4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €
Packendes Finale am Meer: die Vergangenheit ihrer Familie holt die Journalistin Ann ein. Für Fans von Eva Almstädt und Katharina Peters Juni 2019. Es ist ein heißer Sommer an der Ostseeküste, doch die Geheimnisse in der Vergangenheit ihrer Familie lassen die junge Journalistin Ann frösteln. Sie hat einen Halbbruder, Joris, Kind eines brutalen Verbrechens. Innerhalb der Familie wird die Angelegenheit totgeschwiegen, Kontakt gibt es keinen. Doch Ann lässt der Gedanke nicht mehr los und sie beginnt, nach ihm zu suchen. Ihre Recherche führt sie zu einem Bankschließfach mit unfassbarem Inhalt. War ihr gesamtes bisheriges Leben eine Lüge? Zeitgleich hängt sich ein Unbekannter an ihre Fersen, dessen Schicksal eng mit dem der Familie Arnold verwoben ist. Schnell wird die Suche nach der Wahrheit zu einem Wettlauf mit der Zeit. Wer ihn verliert – stirbt. »Geheimnisse über Geheimnisse, die Johanna Arnold aufklären möchte, die sie selbst und ihre Familie betreffen. Großartige Geschichte, die einen in menschliche Abgründe abtauchen lässt. (...) Dieser Krimi besticht durch tolle Wendungen, Hochspannung, eine emotionale und erschreckende Geschichte. Ein für mich rundweg gelungener Krimi.« ((Leserstimme auf NetGalley))
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2024
Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de
Wenn Ihnen dieser Krimi gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Blinder Zorn: Ostsee« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.
© Piper Verlag GmbH, München 2024
Redaktion: Sandra Lode
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Peter Molden.
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Adobe Stock genutzt
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Cover & Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Epilog
Das Nachwort der Autorin
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Die Jagd war vorbei.
Sie war tatsächlich tot.
Zu Asche verbrannt.
Unwiderruflich.
Eine Art von Traurigkeit erfasste ihn. Er hatte den Moment verpasst, Mutter und Tochter zu vereinen, sich an ihren Reaktionen sattsehen zu können, wenn sie begriffen, wen sie vor sich hatten.
Vorsichtig beugte er sich vor, um besser sehen zu können. Von dem Spitzboden der kleinen Kapelle aus hatte er einen guten Blick auf das schlichte Kreuz und den von niedrigen Buchsbäumen umfriedeten Urnengarten.
Als wiege der hässliche Pott mit ihren Überresten mehrere Zentner, mühte sich der Zug der Trauernden quälend langsam vorwärts. So viele Menschen! Als wäre der Reriker Friedhof der neueste Place to be. Sie waren ihm egal. Die, für die er das Risiko eingegangen und hergekommen war, führte den Lindwurm der Ahnungslosen an.
Er hob das Fernglas an die Augen, tastete jeden Millimeter ihres Gesichts, ihres Körpers ab. Er versuchte, Ähnlichkeiten zu entdecken. Ihr Duft – er hatte ihn immer in sich getragen. Ob sie heute noch so roch? Er drängte sein Gehirn, sich an die Berührungen zu erinnern. Was davon war echt, was sehnsuchtsvolle Fantasie, die er mit jedem vergangenen Jahr mehr ausschmückte?
Ihr verzerrtes Gesicht, die roten Augen. Sie so voller Schmerz zu sehen, brachte ihn in Aufruhr. Ob sie jemals wegen ihm geweint hatte? Natürlich hatte sie das. Und er genoss jede Träne, als hätte er sie selbst fallen sehen. Die Suche mochte vorbei sein, ihre gemeinsame Zeit war es nicht. Sie begann genau jetzt – hier – von Neuem.
Er ließ das Fernglas weiterwandern. Da war ihr Mann, der Versager! Er hatte kein Recht, neben ihr zu stehen. Er war nichts wert. Unfähig, eine Familie zu beschützen. Wie alt er aussah! Der Tod seiner Tochter würde ihm den Rest geben, ihn zum Greis werden lassen.
Vier junge Leute erschienen im Fokus der Linse. Anrührend, wie sehr die beiden Frauen um ihre Freundin trauerten. Der Krüppel im Rollstuhl dagegen und sein Freund, der Bulle, starrten wie in Trance vor sich hin.
»Wie lebt es sich mit all den Selbstvorwürfen? Verreckt dran!«, murmelte er. »Wegen euch liegt sie jetzt da unten, als ein Haufen Dreck. Dabei hatte ich noch so viel vor mit ihr.«
Jetzt war es so weit. Der Pastor hatte zu Ende lamentiert. Die Urne wurde langsam in das Grab herabgelassen.
Er sah, wie sie, die Frau, die ihn jede Minute seines Lebens begleitete, in sich zusammensackte. Ihr Mann mühte sich vergebens. Die Umstehenden kamen den trauernden Eltern eilig zu Hilfe.
»Ja, fühl den Schmerz! Du weißt, dass du schuld bist. Hättest du dich nicht so feige davongestohlen, wäre deine Tochter noch am Leben. Du hättest dich nur für mich entscheiden müssen!« Er lachte heiser.
Dann suchte er die Gesichter der wartenden Menschen ab. Wo war er? Der Hauptkommissar aus Rostock … Ein weiterer Mann im Leben der beiden Frauen, der nichts anderes konnte, als hilflos zuzusehen. Da! Herzzerreißend, wie betroffen er dreinblickte.
Ein letztes Mal wandte er sich dem Loch zu, in dem kurz zuvor die Urne verschwunden war. »Tja, das war’s dann wohl. Schade, dass wir nicht mehr Zeit miteinander hatten. Ich hätte zu gern die Facetten deines Charakters erkundet, vor allem die deiner psychischen Grenzen. Wer weiß, vielleicht wäre aus uns doch noch eine richtige kleine Familie geworden. Ruhe in … was auch immer, Johanna Arnold!« Die letzten Worte brachten ihn derart zum Lachen, dass er fürchtete, entdeckt zu werden. Leise hustend mahnte er sich zur Vorsicht. »Und jetzt werde ich mir die Frau zurückholen, die für das alles hier verantwortlich ist, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind!«
Rerik, zwei Wochen zuvor
Nachdenklich stand Ann am Fenster der kleinen Wohnung und blickte in den blassblauen Morgenhimmel. Es würde heiß werden, wie die vergangenen Tage auch. Was die Urlauber freute, brachte die Vegetation an ihre Grenzen. Schon das Frühjahr war viel zu trocken gewesen. Nachts fielen die Temperaturen nur noch knapp unter die Zwanzig-Grad-Marke. Verrückt – dabei lebten sie im Norden Deutschlands und nicht in Südeuropa.
Nachdenklich entfernte sie den Teebeutel aus der Tasse.
Noch drei Tage, dann waren sie endlich wieder zu zweit. Marc hatte sich Urlaub genommen. Urlaub vom BKA. Ann fühlte die Aufbruchstimmung. Sie hatte keine Lust mehr auf eine Fernbeziehung, auf stundenlange Videocalls. Jetzt, da sie das Journalistik-Studium beendet hatte und auf Jobsuche war, stand ihr die Welt offen. Schreiben konnte sie überall, solange es eine funktionierende Internetverbindung gab. Warum nicht von Wiesbaden aus? Wiesbaden, so weit weg vom Meer. Dabei war sie gerade erst hierhergezogen. Nach Rerik – ausgerechnet! An den Ort, der ihr Leben auf so schreckliche wie gleichzeitig schöne Art auf den Kopf gestellt hatte.
Ihr Blick folgte einer kleinen Meise, die in den Mauerritzen nach Fressbarem suchte. Doch so sehr der Vogel sein niedliches Köpfchen auch drehte, die Larven schienen sich dorthin verkrochen zu haben, wo die zu erwartende Hitze des Tages sie nicht erreichen konnte.
Manchmal musste man eben tiefer graben.
Ann wandte sich dem Laptop zu, der aufgeklappt auf dem Küchentisch stand, und holte ihn aus dem Ruhemodus.
Sie hatte gegraben. In den letzten Wochen immer mal wieder. Und doch hatten die Archive der Regionalzeitungen nichts hergegeben. Weder die von Neustadt in Holstein, dem Ort, an dem sie aufgewachsen war, noch die der Hamburger Region, aus der ihre Eltern stammten. Sie wusste natürlich, wie unwahrscheinlich es war, auf Spuren einer Vergewaltigung von vor achtundzwanzig Jahren zu stoßen. Möglich, dass niemand darüber berichtet hatte. Möglich, dass sie nicht einmal zur Anzeige gebracht worden war. Wobei, das glaubte sie weniger, da der Täter verbrannt war, es sogar einen DNA-Abgleich gegeben hatte. Es musste also eine offizielle Dokumentation der damaligen Vorgänge geben.
Ann nippte an ihrem Tee und starrte auf die Tastatur. Sie sah Oma Rose vor sich, in dem Moment, in dem sie ihr gebeichtet hatte, was ihre Eltern seit knapp dreißig Jahren zu vergessen versuchten. Hörte ihre vom Alter gezeichnete Stimme, als säße ihre Großmutter jetzt gerade direkt neben ihr. »Ich werde dir jetzt ein Versprechen abnehmen, Johanna, und wenn dir irgendetwas an mir liegt, dann hältst du dich daran, ist das klar? Du wirst niemals, ich betone – niemals mit deiner Mutter über das sprechen, was ich dir jetzt erzählen werde. Keine Andeutungen, keine Fragen, nichts! Sie hat so lange gebraucht, um dort hinzukommen, wo sie heute ist. Solltest du diese Büchse öffnen, wird das Loch sie verschlingen. Noch einmal hält deine Mutter das nicht aus«, hatte Rose gemahnt. »Der kleine Junge ist dein Halbbruder. Es war keine einvernehmliche Sache, das zwischen dem Monster und deiner Mutter.« Keine einvernehmliche Sache. Was für eine nüchterne Umschreibung für eine grausame, folgenschwere Tat. »Die Schwangerschaft wurde viel zu spät entdeckt. Susanne war gezwungen, das Kind auszutragen. Der Kleine kam zu Pflegeeltern, wurde später adoptiert.«
Das waren die einzigen Informationen, die Ann hatte. Das, ein paar nebulöse Erinnerungsfetzen aus Bildern und Gerüchen, und einen Vornamen: Joris. Sie atmete tief aus. Joris – ihr Halbbruder. Die Worte klangen immer noch fremd in ihren Ohren.
Wie oft hatte sie sich in den letzten Monaten gefragt, wie es einem Menschen gehen konnte, der von Anfang an nicht gewollt war. Ungeliebt und verstoßen. Spürten Embryos im Mutterleib nicht, wie es um die Schwangere bestellt war, ob sie ihr Ungeborenes liebte, in welcher Gemütslage sie sich befand? Wenn ja, war es ein Segen, dass Mutter Natur die Menschen schützte, ihnen diese Erinnerungen verwehrte. Vielleicht führte Joris ja ein glückliches, unbeschwertes Leben, eben weil er nicht wusste, dass er das Ergebnis eines grausamen Verbrechens war? In einer Familie, die ihn liebte, die ihm das Gefühl gab, dass er untrennbar zu ihnen gehörte. Dann wäre es unverantwortlich, ihn aufzuspüren.
Ann schüttelte unmerklich den Kopf. Sie sollte es dabei belassen!
Bisher war sie eh nur gegen Behördenwände gerannt. Der Schutz adoptierter Kinder war nicht ohne Grund so hoch. Es gab sogar einen Paragrafen, den § 1758 BGB, in dem das Ausforschungsverbot verschriftlicht worden war. Die Suche nach Adoptierten ist gesetzlich nicht zulässig. Adoptierte hingegen konnten ihre Akten ab einem gewissen Alter einsehen und sich auf die Suche nach den leiblichen Eltern machen. Hätte Joris das gewollt, hätten sie längst davon erfahren.
Ann fuhr sich durch die langen Haare. Hätte sie das wirklich? Die Information über die Existenz ihres Halbbruders war von ihren Eltern besser gesichert und tiefer vergraben als Europas Atommüllhalden. Was, wenn er versucht hatte, Kontakt aufzunehmen? Was, wenn sie ihn abgewiesen hatten? Ann dachte an das Versprechen, dass sie Rose hatte geben müssen. Keine dieser Fragen würde sie je laut stellen dürfen.
Nicht zum ersten Mal spulten ihre Gedanken zurück zu dem Punkt, als ihre Oma vom Ende des Vergewaltigers, des Monsters erzählt hatte. »Die Polizei hat seine Identität nie ermitteln können. Er ist verbrannt. Aufgrund des Jungen konnte man die DNA eindeutig zuweisen. Aber wer er war …«
Er ist verbrannt. Verbrannt. Ein Unbekannter vergewaltigte ihre Mutter und verbrannte, bevor man ihn identifizieren konnte. Was war passiert? Hatte sie sich gewehrt und bei ihrer Flucht ein Feuer ausgelöst? Einer Flucht von wo? Oder war das Monster im Nachhinein gestorben? Woher aber wusste man dann, dass es sich um Susannes Vergewaltiger gehandelt hatte? Wenn niemand ihn identifizieren konnte?
Ann gab einen Unmutslaut von sich und eilte aus der Wohnung. Die Fragen nagten an ihr wie das Meer an Rügens Kreidefelsen. Sie musste einen Weg finden, der Wahrheit näherzukommen, ohne dass ihre Eltern, Susanne und Jürgen, davon erfuhren.
DAMALS, Ockholm, Nordfriesland
Gesas Hände ziehen die Wollstrickjacke dichter um ihren Körper. Sie sind rau und von der Kälte gerötet. Draußen pfeift der Wind. Sie spürt den Luftzug, egal in welchem Raum sie sich aufhält. Die morschen Fenster sind schon lange nicht mehr dicht, und die alte Räjne, das Reet auf dem Dach, müsste dringend erneuert werden, aber ihnen fehlt das Geld. Manchmal fragt sie sich, ob es besser gewesen wäre, den Kinderwunsch nach hinten zu stellen. Aber wer konnte ahnen, dass Lysbet und Jasper so überraschend und kurz nacheinander sterben würden?
Ihr Vater hatte viele Gebrechen gehabt und ihre Mutter war schon immer kränklich gewesen, das schon, trotzdem hatte sie der Krebs und die Aggressivität, mit der er Jasper dahingerafft hatte, kalt erwischt. Drei Monate von der Diagnose, bis dass sie vor seinem Grab gestanden hatten, mehr war es nicht. Zwei Monate später war Lysbet tot zusammengebrochen. Ihr Herz wollte, trotz sofortiger Reanimationsmaßnahmen des Notarztes, nicht mehr schlagen. Gesas Eltern wurden nur knapp über sechzig.
Und so trat sie mit neunundzwanzig das Erbe an: die Übernahme des alten, maroden Hofs in einer Region Nordfrieslands, die zu den strukturschwachen gehört. Die Windlasten sind gleichmäßig hoch und erschweren die Nutzung der landwirtschaftlichen Flächen, die Verkehrsinfrastruktur ist mehr als bescheiden, was es für die Industrie unattraktiv macht. Kurz gesagt – sie sitzen auf Land, das sich nicht verkaufen lässt, in einem Haus, das ihnen in den nächsten Jahren über dem Kopf zusammenbrechen wird. Und Hennings Geld reicht nicht einmal für die notwendigsten Reparaturen.
Henning!
Gesa prüft, ob der Boiler das Wasser endlich auf Temperatur gebracht hat, und lässt etwas in eine Plastikschüssel laufen. Ein Spritzer Spüli, dann beginnt sie mit dem Abwasch.
Henning und sie waren glücklich, in ihrer kleinen Wohnung in Elmshorn. Das Geld, das er als städtischer Angestellter mit nach Hause brachte, reichte für ihr damaliges Leben. Sie hatten Glück, die Miete war günstig. Also entschlossen sie sich, es zu wagen, auf Gesas Gehalt zu verzichten. Ein Kind sollte ihr Leben perfekt machen. Und tatsächlich – es dauerte nicht lange und Gesa war schwanger.
Als sie an den Moment denkt, an dem sie es Henning erzählte, füllt sich ihr Brustkorb mit Wärme. Gott, war das schön. Sie würden die besten Eltern werden, die die Welt je gesehen hat. Sie liebten dieses Kind schon, bevor es seinen ersten Herzschlag tat.
Der erste Teil der Schwangerschaft verlief ohne Probleme. Die begannen erst, als Lysbet und Jasper starben, die ihr Enkelkind nicht einmal kennenlernen durften. Und sie blieben, als Rieke geboren war.
Gesa versteht noch immer nicht, was mit ihr los war. Die Ärzte diagnostizierten eine Wochenbettdepression. Wie kann man etwas Derartiges entwickeln, obwohl man sich wie verrückt auf ein Kind freut?
Gesa stellt das Glas neben die anderen auf das Ablaufgitter und schaut durchs Fenster. Sie versucht, das Grau da draußen nicht in ihr Herz zu lassen, aber es fällt ihr schwer. Denn die meiste Zeit sind sie und das Baby allein. Henning arbeitet noch immer in Elmshorn. Es gibt keine freien Stellen in der Nähe und beides konnten sie nicht halten, den Hof der Eltern und die Wohnung. Also lebt er zur Untermiete bei einer alten Dame, hundertsechzig Kilometer entfernt, und sie sehnt die Wochenenden herbei, wenn er kommt und ihr die Einsamkeit nimmt.
Sie schnappt sich das Trockentuch und müht sich mit dem ersten Teller ab. Das Wasser ist nicht richtig heiß, die Textilien in diesem Haus sind irgendwie immer klamm. Das Geschirr lässt sich kaum trocknen. Es ist alles so hoffnungslos!
»Reiß dich zusammen!«, schilt sie sich. Jetzt heißt es, an Rieke zu denken. An ihr Traumkind, das einen Raum weiter friedlich schläft. Sie braucht starke Eltern, die ihr ein glückliches, sorgenfreies Leben ermöglichen.
Wie soll das gehen? Ihr Vater ist nie da. Und wenn, dann rackert er sich an dieser Bruchbude ab! Gesa hasst ihre Eltern für dieses Erbe. Dafür, dass sie sie so früh im Stich gelassen haben, mit all dem. Dafür, dass sie nicht härter dafür gearbeitet haben, ihnen ein besseres Heim zu hinterlassen.
Rerik
»Na, schau mal einer an! Schön, dass Sie uns mit Ihrer Anwesenheit beehren, gnäd’ge Frau.« Fredde stand auf, verbeugte sich und wedelte überschwänglich mit dem rechten Arm, als wäre er bei Hofe.
»Hey Lutz!« Ann betrat die Reriker Wache und lächelte Freddes Kollegen freundlich zu.
Der lugte hinter seinem Rechner hervor und hob grüßend die Hand.
Dann zog sie sich einen Stuhl heran und setzte sich Fredde gegenüber. »Lass mal ne Runde Kaffee springen!« Sie raschelte verheißungsvoll mit einer Brötchentüte. »Es gibt Croissants.«
»Kommt sofort!« Er verschwand in der kleinen Kaffeeküche.
Ann hörte ihn gut gelaunt pfeifen, lehnte sich zu Lutz herüber und hielt ihm die Tüte hin.
»Bin auf Diät.« Der Polizist rieb sich den Bauch und deutete auf einen Apfel, der einsam seinen Schreibtisch zierte. Gleichzeitig lag so viel Sehnsucht in dem Blick, mit dem er das Backwerk fixierte, dass Ann sich nicht zurückhalten konnte.
»Sagt wer?«
»Seine Frau.« Fredde balancierte mit drei Kaffeebechern auf sie zu.
»Och, komm! Wir können schweigen wie ein Grab!« Sie rutschte näher, sodass der Duft der köstlichen Butterhörnchen direkt in Lutz’ Nase schweben musste.
Der seufzte, griff in die Tüte und lächelte selig. »Eins wird schon nicht schaden.«
»Und was hast du heute vor? Lass mich raten! Das geniale Wetter nutzen, an den Strand gehen, lesen und faul in der Sonne liegen.« Fredde stellte den beiden den Kaffee vor die Nase, schnappte sich ein Croissant und ließ sich in seinen Bürostuhl fallen. »Isabelle hat Spätschicht. Ruf sie doch an!«
»Hört sich verlockend an. Aber ich hab noch ein paar Dinge, die ich klären muss.«
Fredde nickte und sah sie nachdenklich an.
Er ahnte mit Sicherheit, worum es ging. Frederik Steinmann kannte sie gut, er war jemand, auf den Ann sich immer und überall verlassen konnte. Er hatte ihr schon in vielen Situationen geholfen.
»Und ich hätte eine Bitte.«
Er wedelte mit dem angebissenen Blätterteigstückchen. »Du hast bezahlt, ich bin ganz Ohr.«
Sie beugte sich vor. »Die Vergewaltigung meiner Mutter.« Sie sprach gedämpft. »Es muss eine Akte geben. Entweder in Neustadt oder in Hamburg. Der Täter, er soll verbrannt sein. Die Leiche wurde identifiziert, indem seine DNA mit der meines Halbbruders verglichen wurde. Also muss in irgendeinem Polizeiarchiv ein Vorgang dazu schlummern.«
Fredde hob die Augenbrauen und rieb sich die Stirn. »Puh, ich weiß echt nicht, ob ich dir da helfen kann. Leider bin ich immer noch kein BKA- oder LKA-Ermittler, sondern einfacher Polizist. Und selbst die Leute von der Kripo bräuchten einen triftigen Grund, um eine derartige Anfrage bei den Kollegen in Hamburg zu stellen.«
»Ich weiß. Aber du hast doch bestimmt Kontakte. Kennst wen, der wieder wen kennt … Fredde, ich will doch nur wissen, was damals passiert ist. Ich mein, bis heute weiß keiner, wer der Typ war. Trotzdem sind sie sich sicher, dass er verbrannt ist. Wie kann das sein? Wo kam der her? Wie und wo ist er auf meine Mutter getroffen? Wie und warum ist es zu diesem Brand gekommen?«
Fredde saß nur da und sah ihr in die Augen.
»Bitte! Ich kann Susanne nicht fragen.«
»Ich weiß.« Er schnaubte und biss in sein Croissant. »Ich werd sehen, was ich tun kann.«
*
Er kam genau richtig. Die Cafés, Restaurants und Eisbuden an der Haffpromenade hatten ihre Pforten gerade geöffnet. Die letzten Schirme wurden aufgespannt, noch ein paar Speisekarten ausgelegt und Stühle mit Sitzkissen versehen. Trotz der morgendlichen Uhrzeit war der Haffplatz gut besucht. Die einen wollten noch schnell eine Luftmatratze, einen Wasserball oder Sandspielzeug erstehen, die anderen gönnten sich ein Frühstück außerhalb der Ferienwohnung. Ihm wäre es lieber gewesen, sie hätten alle noch in ihren Betten gelegen. Aber egal! Zielsicher steuerte er das Casa di Mare an und wurde nicht enttäuscht. Da lief sie, emsig wie immer. Seit einem Jahr erarbeitete er sich ihr Vertrauen. Seit die Artikel über Johanna Arnold ihn hierhergeführt hatten. Er blieb stehen, tat, als blicke er unschlüssig umher.
»Ciao!« Sie winkte ihn zu sich. Ihr Lächeln überstrahlte alles, in ihren Augen las er echte Sympathie.
Er hob schüchtern die Hand.
»Komm, ich hab einen schönen Platz für dich!« Sie lotste ihn zu einem kleinen Tisch am Rand der Fläche, der zudem noch von einer großen Pflanze abgeschirmt wurde. Sie wusste genau, was er mochte.
»Danke!« Seine schlanken Finger schlossen sich vorsichtig um ihre zarte Hand. »Sie sind mit Geld nicht zu bezahlen.«
»Ilenia und du!« Sie sah ihn rügend an.
Er ließ den Zehneuroschein in ihre Hand gleiten und zog seine zurück.
»Oh, das sollst du doch nicht immer!«
Er hob beschwichtigend die Hände. »Das ist vollkommen in Ordnung. Wer sich so herzlich um einen abgewrackten Typen kümmert, der hat sich den Extraeuro verdient.«
Sie schüttelte den Kopf, ließ das Geld in die Bauchtasche ihrer Schürze gleiten. »Du bist nicht abgewrackt. Nur ein bisschen … dünn.« Geschickt wedelte sie mit einem Tuch imaginäre Staubteilchen vom Tisch. »Was darf ich bringen? Wie wär’s mit einer heißen Schokolade mit Sahne und einem Schokocroissant?«
Ihm wurde schon beim Zuhören übel. »Das hört sich köstlich an, gern.« Der jahrelange Raubbau an seinem Körper, die schlechte Ernährung und Drogen hatten ihn abmagern lassen. Ihr hatte er erzählt, das wären die Folgen einer schweren Krankheit. Und dass er nun wieder zulegen müsse, Fett- und Zuckerreiches brauche, um zur alten Form zurückzufinden. Dabei war er das Essen so leid. Seinen Geschmackssinn hatte er an die Drogen verloren. Hunger hatte er selten. Trotzdem, es war die beste Möglichkeit, ihr Vertrauen zu gewinnen. Und – in der Welt der Menschen unsichtbar zu werden.
Als er vor einem Jahr nach Rostock gezogen war, war er aufgefallen wie ein bunter Hund. Ein Hund, dem man besser aus dem Weg ging. Ungesunde Hautfarbe, zerschlissene Kleidung, nur noch Haut und Knochen – ein Junkie. Er war angestarrt, beschimpft und bespuckt worden. Oder es wurde ein großer Bogen um ihn gemacht. Letzteres störte ihn nicht. Lieber aber war es ihm, wenn er in der Masse unterging. Wenn niemand sich an ihn erinnern konnte. Und dafür musste er normaler – beliebiger – aussehen. Er war auf einem guten Weg. Ein paar Kilos waren schon dazugekommen. Und er hatte sie kennengelernt, Ilenia Barbieri.
Schon Ilenias Mutter hatte in diesem Café gearbeitet. Jeden Sommer, sieben Tage die Woche. Bis Johanna Arnold gekommen war und in der Vergangenheit herumgeschnüffelt hatte. Das hatte die arme Frau mit dem Leben bezahlt. Ein wirklich glücklicher Umstand.
Ilenia stellte die Schokolade und das Croissant vor ihn hin. »Lass es dir schmecken.«
»Vielen Dank. Ich nehme an, du hast keine Zeit, dich für einen Moment zu mir zu setzen?«
»Für eine Pause ist es noch ein bisschen früh.« Unschlüssig blieb sie stehen.
Er tat, als nähme er einen genussvollen Schluck und sorgte dafür, dass ein dicker Tupfer Sahne an seiner Nase hängen blieb. Obwohl sie sonst immer auf derartig komödiantische Einlagen reagierte, blieb sie starr und schweigsam. Er lächelte ihr aufmunternd zu. Sie hatte etwas auf dem Herzen, das war eindeutig. Er hatte gelernt, geduldig zu sein. Das musste er, wenn er wollte, dass sie sich ihm öffnete.
Ein Ruck ging durch ihren Körper, sie wandte sich ab und ging. Stoppte und kam zurück. »Sie ist hier. So richtig. Nicht nur für ein Wochenende oder einen Urlaub.«
Er verstand sofort und hätte am liebsten vor Freude aufgeschrien. Adrenalin und wusste der Geier was noch für Hormone rauschten durch ihn hindurch, dass er Mühe hatte ruhig und unbeteiligt zu wirken. Mitfühlend berührte er ihren Arm, als er den verdächtigen Glanz in ihren Augen bemerkte. »Wer ist hier, Ilenia?«
»Die Mörderin meiner Mutter – Johanna Arnold!«
»Ich weiß, wie belastend das für dich ist, aber sie wird auch wieder fahren.«
»Du verstehst nicht. Sie ist hierhergezogen.« Die ersten Tränen kullerten über Ilenias Wange.
»Nein!« Er setzte ein fassungsloses Gesicht auf und schob ihr einen Stuhl hin, auf den sie sich fallen ließ.
»Es ist so, wie ich es immer erzählt habe – sie merkt nicht einmal, was sie uns angetan hat. Oder es ist ihr egal!«
Er schob ihr ein Paket Taschentücher hin. »Und wenn du mit ihr redest? Ihr sagst, was in dir vorgeht?«
»Das kann ich nicht. Ich will ihre Ausflüchte und Rechtfertigungen nicht hören. Sie hätte die Vergangenheit einfach ruhen lassen sollen. Aber nein, sie musste ja unbedingt jeden Stein umdrehen, um die Wahrheit herauszufinden.« Aufgebracht zog Ilenia die Worte in die Länge. »Am Ende waren vier unschuldige Menschen tot. Vier! Meine Mutter hatte nichts Unrechtes getan!«
»Ich weiß«, murmelte er. »Und das tut mir unsagbar leid. Woher weißt du, dass sie hergezogen ist?«
»Rerik ist ein kleiner Ort. Und die Arnold kennt hier jeder. Kein Wunder, bei dem, was sie verbrochen hat. Manche feiern sie noch dafür, weil sie einem Mörder auf die Schliche gekommen ist.« Ilenia schnaubte verächtlich. »Für welchen Preis? Die meisten Opfer würden heute noch leben, hätte sie sich nicht eingemischt.«
Er atmete tief und hörbar ein und nickte verständnisvoll. »Schon erstaunlich, dass die Frau ausgerechnet an den Ort zieht, an dem sie selbst nur knapp dem Tod entkommen ist. War doch so, oder?«
Jetzt nickte Ilenia.
Er kannte diesen Gesichtsausdruck. Sie wünschte sich, Johanna wäre damals gestorben, schämte sich aber gleichzeitig für den Gedanken. Dummes Ding.
»Ihr Freund hat eine kleine Wohnung im Ort«, fuhr sie fort. »Warum versteht keiner, denn er selbst arbeitet irgendwo in Süddeutschland, glaube ich. Sollen sie doch einfach da hinziehen!« Sie schnäuzte verhalten in das Taschentuch. »Er sitzt im Rollstuhl. Du hast ihn sicher schon mal gesehen. Wenn er da ist, steht er oft drüben am Steg und schaut auf das Haff. Oder er fährt wie ein Bekloppter mit so einem Sportrolli. Ist wohl eine Art Training.«
Wie süß, Johanna hatte ihr Herz an einen Krüppel verloren. »Weshalb sitzt er im Rollstuhl? War das auch sie?«
Verwirrt sah sie ihn an.
»Hat sie seine Behinderung zu verantworten?«
»Nein, er ist Polizist. Wurde angeschossen. Ich glaub, das war vor ihrer Zeit, aber … ach, keine Ahnung.« Sie sprang auf, als hätte sie sich erinnert, weshalb sie die Schürze trug.
»Weißt du, wo die beiden wohnen? Vielleicht wäre es doch gut, Kontakt aufzunehmen. Zeig ihr, wie schlecht es dir damit geht. Das würde dir guttun.«
»Nein. Keine Ahnung, wo die hausen. Will ich auch gar nicht wissen.« Das Letzte war nur noch ein Flüstern. Dann streckte sie den Rücken durch, atmete einmal tief und rang sich ein Lächeln ab. »Genug davon! Was darf ich dir noch bringen? Wie wäre es mit einem englischen Frühstück? Mit ordentlich Speck und Bohnen?«
DAMALS, Ockholm, Nordfriesland
Gesa streift die Regenjacke über und schlüpft in die Gummistiefel. Aus dem Innern der Stube kommt ein kurzes Jammern. Rieke war die ganze Nacht unruhig. Mit drei Monaten können das doch noch nicht die Zähne sein, oder doch? Wie zum Beweis wird aus dem abgehackten Quengeln ein erster kläglicher Schrei. Ich sollte mich beeilen. Gesa läuft über den von Schlaglöchern übersäten Hofplatz, umrundet, trotz des passenden Schuhwerks, die tiefsten von ihnen und eilt den matschigen Weg entlang bis zur Landstraße, wo der Briefkasten steht. Der Wind drückt von hinten, feine Tropfen wehen an ihr vorbei. Was ist das nur für ein Sommer? Trockene und sonnigen Tage kann man an einer Hand abzählen, die Wetterfrösche aus Radio und Fernsehen liegen mit ihren Prognosen ständig daneben. Dabei wünscht sie sich so sehr etwas Wärme. Wärme, die durch die dicken Steinmauern, bis zu Rieke und ihr in die Stube dringt.
Gesa zieht die Klappe des Kastens auf und nimmt die Briefe heraus. Feuchtigkeit hat ihr Papier wellig werden lassen. Am liebsten hätte Gesa sie gar nicht geholt. Es sind ja doch nur Rechnungen. Aber Henning mahnt jeden Tag. Sie müssen aufpassen, dass ihnen die Verpflichtungen nicht über den Kopf wachsen, dass sie die Rechnungen nicht zu lange liegen lassen. Es darf zu keiner Pfändung kommen. Und er beteuert immer wieder, dass sie das schaffen. Gesa glaubt das nicht. Eine Durststrecke, einen zeitlich begrenzten Kraftakt, den könnte sie durchstehen. Aber es gibt kein Wenn wir das geschafft haben, dann. Es gibt nur ein unendliches Weiter so. Das verdammte Haus verschlingt alles. Niemand hat gefragt, ob sie es haben wollen.
Gesa schließt den Kasten, drückt die Briefe an ihre Brust und dreht sich in den Wind. Regenschwaden legen sich über ihr Gesicht, die Kapuze klappt nach hinten. Gesa fängt an zu rennen. Wie lange soll das noch gehen? Sie will hier nicht sein, allein und nutzlos. Darauf wartend, dass die nächste Katastrophe passiert, ein Wasserrohrbruch vielleicht oder ein Schaden an den veralteten Stromleitungen oder am Dach. Sie will das Leben mit ihrer kleinen Tochter genießen, diese wichtige erste Zeit zusammen mit ihrem Mann erleben und sich mit anderen jungen Müttern treffen. Stattdessen nichts als Sorgen und Einsamkeit.
An der Haustür angekommen, hört sie Rieke aus Leibeskräften schreien. Schnell streift sie die Gummistiefel ab, huscht in die Stube und wirft die Briefe auf den Tisch. Die Kleine ist krebsrot im Gesicht. Die Anstrengung, Schreien und Atmen unter einen Hut zu bringen, scheint enorm. Gesa lässt den nassen Mantel fallen und hebt Rieke vorsichtig aus dem Stubenwagen.
»Schsch, was ist los? Schon wieder Hunger?« Sie versucht, das Kind anzulegen. Doch Rieke schreit einfach weiter. Der Rotton ihrer Haut wird immer dunkler. Gesa legt sie über ihre Schulter, geht schuckelnd durch den Raum. »Komm schon, kleine Sprotte, Mama ist doch da.« Es hilft nicht, sie will sich nicht beruhigen. Ob sie Koliken hat? Gesa will nicht schon wieder beim Arzt anrufen. Am Ende denken alle, sie sei als Mutter unfähig. Also legt sie ihre Tochter bäuchlings auf ihren Unterarm, schaukelt sie beruhigend hin und her. Die Minuten kommen ihr endlos vor. Mischt sich da ein Blauton in das Dunkelrot der Säuglingswangen? Riekes hektisches Einatmen zwischen den Schreiphasen schmerzt beim Zusehen. Bekommt sie überhaupt genug Luft? Ob sie sogar ersticken könnte?
Anderthalb Stunden später ist die Kleine endlich eingeschlafen. Wahrscheinlich vor Erschöpfung. Gesa lässt sich in den Sessel plumpsen und greift nach der Fernbedienung des Fernsehers. Nur ein bisschen berieseln lassen. Ohne Ton, damit das Baby nicht wach wird. Es dauert keine fünf Minuten und der Bildschirm ist schwarz. Stromausfall, wieder einmal. Henning und sie vermuten, dass es an der Nässe liegt. Immer, wenn der Wind den Regen gegen eine bestimmte Wand drückt, springt nach einer gewissen Zeit der FI-Schalter raus. Gesa zieht die Wolldecke bis ganz nach oben zum Hals. Keiner ihrer Schulfreunde ist in der Gegend geblieben. Alle leben ihr Leben an Orten, die sie sich selbst ausgesucht haben. Warum klappt bei anderen, was sie sich so sehr wünscht? Sie will nicht mehr. Sie kann nicht mehr. Die Tränen kommen, ohne dass sie etwas dagegen tun kann.
Erschrocken fährt Gesa hoch. Sie ist eingeschlafen! Rieke … was ist mit ihr, atmet sie noch? Gesa eilt zum Stubenwagen, horcht nervös. Da, die Kleine zieht im Schlaf das Näschen kraus. Aufatmen. Ein Blick zur Uhr. Zwei Stunden war sie weg, in einem traumlosen Ruhemodus, trotzdem fühlt sie sich erschöpft. Sie sollte sich etwas zu Essen machen, stattdessen setzt sie sich an den Esstisch und starrt auf die Briefe. Ihr fehlt die Kraft, sie zu öffnen, die Kraft, in die Küche zu gehen, um sich etwas zu kochen, sich um die Wäsche zu kümmern oder das Haus zu saugen. Sie ist wie eine leere Heliumflasche. All ihre Leichtigkeit ist verflogen.
Das Schrillen des Telefons lässt sie aufschrecken. Sie beeilt sich, hofft, dass Rieke nicht aufwacht, und hält sich den Hörer ans Ohr.
»Moin, mein Schatz. Ich wollte mich kurz melden. Wie geht es denn den beiden hübschesten Frauen auf diesem Globus?« Die Liebe in Hennings Stimme … Und sie kann ihm nichts zurückgeben. Nicht einmal irgendwelche Worte. Ihre erbärmliche Antwort ist ein Heulkrampf.
Rerik
Bevor Ann zu Oma Rose in die Straße Zur Liebesschlucht einbog, wandte sie sich dem kleinen Wäldchen zu, dessen hagere Bäume verhinderten, dass es zu Bodenerosionen kam, die Steilklippen abbrachen und ins Meer stürzten. Vor dem Eingang in den Wald blieb sie stehen, legte das alte Rad einfach auf den Boden. Das Unbehagen war noch immer da. Sie mied die Klippen und den Bereich, der vom Ort wegführte. Dank vieler Therapiesitzungen bei ihrem Traumadoc hatte sie es geschafft, ihre Dämonen in die Schranken zu weisen, meistens jedenfalls. Albträume waren selten geworden, die Panikattacken, die absurderweise gerade in banal alltäglichen Situationen über sie gekommen waren, auch.
Lächerlich, wie schwer es ihr fiel, den einen Schritt nach vorn zu machen, in den Wald hinein. Dabei war der an dieser Stelle licht und nur ein paar Meter breit. Ann spürte, wie sie den Atem anhielt und zügig bis zum Strandabgang lief. Kein Blick nach rechts, auf den Weg, der irgendwann an der Hütte vorbeiführen würde. Flucht.
Sie rannte die Holztreppen hinunter, bis zu der ersten Plattform, die den Blick aufs Meer freigab. Atmen. Mit klopfendem Herzen lehnte sie sich an das Geländer und genoss die Weite, das Blau des Himmels und das Glitzern der Ostsee. Jetzt drangen auch die Umgebungsgeräusche zu ihr durch. Lachende Menschen, kreischende Kinder, die Laute eines unbeschwerten Strandtages.
So sehr sie das alles liebte, die Natur, das Meer, ihre Freunde und Oma Rose, vielleicht war es Zeit, woanders neu anzufangen? Es gab Erinnerungen, die mit Rerik verbunden waren, die sie nicht losließen. Todesängste, Schmerzen und Hoffnungslosigkeit. Und es gab die Schuldgefühle. Dr. Hase hatte ihr immer wieder klargemacht, dass nicht sie für den Tod der vier Menschen verantwortlich war, sondern ihr Mörder. Ihr Gehirn hatte das begriffen. Ihr Herz fühlte etwas anderes.
Ann atmete tief durch. Sie würde zu Marc nach Wiesbaden ziehen. Entschlossen drehte sie um und folgte den Holztreppen zurück auf die Klippe, marschierte die wenigen Meter durch den Wald, ohne nach rechts oder links zu sehen, und stand einige Minuten später vor Roses Haus. Auch hier fühlte sich alles nach Abschied an. Der ehemals liebevoll gepflegte Garten war längst zu einem Hauptsache praktisch geworden. Immergrüne Bodendecker, die weit davon entfernt waren, ihrem Namen gerecht zu werden, ersetzten die ehemals bunte Blumenpracht. Die alten Obstbäume trugen kaum noch, zu viele Wassertriebe bevölkerten ihre Äste.
Ann klingelte und dachte daran, wie schön es hier früher gewesen war. Wie gern sie zu Rose und Johann, zu Oma und Opa Rerik gefahren war. Es hatte keine herzlicheren Menschen gegeben. Ann war lieber bei ihnen gewesen als zu Hause. Als Opa Johann vor fünfzehn Jahren gestorben war, waren sie noch enger zusammengerückt, Ann und Rose. Jeden Sommer hatte Ann hier verbracht. Ihre Eltern waren nur für kurze Stippvisiten vorbeigekommen. Für Ann aber war es ihr Sehnsuchtsort, ihre Heimat. Bis zu diesem Sommer vor drei Jahren. Und jetzt? Oma Rose verschwand mit jedem Monat ein wenig mehr. Und mit ihr der Zauber dieses Hauses.
Ann klingelte erneut, sah durch ein kleines Fenster neben der Eingangstür.
Dann umrundete sie das Haus und blickte durch die Terrassenscheibe. Rose lehnte in ihrem Ohrensessel. Ihr Kopf war zur Seite weggerutscht.
Ann klopfte behutsam gegen das Fensterglas.
Wie schwach und gebrechlich Rose wirkte. Keine Apfelbäckchen mehr, nur noch fahle Haut und hervorstehende Knochen. Für einen kurzen, schrecklichen Moment dachte Ann, sie wäre tot. Doch dann hob die Seniorin langsam den Kopf. Sie schien verwirrt.
Ann lächelte und winkte. Sie ertappte sich dabei, wie sie betete, Rose möge es unbeschadet bis zur Terrassentür schaffen, so instabil wirkte ihr Gang. Doch dann war der Riegel oben und der Weg frei.
»Hey, ich wollte dich nicht beim Schlafen stören. Ich dachte, ich schau mal vorbei. Wie geht es dir?«
»Johanna, mein Herz, schön, dass du da bist. Wo hast du …« Sie stockte kurz. »… deinen Freund gelassen?«
»Marc. Er ist noch in Wiesbaden. Kommt Mittwochabend. Ich setze Tee auf, ja?«
»Marc, weiß ich doch.«
»Setzen wir uns nach draußen, oder ist es dir schon zu warm?«
»Nein, nein. Die Sitzkissen …«
»Bringe ich mit, beweg dich nicht vom Fleck!«
Ein paar Minuten später saßen sie sich gegenüber. Ann goss Tee ein. »Oma, glaubst du nicht, es wäre eine gute Idee, ein bisschen Hilfe anzunehmen?«
»Der Nachbar mäht den Rasen.«
»Du brauchst jemanden, der regelmäßig nach dir sieht.«
»Das machst du doch.«
»Jeden Tag.«
»Papperlapapp! Ich komme ganz gut zurecht.«
»Du könntest stürzen. Niemand würde es bemerken.«
»Bist du gekommen, um mir zu sagen, dass ich ins Seniorenheim gehöre?«
»Wäre das denn so schlimm? Es gibt bestimmt ganz schöne in der Nähe. Du bräuchtest dich nicht mehr jeden Abend die Treppe hochzuquälen, müsstest nicht einkaufen gehen oder kochen. Und es gäbe andere Bewohner, mit denen du dich unterhalten könntest.«
»Das hier ist mein Zuhause. Und wenn es einmal so weit ist, werde ich hier sterben und zu meinem Johann gehen.«
»Red nicht vom Sterben! Bis dahin ist es noch ein Weilchen.« Ann sah in Roses Augen, wie wenig sie ihr glaubte.
»Nun denn, erzähl mal, wie und wo soll es für dich weitergehen? Ich nehme an, du wirst Rerik den Rücken kehren?«
»Den Rücken kehren. Das hört sich an, als gingen der Ort und ich im Streit auseinander.«
»Sagen wir so … ihr hattet nicht nur gute Zeiten.«
»Das stimmt, aber denk an unsere Jahre mit Opa Johann, an die vielen schönen Sommer.«
Roses Blick wurde melancholisch. »Ja, daran erinnere ich mich gern. Wäre es doch nur so geblieben.«
Ann legte ihre Hand auf die ihrer Oma.
»Ich bin alt, Ann. Mein Leben ist gelebt. Ich kann den Tod schmecken.«
»Oma, bitte, das stimmt doch ni…«
»Still! Natürlich stimmt das und wir wissen das beide. Ich werde dieses Haus deinen Eltern vermachen. Mit der Bedingung, dass sie es nicht ohne deine Zustimmung verkaufen dürfen und nach ihrem Ableben dir vermachen müssen. Was du dann damit machst, ist dir überlassen. Ich weiß, wie eng du mit Rerik und diesem Haus verbunden bist, auf wundervolle, aber auch schmerzhafte Weise. Deshalb soll es dir kein Klotz am Bein sein. Wenn du mit alldem abschließen willst, verkaufe es. Das ist für mich in Ordnung. Oder macht ein Ferienhaus draus, ihr wisst, wie begehrt die Lage hier ist.«
Ann spürte die Tränen aufsteigen. »Das ist lieb, danke. Ich hoffe, bis dahin haben wir noch ein wenig Zeit.«
Rose lächelte. Allein das Reden schien sie zu ermüden.
»Ich werde dich hier nicht allein lassen. Das mit dem Umzug hat Zeit.«
»So weit kommt es noch, dass du dich an eine tattrige Frau kettest. Erzähl mir lieber, wie du dir deine berufliche Laufbahn vorstellst. Wie geht es weiter?«
»Ich habe einige Bewerbungen laufen. Ich würde gern im Bereich Wissenschaftsjournalismus tätig werden. Die ersten Anfragen sind verschickt. Nicht nur an Verlagshäuser von Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen, sondern auch an Produktionsfirmen im Bereich Film- und Fernsehen.«
Rose nickte anerkennend. »Du wirst viel unterwegs sein.«
»Ja, ein Aspekt, der mich reizt.«
»Wird Marc das aushalten?«
»Vieles kann auch online recherchiert werden, über Internetquellen und Gespräche via Videokonferenz. Bis ich für Themen gebucht werde, für die ich durch die ganze Welt jetten muss, wird es sicher noch eine Weile dauern.« Sie zwinkerte ihrer Oma zu.
Die führte mit zitternder Hand die Teetasse an ihre Lippen.
»Wie war Papa, als er klein war?«
Rose wirkte, als hätte sie gar nicht gehört, was Ann gesagt hatte.
»Oma?«
»Wie meinst du das?«
»Deine Söhne, er und Stephan, wie waren sie so? Haben sie sich gemocht oder ständig gezankt? Papas Bruder lebt schon so lange in der Schweiz, ich weiß gar nicht, wann wir den zuletzt zu Gesicht gekriegt haben. Ich glaube, der könnte mich umrennen, ich würde den nicht erkennen.«
»Sind beide sehr verschieden.«
»Wie alt ist Stephan noch mal?«
»Könntest du den Sonnenschirm aufstellen? Meine alten Augen sind empfindlich geworden. Es blendet.«
Stirnrunzelnd tat Ann, wie ihr geheißen. Konnte es sein, dass Rose vergessen hatte, wann ihr erster Sohn geboren worden war? War es ihr peinlich, wich sie ihr deshalb aus?«
»Ich weiß, die Schweiz ist verdammt weit weg, trotzdem seltsam, dass Papa und er so wenig Kontakt haben. Hätte ich einen Bruder …« Sie biss sich auf die Lippe. Shit, Ann, erst denken, dann reden! »Wann war Stephan denn das letzte Mal hier und hat dich besucht?«
»Lass gut sein, Ann! Ich glaube, ich würde mich gern ein bisschen hinlegen.« Mühsam drückte sie sich hoch.
»Klar, kein Ding!« Ann begleitete sie bis zum Sofa, half ihr beim zurechtlegen der Kissen und setzte sich neben sie. »Ich kann ihn für dich kontaktieren, wenn du möchtest, dass er noch mal … dass er dich besuchen kommt.«
»Du meinst, bevor ich sterbe? Bemüh dich nicht. Lass am besten alles so, wie es ist.« Ihre trüben Augen starrten sie an. »Johanna, du hast es mir versprochen! Deine Eltern sind feine Menschen. Sie haben ein glückliches Leben verdient. Die Vergangenheit ist Vergangenheit. Lass es dabei!«
Was hat das denn jetzt mit Onkel Stephan zu tun? Anns Mund klappte auf und wieder zu.
»Und jetzt würde ich gern ein wenig schlafen.«
Ihr Fahrrad klapperte bei jeder Unebenheit. Deine Eltern sind feine Menschen. Redete man so von seinem eigenen Sohn? Er ist ein feiner Mensch. Respektvoll, distanziert. Für Ann fühlte es sich an, als ob Rose von Nachbarn oder entfernten Bekannten sprach. Oder lag es einfach daran, dass sie einer anderen Generation angehörte? Auf jeden Fall war es Zeit, sich mit Papas Bruder in Verbindung zu setzen. Das hätte sie längst tun sollen. Vielleicht war der ja gesprächiger und scheute sich nicht, ihr von der Zeit der Vergewaltigung zu erzählen. Ann beugte sich weiter nach vorn und trat entschieden in die Pedale.
DAMALS, Husum, Nordfriesland
Die Wolken ziehen eilig über den Himmel, lassen hier und da die Sonne durchblitzen. Rieke hockt im Tragetuch. Ihre Augen folgen den markantesten Reizen. Gesas Rücken tut weh. Die Fahrt mit Baby in den öffentlichen Verkehrsmitteln war anstrengend. Würde sie das wirklich mehrmals auf sich nehmen wollen? Wenigstens regnet es nicht. Suchend geht sie durch die Straßen. Sie mag Husum. Es ist lebendig. Die Häuser sind hübsch, nichts ist kaputt. Wenn Henning hier eine Stelle finden würde, das wär’s.
Nummer sechzehn, neunzehn, wo ist die einundzwanzig? Ratlos blickt sie auf die Hausnummer dreiundzwanzig. Wenn das mal kein Zeichen ist! Ausgerechnet das Haus, in dem sich die Praxis befinden soll, existiert nicht. Hennings Idee, einen Psychiater aufzusuchen, eine Schnapsidee. Niemand geht zu einem Idiotenarzt, außer der, der in die Klapse gehört. Dass sie ständig weint, ihr alles über den Kopf wächst, liegt nicht an ihr, sondern an der verdammten Situation. Daran kann so ein Nervenarzt auch nichts ändern. Und was der kostet! Das Geld können sie gut für was anderes verwenden.
Gesas Blick fällt auf einen schmalen Gang, der sie zwischen zwei Häusern hindurch, zu einem dritten führt. Das große weiße Schild lässt keinen Zweifel, sie ist angekommen. Frau Dr. Henriette Steinmetz, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Gesa atmet tief durch. Hennings Stimme hallt in ihren Ohren: »Es ist nur ein Erstgespräch. Hör dir doch mal an, was sie zu sagen hat. Vielleicht hat sie ein paar Tipps, wie du das alles nicht so an dich ranlässt?«
Das alles. Er hat gut reden, er ist ja nie da. Wohnt die ganze Woche in einem Zimmer, warm und sicher. Und wenn er vor die Tür geht, sind da Menschen. Ist doch kein Wunder, dass sie anfängt, mit sich selbst zu reden. Rieke kann es ja noch nicht.
Gesa steigt die drei Stufen hoch. Ihr Baby gibt lustige Blubbertöne von sich.
So ein Quatsch! Was macht sie hier? Sie sollte umdrehen, sich von einem Teil des Geldes einen Cappuccino gönnen, den flanierenden Menschen zusehen und durch Husum streifen, sich also einen rundherum schönen Tag machen, statt einer fremden Frau … ja was eigentlich zu erzählen? Gesa spürt, wie sich alles in ihr sträubt, wie der Cappuccino immer begehrenswerter erscheint. Aber was ist mit Henning? Soll sie ihm vormachen, sie hätte an dem Erstgespräch teilgenommen? Ihm erklären, dass Frau Doktor ihr gute Tipps gegeben und ihr gesagt habe, dass sie keinen Psychiater brauche? Ist sie in der Lage, ihren Mann auf diese Weise zu belügen? So selten, wie der da ist.
Gesa schließt die Augen. Sie findet ihr Leben immer unerträglicher. Sie will Henning nicht anlügen müssen. Sie will nicht mehr zurück nach Ockholm. Und sie will erst recht nicht zu dieser Psychotante und ihr erbärmliches Leben vor ihr ausbreiten, ihr all ihre Ängste und Defizite anvertrauen. Anvertrauen – Vertrauen! Wieso zum Teufel soll sie einer Fremden überhaupt vertrauen? Das kann Henning nicht von ihr verlangen!
Die Tür der Praxis wird aufgerissen. Gesa zuckt schuldbewusst zusammen. Eine ältere Frau tritt ihr entgegen, hält ihr beim Hinausgehen die Tür auf. Sie lächelt. Ihre Gesichtszüge sind sanft. Gesa kann nicht anders und macht zwei Schritte nach vorn.
Dreh dich um, geh einfach wieder raus!
»Frau Jessen, richtig?« Die Frau mit dem kurzen blonden Zopf, die hinter dem Empfangstresen sitzt, ist in ihrem Alter. Ob sie ihrem Freund heute Abend von Gesa erzählen wird? Von der bekloppten Frau, der man das Baby wegnehmen sollte, weil sie anscheinend nicht in der Lage ist, sich darum zu kümmern? »Setzen Sie sich doch bitte noch einen Moment ins Wartezimmer! Frau Doktor hat sofort Zeit für sie.«
Gesa folgt dem richtungsweisenden Zeigefinger und atmet auf. Der Wartebereich ist leer. Nun gut – jetzt ist sie also hier. Sie wird dieses alberne Erstgespräch über sich ergehen lassen, der Psychologin ein paar harmlose Brocken vor die Füße werfen, von wegen Wochenbettdepression und so und dann wieder gehen.
Die Arzthelferin betritt den Raum, hält ihr ein Klemmbrett mit Kugelschreiber hin. »Würden Sie den Anamnesebogen bitte ausfüllen? Sie können beides einfach am Empfang abgeben, wenn Sie fertig sind.«
Gesa blättert nervös die Fragen durch. Persönliche Daten, wie Name, Adresse, Geburtsdatum und Beruf. Dann soll sie die wichtigsten Probleme niederschreiben, weshalb sie zur Therapie kommt. Sie wählt die Wochenbettdepression. Wie belastend empfinden Sie Ihre Probleme?
Darunter eine Skala von eins bis zehn. Sie beschließt, die Sache nicht unnötig aufzubauschen und kreuzt eine Zwei an. Sie verneint, schon mal beim Psychiater gewesen zu sein und Medikamente zu nehmen, ebenso die Einnahme von Alkohol und anderer Drogen. Dann ein Bogen über die lebensgeschichtliche Entwicklung. Stirnrunzelnd liest Gesa die Fragen durch.
Wie war das Befinden Ihrer Mutter während der Schwangerschaft und des Geburtsverlaufs? Was bitte hatte die Gemütslage ihre Mutter während ihrer Geburt mit Gesas heutigen Problemen zu tun? Glauben die etwa, die Probleme werden vererbt? Oder mit der Muttermilch weitergegeben? Woher soll Gesa wissen, wie es Lysbet bei ihrer Geburt ging? Kopfschüttelnd liest sie weiter. Welche Besonderheiten prägten Ihre Kindheit (Nägelkauen, Albträume, Bettnässen, Stottern …)? Wie haben Sie Ihre Kindheit erlebt? Wieder eine Skala von eins bis zehn, von unglücklich bis sehr glücklich. Geht es darum, herauszufinden, ob Lysbet ihre Probleme auf ihre Tochter übertragen hat?
Gesa lehnt sich zurück, streichelt unbewusst Riekes Köpfchen. Puh, ja, es war jetzt keine auf Rosen gebettete Kindheit. Sie hatten nicht viel Geld und der Hof war damals schon kein Palast. Ihre Eltern arbeiteten viel. In den Urlaub fuhren sie nie. Dafür kamen Gesas Schulkameraden gern, es gab genug Platz für Abenteuerspiele und Kindheitsfantasien. War sie glücklich? Sie hat nie einen Gedanken daran verschwendet. Jasper und Lysbet haben getan, was sie für richtig hielten. So wie ich jetzt mit Rieke. Geht es darum? Einmal schlechte Mutter, immer schlechte Mutter – über alle Generationen hinweg?
Gesas Herz klopft aufgeregt. Wenn sie nicht aufpasst, wird man ihr Rieke wegnehmen. Was hat Henning sich nur dabei gedacht, sie in diese Falle laufen zu lassen? Hastig bescheinigt sie sich eine glückliche Kindheit, ihrer Mutter einen unauffälligen Geburtsverlauf und beantwortet auch die anderen Fragen nach ihrer Kindheit so, dass es nach ihren Kriterien einer normalen entspricht.
Beschreiben Sie die Persönlichkeit Ihrer Mutter. Hat sich jemand in Ihre Lebensplanung eingemischt? Fragen zur Sexualität, zu Ängsten, Depressionen und Alkoholsucht anderer Familienmitglieder. Erinnern Sie sich an sogenannte Doktorspiele? Bitte? Je weiter Gesa sich durch den sogenannten Anamnesebogen arbeitet, desto mehr sinkt die Bereitschaft, irgendetwas in die Zeilen zu schreiben. Nach jedem Detail ihrer Beziehung zu Henning wird gefragt, nach ihrer Lebenssituation, ob sie zusammenleben, wie viel Geld ihnen zur Verfügung steht.
Dann geht es um ihre eigene Persönlichkeit. Sie soll sich selbst beschreiben, erklären, wie es aussieht, wenn sie die Kontrolle verliert. Natürlich verliert sie nie die Kontrolle! Andernfalls wäre sie als Mutter untragbar. Hektisch blättert sie bis zum Ende. Nennen Sie Ihre Erwartungen an die geplante Psychotherapie. Wütend wirft Gesa das Klemmbrett auf den Nachbarstuhl. »Da Sie nichts an meiner Lebenssituation ändern können – keine!«
»Frau Jessen, folgen Sie mir bitte?« Die Arzthelferin! Wie lange steht die schon im Türrahmen? Fordernd streckt sie ihr die Hand entgegen. »Den Anamnesebogen dürfen Sie mir geben.«
Gesa folgt dem nervös hüpfenden Zopf in das nächste Zimmer, betet im Stillen, dass die Mitarbeiterin keinen Blick auf die Papiere wirft. Verrückt, Gesa fühlt sich wie früher, in der Schule, wenn sie dachte, sie hätte die Klassenarbeit verhauen und hoffte, die Lehrerin möge nicht schon beim Einsammeln bemerken, wie dumm Gesa war.
»Frau Jessen, schön, dass Sie den Weg zu mir gefunden haben.« Henriette Steinmetz ist schätzungsweise Mitte vierzig, hat blondierte Strähnchen in ihrem voluminös geföhnten Bob und eine kobaltblaue Brille auf der Nase. »Und wen haben wir da? Wie heißt denn die süße Maus?«
»Rieke.«
»Schön, setzen Sie sich bitte.«
Der hüpfende Zopf verlässt das Zimmer, schließt die Tür hinter sich.
Henriette Steinmetz würdigt den Anamnesebogen keines Blickes.
Gesa entspannt sich leicht.
»Was führt Sie zu mir?«
»Ehrlich gesagt, weiß ich das auch nicht. Mein Mann dachte, es würde nicht schaden, sich ein paar Tipps zu holen.« Gesa studiert Henriettes Mimik. Doch die bleibt unergründlich freundlich.
»Tipps in Bezug auf was?«
»Ich glaube, ich bin ein bisschen nah am Wasser gebaut.« Sie versucht ein Lächeln. »Die Hormone, Sie wissen schon. Der Körper muss sich ja nach der Schwangerschaft erst mal wieder umstellen. Das hab ich Henning auch gesagt, dass sich das von allein wieder einrenkt. Aber er ist immer so besorgt um mich. Ansonsten kommen wir gut klar.« Gesa erhebt sich. »Ich glaube, ich stehle nur Ihre Zeit. An mir, an uns ist alles so, wie es sein sollte. Deshalb … diese Fragen …« Sie weist auf den Anamnesebogen. »Ich hab irgendwann aufgehört. Bei meinen Eltern war alles in Ordnung, zwischen meinem Mann und mir passt auch alles und Rieke ist ein absolutes Wunschkind. Es sind die Hormone.« Gesa zuckt entschuldigend die Schultern.
»Sie haben ein Elternteil verloren?«
Gesa muss schlucken. »Wie kommen Sie darauf?«
»Weil Sie von Ihren Eltern in der Vergangenheit sprechen.«
»Beide, sie sind beide tot. Aber das ist okay. Für meinen Vater wäre jeder weitere Tag eine Quälerei gewesen. Krebs, Sie verstehen?« Gesa ärgert es, wie zittrig ihre Stimme klingt.
Frau Steinmetz nickt, als stimme sie ihr zu. »Wie lange ist das her?«
»Neun Monate. Der Tod von Jasper ist neun Monate her.« Sie muss unbedingt verhindern, dass sie anfängt zu heulen.
»Und ihre Mutter?«
»Starb zwei Monate nach ihm. « Verstohlen wischt Gesa sich mit dem Finger unter ihrer Nase lang.
»Möchten Sie sich nicht doch kurz setzen?«
»Das sind nur die Hormone«, bekräftigt Gesa, während ihre Augen tränen, als hätte jemand einen Hahn aufgedreht. »Sehen Sie? Das meine ich. Wegen Nichts fange ich an zu heulen. Obwohl doch alles gut ist.«
»Der Tod der eigenen Eltern ist nicht Nichts. Dazu noch die Schwangerschaft, das kann schon Einiges ins Wanken bringen.«
»Aber deswegen bin ich doch nicht verrückt.«
Frau Steinmetz lächelt nachsichtig. »Sich in einer emotionalen Ausnahmesituation zu befinden, hat nichts mit Verrücktsein zu tun.«
»Ich bin eine gute Mutter.«
»Mit Sicherheit sind Sie das. Wie wäre es, wenn wir uns die nächsten zwei Monate regelmäßig sehen und wir danach eine Zwischenbilanz ziehen? Sie überlegen sich bis zum nächsten Mal, welches Ergebnis Sie sich wünschen würden.«
»Aber die Kosten …«
»Manches wird von der Krankenkasse übernommen. Wo sind Sie versichert? Das lässt sich ganz schnell klären.«
Gesa schweigt verunsichert. Vielleicht tut es ihr doch ganz gut, mal mit jemandem zu reden, der von außen auf ihr Leben blickt.
»Welche Frequenz wäre Ihnen lieb? Einmal die Woche? Wie sieht es bei Ihnen mit dem nächsten Donnerstag aus? Und so süß die kleine Maus auch ist, und so brav wie sie das heute hier gemeistert hat, gibt es die Möglichkeit, Ihre Tochter für die fünfzig Minuten in vertrauensvolle Hände zu geben?«
Rerik
»Hallo Papa, na, wie geht’s euch so?«
»Johanna, schön, dass du anrufst. Uns geht’s gut. Na ja, wir freuen uns auf das lange Wochenende. Du weißt schon, unser jährliches Wellnessprogramm.«
Sie hörte ihn lachen.
»Stimmt! Wann fahrt ihr?«
»Übermorgen. Mittwochmorgen.«
»Wieder ins selbe Hotel?«
»Ja, da gefällt es uns einfach am besten.«
»Na dann … Ich war heute übrigens bei Oma. Ihr müsst euch jetzt keine Sorgen machen, da brennt nichts an, aber auf Dauer sollten wir uns was überlegen.«
»Was meinst du?«
»Sie ist echt gebrechlich geworden.«
»Ich weiß. Susanne und ich haben das auch schon durchgesprochen. Ist nicht so einfach. Sie will in dem Haus bleiben.«
»Keiner kriegt mit, wenn sie stürzt.«
»Das ist so. Deswegen soll sie an das Hausnotrufnetz angeschlossen werden. Es gibt verschiedene Anbieter. Die alten Leute bekommen ein Armband oder eine Kette mit einem integrierten Knopf, den sie drücken können, falls sie gestürzt sind und es nicht mehr bis zum Telefon schaffen. Wir wollten nächste Woche zu euch nach Rerik kommen, um Rose davon zu überzeugen.«
»Hört sich gut an. Trotzdem, glaubst du, das reicht? Mir wäre echt wohler, wenn es jemanden gäbe, der – am besten täglich – bei ihr vorbeischauen könnte. Für sie einkauft und kocht. Ihr die Wohnung putzt. Solange ich noch in Rerik bin, kann ich das gern übernehmen, aber auf Dauer … Sie wird immer weniger, Papa.«
