Blauer Mohn - Robert Brack - E-Book

Blauer Mohn E-Book

Robert Brack

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Beschreibung

Jerzy Pakula ist ein Exil-Pole und ein enttarnter BND-Agent, der von seinem Heimatland ausgebürgert wurde. Inzwischen lebt er in Hamburg und betreibt einen kleinen zwielichtigen Buchladen im Bahnhofsviertel St. Georg. An einem feuchtkalten Oktobertag holt ihn seine Vergangenheit in Form eines alten Bekannten wieder ein. Ziegler, ein ebenso schmieriger wie irrer Ex-BND-Agent, überredet ihn zu einem Deal. Wenig später sitzt Pakula mit falschen Papieren im Zug nach Polen und ahnt noch nicht, dass er mit seiner illegalen Fracht in Warschau ein wahres Höllenspektakel entfachen wird. Robert Brack entführt uns in seinem ersten Band der Polnischen Trilogie ins Polen Mitte der 1980er Jahre. Es ist eine Zeit der politischen Lähmung, in der Schwarzmärkte und Korruption das gesellschaftliche Leben prägen.

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Robert Brack. Blauer Mohn

A Faint Cold Fear Thrills Through My Veins

William Shakespeare

Seine Existenz ist zweifelhaft und seine Vergangenheit ebenso wenig seriös wie sein „kleines“ Unternehmen, eine Buchhandlung im Hamburger Vergnügungsviertel St. Georg-Jugendlichen unter 18 Jahren ist das Betreten untersagt.

Jerzy Pakula ist ein Exilpole, präziser ausgedrückt, ein enttarnter BND-Agent, von den Behörden seines Heimatlandes erbarmungslos ausgebürgert. Seine Aufenthaltsgenehmigung in der BRD war das einzige, was der BND ihm als Entschädigung für die geleisteten Dienste zu geben bereit war. Aber Jerzy gehört nicht zu der Sorte Exilanten, die ständig über ihr Schicksal jammern, um dann doch einmal im Jahr die Verwandten im Osten mit Geschenken zu überhäufen.

Denn logischerweise würde er bei der Einreise nach Polen sofort festgenommen werden. Also hat sich Jerzy mit seiner mickrigen Existenz abgefunden. Obwohl er ein Einzelgänger ist, ein manchmal zynischer Zeitgenosse, hat er sich einen kleinen Freundeskreis bewahrt.

An einem feuchtkalten Oktobertag holte ihn seine Vergangenheit in der Person eines Rumänen ein. Als Trascanu den Laden gegen Feierabend betrat, hätte Jerzy instinktiv reagieren müssen und den Rumänen rauswerfen sollen. Aber nein, in dem tiefsten Innern seiner Seele war er doch ein typischer Pole, der kein Geschäft auslässt. Nur dieses Geschäft, das er mit Trascanu vereinbarte und mit einem ominösen Dritten abschließen sollte, stank gen Himmel. Aber Jerzy war zu naiv, und erst als er in dem Zug nach Warschau saß, mit gefälschten Papieren in der Tasche und als Bote einer unbekannten, aber sicherlich illegalen Fracht, wurde ihm klar, dass mehr als nur seine Freiheit auf dem Spiel stand.

Robert Brack

Blauer Mohn

PENDRAGON

Pendragon Verlag

gegründet 1981

www.pendragon.de

Originalausgabe

Veröffentlicht im Pendragon Verlag

Günther Butkus, Bielefeld 2013

© by Pendragon Verlag Bielefeld 1988

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Anja Schwarz

Umschlag und Herstellung: Uta Zeißler, Bielefeld

Umschlagfoto: mauritius images / age

ISBN 978-3-86532-520-4

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Die Hauptpersonen

Jerzy Pakula

hätte sich nie auf das Geschäft einlassen dürfen, das ihm

Trascanu

der Rumäne vorgeschlagen hatte. Denn dem unbekannten Dritten im Bunde

Ziegler

war ebenso wenig zu trauen, wie

Szretter

der seine schmutzigen Geschäfte, genauso wie der ekelhafte Ziegler, immer auf Kosten Unschuldiger machte. Außerdem will von diesen nebulösen Unternehmungen auch eine Gruppe zwielichtiger

Araber

profitieren, die in der Wahl ihrer Mittel nicht gerade zimperlich sind. Das bekommen auch

Kasia

eine attraktive „Freizeitgestalterin“ und

Andrzej

ihr allzu sorgloser Bruder und sein bester Freund

Sławek

am eigenen Leib zu spüren. Nur ein Mann wie

Major Kronstad

besitzt so viel Format und Ehrgefühl, all diese korrupten Elemente ihrem einzig wahren Schicksal zuzuführen.

Nur

Tina

bleibt von dem turbulenten Geschehen unberührt und gutgelaunt.

1

Der Zug nach Warschau ratterte durch die düstere, regennasse polnische Landschaft. Die abgeernteten Felder und Wiesen lagen in dämmerigem Zwielicht. Es war November.

Der Mann in dem grauen, zerbeulten Anzug trat aus seinem Abteil in den Gang und versuchte durch ein beschlagenes Fenster zu sehen. Er konnte jedoch so gut wie nichts erkennen. Mit dem Ärmel seines Jacketts wischte er über die nasse Scheibe und beugte sich nach vorne. Wassertropfen glitten in schrägen Linien von oben nach unten. Aber die Landschaft, die draußen vorbeizog, blieb im Verborgenen. Der Mann zündete sich eine Zigarette an und seufzte. So hatte er sich das Wiedersehen mit der alten Heimat nicht vorgestellt. Allerdings hatte er sich den Zeitpunkt seiner Rückkehr auch nicht selbst ausgesucht.

Er war recht groß und kräftig gebaut, Ende 40, und hatte die Angewohnheit, bei längerem Stehen oder Sitzen allmählich in sich zusammenzusinken. Sein Gesichtsausdruck glich dem eines desillusionierten Verlierers, der sich schon seit Jahren damit abgefunden hat, dass er Glück haben muss, wenn sich die Ruhe um ihn herum bewahren soll. Seine Gesichtszüge waren grob und etwas aufgedunsen, sein dünnes Haar angegraut. Er wirkte nicht sportlich und daher ein bisschen zu fett. Sein Name war Jerzy Pakula.

Er zündete sich eine neue Zigarette an und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Fenster.

Am anderen Ende des Gangs standen drei junge polnische Wehrpflichtige und unterhielten sich. Die beiden Frauen, mit denen Pakula das Abteil teilte, wahrscheinlich Mutter und Tochter vom Land, schliefen immer noch, seit sie in Berlin eingestiegen waren und mit ihren Koffern und Taschen das Abteil vollgestellt hatten. Anscheinend hatten sie Verwandte im Westen besucht, Ehemann, Sohn, Schwiegersohn, Tochter oder Schwester. Jeder Pole hat doch Verwandte im Westen. Nur Pakula hatte keine, weder im Westen noch im Osten, jedenfalls wusste er von keinen mehr. Er wusste nur, dass er sich sein Schicksal nicht aussuchen konnte. Und er wusste, dass er auf diese beiden Reisetaschen aufpassen musste, die er mühselig über die Gepäckstücke der beiden Frauen gestapelt hatte. Was sie eigentlich Geheimnisvolles enthielten, hatte er nicht herausfinden können. Beim Packen hatte er nicht entdecken können, auf welche Weise etwas versteckt worden war.

Die Grenzbeamten in Ostberlin und an der polnischen Grenze hatten keinen Verdacht geschöpft und die beiden alt und gebraucht aussehenden, billigen, gelblichbraunen Kunstleder-Reisetaschen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Die DDR-Grenzbeamten waren ohnehin mehr damit beschäftigt, zwei Schäferhunde unter dem Zug durchzujagen. Die polnischen hingegen untersuchten Schuhe und Strümpfe eines alten Mannes, der im Nebenabteil saß. Dieser hatte schon während der ganzen Zugfahrt jeden anzusprechen versucht, der ihm begegnete, um zu fragen, ob es an der Grenze wohl sehr schlimm werden würde und ob er seine Devisendeklaration richtig ausgefüllt hätte. Wie schrecklich es doch wäre, wenn er sich verzählt hätte! Und hoffentlich müssen wir nicht unsere Gepäckstücke öffnen, er habe doch so viel Kaffee und Schokolade dabei … Es wäre seine erste Westreise, um den Sohn in Hannover zu besuchen. Der sei erst seit zwei Jahren dort und habe sich schon das zweite Auto gekauft: einen Mercedes natürlich, zwar gebraucht, aber sehr groß.

Pakula hatte ihm erzählen müssen, dass er in Hamburg ein eigenes Geschäft besitzen würde und sich dafür bewundern lassen. Der kleine, schmächtige, alte Mann hatte ihm daraufhin anvertraut, dass auch er hin und wieder kleine Geschäfte tätigen würde, nicht wahr, man kennt das doch? Und Pakula hatte genickt. Es war doch immer das Gleiche mit den Polen, entweder sie jammerten oder sie erzählten begeistert von ihren kleinen Geschäften, ganz im Vertrauen natürlich. Mit der eigennützigen Geschäftsmentalität seiner Landsleute war Pakula immer klargekommen, denn er wusste, wer die Spielregeln des Schwarzmarktes nicht kannte oder nutzen wollte, musste sich einen sehr bescheidenen Lebensstil angewöhnen. Er hatte die polnische Lebensart in dieser Hinsicht immer ein wenig verabscheut. Nicht aus moralischen Gründen, eher weil er zunächst aus eigener Unfähigkeit nicht mitmachen konnte, dann aus Trotz nicht mitmachen wollte. Aber den Lebensstil der Deutschen ertrug er ebenso wenig, denen schien immer alles in den Schoß zu fallen.

Ihn fröstelte. Er stellte den Kragen seines Jacketts hoch und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Er war müde, unrasiert, und je mehr er über diese Reise nachdachte, schlecht gelaunt. Wer hätte wohl weniger Gründe hier zu sein als ausgerechnet er? Noch dazu mit einer falschen Identität und einem mehr als zweifelhaften Auftrag.

Aus dem Nebenabteil trat der kleine, ängstliche Mann und lächelte.

„Es dauert nicht mehr lange und wir sind in Warschau“, sagte er und streckte sich. Dann hielt er ihm eine frischgeöffnete Schachtel Marlboro entgegen: „Möchten Sie eine Zigarette? Die sind gut.“

Pakula nahm eine Zigarette, und der kleine Mann gab ihm umständlich Feuer mit seinem teuer aussehenden, goldenen Feuerzeug. Es stand in seltsamem Kontrast zu seinem schäbigen Äußeren. Pakula bedankte sich.

„Wir haben fast eine Stunde Verspätung.“

Der kleine Mann zuckte fröhlich mit den Schultern: „Das macht nichts. Hauptsache wir sind wieder zu Hause. Waren Sie schon mal in Warschau?“

„Ich hatte mal dort geschäftlich zu tun.“

„Ich bin noch nie dort gewesen, nur durchgefahren. Aber heute werde ich einen alten Freund besuchen. Wir haben uns zehn Jahre lang nicht gesehen. Das wird ein Spaß! Ich habe ihm etwas mitgebracht …“ Er senkte die Stimme. „Ein kleines Tonbandgerät, wenn er es kaufen will … oder eine kleine Uhr.“ Er deutete auf sein Handgelenk. Pakula nickte müde. Der kleine Mann kramte wieder seine Zigaretten hervor.

„Möchten Sie noch eine?“

Das Feuerzeug versagte beinahe.

„Ich muss es auffüllen“, sagte er schuldbewusst.

Dann kam er auf das Warschauer Schloss zu sprechen, das nun endgültig renoviert sei und das er sich unbedingt ansehen wolle.

Als man die ersten Vororte von Warschau sehen konnte, hatten beide zusammen die halbe Zigarettenschachtel leergeraucht, und der kleine Mann verabschiedete sich, um in sein Abteil zurückzugehen. Pakula sah noch, wie er den anderen Personen dort die Zigaretten anbot, und ging dann in sein eigenes Abteil zurück. Die beiden Frauen hatten bereits begonnen mit ihren Gepäckstücken die Sitze vollzustellen.

Der Hauptbahnhof Warszawa Centralna ist ein moderner Betonkomplex. Die Bahnsteige sind unterirdisch angelegt.

Pakula stieg aus dem Zug und direkt in eine Welt, von der er geglaubt hatte, dass er niemals wieder in sie zurückkehren würde. Um sich herum nahm er altbekan nte Sprachfetzen wahr. Die Menschen, ihre Gesten, ihre Gesichter und ihre Kleidung wirkten auf ihn gleichzeitig fremd und bekannt. Er hatte einen Moment lang den Eindruck, dass sie alle zu schnell redeten und sich zu schnell bewegten.

Nachdem er aus dem Untergrund heraufgestiegen war, suchte er seinen Weg durch das riesige, mit schmutzigem Marmor ausgelegte Betongewölbe der Bahnhofshalle. In jeder Hand eine der lästigen, hässlichen Reisetaschen, bahnte er sich den Weg durch die vor Schaltern, Tafeln und Fahrplanautomaten stehenden Menschenmassen. Es dauerte einige Zeit, bis er endlich einen Ausgang gefunden hatte, und er ärgerte sich. Das ewige polnische Chaos, dachte er. Seine Laune besserte sich keineswegs, als er nach draußen trat, wo es schon dunkel geworden war und regnete.

Der Bahnhof war von einem riesigen Parkplatz umgeben, auf dem vereinzelte Fiat Polski und Škoda standen. Einige Meter entfernt sah er ein Schild, das auf einen Taxenstand hinwies. Hinter dem Schild standen über zehn Personen ordentlich aufgereiht in einer Schlange, neben und zwischen ihnen Berge von Gepäckstücken. Zwar ragte das Schmetterlingsdach des Bahnhofsgebäudes über den Bürgersteig hinaus, aber der Wind trieb gelegentlich Regenschwaden über die Wartenden hinweg. Manche hatten glücklicherweise einen Schirm dabei. Von einem Taxi war nichts zu sehen. Pakula fluchte vor sich hin und stellte sich als letzter in die Reihe. Ein besetztes Taxi fuhr an ihnen vorbei. Schließlich kam auch ein leeres.

Nach einer halben Stunde war er endlich an der Reihe. Wie abgesprochen, ließ er sich in das Hotel Viktoria Intercontinental fahren. Das Schlimmste kommt wohl erst noch, dachte er grimmig.

Begonnen hatte diese lästige Geschichte vor einigen Wochen in Hamburg.

2

Über dem kleinsten Schaufenster der Straße standen die Worte „Alles für den Bücherfreund“. Sie wurden fast völlig verdeckt von einer schmutzigen, gelben, zerschlissenen Plastikmarkise, deren verrostetes Gestänge darauf hindeutete, dass sie weder bei Regen noch bei Schnee noch aus irgendeinem anderen Grund eingezogen wurde. Unter diesem unzuverlässigen Schutzdach standen dicht aneinandergedrängt verschiedene Buchständer mit gebrauchten Taschenbüchern. Zumeist waren es uralte Kriminalromane oder Bücher mit romantisch-aufregenden Titeln, außerdem einige Kisten mit Liebes-, Heimat- und Gruselromanheftchen. In der Glasvitrine neben der Eingangstür waren Romantitelblätter ausgestellt, die schon so vergilbt und gewellt waren, dass sie mehr als einen Sommer und Winter lang Hitze und Feuchtigkeit ertragen haben mussten. Im Schaufenster stapelten si ch unzählige Bücher aus den verschiedensten Fachbereichen: Geschichtsbücher, Kriegsbücher, Filmbücher, erotische Literatur, Waffenhandbücher, Kunstbücher, Weltliteratur, Science-Fiction, Wissenschaft und so weiter. Alles war übereinandergeschichtet, und der kunstvolle Stapel sah bedenklich unstabil aus. An die Eingangstür war ein selbstgemaltes Schild geklebt: Kein Eintritt für Jugendliche unter 18 Jahren.

Der Buchladen befand sich in einer breiten, zweispurigen Einbahnstraße des Hamburger Bahnhofsviertels St. Georg, die direkt auf den Hauptbahnhof zuführte. Es war der einzige Buchladen in dieser Gegend, eingezwängt zwischen Spielhallen, Peep-Shows, Sex-Shops, Kinos, italienischen Lokalen und türkischen Imbissläden. In den Hauseingängen, jeder mit den Hinweisen auf mehrere Pensionen und Hotels, standen vereinzelt ältere, bürgerlich gekleidete Prostituierte und warteten unauffällig auf ihre Kunden. Eine von ihnen rollte ihrem Hund, einem Pudel, einen bunten Kinderball zu, mit dem er begeistert spielte. Ab und zu sprach sie kurz mit einem der älteren Herren, die scheinbar ziellos die Straße entlangspazierten. Andere Männer schlenderten in Gruppen vorbei: türkische Geschäftsleute, heftig debattierend.

Es war ein kalter, feuchter Oktoberabend. Jerzy Pakula, der Besitzer des kleinen Buchladens, stand an der Tür und blickte in den dunklen Abendhimmel, ihn fröstelte. Er wünschte sich den Feierabend herbei. Für heute hatte er genug von seinen ewig gleichen Kunden, die ihre gierigen Nasen stundenlang in die Pornoheftchen steckten, die wegen Platzmangels in allen denkbaren Ecken und Nischen des Ladens gestapelt waren. Pakulas Laden war kein Sex-Shop. Man konnte bei ihm jedes Buch bekommen. Innerhalb von ein bis zwei Tagen würde selbstverständlich jeder bestellte Titel geliefert. Den überwiegenden Anteil an seinem Umsatz allerdings machte der Handel mit den teuren Hochglanzheftchen aus. Dazu kam ein Bruchteil der Einnahmen durch den Verkauf von gebrauchten Taschenbüchern. Die interessanten und teuren Buchtitel, die man im Schaufenster sehen konnte und die den winzigen Innenraum so sehr ausfüllten, dass man sich vorsichtig bewegen musste, um kein Regal oder keinen Buchständer umzustoßen, sah Pakula als seine Privatbibliothek an.

Er warf den Zigarettenstummel weg, verfluchte das Wetter und ging zurück in den Laden. Noch etwa eine Stunde würde er hinter dem kleinen Tresen mit der Kasse sitzen müssen, hauptsächlich, um darauf aufzupassen, dass sich keiner seiner Kunden klammheimlich ein Heftchen einsteckte und verschwand. Die drückende, schweigsame, schuldbewusste Atmosphäre, die die Kunden ausstrahlten, ihre plumpen Versuche, einander in der Enge aus dem Weg zu gehen oder sich zu ignorieren, strapazierte heute besonders seine Nerven.

Diese alten Knacker, die nie ein Wort mit mir reden, die schnaufend aus der Masse der Bilder die richtigen für sich aussuchen! Ausgerechnet die garantieren meinen Umsatz, weil sie alle drei, vier Tage Nachschub brauchen.

Einer der Männer kaufte endlich die „Heißen Lüste“ und verschwand. Auch die anderen beiden Kunden verließen schließlich den Laden.

Pakula wollte sich gerade aufatmend der Abendzeitung zuwenden, als ein betrunkener, bärtiger Stadtstreicher in die Tür torkelte und mit einer Bierflasche in der Hand gestikulierend lallte: „Haste mal ’ne Mark?“ Eine Woge von Schaum lief über seinen Handrücken.

Aber bevor Pakula überhaupt antworten konnte, hatte ein kräftiger Arm den Burschen schon wieder aus dem Laden gezerrt. Dann trippelte eine Gruppe von Japanern im Gänsemarsch in den Laden, um nach dem Weg zum Hauptbahnhof zu fragen. Ihr Talent, die ausliegenden aufreizenden Heftchen zu ignorieren, war bewundernswert.

„Zum Bahnhof? Immer geradeaus“, erklärte Pakula müde.

Ob er vielleicht einen Stadtplan hätte, fragten sie auf Englisch.

„Nein, tut mir leid.“

Und Zeitungen gäbe es bei ihm auch nicht.

Während nun die ersten vier der Gruppe anfingen auf Japanisch zu diskutieren, bemerkte Pakula den fünften, der gerade seine Brille abgezogen hatte, um sie zu putzen. Er hatte die interessanten Auslagen entdeckt und musterte einige Titelbilder mit verkniffenen Augen. Dann nahm er hastig eines der Heftchen in die Hand und drehte sich von seinen Begleitern und Pakula weg. Pakula hatte den Eindruck, dass der Mann zwar das Heft gerne gekauft hätte, sich aber vor seinen Freunden nicht traute und es deshalb nicht bezahlen wollte.

„Das kostet 18 Mark!“, rief er über die Köpfe der Redenden hinweg und wiederholte das Gleiche noch einmal auf Englisch. Vor Schreck ließ der Mann das Heft fallen. Seine Begleiter blickten sich nach ihm um, aber er strebte schon dem Ausgang zu. Sich mehrmals verabschiedend und bedankend folgten ihm die anderen. Dabei trampelten sie rücksichtslos über das auf dem Boden liegende Heft. Pakula seufzte.

Für heute muss einfach Schluss sein, dachte er und erhob sich mühsam von seinem Sitzplatz. Als er sich bückte, um das misshandelte Heft aufzuheben, sah er, wie ein Paar glänzender schwarzer Schuhe vor ihn hintrat und stehenblieb. Schnaufend erhob er sich und starrte in das Gesicht eines südländisch aussehenden Mannes. Der blickte sich prüfend im Laden um.

Er sah nicht aus wie ein normaler Kunde. Auch nicht wie einer, der irgendwelche Bücher kaufen wollte. Er trug einen modischen, gutgeschnittenen dunklen Anzug, dazu einen weißen Schal, der aber nur lose um den aufgestellten Jackettkragen gelegt war. Nur seine breite Krawatte war aufdringlich bunt. Pakula, dessen Anzug mehr als nur unmodern war, kam sich etwas komisch vor. Das Gesicht des Mannes wirkte im Gegensatz zu seiner Kleidung grob und narbig. Seine schwarzen Haare waren strohig und ungepflegt.

Die Hände in den Hosentaschen und eine Zigarette im Mundwinkel, sagte er guten Abend.

Als Pakula sich aufgerichtet hatte, wich der Mann keinen Schritt zurück, sondern blieb unangenehm nahe vor ihm stehen. Pakula musste zurückweichen, obwohl ihm das missfiel.

„Guten Abend, ich wollte gerade schließen“, sagte er und sah demonstrativ auf seine Armbanduhr.

Der Mann nickte leicht, aber unbeeindruckt. Pakula wusste einen Moment lang nicht, was er davon halten sollte. Ist der Kerl gekommen, um mich zu provozieren, fragte er sich, entschied sich dann aber dagegen. Der Mann schien weder betrunken zu sein, noch sah er aus wie ein Moralapostel. Pakula zuckte unwillkürlich mit den Schultern. Dann wischte er das schmutzige Heft vorsichtig mit dem Ärmel sauber. Als er sah, dass es so nicht ging, trat er zur Ladentheke und fischte einen alten Lappen aus der Schublade neben der Kasse. Auch der Mann bewegte sich noch ein Stück in den Laden herein, besah sich Bücher und Hefte.

„Haben Sie auch ausländische Bücher?“ Er sprach mit einem Akzent, den Pakula nicht einordnen konnte. Ein Türke ist er nicht, dachte er, vielleicht Grieche oder Jugoslawe.

„Was suchen Sie denn?“, fragte er dann, ohne von seiner Arbeit aufzublicken.

„Oh, zum Beispiel englische oder amerikanische …“

Welchen Unterschied soll es denn da geben, fragte sich Pakula.

„… oder französisch, italienisch … polnisch …“ Einen kurzen Moment zuckte Pakula ein klein wenig zusammen. Polnische Bücher gab es nur in großen Buchhandlungen oder bei Polen zu kaufen. Dass er ein Pole war, oder vielmehr gewesen war, konnte kaum jemand wissen, schon gar nicht dieser Fremde.

Der Mann schien das Wort nur zufällig erwähnt zu haben. Als Pakula aufblickte, nahm er gerade irgendein Buch aus einem der Ständer und blickte zerstreut auf den Titel. Dann nahm er noch eins und hielt die beiden vergleichend nebeneinander. Er legte sie beiseite und nahm ein Heft von einem Stapel.

„Damit verdienen Sie wohl das meiste, was? Geht das Geschäft denn gut?“

„So einigermaßen“, murmelte Pakula. Er hatte das Heftchen blankgeputzt, man konnte wieder alle Einzelheiten erkennen. Aus Polen kann er nicht kommen, dachte er, dann hätte er einen anderen Tonfall, aber auf jeden Fall aus dem Osten.

„Wo bekommen Sie diese Hefte denn her?“

„Es gi bt einen Großhandel für so was, wie für alles andere auch.“

„Ja, natürlich“, der Mann nickte, „dies ist ja ein freies Land …“

„Wenn Sie das so sehen wollen.“

Der Mann ging Pakula nun wirklich auf die Nerven. Entweder wollte er tatsächlich etwas kaufen oder er suchte nur eine billige Art, sich die Zeit mit dummem Gerede zu vertreiben. Er könnte ein Rumäne sein, so wie er aussieht, auch mit dieser Aussprache. Dennoch, er spricht sehr gut Deutsch, aber was will er ausgerechnet von mir?

„Wenn man drucken kann, was man will, dann ist das doch Freiheit, oder?“

„Ja, sicher“, antwortete Pakula zerstreut.

„Hübsche Bilder.“ Er fuhr mit dem Zeigefinger über ein Heft.

Pakula hatte plötzlich das Bedürfnis, eine Zigarette zu rauchen. Er ging um die Theke herum, hinter der sich eine Türöffnung zu dem kleinen Hinterraum befand. Die Öffnung war mit einem Vorhang aus bunten Plastikbändern verhängt. Im hinteren Raum standen nur ein Tisch, zwei Stühle und ein Schränkchen. Außerdem gab es dort eine Spüle und eine Toilette.

Pakula nahm eine Zigarette aus der Packung, die auf dem Tisch lag. Dann stellte er sich wieder hinter die Ladentheke.

Sein Kunde betrachtete immer noch gewissenhaft alle ausliegenden Bücher und Hefte. Schließlich klemmte er sich einige davon unter den Arm.

„Na, bei diesen Büchern ist es wohl egal, in welcher Sprache sie geschrieben sind“, bemerkte er grinsend.

So einer kauft doch keine Pornos, dachte Pakula.

In diesem Moment stürzte Tina in den Laden.

„Hallo, Joschi!“

Pakulas Gesicht hellte sich ein wenig auf. Endlich ein normaler Mensch. Tina stand ein paar Meter weiter in einem Hauseingang. Seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, so erschien es ihm. Sie war kräftig gebaut, sah sehr sympathisch aus und war meist fröhlich genug, um selbst Pakula mit ihrer guten Laune anzustecken.

Sie erzählte ihm irgendetwas aus irgendeiner Zeitung, das er gar nicht richtig registrierte. Dankbar war er ihr aber dafür, dass ihre Gegenwart offensichtlich den Mann vertrieb. Nachdem er einen Stapel Heftchen mit zwei Hundertmarkscheinen bezahlt hatte, verschwand er endlich.

„Huh, was war das denn für einer?“, rief Tina.

„Der hat ja wohl einen Nachholbedarf. Vielleicht sollte ich ihn auf mich aufmerksam machen.“ Sie zwinkerte anzüglich.

„Red doch keinen Unsinn.“

„Na, du bist ja wieder schlecht gelaunt. Da hast du eben ein großes Geschäft gemacht und schon muffelst du wieder. Das ist die katholische Erziehung, mein Lieber, du hast Gewissensbisse. Ach, was wird wohl der Papst dazu sagen?“ Sie machte eine weit ausholende Geste, klatschte die Hände zusammen, als wolle sie beten, wobei sie mädchenhaft mit den Augen blinzelte. „Du gehst mir auf die Nerven“, sagte Pakula und dachte gleichzeitig, dass er ungerecht war.

„Du bist depressiv. Alle polnischen Männer sind depressiv. Und katholisch.“

„Ich bin nicht katholisch. Außerdem kennst du gar nicht so viele Polen.“

„So, so, du vergisst aber, dass ich einen sehr sozialen Beruf ausübe!“

Sie tat eingeschnappt. „Außerdem ist der Papst auch ein Pole, und den kennt doch jeder.“

„Und was war das eben für einer?“, fragte Pakula.

„Diese hässliche, triebhafte Figur eben?“ Tina rümpfte die Nase. „Also, ein Pole war das nicht. Er hatte keinen Schnurrbart und katholisch sah er auch nicht aus. Eher wie ein Gangster. Bestimmt ein Rumäne. Gibt es in Rumänien Gangster?“ Dann lachte sie und legte ihm eine Hand auf den Arm. „Aber Joschi, seit wann interessierst du dich denn für Männer? Also so was!“

Sie tat entrüstet.

Pakula war völlig humorlos.

„Ein Rumäne, meinst du? Ich habe nie etwas mit Rumänen zu tun gehabt. Was will er denn mit den ganzen Heften? Das ist doch nicht normal.“

„Woher willst du denn wissen, was normal ist? Bespitzelst du jetzt neuerdings deine Kunden?“

„Musst du mich denn unbedingt ärgern?“

„Nur zu deinem Besten. Wenn du mich nicht hättest, würdest du doch fast alles falsch machen und den Rest vergessen. Und das Lachen hättest du auch verlernt. Ach, Joschi, Joschi, sieh doch selbst!“ Sie deutete auf die Ladentür. „Du hast sogar vergessen zu schließen, dabei ist es beinahe sieben. Du wirst noch ins Gefängnis wandern, wenn du so weitermachst. Wir haben hier strenge Gesetze.“

Natürlich sollte der Laden längst geschlossen sein! Pakula riss sich von seinen Gedanken los und holte den Schlüssel aus seiner Hosentasche. „Warte, lass mich erst raus“, sagte Tina, „Moment noch.“

Sie zog sich ihr prall gefülltes Kleid zurecht, schob das knappe Pelzjäckchen über die üppige Brust und stolzierte nach draußen. Pakula schloss die Tür hinter ihr ab und machte die Tagesabrechnung. Aber seine Gedanken kreisten immer wieder um seinen letzten Kunden. In all den Jahren, seit er sich in Hamburg eine neue, wenn auch bescheidene Existenz aufgebaut hatte, hatte ihn noch nie ein solches Gefühl der Unsicherheit gequält. Dabei war es völlig unbegründet. Kein Mensch konnte irgendetwas von ihm wollen. Er war ein Niemand. Der einstige polnische Journalist, der mittelmäßige Auslandsreporter, der Jäger nach Informationen, war längst im Ruhestand. Er besaß nichts mehr, was ihn für irgendjemanden interessant machen konnte, nur einen schlechtgehenden Buchladen und eine Vergangenheit, an die er sich nicht mehr erinnern wollte. Dass er sich zwangsweise hier in Deutschland hatte einnisten müssen, war ihm inzwischen fast egal. Außerdem war er nie ein großer Patriot gewesen. Das hatte man ihm natürlich vorgeworfen. Aber mein Gott, nach all den Jahren. Er besaß einen deutschen Fremdenpass. Damit würde er zwar nie in sein Heimatland zurückfahren können, aber das war ohnehin nicht mehr wichtig, er kannte sowieso niemanden mehr dort. Gelegentliche sentimentale Anfälle unterdrückte er meist mehr oder weniger erfolgreich. Also was sollte das alles?, dachte er. Warum diese trüben Gedanken? Und seit wann bin ich so ein verdammter Angsthase geworden? Na, Schwamm drüber, es war eben ein schlechter Tag.

3

Am nächsten Abend um die gleiche Zeit kam der fremde Besucher wieder.

Pakula saß hinter der Ladentheke und war müde. Ausgerechnet freitags kurz vor Feierabend füllte sich sein Laden. Als wäre es ein Naturgesetz. Und natürlich waren es immer besonders anstrengende Kunden. Oder bin ich schon wieder ungerecht? Ich werde zum Menschenfeind, dachte er. Die meiste Zeit hatte ihm sein Laden bisher Spaß gemacht. Es Spaß zu nennen, war vielleicht übertrieben, aber die drei Jahre, die er den Laden jetzt besaß, war er eigentlich zufrieden mit seinem Schicksal gewesen. Auch gegen seine Kunden hatte er nichts einzuwenden gehabt. Nun gut, viele waren etwas seltsam, aber sie waren auch nicht langweilig. Außerdem musste man ihnen nichts vorlügen. Je gehobener der Lebensstandard, umso mehr erwarten die Leute, dass man ihnen etwas vorlügt. Sie wollen ihrer äußeren Erscheinungsform gemäß behandelt werden, auch wenn es darunter modert. Früher hatte Pakula genug Gelegenheit gehabt, diesen Moder zu riechen. Seinen Kunden sah man an, dass sie wussten, dass er ihnen nicht alles glauben würde, und dass auch sonst niemand wirklich ehrlich war – sie akzeptierten es notgedrungen. Pakula fand das in Ordnung.

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