Blutsonntag - Robert Brack - E-Book

Blutsonntag E-Book

Robert Brack

4,4

Beschreibung

Am sogenannten Altonaer Blutsonntag kam es 1932 bei einem großen Aufmarsch der SA und SS durch das traditionell rote Altona bei Hamburg zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit 18 Toten. Klara Schindler, selbstbewusste Reporterin und Kommunistin, deckt mithilfe eines verkrachten Kabarettisten, eines Straßenmädchens, eines Meisterdiebs und gegen die abwiegelnde Haltung ihrer eigenen Partei die Vertuschungen der Polizei auf und entschließt sich, ein Zeichen des Widerstands gegen den aufkommenden Nazismus zu setzen.

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Titel

Robert Brack
BLUTSONNTAG
Roman
Edition Nautilus

Impressum

Edition Nautilus

Verlag Lutz Schulenburg

Schützenstraße 49a

D-22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus 2010

Originalveröffentlichung

Erstausgabe Juni 2010

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

Autorenfoto Seite 2:

Charlotte Gutberlet

Druck und Bindung:

Fuldaer Verlagsanstalt

1. Auflage

Print: ISBN 978-3-89401-728-6

eBook: ISBN 978-3-86438-023-5 (ePub)

ISBN 978-3-86438-024-2 (PDF)

Roman

»Wessen Straße ist die Straße,

wessen Welt ist die Welt?«

(Solidaritätslied, aus dem Film »Kuhle Wampe«)

Mein Name ist Klara Schindler. Ich werde einen Menschen töten. Vorsätzlich, aber nicht aus niederen Beweggründen, es ist meine Pflicht … Geht das so? … Wenn ich jetzt zurückspule, kann ich mich dann hören?

Mein Name ist Klara Schindler. Ich werde einen Menschen töten …

Tatsächlich … aber es klingt eigenartig. Ist das wirklich meine Stimme?

Tatsächlich … aber es klingt eigenartig. Ist das wirklich meine Stimme?

Stopp! Ich fange noch mal von vorne an.

Mein Name ist Klara Schindler, ich werde einen Menschen töten, vorsätzlich, aber nicht aus niederen Beweggründen. Ich habe sehr genau darüber nachgedacht. Ich weiß, dass ich es nicht tun darf … ich weiß, dass ich es tun muss. Es herrscht Krieg in unserem Land, der Krieg der Klassen. Oder, anders ausgedrückt: Bürgerkrieg. Ich nehme teil an diesem Krieg. Wir alle nehmen teil, wir sind gezwungen, wir gehören dazu, es ist unser Kampf …

Was rede ich da? Stimmt das denn? Es ist doch … mein Kampf, und ich stehe allein. Im Krieg gibt es eine Armee, Kommandanten, Soldaten bekommen Befehle und führen sie aus. Ich habe keinen Befehl bekommen für das, was ich tun werde.

Es ist falsch, jemanden eigenmächtig zu töten. Aber noch falscher ist es, einen Verbrecher ziehen zu lassen. Wie viele wird er noch umbringen? Seine Opfer sind die, die zu mir gehören. Ich darf sie nicht ungesühnt lassen.

Was ich mir anmaße? Ich bin keine Richterin, ich bin nur Mensch … ist das nicht genug?

Er hat keine Richter, im Gegenteil. Die ihn anklagen und verurteilen sollten, stehen auf seiner Seite. Haben sie ihn nicht eigentlich sogar geschickt …

»Nicht eigentlich sogar«? Was sprichst du für ein schauderhaftes Deutsch, Klara? Das muss weggelöscht werden … egal, es wird ohnehin alles abgeschrieben, oder?

Ich spiele mich nicht als Richterin auf, sondern urteile als Mensch. Es geht darum, Schlimmeres zu verhüten. Jeden Tag kann er aufs Neue losgehen und ungestraft Unschuldige erschießen … ein Bluthund, auf Frauen, Männer und Kinder gehetzt von den Kräften der Reaktion …

Nein, so wollte ich nicht reden, ich wollte eigene Worte finden … aber »Bluthund« passt … Wie soll ich ihn sonst nennen: »den Leutnant«? … Das ist das Gleiche, sieh sie dir doch an, die Leutnants und Hauptmänner und Feldwebel … in ihren Gesichtern kannst du den abgerichteten Hund erkennen … Klara, du schweifst ab, du wirst das alles weglöschen und noch einmal von vorn beginnen!

Klarheit und Wahrheit, das war einmal deine Devise … was ist davon geblieben?

Weglöschen.

Nur dies noch, eine Erklärung: Ich stehe ein für meine Tat. Im Gegensatz zu vielen von euch werde ich keine Ausflüchte suchen und keine Schuld abwälzen, die Schuld niemandem aufladen, es ist allein meine Entscheidung. Ich werde noch darüber reden müssen, wie sie zustande kam, aber ja, es …

Was nun? Ich werde es erst einmal nicht löschen, auch wenn es als Erklärung wenig taugt. Später … vielleicht … einstweilen … ein Durcheinander … Es ist nur ein Anfang … Ehrlich gesagt, Klara, sind es nur Worte. Und Worte taugen nichts mehr in dieser Welt, haben eigentlich nie etwas getaugt.

Am Anfang war die Tat, sonst wäre gar nichts …

Rote Flecken, schwarze Schlieren, ein Durchschlag, der leider wirklich durchgeschlagen war und Löcher in den dünnen Blättern hinterließ. Miserables Papier, das die Partei aus der Sowjetunion importiert hatte.

Was waren sie stolz gewesen, als sie eine Brigade in den Hafen zum russischen Frachter »Iskra« schicken konnten, um die Papierballen für die Rotationsmaschinen der »Graphischen Industrie« zu entladen. Freiwillige Sonntagsarbeit. Leider bestand die Hälfte des Papiers aus schlecht gelagerten Schreibmaschinenbögen, die, wenn man den vergilbten Zetteln auf den Kisten Glauben schenken durfte, noch zur Zeit des Zaren aus Schweden nach Petrograd geliefert worden waren. Von dort hatten sie den Weg in den Laderaum der »Iskra« und in die Druckerei am Valentinskamp gefunden, wo man mit den vielen, nicht angekündigten Packen Schreibmaschinenbögen nichts anfangen konnte. Also wurden sie in die Redaktion der Hamburger Volkszeitung geschafft und stapelten sich nun in einem Kabuff am Ende des Flurs bis unter die Decke.

Das Papier war leicht vergilbt und brüchig. Klara hatte sich darüber beschwert. Das war nicht gut angekommen. Ihr Redakteur verbot ihr, die Qualität des Produkts aus dem Arbeiterstaat anzuzweifeln. Sie sei selbst schuld, witzelte er, ohne auch nur im Entferntesten zu lächeln: Eine Schreibmaschine mit dem Namen »Torpedo« sei nun mal eine durchschlagende Waffe.

Die anderen hatten gelacht. Dieselben Männer, die sich jetzt erhoben wie auf ein Kommando, was erstaunlich war, denn niemand hatte ein Wort gesprochen. Oder hatte sie es nur nicht mitbekommen? Klara schaute von ihren mit schwarzer und roter Tinte verschmierten Händen auf. Das Farbband klemmte. Redakteure und Volontäre griffen nach den Jacken. Der eine oder andere zog ein Eisenrohr aus einer Schublade und steckte es sich in den Ärmel.

»Was ist los?«

Sie waren schon auf dem Weg zur Tür. Klara hielt Alfred, den schlaksigen Redaktionsnovizen, am Ärmel fest: »Wo wollt ihr denn hin?«

»Weißt du’s nicht?«, fragte er verlegen und schaute den anderen hinterher, die aus der Tür drängten. »Wir sollen mit den Druckern und den Auslieferern zur ›Kugel‹.«

»Wird was gefeiert?«

»Nazi-Versammlung.«

»In der ›Kugel‹? Das ist doch unser Lokal.«

»Eben. Fietje ist raus, heißt es, und der neue Besitzer ist Nazi. Deshalb.« Alfred riss sich los. »Kaufmann spricht dort in der Diele.«

»Aha.« Die Diele war der Festsaal des Bierlokals »Zur Kugel«. Über tausend Personen passten hinein. Wenn der NS-Gauleiter auftrat, würden viele kommen. Das Lokal lag bei Kugels Ort an der Wexstraße und damit strategisch günstig für Ausfälle ins Gängeviertel. Wenn sich die Nazis dort festsetzten, war das eine Provokation, denn in dieser Gegend hatte die Kommune das Sagen, und das sollte auch so bleiben.

Klara ließ das Farbband fallen und sprang auf. »Ich komm mit«, sagte sie, mehr zu sich selbst, denn die anderen trampelten schon durchs Treppenhaus. Sie schlüpfte in ihr Jackett, setzte die Schiebermütze auf die wirren dunklen Locken und rannte hinterher.

Die kämpferisch gesinnten Männer, die sich im Innenhof des Verlagshauses versammelten, wirkten orientierungslos. Viele hatten Jacken an, obwohl es ein warmer Sommerabend war. Wegen der Eisenrohre und mit Sand gefüllten Lederbeutel, die man ja irgendwo unsichtbar verstauen musste, trug man im August 1932 in Hamburg mitunter Kleidungsstücke, die in der Hitze wenig angebracht schienen.

Klara stellte sich dazu. Einige Frauen in Kitteln, mit Eimern, Schrubbern und Besen in den Händen, standen neugierig am Rand. Der Redakteur schaute den Lithografen an, der dem Schriftsetzer einen fragenden Blick zuwarf. Wer sollte führen?

Die Frage beantwortete sich von selbst, als ein Fahrer durch die Toreinfahrt kam, Zigarette im Mundwinkel, und noch während er sich die Hemdsärmel hochkrempelte, rief: »Was steht ihr da wie die Ölgötzen, es geht los!«

Auf einen wie ihn schienen alle gewartet zu haben. Von ihm wusste man, er hatte gelobt, »stets und immer ein Soldat der Revolution zu bleiben«, er musste führen.

War da die Andeutung eines verächtlichen Grinsens in seinem Gesicht, als er die Kampfkraft seiner Intelligenzler-Truppe abschätzte? Vor Klara blieb er abrupt stehen und zupfte an ihrem Jackett.

»Was soll das hier?« Die Zigarette klebte an seiner trockenen Unterlippe.

»Ich komme mit«, sagte Klara.

»Unsinn«, sagte er. »Keine Frauen.« Mit seinen breiten Händen schob er ihre Revers zur Seite. Die oberen Knöpfe ihres Hemds waren geöffnet. »Oder was das sein soll.« Damit schloss er grinsend ihre Jacke. Sein Blick glitt nach unten: »Hosenträgerin.« Dann ging er weiter. Die Männer feixten.

»Ich komme trotzdem mit«, sagte Klara.

»Das wird kein Kaffeekränzchen!«, rief der Rotfrontkämpfer in die Runde und gab mit der Faust das Zeichen, ihm zu folgen.

Klara setzte sich mit dem Trupp in Bewegung. Ein grobschlächtiger Drucker ließ lässig das Eisenrohr aus dem Ärmel gleiten und hielt es ihr hin: »Hier, um deine Jungfräulichkeit zu schützen.«

»Danke«, sagte Klara knapp und nahm das Rohr entgegen. Um sie herum männliches Gelächter.

Alfred tauchte neben ihr auf. Schweigend gingen sie im Gleichschritt durch Gassen mit roten Transparenten. Kurz vor der Wexstraße fragte Klara: »Was soll’s denn werden? Hat jemand einen Plan?«

»Besprechung war gestern«, sagte Alfred, offensichtlich froh, ihr etwas mitteilen zu können. »Zuerst Gegenrede, dann Sprengen, dann Polizei und der Spuk ist beendet.«

»Na, neu ist das nicht«, sagte Klara. »Auf diese Weise treten wir schon lange auf der Stelle … und nächste Woche das gleiche Spiel von vorn.«

Alfred schaute sie verständnislos an. »Das werden sie nicht wagen.«

Klara zündete sich eine Zigarette an und warf das brennende Streichholz weg. »Du rauchst nicht, oder?«

»Nein.«

»Dachte ich mir.«

Klara stieß genüsslich den Rauch aus der Nase und deutete über die Straße, an der sie jetzt angelangt waren, auf die Gaststätte »Zur Kugel«, über deren Eingang die Hakenkreuzfahne hing. Weiter rechts, neben dem Tor zum Festsaal, standen Posten in braunen Hemden.

»Da, die Pest breitet sich aus.«

Der Rotfrontkämpfer hatte unterwegs Instruktionen erteilt. Die Kommunisten würden in kleinen Gruppen nach und nach den Festsaal betreten und sich unauffällig verteilen. Wer würde die Gegenrede halten? Alfred wusste, wie es geplant war: Der Rotfrontkämpfer war Stratege und als solcher genug beschäftigt, außerdem ohnehin kein Mann großer Worte. Also hatte man den Redakteur bestimmt. Er würde sich nach der Rede von Gauleiter Kaufmann auf die obligatorische Frage der Nazis, ob jemand aus dem gegnerischen politischen Lager etwas dazu vorzubringen hätte, melden und aufs Podium steigen. Dort oben würde er den Ober-Nazi als dümmlichen Schergen der Bourgeoisie entlarven, als Lügner, der die Arbeiter betrügt, weil er im Sold des Großkapitals steht, und schließlich mit dem Aufruf an die versammelten Proleten enden, sich den Kommunisten als einzig wahrhaftiger Kampfpartei für eine gerechte Zukunft anzuschließen. Dann würden die Nazis stänkern, die Kommunisten im Publikum dagegenbrüllen, eine Rangelei sich ergeben, und noch bevor eine Saalschlacht entstehen konnte, würden alle Kommunisten auf Kommando des Rotfrontkämpfers durch bekannte Notausgänge – man hatte hier schon oft eigene Versammlungen durchgeführt – verschwinden und das Feld der alarmierten Polizei überlassen, die die Nazis dann bitte aus der »Kugel«, am liebsten von der Erdkugel, prügeln sollte …

Soweit der Plan. Nur kam es anders. Der Rotfrontkämpfer brüllte um Gehör, als es soweit war, und deutete auf den Redakteur. Der aber zitterte wie Espenlaub und war, umringt von Braunhemden und angesichts der schwarz Uniformierten seitlich der Bühne, kaum mehr fähig, sich zu bewegen. Er hatte seine Leibwächter verloren, die wie in alten Zeiten kurz zum Tresen gegangen waren, um sich mit Bier zu versorgen. Bleich und gelähmt stand der angekündigte Redner inmitten der höhnisch grinsenden Nazihorde – bis ihm einer einen Krug Bier über den Kopf goss und alle um ihn herum in brüllendes Gelächter ausbrachen.

Jetzt hätte man losschlagen müssen, aber der Rotfrontkämpfer, der von einigen SA-Männern identifiziert worden war, lag schon bewusstlos unter einem Tisch. Ihm hatte man kein Bier, sondern den Krug selbst über den Schädel gegeben.

Ohne nachzudenken, sprang Klara auf das Podium und fing an zu reden. Es gab eine Mikrofonanlage, man konnte sie sehr gut verstehen. Man konnte auch sehen, dass sie eine Frau war, denn sie hatte ihr Jackett um die Hüften gebunden.

Sie hielt eine flammende Rede gegen die Unmenschlichkeit, die Dummheit und die Verlogenheit des Nationalsozialismus, appellierte an den gesunden Menschenverstand all jener, die sich noch als Menschen verstünden und nicht als Tiere, die unter der Knute von braun und schwarz uniformierten Maschinenmenschen in einem zum Volkszuchthaus umfunktionierten Staat gehalten und bis zum letzten Blutstropfen zum Segen der Großbourgeoisie vergewaltigt werden sollten.

Es war eine großartige Rede, frei gesprochen, wütend, selbstbewusst und tausendmal aufwühlender als alle fahlen Protokolle aus der Feder von Teddi Thälmann, aber bis auf Alfred hörte niemand zu. Er stand in einer Ecke neben der Bühne und blickte fasziniert zu ihr hoch, während um ihn herum die Saalschlacht tobte.

Ein SA-Mann nahm ihr schließlich das Mikrofon weg. Sie redete weiter. Einer von Kaufmanns SS-Leibgarde packte sie, legte ihr seine Pranke über den Mund und zerrte sie nach hinten ins Dunkel der Bühne.

Den schmächtigen Alfred hatte bisher niemand ernst genommen. Unbehelligt stieg er die Stufen zur Bühne hoch und ging direkt an dem hochnäsig dreinblickenden Kaufmann und seinen Beschützern vorbei. Er entdeckte Klara in einer Ecke, noch immer in der Umklammerung des SS-Schergen, der offenbar Spaß daran fand, ihr Ohrfeigen zu verpassen.

Nur wenige haben die Gabe, ohne nachzudenken zu handeln, sich selbstlos auf den Gegner zu werfen, den Überraschungseffekt zu nutzen und zu siegen. Alfred gehörte nicht zu ihnen, er zögerte. Klara warf ihm einen bittenden Blick zu, merkte aber gleich, dass sie auf den bleichen Angsthasen nicht zählen konnte. Das Eisenrohr glitt aus ihrem Hemdsärmel, sie riss sich los, hob die Hand und schmetterte das Rohr gegen die Schläfe ihres Gegners, auf seinen glatt rasierten Schädel und zum letzten Mal direkt über dem Nasenbein ins Gesicht. Verblüfft schaute sie zu, wie der massige Kerl zusammenbrach.

Dann lächelte sie Alfred zu und sagte: »Komm!«

Vor Jahren hatte sie hier mal Theater gespielt, sie kannte den Weg zum Bühneneingang. Noch bevor das Überfallkommando der Polizei anrückte, waren sie draußen und hatten die schützenden Gassen mit den roten Transparenten erreicht. Vor einer Toreinfahrt zwischen schäbigen Mauern, auf denen mit abgeblätterten Buchstaben die Worte »Druckwerkstatt« und »Schuhmacher« standen, blieb Klara stehen und sagte unvermittelt: »Hier wohne ich. Danke fürs Nachhausebringen. Tschüß.« Sie hielt ihm das Eisenrohr hin, das sie noch immer bei sich trug.

Unwillkürlich nahm er es. Es war blutverschmiert. Nazi-Blut. SS-Blut, er blickte es angeekelt an. Klara ließ ihn stehen und ging mit weit ausholenden Schritten in den Hinterhof. Erst als sie die schmale Treppe zu ihrer Wohnung hochstieg, merkte sie, dass ihr Herz raste.

Mein Name ist Klara Schindler, wohnhaft Breiter Gang 12 a, Hinterhof, in Hamburg-Neustadt, ich will Zeugnis ablegen … Nein, das ist so nicht richtig … Es geht darum, Zeugnisse zu sammeln, Beweise zu finden, Zeugenaussagen …

Es geht um Mord. Es ist wichtig, Beweise zu erbringen, die Mörder zu überführen, die Mörder, die …

Es geht … um … die Ereignisse am 17. Juli …

Es geht um die Ereignisse am 17. Juli 1932 in Altona, als die faschistische Mordbande sich erdreistet hat, die Hochburg des Proletariats zu stürmen … Nein, so will ich das nicht sagen, das klingt nach hohler Propaganda … so nicht, sondern … Es geht um …

Es geht um die Wahrheit. Um eine möglichst genaue Darlegung des Geschehens, um das, was passiert ist, von Anfang bis Ende. Meine Meinung ist nicht wichtig, alle sollen zu Wort kommen, die zur Aufklärung beitragen können …

Es muss eine lückenlose Beweisaufnahme geben. Ich werde Zeugen befragen und ihre Aussagen auf diesem Tonaufnahmegerät festhalten. Nicht nur Worte werden aufgeschrieben, sondern die Stimmen der Zeugen werden zu hören sein. Das ist ein Schritt hin zu größerer Wahrhaftigkeit.

Am 17. Juli 1932 fielen SA und SS in die Straßen der Altonaer Arbeiter ein. Es war nicht nur ein Propagandamarsch, sondern der Versuch einer gewaltsamen Eroberung des proletarischen Viertels. Sie wurden zurückgeschlagen, aber sechzehn unschuldige Menschen kamen ums Leben. Wer hat sie umgebracht? Es geht darum, die Mörder zu finden, sie ihrer Taten zu überführen und anzuklagen, die Wahrheit hinauszuschreien in die Welt, damit alle es wissen. Wir müssen Beweise liefern. Ich will dabei helfen.

»Das bringt nichts.«

Die Manuskriptzettel klatschten auf den Schreibtisch. Klara zuckte zusammen, nahm einen Zug von ihrer Zigarette, tippte den Satz zu Ende und schaute auf.

»Was?«

»Es ist ja schön, wenn wir den gemeinsamen Kampf beschwören, aber mit Gedichten werden wir den Klassenfeind nicht besiegen«, sagte der Stellvertreter des Redakteurs, der sich nach den Ereignissen in der »Kugel« krankgemeldet hatte. Der Stellvertreter, ein untersetzter Mann mit Buchhalterbrille und klebrigen Haaren, war der Meinung, dass Politik und Kultur das Gleiche seien und man deshalb auf Kultur im Kulturteil verzichten könne. »Umgekehrt wird ein Schuh draus«, hatte Klara ihm in einer Diskussion darauf geantwortet. Seitdem polemisierte er, so oft er konnte, gegen ihr »kleinbürgerliches Kunstverständnis«.

Sie stieß eine Rauchwolke in die Luft und fragte: »Mit Liedern?«

»Wenn man dazu marschieren kann, sind Lieder sehr nützlich.«

»Es soll auch Musik zum Tanzen aufgespielt werden«, erklärte sie.

»Dieser Einheitsausschuss sollte sich mal lieber dringenderen Fragen zuwenden.«

»Es geht darum, die gemeinsame Front der Antifaschistischen Aktion zu stärken.«

»Indem man Bierseidel schwenkt und auf dem Heiligengeistfeld Karussell fährt?«

»Es soll ein Fest zur Hebung der Moral werden.«

»Beim Walzertanz?«

Klara tippte auf das Manuskript, das er ihr hingeworfen hatte: »Von Walzer steht hier nichts, Genosse. Hier steht, dass es nötig ist, das Trennende zu überwinden, damit die kommunistischen, sozialdemokratischen und sonstigen fortschrittlichen Kräfte einander mehr vertrauen. Weil das wichtig ist, wenn man gemeinsam gegen die Faschisten auftritt. Und Vertrauen, Genosse, vermittelt man den Männern durch Singen und den Frauen beim Tanzen.«

»Vertrauen ist gut …«

Klara nahm ein Blatt und las ab: »Es gibt auch agitatorisches Theater, Satiren gegen die Hitlerbande und einen Trickfilm, in dem das Panzerschiff ›Deutschland‹ in den Panzerkreuzer ›Potemkin‹ umgewandelt wird. Außerdem Gedichte von Arbeitern gegen Krieg, Ausbeutung, Faschismus und zum Lob der Sowjetunion …«, sie hob die Stimme, »… vorgetragen von proletarischen Pionieren, die ein Jahr lang beim Aufbau der russischen Schwerindustrie mitgeholfen haben.«

»Meinetwegen. Aber nicht in der Ausgabe von morgen. Es kommt in den Roten Stern.« Damit war der Artikel in die illustrierte Beilage abgeschoben.

»Und wir machen eine Montage im Stil von John Heartfield?«, fragte sie ironisch. »Wo soll denn der ganze Text hin?«

»Kürzen«, sagte der Redakteur. Dann warf er ein zweites Manuskript auf den Tisch, diesmal mit deutlich angewidertem Gesichtsausdruck: »Und das hier fliegt ganz raus! Einen größeren Unsinn habe ich noch nie gelesen!«

Klara warf einen Blick auf die von ihrer Torpedo-Schreibmaschine arg gelöcherten, angegilbten Seiten. Es war ihr Artikel mit dem Titel »Im Traum wird geschossen! Die Revolution findet auch im Unterbewusstsein statt«. Er bezog sich auf eine Ausstellung von Bildern und Texten französischer Surrealisten, die in zwei Wochen eröffnet werden sollte, und war nicht für die Volkszeitung geschrieben worden, sondern für den Ausstellungskatalog.

Sie verzog keine Miene. Jemand hatte das Manuskript aus ihrer Schublade genommen. Sie drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und zündete sich eine neue an. Warum tat der Stellvertreter so, als würde er ernsthaft glauben, sie hätte ihn für die Zeitung verfasst?

»Das hier bringen wir am Wochenende.« Er hielt ihr fleckige Blätter hin.

»Hat da jemand sein Wurstbrot drauf gegessen?«, fragte Klara.

»Kaffee.« Er wedelte mit den Zetteln, als könnte man auf diese Weise die Flecken abschütteln. »Das ist die Antwort der Arbeiterschriftsteller auf den bourgeoisen Individualismus der bürgerlichen Autoren im Bund Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller, die keine Ahnung vom wirklichen Leben der Proletarier haben …«

»So wie wir«, warf Klara mehrdeutig ein.

»Genau.« Der Stellvertreter nahm seine Buchhalterbrille ab und deutete damit auf die Zettel, an deren Rändern sehr viele Korrekturen gekritzelt waren. »Das kommt morgen rein. Ich hab Ergänzungen eingefügt und Teile gekürzt. Muss noch mal gesetzt werden. Du kümmerst dich darum. Ich hab jetzt keine Zeit mehr, die russische Delegation …« Er fuhr herum und starrte zur Tür.

Alfred, der Volontär, trat ein, gefolgt von zwei Männern in eigenartig geschnittenen grauen Anzügen. Der eine trug eine Kiste mit Henkel, die sich bei näherem Hinsehen als elektrisches Gerät entpuppte.

Der stellvertretende Redakteur eilte ihnen entgegen, stotterte allerlei Floskeln, und zu Klaras großem Erstaunen begann der schlaksige Alfred, dem man bestenfalls Souveränität in der Teeküche zugetraut hätte, seine Worte ins Russische zu übersetzen, und zwar so, dass die Genossen aus der Sowjetunion sich auch noch herzlich amüsierten.

Der Stellvertreter rückte irritiert seine Brille zurecht. Der Russe mit dem Gerät begann mit einer weitschweifigen Erklärung und hob es immer wieder an, als würde er sich darauf beziehen.

»Wir sind weniger eine politische als eine technische Delegation …«, begann Alfred seine Übersetzung und kam dann auf die Geschichte eines bekannten innovativen Technik-Betriebs in Moskau zu sprechen, wo man sich der Entwicklung neuartiger elektrischer Geräte widmete und dank vorbildlicher Arbeitskräfte längst dabei sei, den Erfindungsgeist der kapitalistischen Forscher zu überbieten. Alfred geriet nach einiger Zeit ins Schwitzen, als das wortreiche Eigenlob nicht enden wollte. Der Stellvertreter trat ungeduldig von einem Bein aufs andere.

Klara nutzte die Gelegenheit, um ihr Katalog-Manuskript in der Schublade verschwinden zu lassen.

Endlich deutete der Russe auf einen freien Tisch, die beiden Sowjet-Techniker setzten sich in Bewegung und schoben Redakteur und Volontär vor sich her. Dann wurde das Gerät mit einer kraftvollen Geste auf die Tischplatte gehievt.

»Damit haben wir den Kapitalismus im Bereich elektrischer Innovation an vorderster Front überflügelt«, übersetzte Alfred die stolze Bemerkung des Russen.

Klara schob ihren Drehstuhl zurück, stand auf und ging neugierig zu ihnen. Der Russe, der die ganze Zeit geredet hatte, starrte auf ihre rote Krawatte, ihr nachlässig zugeknöpftes Hemd, ihre Hosen und lachte dann vor sich hin.

Sie bot ihm eine Zigarette an und gab ihm Feuer. Sein Lachen wurde herzlicher. Der andere lehnte die Zigarette ab und hielt seine Hände mit gespreizten Fingern über das Gerät auf dem ramponierten Tisch, als wollte er geheime Kräfte beschwören.

Er sagte etwas, der andere ergänzte das Gesagte, und Alfred übersetzte: »Dieses Gerät wird die Arbeit der Journalisten und Reporter, vor allem bei den Rundfunksendern, entscheidend erleichtern und voranbringen.«

»Na ja, Radioapparate … wer hat schon so was … wir machen Zeitungen«, murmelte der Redakteur.

Klara entdeckte einen Schriftzug oben auf dem Kasten: »Магнитофон-1«. Sie verstand kein Russisch, und kyrillische Buchstaben waren ihr ein Rätsel. Sie deutete darauf: »Was heißt das?«

»Magnetofon-1«, übersetzte Alfred, sichtlich stolz, dass er ihr etwas erklären konnte.

»Und was ist das?«

Alfred gab die Frage an die Russen weiter.

»Das ist ein Gerät zur Tonaufnahme.«

»Bah«, machte der Redakteur. »Was sind schon Töne.«

»Man kann alle Arten von Geräuschen aufnehmen«, erklärte Alfred, eifrig weiter übersetzend. »Naturgeräusche, technische Geräusche, die Stadt, die Menschen, Musik, Stimmen …«

Der schweigsame Russe nahm die oberste Klappe des Geräts ab. Zwei runde Spulen, auf die ein braunes Band gewickelt war, kamen zum Vorschein, einige Schalter, Tasten und Knöpfe, eine unklare Anhäufung von offenbar zusammengehörenden technischen Details, durch die das braune Band gefädelt war. Der Russe betätigte einen Schalter. Es knackte laut und das braune Band setzte sich in Bewegung, lief von einer Spule auf die andere, durch das komplizierte Gefädel hindurch. Vorne am Gerät, hinter einem quadratischen Gitter, rauschte und knisterte es, ein leises Kratzen war auch zu hören.

»Na, und?«, fragte der Redakteur ungeduldig.

»Sch-sch«, machte der Russe und hob die Hand. Er zischelte Alfred etwas zu und lachte leise.

»Das sind die Wolken am Himmel von Moskau«, flüsterte Alfred ungläubig.

»Unsinn.« Der Redakteur hob die Schultern.

Das Geräusch eines Lastwagenmotors, der aufheulte und ein schweres Gefährt in Bewegung setzte … er rollte davon … eine Fabriksirene … ein quietschendes Stahltor wurde geöffnet … Füße von Menschen … Stimmen … ein Menschenauflauf … das dumpfe rhythmische Stampfen von Maschinen … gleichmäßig hackendes Klackern und Rascheln … ein unklares flirrendes Dröhnen wie von einem gigantischen Ventilator … Schritte, Türenschlagen, Fußgetrappel in einem hallenden Korridor … Klopfen an eine Tür, ein russischer Ruf, die Tür geht auf, jemand tritt in einen Raum und sagt etwas …

Der schweigsame Russe stellte das Gerät ab, der Wortführer wandte sich an Alfred und fragte in gebrochenem Deutsch: »Hat er … was … gesagt?«

»Zuletzt?«, fragte Alfred. »Äh … der zweijährige Produktionsplan ist übererfüllt, Genosse Fabrikdirektor … so ungefähr.«

Der Russe lachte und klopfte ihm auf die Schulter. Dann fügte er etwas auf Russisch hinzu.

»Das war«, erklärte Alfred, »die Eisenwarenfabrik ›Morgenrot‹ in Moskau.«

Der Redakteur schien unschlüssig, was er darauf antworten sollte.

»Und jetzt«, übersetzte Alfred, »besuchen wir den Genossen Stalin.«

Der Techniker schaltete das Magnetofon wieder ein. Nichts war zu hören, außer Rauschen.

Der Russe sagte etwas und lachte, sein Landsmann grinste. »Das ist wohl erst mal der Genosse Lenin, sprachlos vor Glück in seinem neuen Heim«, übersetzte Alfred tapfer und wurde rot, als er verunsichert aufschaute und direkt in Klaras neugieriges Gesicht blickte. »Er meint wohl das neue Mausoleum«, fügte er nach nervösem Räuspern hinzu.

Jetzt ertönte die kräftige Stimme des Genossen Stalin, dann schmetterte ein Trompetenchor eine Fanfare und anschließend stimmte ein Männerchor die Internationale an. Der Techniker stellte das Gerät wieder ab.

»Was hat er gesagt, der Genosse Stalin?«, fragte der Redakteur.

»In der Sowjetunion gibt es nur zwei Klassen, die Arbeiter und die Bauern, deren Interessen einander nicht nur nicht feindlich gegenüberstehen, sondern im Gegenteil miteinander harmonieren. Folglich gibt es in der Sowjetunion keinen Boden für die Existenz mehrerer Parteien und somit auch keinen Boden für die Freiheit dieser Parteien. In der Sowjetunion kann es nur eine Partei geben, die Partei der Kommunisten …«

»Wahr gesprochen«, sagte der Redakteur. »Warum hat er das für uns da draufgesprochen?«

»Ich glaube«, merkte Alfred an, »das ist nur ein Tonbeispiel.«

Klara hatte schon wieder eine neue Zigarette im Mund und blies den Rauch über den Tisch. Die Packung warf sie dem Russen hin, der sich dankend bediente.

Alfred stellte dem Russen eine Frage und übersetzte die Antwort: »Das Gerät soll auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin präsentiert werden. Aber es gibt Probleme. Eine große Firma in Berlin arbeitet an der Entwicklung eines ähnlichen Modells. Sie haben einen unserer Ingenieure bestochen, der ihnen Betriebsgeheimnisse übergeben hat. Der Mann sitzt jetzt im Gefängnis. Aber die große Firma in Berlin hat Einfluss auf die Funkausstellung. Es ist uns verboten teilzunehmen. Nun sind wir auf die Presse angewiesen. Alle sollen wissen, dass es unsere Erfindung ist, wir sind die Pioniere des Magnetofons. Es muss im ganzen Deutschen Reich und dann auf der ganzen Welt bekannt gegeben werden.« »Und ich dachte schon, wir sollten es benutzen«, brummte der Redakteur.

»Welche große Firma in Berlin?«, fragte Klara.

»All-gemei-ne-Elektricität-Ge-sell-schaft«, radebrechte der Russe.

»Mit denen wollt ihr euch anlegen?«

»Schwierig«, sagte der Russe. »Deshalb … sind wir … gekommen hier.«

»Wir können doch keinen Generalstreik anzetteln, wegen so einem Ding«, sagte der Redakteur desinteressiert.

Der Russe redete auf Alfred ein, der dann erklärte: »Es geht um Überzeugung durch Technik, gute Technik, und Gerechtigkeit für die Erfinder, die Ingenieure, die russischen Arbeiter.«

»Ich bin nur der Stellvertreter, ich weiß nicht, ob das in unser Ressort passt. Das muss der Redakteur entscheiden. Ist das nicht eher was für die AIZ in Berlin?«

»Die machen was«, übersetzte Alfred.

»Na dann … was sollen wir dann noch …«

Klara, die mit verschränkten Armen dagestanden hatte, fragte: »Darf ich das Ding ausprobieren?«

»Mach erst mal den Artikel fertig«, sagte der Stellvertreter. »Danach.«

»Von mir aus … Ja, mach das … ich lass euch dann … Ich komm später noch mal rein. Wegen des Artikels, Klara!«

Damit ging der Stellvertreter, und Alfred beeilte sich, die Russen wortreich davon zu überzeugen, dass diese kettenrauchende Frau in Männerkleidern sich für ihre technische Errungenschaft brennend interessierte.

Der russische Techniker zog die Jacke aus und krempelte die Ärmel hoch. Sein Kollege setzte sich auf einen Stuhl, zog einen zweiten für die Füße heran, machte es sich bequem und schloss die Augen.

Alfred versuchte, die technischen Einzelheiten auf Deutsch zu erklären: »Es gibt zwei Motoren, einen für das Vorspulen, einen für das Zurückspulen. Der für das Vorspulen hat zwei Geschwindigkeiten, die langsame ist für Aufnahme und Wiedergabe gedacht, dann muss der Tonkopf an das Band gelegt werden … Das hier sind die Hebel für vor und zurück, hiermit drückst du den Tonkopf ran … hier für die Wiedergabe … Vorsicht, wenn beide Motoren zugleich eingeschaltet sind, reißt das Band … Das Magnetband ist fünf Millimeter breit und sehr dünn, es läuft mit einer Geschwindigkeit von achtzig Zentimetern pro Sekunde. Bei einer Bandlänge von 140 000 Zentimetern bedeutet das, eine Spule reicht für ungefähr 29 Minuten … wir haben mehrere Ersatzspulen dabei …«

»Und hier noch …«, beendete der Russe seine Ausführungen, »… das Besondere für dich, Genossin Reporterin … du willst das Gerät doch nach draußen tragen …«

»Warum?«, fragte Klara.

»Weil du Reporterin bist … da drin sitzt ein Akkumulator … den kannst du rausnehmen und mit einer Steckdose verbinden, um ihn zu laden … damit hast du immer und überall Strom … ein Ersatzteil haben wir auch noch dabei … und schon kannst du losgehen und Aufnahmen für den Rundfunk machen.«

»Wir sind hier aber bei einer Zeitung«, sagte Klara.

Der Techniker zuckte mit den Schultern.

»Aber wie kommt der Ton denn auf das Band drauf?«

Der Russe, der es sich auf den beiden Stühlen bequem gemacht hatte, sagte etwas, und der Techniker sprang auf.

»Er sagt, er hat das Mikrofon vergessen«, erklärte Alfred.

Der Techniker verließ den Raum und kam kurz darauf mit einer großen Ledertasche zurück. Daraus kramte er ein Ding hervor, das wie ein halber Telefonhörer aussah.

»Es funktioniert auch wie beim Telefon«, sagte Alfred, nachdem der Techniker ein Kabel in eine Buchse des Geräts gesteckt hatte. Dann hielt der Russe Klara das Mikrofon vors Gesicht und forderte sie auf: »Sag was!«

Sie nahm ihm das Gerät ab, schaute es kurz unschlüssig an und deklamierte: »›Ordnung herrscht in Berlin!‹ Ihr stumpfen Schergen! Eure ›Ordnung‹ ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon ›rasselnd wieder in die Höh’ richten‹ und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!«

Alfred blickte sie erstaunt an.

»Zu laut«, kommentierte der vor sich hin dösende Russe. Der Techniker spulte zurück und ließ das Band laufen. Klaras verzerrte Stimme klang schrill und mechanisch.

(Altona, Bahnhofshalle)

Was soll das sein? Aha. Und das? Zum Reinsprechen? Nein, ich fasse es nicht an, schon gut. Und was nun?

Aber ich habe doch schon was gesagt … Noch mal? Also schön. Ich stehe hier jeden Werktag mit meinem Besen. Manchmal auch am Wochenende, dann habe ich unter der Woche frei. Kommt also auch mal sonntags vor. Dreck fällt immer an in einem Bahnhof, und am Wochenende schmeißen die Leute noch mal so viel weg. Das ist hier nicht anders als sonstwo in der Welt.

Lohnt sich übrigens nicht, die ganze Plackerei. Für mich, meine ich. Bin ja vom FAD abgestellt worden. FAD, wissen Sie? Freiwilliger Arbeitsdienst, wobei freiwillig … na ja …

Ich sag das nur, weil Sie einen Anzug tragen und vielleicht nicht Bescheid wissen … andererseits auch wieder komisch, der Anzug, meine ich, aber das geht mich ja nichts an.

Ja, an diesem Sonntag war ich auch hier. Siebzehnter Juli. Wir waren als Sonderschicht eingesetzt. Die wussten ja Bescheid, es war seit Tagen bekannt, dass was los sein würde. Ich hatte die ganze Woche schon Staub aufgewirbelt, aber dann hieß es Werbemarsch, Kundschaft von außerhalb, Sonderzüge … wir sagen übrigens immer Kundschaft zu den Leuten, die hier durchkommen, obwohl es gar nicht richtig passt. Andererseits sind wir ja für diese Leute tätig, auch wenn die uns gar nicht wahrnehmen …

Entschuldigung, ich wollte nicht ins Schnacken kommen, das passiert mir halt so. Sie wollen es lieber kurz und knapp haben, ich verstehe schon. Also, die Teilnehmer von diesem Werbemarsch kamen teilweise mit den regulären Zügen, teilweise mit Sonderzügen. Gegen Mittag kamen die an. Da hat die Reichsbahn gut dran verdient, wenn Sie mich fragen, und das nicht zum ersten Mal. Das wussten die in der Bahnhofsgaststätte auch, die haben in doppelter Besetzung hinterm Tresen gestanden, Sonderschicht genau wie bei uns. Wir haben sozusagen zusammengearbeitet. Die haben die Bierflaschen ausgeteilt, wir haben die Scherben aufgefegt.

Getrunken wird ja immer viel bei diesen Werbeaufzügen. Marschieren macht durstig, und wenn man dabei singt, kriegt man erst recht einen Brand. Kenn ich noch von meiner Soldatenzeit. Ich war in Flandern dabei. Bin verwundet worden, deswegen hinke ich noch ein bisschen … Aber das wollen Sie gar nicht wissen …

Also die sind dann rausmarschiert Richtung Rathaus, Platz der Republik. Da waren Sammelpunkte eingerichtet, auf der Palmaille auch. Waren ganze Horden, die hier durchkamen, die meisten in braunen Uniformen. Nur die Mädels trugen fesche Sommerkleider. Die Damen waren fröhlich und tranken Brause, die Herren stemmten das Bier und sangen ihre Lieder. Aber lange haben sie sich hier nicht aufgehalten, dafür hat die Polizei gesorgt. Die sollten raus. Umzug unter freiem Himmel, auch wenn es geregnet hat ab und zu. Und immer wieder kam ein neuer Schwung rein.

Welche Züge? Sie meinen, woher die kamen? Von überall: Itzehoe, Bramstedt, Rendsburg, Neumünster, Heide, überhaupt ziemlich viele aus Dithmarschen. Eine Menge Bauern, so wie die aussahen.

Wie viele das waren? Das ging in die Hunderte. Tausende wohl eher. Eine Zeit lang dachte ich, das hört gar nicht auf. An Fegen war nicht zu denken. Nachher dann natürlich umso mehr.

Wo wir gerade vom Fegen sprechen … ich müsste dann mal weitermachen …

Bitte, gern geschehen.

Haben Sie jetzt meine Stimme da drin? Und wie holen Sie die wieder raus?

Wie ein Radio? Ach so. Können mich dann alle hören? Nein? Na, ist wohl auch besser so.

Die Miete war längst fällig. Auch für die schlimmste Bruchbude musste gezahlt werden, und wenn es nur ein mickriges Fachwerkhaus im Hinterhof zwischen den Gängen war. Vermieter sind unerbittlich, eine Schande, dass es kein Volkseigentum beim Grundbesitz gibt. Auch das muss sich bald ändern. Immerhin, wenn man eine Anstellung hatte, und sei es auch nur eine schlecht bezahlte als gerade noch geduldeter Querkopf bei der Volkszeitung, konnte man sich eine eigene Wohnung leisten. Ein Zimmer für sich allein, sogar mit Küche, und bislang war noch nicht die Notwendigkeit aufgetreten, einen Schlafgänger mit reinzunehmen. Eine Schlafgängerin natürlich.

Klara nahm die Kippe aus dem Mund und schnippte sie auf die Straße.

Warum so verkniffen, dachte sie, du machst einen Spaziergang. Gehst mal eben kurz zum Ende des Regenbogens und holst dir deinen Topf mit Gold ab. Haha. Woher kenne ich dieses dumme Märchen eigentlich? Kein Regenbogen, kein Topf, kein Gold, mit Glück ein paar knittrige Scheine, die du dem Plünnenhöker im Nebenhaus hinblättern musst, der genauso schäbig ist wie das Zeug, mit dem er handelt. Und warum macht er das überhaupt, wo er doch mit seinem geerbten Hinterhaus den Leuten das Geld aus den Taschen zieht?

Sie warf dem neben ihr aufragenden Kirchturm einen abfälligen Blick zu. Sankt Michaelis hockt da und nimmt Platz weg. Steht genau zwischen dir und der Bezirksstelle der Hamburger Sparcasse am Schaarmarkt. Da musst du hin. Geld holen.

Also rum um den Michel! Hier unten war es schöner zu wohnen gewesen als jetzt drüben im Breiten Gang. Am Venusberg, damals tatsächlich mit einer Venus, der blonden Helene, der gar nicht frommen. Zwei kunstseidene Mädchen, geflüchtet aus der stickigen Provinz, Kleinstadt im Nirgendwo, von dem wir nichts mehr wissen wollten. Hier ins Leben eingetaucht und gescheitert an Eitelkeiten und Helenes dummer Idee, sie könnte einer Frau und einem Mann gleichermaßen Frau und Mann sein. Jetzt ist sie am Theater, die Charge meiner frühen Jugend, Femme fatale, Intrigantin, und die Komikerin war ich. Seitdem keine Kunstseidenstrümpfe mehr, keine peinlichen Auftritte auf Amateurbühnen in Hinterzimmern, keine scheinheiligen poetischen Ergüsse, sondern die geballte Faust und harte klare Worte! Nur dass man sich schon manchmal danach sehnt, die Faust zu öffnen und eine seidenweiche Haut zu streicheln.

Herrgott, dass der Michel sich aber auch so breitmachen muss! Wo doch nichts weiter drin ist als der heilige Schein der Pfeffersäcke. Und der heilige Schrein mit den Goldbarren gegen die Inflationsgefahr steht in den Banken … Ha, über diese Assoziation würde Kurt sich freuen, der noch immer nicht genug davon hat, sich als Kabarettist vor satten Bäuchen zum Narren zu machen.

Klara zog die Mütze ins Gesicht und steckte die Hände tief in die Hosentaschen. Es war ein warmer Augusttag. Also kein Jackett, aber selbstverständlich trägt die Dame von heute eine Krawatte zu den aufgekrempelten Ärmeln. Nur ehrlich gesagt, die Mütze auf dem Lockenkopf, das ist zu warm … Jacobstraße, Venusberg, gesenkten Blicks, ohne auf das Straßenbild zu achten … Wieso bin ich denn heute so empfindlich, dachte Klara. Das ist doch alles ewig her, und keiner kennt mich mehr hier. Niemand wird dir den Kopf abreißen, keiner auf dich schießen, kein eifersüchtiger Liebhaber, der seine Sentimentale von der Insel Lesbos zurückholen will …

Jetzt aber doch. Schüsse am Schaarmarkt! Unter den Markisen, die bunt im Sonnenlicht hängen und von der Elbbrise sanft gebauscht werden, wird geschossen. Ein Automobil hupt zornig, als aufgeschreckte Passanten quer über den Platz laufen, um in einem Hauseingang Schutz zu suchen. Auf dem Gehsteig sprengen sie eilig auseinander und huschen in Mauernischen und hinter Ladentüren. Dort vorn, da willst du doch hin. Jetzt splittert das Schaufenster der Sparcassen-Filiale. Die Tür wird so heftig aufgestoßen, dass es kracht, und zwei Kerle springen heraus, bleiben stehen, schauen nach rechts und links. Na los doch, weg! Die Bahn ist frei, was gibt es da zu zögern!

Klara kam neugierig etwas näher.

Das sind doch … Zwei weitere Leute kommen rückwärts aus der Bank, der eine hält drohend etwas in der Hand. Ein Revolver. Ein einziges solches Ding genügt, um aus einem braven Junggardisten in Kniebundhosen und sauberem grauen Hemd einen proletarischen Kämpfer zu machen. Enteignet die Enteigner! Unter der blauen Schirmmütze mit Sturmriemen verdeckt ein Tuch das halbe Gesicht. Es sind vier junge Kerle. Drei davon in schäbigen Lumpen. Nur der Anführer hat sauber gewichste Stiefel an, die anderen tragen zertretene Schnürschuhe, einer ausgelatschte Sandalen. Idioten! Am helllichten Tag eine Sparcasse zu überfallen, hier am Platz! In der Seitenstraße liegt die Polizeiwache. Und jetzt laufen sie auch noch genau in diese Richtung. Sie sollten besser …

Hinter einem Ständer für Ansichtskarten vor einem Papierwarengeschäft blieb Klara stehen. Eine Alarmglocke ertönte, ein Mann stürzte aus der Filiale und schrie.

Die vier Räuber biegen zielsicher um die falsche Ecke. Zwei Passanten setzen zur Verfolgung an, bleiben dann aber unschlüssig stehen. Der Bankangestellte eilt weiter, mit erhobener Hand, als wollte er den Kriminellen Einhalt gebieten. Und jetzt kommen sie wieder zurück, der Anführer schießt, die Kugel jault, als sie gegen das Metall eines Papiereimers prallt. Der löst sich aus der Halterung am Straßenrand und poltert auf den Gehsteig. Der Bursche sollte besser nicht so freigiebig mit seiner Munition sein.

Alle gehen in Deckung, sogar der Bankangestellte springt zur Seite, verbirgt sich hinter der Litfaßsäule. Die jungen Kerle preschen voran. Hinter ihnen biegen zwei Uniformierte um die Ecke, im Laufschritt, an ihren Halftern nestelnd, um die Pistolen freizubekommen. Und von drüben aus der Dietmar-Koel-Straße heult die Sirene des Streifenwagens heran. Jetzt sind die Räuber in der Zange. Sie versuchen es quer über den Marktplatz, aber der Einsatzwagen schneidet ihnen den Weg ab. Drei wenden sich nach links, einer nach rechts. Direkt auf Klara zu. Wieder ein Schuss, drüben auf der andern Seite, immerhin haben sie es bis dorthin geschafft. Aber den kleinen Schmächtigen, der auf das Papiergeschäft zurennt, den werden sie kriegen, der hat keine Waffe, und ihm folgen die beiden Beamten jetzt mit gezückten Pistolen.

Kein Ausweg? Vielleicht doch. Links neben dem Hallenbad vorbei, dann über den Venusberg auf die andere Seite, durch die Nische zwischen den Häusern in den Hinterhof und dort über die Mauer.

»Räuberleiter, na los – Jetzt zieh mich hoch! – Und rüber – Da geht’s weiter – Vorsicht, Brombeergestrüpp! – Hinter den Schuppen, und keiner sieht uns mehr – Jetzt hock dich hin!«

Der schmächtige Junge sah Klara aus großen blauen Augen an: »Wieso hast du mich gerettet, wieso bist du mitgekommen?«

»Zieh dein Tuch ab!«

Der Junge schüttelte den Kopf.