (15:54): „Heilige Scheiße!“
IVV (15:54): „Ich hätte gerne ein Video davon und würde mir darauf immer wieder einen runterholen wollen!“
ABG (15:55): „VANYA!“
Grimmig sah er seinen Partner an. „Im Ernst jetzt?“, fragte er empört und Ivan grinste schelmisch zurück. Eine weitere Nachricht ging ein.
AAS (15:56): „Echt so gut? Gab es keine Überwachungskamera? Ich klemme mich mal dahinter! Das will ich sehen!“
ABG (15:57): „Sanya???“
AAS (15:57): „Ich bin so stolz auf dich, böser Wolf!“
Ein rotblonder Mann tauchte neben ihnen auf und grinste selbstgefällig. „Denen haben wir es gezeigt“, meinte Roy und blickte feixend zu dem Anwalt an seiner Seite. „Wie guckt ihr aus der Wäsche? Alex, alles okay?“
„Ach, der ist nur entsetzt, weil Sanya sich eine Kopie aus dem Konferenzsaal besorgen will, falls es eine Kamera gibt“ erklärte Ivan gelassen.
„Ich mache euch eine“, versprach der russische Anwalt abgeklärt. „Für Sanya tu ich fast alles. Hab eh schon eine angefordert, falls es Ärger gibt.“
Alexei wurde hellhörig und musterte den dunkelhaarigen Mann, dessen Namen er nicht einmal behalten hatte. Ein Kerl, der Alexander kannte, ohne dass Ivan ihn erkannte, warf schon ein paar Fragen auf.
„Ach, Vanya“, säuselte der Anwalt schließlich und der Dunkelblonde wurde merklich blass. Dann bekam er jedoch schon heiße Wangen.
„Ach du Schreck“, entfuhr es ihm. „Valya?“
Der Anwalt lachte auf und grinste Roy an. „Ich hatte dir gesagt, dass er mich nicht erkennen wird“, meinte der Mann, der Valentin oder so hieß. „Wo gehen wir jetzt zur Feier des Tages hin? Ich war ewig nicht mehr bei Verka im Café? Vielleicht sollten ihr das angehen?“
Ivan stand verwirrt blinzelnd da und war zu keiner Antwort fähig.
„Ich frage besser nicht, oder?“, murmelte Alexei und der Größere nickte mit weit aufgerissenen Augen bestätigend.
„Zu seiner Verteidigung: Er hat mich ewig nicht mehr gesehen“, erklärte Valya. „Das letzte Mal ist bestimmt schon acht Jahre her. Ich war ewig nicht mehr mit den Knallköpfen aus und mit Sanya in der Sauna war er sicher sechs Jahre nicht mehr. Dafür bist du der Grund, nehme ich an? Sanya erwähnte etwas in der Richtung.“
Alexei rollte mit den Augen. „Schuldig“, murmelte er und holte sein Telefon hervor, um Alexander eine Nachricht zu schicken.
ABG (16:11): „Spar dir die Arbeit! Valya macht dir eine Kopie.“
AAS (16:11): „Perfekt!“
AVF (16:12): „Valya ist dort?“
AAS (16:13): „Klar doch! Was hast du gedacht, wen ich darauf angesetzt habe?“
Der Chat fühlte sich noch weiter, aber Alexei packte kopfschüttelnd das Telefon weg. „Weg hier! Verka! Wodka!“, verlangte er. Ivan lachte und ergriff seine Hand.
Bis zum Nashe Café brauchten sie mit dem Taxi eine Weile, da der Feierabendverkehr teilweise schon durch die Stadt rollte, aber in der Zwischenzeit setzte Ivan ein paar Nachrichten ab, von denen sicher mindestens eine an Viktor gegangen war. Als sie ankamen, war die Bar tatsächlich bereits offen und nach der obligatorischen Zigarette, die sie früher auch immer geraucht hatten, bevor sie die Stufen hinabstiegen, durchquerten sie die Tür ins Innere. Der Türsteher hatte sie offensichtlich noch längst nicht vergessen und grinste sie erfreut an. Verka kam sofort um die Bar herum und drückte erst Alexei und dann Ivan überschwänglich. Valya war gleich als Nächstes dran, obwohl er sich tatsächlich in seinem Anzug hinunter gewagt hatte. Auch Roy wurde freundlich begrüßt und trotz all des Geschnatters spürte Alexei die aufmerksamen Blicke einer Tischgesellschaft auf sich, die sich schon sehr stark verändert hatte.
Abrasha und Fedya sahen so ganz ohne Andrei und Nika ein klein wenig verloren am Tisch aus, hatten allerdings offensichtlich auf sie gewartet. Ivan ging zu ihnen hinüber und drückte die beiden. Küsschen gab es auch und Alexei stellte fest, wie wenig es ihn störte, dass die Clique derart innig war. Dabei wusste er genau, dass sein Freund irgendwann vor über einem Jahr einmal Abram abgeschleppt hatte.
Roy stand mit in Falten gelegter Stirn neben dem Tisch und grinste schließlich die beiden jungen Männer verschlagen an. „Wie gut ist deren Englisch?“, fragte der Rotblonde recht schnell und eigentlich waren die dümmlichen Gesichter der zwei schon Antwort genug. „Wunderbar!“
Er wandte sich Ivan zu. „Nach einer gefühlten Ewigkeit in einer nicht so festen Beziehung habe ich gewisse Freizüge“, plauderte Roy gelassen aus. „Wen von den beiden Bürschchen kannst du denn empfehlen, Vanya? Es ist deine Clique. Du kennst sie.“
Alexei war doch ein klein wenig erstaunt von der Frage.
„Den, der deinen Anzug anstarrt“, antwortete Ivan amüsiert. „Abrasha studiert Modedesign und ist fasziniert von der Qualität deines Dreiteilers. Fedya ist Jurastudent und wird eher nicht unter dir liegen wollen.“
Der amerikanische Anwalt grinste verschlagen, nahm sein Sakko ab und reichte es Abram einfach.
„Modedesign also?“, fragte er langsam und Abrasha lief knallrot an.
Roy blickte sofort skeptisch zu Ivan.
„Er ist eher so der zarte Typ“, erklärte der Dunkelblonde geduldig.
„Ich kann heute nicht wählerisch sein“, murmelte Roy und winkte nach Verka, die mit einem Tablett Wodkagläsern ankam. „Eine Kopie hätte ich auch gerne. Wie Jared das dann wohl findet? Wir werden sehen.“
„Was genau feiert ihr denn jetzt?“, fragte die Dragqueen säuselnd.
„Ach, fangen wir damit an, dass es amtlich ist und Aljosha außerdem seinen Vater aufs Kreuz gelegt hat“, meinte Valya mit einem spöttischen Grinsen und der ältere Crossdresser bekam große Augen. „Ich mach dir einfach auch eine Kopie vom Video, ja?“
„Ich bitte darum!“, meinte Verka und nahm sich ein Glas. „Ich bin kein würdiger Ersatz für Sanya, was das angeht. Worauf stoßen wir denn jetzt bitteschön an?“
„Auf uns Blaue“, entschied Alexei.
„Lange bleiben können wir heute niemals“, murmelte Ivan. „Ich krieg den Blick von deinem Alten nicht aus dem Kopf und ich bin mir sicher, dass Sanya auch total einer abgeht, wenn er das Video sieht.“
„Vanya!“, knurrte Alexei ihn empört an.
„Nicht streiten, ihr zwei!“, ermahnte Verka sie streng und hob das Glas. „Also gut, dann eben auf uns Blaue!“
Drei runden Wodka später brachen Alexei und Ivan auf und sie waren sich nicht sicher, ob Roy tatsächlich Abrasha abschleppte. Dafür verstand er sich vielleicht doch etwas zu gut mit Valya.
„Es war so schön, euch einmal wieder zu sehen“ verabschiedete Verka sie beide, als sie den Ausgang ansteuerten. „Ins Monkeys kommt ihr morgen bestimmt nicht, oder?“
Alexei musste zwar schmunzeln, verneinte aber kopfschüttelnd.
Chaos
Auf dem Weg zur Wohnung schlenderten sie rauchend nebeneinander her. Ivan spürte eine seltsame innere Unruhe, während er neben Aljosha herging. Dessen kurzer Schlagabtausch mit Boris und dem alten Mironow hatte ihn angemacht und wie er Lera abgefrühstückt hatte, obwohl er noch vor wenigen Monaten so Probleme mit seiner Artikulation gehabt hatte, war auch beeindruckend gewesen.
Du bist wirklich der böse Wolf und nicht nur mein Donner, entschied Ivan, als er die Wohnungstür aufschloss. Ich bin ja eigentlich immer geil auf dich, aber so sehr war ich es schon lange nicht mehr. Heilige Scheiße, was hast du nur mit mir gemacht? Du hast mich echt verhext! Ich weiß gar nicht, wie ich gerade am liebsten mit dir Sex haben möchte! Ein Teil von mir will unter dir liegen und der andere dich einfach nur in Besitz nehmen!
Die Wohnungstür fiel hinter ihnen ins Schloss und Alexei nahm ihm die Entscheidung ab, indem er ihn gegen die Tür drängte, im Nacken packte und zu einem Kuss herunterzog. Der sagte eigentlich auch schon alles, was er wissen musste. Alexei war mindestens genauso angetörnt wie er.
„Ich will dich“, raunte der Jüngere ihm gegen die Lippen. „Ich weiß nur nicht wie.“
„Wir müssen uns ja nicht festlegen“, murmelte Ivan und packte ihn am Arm. „Wir haben das Wohnzimmer, das Schlafzimmer, die Küche, das Badezimmer und mein Büro.“
Der Kleinere reagierte prompt mit einem erregten Knurren und fiel vor im auf die Knie. „Und den Flur“, hörte er ihn murmeln und dann war seine Hose auch schon offen.
„Oh, verdammt!“, fluchte Ivan und ließ seinen Kopf nach hinten gegen das Türblatt sinken. „Ich steh total darauf, dass du inzwischen so... Fuck!“
Das Üben hat sich gelohnt, Ljosha!, kam ihm in den Sinn, doch dann verschwammen seine Gedanken. Verflucht!
Er packte Alexei an den Haaren und zog ihn wieder auf die Beine. „Dich hier im Stehen kommt mir wie keine gute Idee vor“, murmelte er und zog ihn hinter sich ins Wohnzimmer. „Hab ich hier überhaupt noch Gleitgel?“
Alexei grinste verwegen und griff in seine Hosentasche, um eine Flasche herauszuziehen. Irritiert blinzelte er den Kleineren an.
„Hat mir Roy zugesteckt“, verkündete der Jüngere ihm grinsend. „Guter Anwalt.“
„Oh ja“, stimmte Ivan ihm zu und packte ihn im Nacken. „Ich bin so geil auf dich! Du machst dir kein Bild!“
Alexei grinste frech und starrte auf seine offene Hose, mit der er sich bis eben ja noch beschäftigt hatte. Der Blick sagte alles, aber er schaffte es, etwas zu sagen. „Oh doch!“, spottete er. „Roy hatte Zweifel, ob es reicht.“
„Hör auf, von ihm zu reden!“, bat Ivan ihn. „Ich mag nicht an meinen misslungenen Versuch mit ihm denken, während ich... oh, verdammt!“
Alexei grinste noch eine Spur breiter, schob ihn zum Sofa und machte das Handzeichen für Ruhe gefolgt von bück dich!
Ivan seufzte und gehorchte. Wirklich überraschend war es für ihn nicht, dass Alexei dafür in Stimmung war. Er schwieg wie verlangt und beugte sich am Sofa vornüber. Sein Freund zerrte ihm die Jeans mitsamt der Unterwäsche von den Hüften, umarmte ihn von hinten und sog seinen Geruch hörbar ein.
„Du gehörst mir“, konnte er ihn murmeln hören. Kaltes Gel benetzte seine Haut und ein Finger schob sich gekonnt in ihn.
Ivan stöhnte kehlig auf und ließ seinen Kopf nach vorne fallen. „Das tue ich“, bestätigte er keuchend und stellte erschüttert fest, wie sehr er Alexei in dem Bereich inzwischen vertraute. In die Situation, an Roy zu denken, kam er gar nicht erst. Da waren es schon mehr die Parallelen zu Alexander, die er bemerkte und die ihn zusätzlich auf Touren brachten.
Gelehriger Kerl, stellte er fest und stöhnte auf, als der Finger ihn zu reizen begann. Das halten wir niemals lange aus.
Tatsächlich war Alexei dermaßen aufgegeilt, dass er kurz, nachdem er den Zweiten in ihn geschoben und das Gel noch ein wenig mehr verteilt hatte, beide wieder herauszog, um sich in ihm zu versenken. Das erleichterte Geräusch, das der andere in dem Moment machte, hatte er sich ja bis vor einem halben Jahr irgendwie auch nicht vorstellen können.
Schon erstaunlich, wie sich das alles entwickelt hat, schoss es ihm durch den Kopf, doch dann hatte er die Finger von Alexeis linker Hand im Haar und ließ ihn noch ein wenig mehr nach vorne fallen. Mit bebendem Körper nahm er hin, dass der andere eine Pause machte, nachdem er gänzlich in ihm war. Die brauchte er selbst sehr dringend, damit er nicht gleich kam.
Mein Aljosha, dachte er und schloss seufzend die Lider. Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen. Ich will mir eines ohne dich auch nicht vorstellen müssen. Gemeinsam schaffen wir wohl alles.
Missbilligend schnalzte der Jüngere mit der Zunge und Ivan zuckte zusammen. Das Geräusch kannte er zu gut. Nur eben eigentlich nicht von Alexei. „Ich liebe dich“, murmelte er, wie zur Entschuldigung dafür, dass er gegrübelt hatte.
„Ich dich auch“, antwortete der Jüngere und begann sich zu bewegen.
Den ersten Stoß quittierte Ivan mit einem kehligen Aufstöhnen und ein Zittern erfasste seine Muskeln. Alexeis Durchhaltevermögen mochte noch ausbaufähig sein, aber er empfand es genau richtig. Seine Knie knickten ein wenig ein, doch der Jüngere ließ sich davon nicht beirren und gab lange nicht nach, während ihn die Kraft zu verlassen drohte. Halt fand er am Sofa. Die Hand in seinem Haar packte zu und er nahm wahr, wie sein eigener Höhepunkt immer näher kam. Unaufhaltsam rollte die Welle an und er hatte kurz Sorge, dass Alexei ihm verweigern würde, zu kommen, als dieser einen Moment langsamer machte. Der war allerdings selbst zu aufgegeilt, um die dafür notwendige Selbstbeherrschung aufzubringen.
Mit einem kehligen Aufstöhnen entlud er sich auf die Couch und spürte, wie Aljosha ihm folgte. Schwer atmend stützte er sich auf seine Unterarme auf und schüttelte fassungslos den Kopf.
„Was?“, fragte sein Freund ihn keuchend. Er japste regelrecht nach Luft, wollte aber trotzdem wissen, was gerade in ihm vorging.
„Ich habe inzwischen definitiv noch jemanden, dem ich genug vertrauen kann“, stellte er murmelnd fest und versuchte, sich aufzurichten. „Hätte ich mir ja auch nie träumen lassen.“
„Zehn Minuten, Vanya“, zischte Alexei ihm ins Ohr. „Raum darfst du aussuchen.“
Darüber musste er lachen.
Recht
Während Roy und Valya alles regelten, nahm Alexei von seinem Anspruch Gebrauch, Kira täglich zu besuchen. Ivan schlug sich ganz gut, wirkte auf ihn jedoch unverändert auch ein wenig nachdenklich.
Sie hatten sich am Wochenende mit Viktor bei Jeong zum Essen getroffen. Der alte Morosow schmunzelte gewaltig über die Situation mit dem alten Gromow und Mironow, nachdem Ivan ihm davon erzählt hatte. Bevor sie sich verabschiedeten, reichte Viktor ihnen allerdings noch ein Paket.
„Das hat Sonya eilig geschickt“, teilte er mit. „Sie lacht darüber, dass Vanya jetzt wohl irgendwie doch ein Kind hat, und hat gemeint, dass ihr bestimmt noch keine Kleidung oder so besorgt habt.“
„Da wäre ich mir ja bei Sanya und Shura nicht so sicher“, murmelte Ivan. „Der kleine Alexander hat schon Witze über einen Aljosha im Röckchen gemacht, als er das Foto von Kira gesehen hat.“
Grimmig sah Alexei seinen Partner an.
„Ja, was?“, fragte der ihn sofort und verfiel in ein rechtfertigendes Muster, das er inzwischen bestens kannte. „Sie sieht dir schon erstaunlich ähnlich. Wann kriegst du nochmal deinen Babycrashkurs? Morgen?“
Natürlich folgte die Ablenkung wie so oft auf dem Fuße. Bestätigend nickte er. Amy, Katenka und Vera hatten mit einigen Kolleginnen so etwas wie eine Einweisung bezüglich Fläschchen und Wickeln organisiert. Davor hatte er ja fast mehr Respekt als vor der Barrettprüfung im letzten Jahr.