Toxische Tiefe: Ostsee - Karen Kliewe - E-Book
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Toxische Tiefe: Ostsee E-Book

Karen Kliewe

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Beschreibung

Lebensgefährliche Forschungsfahrt: Johanna Arnold ermittelt auf hoher See. Für LeserInnen von Eva Almstädt November 2017. Ein Forschungsschiff stampft durch die winterliche Ostsee. Sein stählerner Bug frisst sich beständig durch eiskalte Wellen. Nichts weist auf die grausame Tragödie hin, die sich just in diesem Moment an Deck abspielt. Und niemand bemerkt ihn, den leblosen menschlichen Körper, der einen Atemzug lang auf der schwarzen Wassermasse tanzt, bevor die Nacht ihn verschlingt. Eigentlich wollte die Journalistin Johanna Arnold über die wissenschaftliche Arbeit an Bord der Neptun schreiben, doch dann kommt alles ganz anders. Viele Seemeilen vom nächsten Festland entfernt, erhärtet sich ein schrecklicher Verdacht: Einer von ihnen ist ein Mörder. »Gelungener Küsten-Krimi, dessen eiskalte Atmosphäre nicht nur wetterbedingt ist! Gern weiter so!«  ((Leserstimme auf Netgalley)) »Dies ist eine Krimi-Geschichte die nachdenklich stimmt. Ein Buch das man gelesen haben sollte.«  ((Leserstimme auf Netgalley))  »Ein ausserordentlich spannender Krimi, der sehr gut in die heutige Zeit passt und der wunderbar recherchiert und dargestellt ist! Mich hat dieser Krimi sofort gepackt und er ist wirklich spannend bis zum letzten Buchstaben!Meine absolute Leseempfehlung!«  ((Leserstimme auf Netgalley))  

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Sandra Lode

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Peter Molden.

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Epilog

Das Nachwort der Autorin

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

 

Für euch,ihr Bewahrer, Visionäre,ihr Welterklärer und friedlichen Aktivisten

Prolog

Neun Seemeilen vor Gotland, Schweden

Sie war genau da, wo sie sein sollte. Pünktlich auf die Sekunde.

Die Steuerbordseite der ruhig daliegenden Neptun verbarg sich vor neugierigen Blicken, war an dieser Stelle in tiefe Dunkelheit getaucht. Das sonore Brummen des Motors, das leise Klingen von Metall an Metall und das schwache Klatschen der Wellen, die gegen den Rumpf schlugen, verbreiteten ein trügerisches Gefühl friedvoller Beständigkeit. Der Wind blies mäßig mit Stärke vier bis fünf, formte in regelmäßigen Abständen kleine weiße Schaumkronen, die, von den Lichtern der Neptun angestrahlt, kurz erschienen, um sich dann im Nichts aufzulösen.

Einige Sekunden blieb die zierliche Gestalt verborgen, als hätte sie das Schwarz der Nacht verschluckt. Dann aber: eine Bewegung. Sie lief in Richtung Heck. Matt legte sich ein sanfter Lichtsaum um die rechte Seite ihres Oberkörpers, als sie sich aus der schützenden Dunkelheit des Schiffsaufbaus löste und von einer der Heckleuchten erfasst wurde. Der riesige Galgen, der bis zu vier Tonnen schweres Material an Bord hieven konnte, ließ ihre schmale Gestalt noch kleiner wirken. Zum wiederholten Mal blickte sie sich um, trat dann an den Seezaun, löste die Karabiner, legte die Metallseile vorsichtig zur Seite und hob ihren angewinkelten Arm. Natürlich – der prüfende Blick zur Uhr.

In dem Moment, in dem ihre Finger ein letztes Mal den Sitz ihrer Sicherheitsweste prüften, zog sich die Schlinge zu.

Die größte Schwierigkeit bestand darin, sie am Schreien zu hindern. Der Rest war ein Kinderspiel. Ihr schlaffer Körper sank leise zu Boden. Routinierte Hände öffneten das seitliche Fach der Weste, klappten den Spannhebel nach oben, entnahmen den Pill-Cage und entfernten die Tablette, setzten alles wieder zusammen und warfen das daumennagelgroße Plättchen über Bord.

Keine fünf Sekunden später folgte der leblose menschliche Körper. Einen Atemzug lang tanzte er, bunt und von der Schiffsheckleuchte dramatisch in Szene gesetzt, schwankend auf der schwarzen Wassermasse, bevor die Dunkelheit ihn verschlang.

Kapitel 1

Paderborn, zehn Tage zuvor

Verhandlung im Fall Meja Persson: abgeschlossen.

Fünfte Woche des laufenden Wintersemesters: abgeschlossen. Mit reger Teilnahme an Vorlesungen!

Neunundsechzigster Tag in Folge ohne

die

Pillen!!!

Gute drei Wochen ohne Panikattacke. (So glücklich!)

 

Ann legte den Kugelschreiber beiseite, lehnte sich zurück und betrachtete zufrieden die abgehakten Punkte auf dem Blatt Papier. Sie standen sinnbildlich für ihr Ringen um ein normales Leben.

Ihr neuer ›Hardware-Spezialist‹, Angst- und Trauma-Experte Dr. Gisbert Hase (der Name entlockte ihr nach wie vor ein breites Grinsen), gab sich alle Mühe, ihre Festplatte namens Gehirn neu zu konfigurieren. Er hatte ihr zu dieser regelmäßigen Auflistung geraten. Sie solle ihre Erfolge sichtbar machen, meinte er. Das Schwierigste war gewesen, diese Nichtigkeiten überhaupt als Erfolge anzuerkennen.

Hase war es auch gewesen, der sie motiviert hatte, ›Ihnen‹ Namen zu geben. Sie hießen ›Der Verurteilte‹, ›Die Anklagende‹ und ›Die Geheimnisvolle‹. Wobei Anns Namensgebung anfänglich ganz anders ausgesehen hatte. Da waren es ›Der Mörder‹, ›Die Wasserleiche‹ oder ›Die Eiskalte‹ gewesen, die ihr den Schlaf raubten.

Um sich von ihnen lösen zu können, müssten sie an Schrecken verlieren, meinte Gisbert Hase, und das finge bei den Namen an. Bislang schienen die ›Drei‹ von der Umbenennung unbeeindruckt. Sie suchten Ann in unregelmäßigen Abständen heim, mischten sich in ihre Träume, ließen sie schweißgebadet hochschrecken und danach nicht wieder einschlafen.

Sie schaute auf und sah, wie er lächelte.

»Wie ich sehe, gefällt Ihnen, was Sie sehen.« Sein Grinsen wurde noch breiter. Was zur Folge hatte, dass die roten Apfelbäckchen nach oben rutschten und seine dunklen Knopfaugen unter einer dicken Lage Falten verschwanden.

»Ich wäre gern weiter.«

Dr. Hase nickte verständnisvoll. Er wusste um die Kraft und den langen Atem, den die Patienten brauchten, um ihre Angststörung so weit in den Griff zu bekommen, dass ein normales Leben möglich war.

»Immerhin – Hyperventilieren in der Schlange beim Bäcker, das gab’s schon länger nicht mehr«, bemerkte Ann flapsig und lächelte zurück.

»Und ›Die Drei‹?«

»Erfreuen sich bester Gesundheit.« Eine Äußerung, die im Bezug auf ›Die Anklagende‹ ziemlich gewagt war. Handelte es sich doch um eine faltige Alte, die aus den kalten Fluten der Ostsee auftauchte, mit leichenblasser Haut und blauen Lippen, und sie mit toten, vorwurfsvollen Augen anstarrte.

»Hm«, brummte der Arzt und schrieb etwas in seine Kladde.

»Sie wissen, ich möchte nächstes Jahr meinen Abschluss machen …« Ihre klaren grünen Augen fixierten sein Gesicht. »Vorher muss ich ein Praktikum absolvieren. Und ich hätte da ein sehr verlockendes Angebot.« Sie studierte seine Mimik, suchte nach Zustimmung. Sie wollte unbedingt das erlösende Statement, dass sie so weit war und alles gut gehen würde.

»Was wollen Sie von mir, Johanna? Ich halte es für verfrüht, über Ihre Masterarbeit nachzudenken. Sie stehen noch ganz am Anfang. Wenn Sie den Druck jetzt erhöhen, kann alles in sich zusammenfallen.«

»Es geht nicht um die Arbeit. Es ist wegen des Praktikums.« Sie ärgerte sich. Waren Psycho-Docs nicht eigentlich dazu da, einen zu unterstützen? Konnte er sie nicht einfach mit Euphorie und Zuversicht überhäufen?

»Was ist damit?«

»Das Thema lautet: Sauerstoffarmut in den Tiefen der Ostsee. Die Auswirkungen des Klimawandels und mögliche Gegenmaßnahmen. Dr. Hauke Martens – er ist Geograf und Koordinator des Bereichs Umweltüberwachung und Mitglied eines Forscherteams – hat mich eingeladen, über seine Arbeit zu schreiben. Er hat mir spektakuläre Bilder und aufsehenerregende Fakten versprochen. Und: Das renommierte Wissenschaftsmagazin Climate Science wäre interessiert.« Ann drehte ihre langen, glatten Haare mehrfach umeinander und versuchte, den Blick des Arztes zu deuten.

»Und?« Nach wie vor zeigte der keine Regung. Im Gegenteil: Er lauerte.

Weil er genau weiß, dass das nicht alles war.

»Dazu müsste ich ihn begleiten. Auf einem Forschungsschiff.«

Die Anspannung schien aus seinem Gesicht zu fallen, während die Erkenntnis seine buschigen, weißen Augenbrauen nach oben schnellen und die dunklen Knopfaugen aufleuchten ließ.

»Also, es ist ja keine monatelange Polarexpedition …« Sie versuchte ein ironisches Lachen. »Und wann bekommt man als angehende Journalistin schon so eine Chance? Das Thema ist brandaktuell. Und es wäre meine erste ernst zu nehmende, überregionale Publikation.«

Er seufzte vernehmlich. »Stimmt. Das klingt sehr verlockend.« Dann schwieg er wieder und sah ihr dabei zu, wie sie nach dem Kugelschreiber griff und ihn nervös durch ihre Finger gleiten ließ.

»Ich meine, ich liebe das Meer, bin schon auf zig Booten gefahren, werde dort viele interessante Leute kennenlernen und genug damit zu tun haben, die Fakten zu meinem Artikel zusammenzukriegen und aufzuarbeiten. Also: What the hell soll schon passieren?« Ihr Blick flackerte unsicher zu ihm hinüber.

»Sie sollten mir davon erzählen.«

Ann stöhnte. »Sie wissen doch genau, wo das Problem liegt!«

»Um einzugrenzen, wie entscheidend dieses Problem wirklich ist, sollten Sie es definieren.«

Ann dachte an den ›Verurteilten‹. Er war real. Sein Geist hockte in ihrem Kopf – hatte sich tief im Innern eingenistet. Jeder ihrer Atemzüge versorgte ihn mit Sauerstoff, gab der Erinnerung an ihr Martyrium Futter. Das dunkle Erdloch, die Schmerzen, die Angst, dieses unmenschliche Gefühl, aushalten zu müssen, dass das Leben aus ihr herausrann. Beinahe wäre sie elendig verreckt. Seitdem kämpfte sie sich durch jeden verdammten Tag, hasste die Dunkelheit – bekam in engen Räumen keine Luft. Ihre Stimme zitterte leicht. »Die Kajüten sind klein und eng. Wir werden zwei Wochen unterwegs sein, ohne die Möglichkeit, das Schiff zu verlassen. Ich komme da also nicht weg, ich meine … so von jetzt auf gleich. Und es kann so schnell auch niemand vom Festland zu mir hin. Ich weiß, das ist Quatsch, aber es fühlt sich ein bisschen an wie: ausgeliefert zu sein.«

Sie hasste sich für diese Gedanken.

Gisbert Hase legte seine Kladde auf den Tisch, lehnte sich zurück und sah sie ein paar Sekunden lang nachdenklich an. »Ich verstehe. Wie viele Mitreisende wird es geben?«

»Elf Besatzungsmitglieder, Techniker und Ingenieure und genauso viele Wissenschaftler. Genauer gesagt: zweiundzwanzig Profis und mich.«

»Profis, die auf vieles vorbereitet sind. Auf Schlechtwettergebiete, streikende Maschinen, Krankheitsfälle … Diese Leute machen das nicht zum ersten Mal, Johanna. Es wird schon häufiger vorgekommen sein, dass jemand seekrank geworden ist oder plötzlich Platzangst bekommen hat.«

Wollte er sie veräppeln? Hatte er nicht eben noch von ›Druck nicht erhöhen, sonst fällt alles in sich zusammen‹ gefaselt? Und jetzt verglich er ihre Situation mit der einer Seekranken? »Was wollen Sie mir damit sagen? Stell dich nicht so an, alles kein Problem?«

»Ich werde mich hüten! Aber: Ich kann Ihnen die Entscheidung nicht abnehmen. Ich werde Ihnen weder abraten, noch Ihnen einen Freifahrtschein ausstellen. Natürlich besteht das Risiko, Panikattacken ausgesetzt zu sein. Das besteht woanders auch. Sie haben keine Angst vor dem Meer oder einer Bootsfahrt.« Seine Augen bekamen diesen Oberlehrer-Blick. »Die Frage ist, ob Sie sich dem Ganzen stellen wollen. Gehen Sie die beiden Möglichkeiten für sich durch! Was ginge Ihnen durch den Kopf, sollten Sie das Angebot ablehnen?« Er ließ ihr kurz Zeit und fügte dann mit einem provokanten Unterton: »Schade, aber egal, es wird andere Angebote geben?« hinzu.

Ann schnaubte abwertend. »Garantiert nicht. Der Markt ist übersät mit Meinesgleichen, die sich für derlei Jobs gegenseitig die Schädel einschlagen würden.« Sie wurde nachdenklich. »Ich würde mich Tag und Nacht ärgern, über mich selbst, meine Schwäche und die Macht, die dieses Arschloch immer noch über mich hat.«

»Und was wäre das Schlimmste, das Ihnen auf diesem Schiff passieren könnte? Was wäre der Worst Case?«

»Dass ich es unter Deck nicht aushalte und unter freiem Himmel übernachten muss?« Sie kicherte nervös, als hätte sie einen spontanen Witz rausgehauen. Eigentlich wohl eher, dass mich die Panik von den Füßen reißt und es mir unmöglich macht, länger an Bord zu bleiben. Und was dann? Die Forschungsmission abbrechen, das Schiff zum Umkehren zwingen, das Beiboot klauen und zurückrudern …? Keine sehr angenehmen Gedanken.

»Anfang November, bei den Umgebungstemperaturen, Wind und Regen? Würde ich mir überlegen«, sagte er lachend. »Das Schlimmste wäre doch wohl, dass die Panik zu mächtig würde und Sie meinten, von Bord gehen zu müssen, um davon wegzukommen, richtig?«

Mit großen Augen starrte sie ihn an. »Also, ich bin nicht suizidgefährdet, da bin ich mir ziemlich sicher! Ich würde nicht einfach springen.«

»Es gibt Menschen, die würden tatsächlich genau das tun. Auch wenn das bedeuten würde, dass sie Gefahr liefen, dabei zu sterben. Das logische Denken ist hormonell blockiert, die Panik so stark, dass sie alles dafür tun würden, um aus der Situation rauszukommen – und zwar sofort. Aber an dieser Stelle gebe ich Ihnen recht. Zu diesen Menschen zählen Sie gottlob nicht. Also: Sie wollen da weg, würden aber nicht springen. Das Forschungsteam wird wegen Ihnen die Mission nicht abbrechen, davon können wir ausgehen. Dafür ist das Ganze zu kostspielig. Solange Sie nicht randalieren und sich oder andere verletzt, werden sie auch keinen Umweg in Kauf nehmen, um Sie irgendwo an Land zu setzen, geschweige denn die Seenot rufen. Fakt ist: Sie werden Sie ärztlich versorgen, gegebenenfalls ruhigstellen, bis die Fahrt beendet ist.« Er ließ seine Worte kurz wirken. »Also – wofür werden Sie sich entscheiden?«

*

Neustadt in Holstein, noch sechs Tage

Der Umweg über ihre Heimatstadt kostete nicht nur Zeit. Die weiten Fahrten mit Bus und Bahn gingen trotz Studentenermäßigung ganz schön ins Geld. Aber diese Chance musste sie einfach nutzen. Ihre Eltern waren für vier Tage in ein einsames Spa-Resort abgetaucht. Einmal im Jahr gönnten sie sich diesen Luxus, zogen mit einem befreundeten Pärchen los und ließen es sich rundum gut gehen. Ann konnte sich also in aller Ruhe in ihrem Elternhaus umsehen und so lange graben, bis ihre Neugier von Erfolg gekrönt sein würde. Sie war sich so verdammt sicher: Es gab da was. Etwas Unaussprechliches, für das Susanne und Jürgen sich so sehr schämten, dass sie es mit aller Macht verbargen – selbst vor ihrer einzigen Tochter. Anders konnte sie sich das seltsame Verhalten ihrer Mutter nicht erklären.

Susanne war nie besonders emotional gewesen, hatte sich aber, soweit Anns Erinnerung zurückreichte, immer gut um ihre Tochter gekümmert. Seit zwei Jahren jedoch, oder nein, eigentlich schon seitdem Ann nach Paderborn gegangen war, benahm sie sich seltsam abweisend. Es schien keine Liebe, kein Verständnis und erst recht keinen Stolz für ihre Tochter zu geben. Journalismus war wohl nicht das, was Susanne sich für Ann vorgestellt hatte. Und Jürgen mauerte, stellte sich schützend vor seine Frau – auch wenn er dabei wirkte wie ein geprügelter Hund.

Nun wären sie nicht der erste Haushalt, in dem das Mutter-Tochter-Verhältnis unter Harmonieverlust litt. Hier aber gab es etwas Unausgesprochenes, etwas, das sich wie eine hohe Wand zwischen ihnen aufgebaut hatte. Je mehr Ann versuchte, sie einzureißen und dahinter zu schauen, desto distanzierter wurde ihre Mutter. Angefangen hatte alles mit ein paar harmlosen Fragen zu Kindheitserinnerungen, der Zeit vor Anns Geburt und fehlenden Fotos. Mit zunehmendem Alter hinterließen die ausweichenden Antworten ihrer Eltern eine Spur von Ratlosigkeit und Argwohn. Ann konnte es nicht genau festmachen, aber irgendwas stimmte da nicht und sie war fest entschlossen, herauszubekommen, was das war.

 

Der Kleiderschrank der beiden hatte nichts hervorgebracht. Das Sideboard, die Nachtschränke – Ann tastete sich durch Unterwäsche, Socken, Nachtzeug und Bettwäsche. Sie schaute in kleine und große Kisten, wühlte sich durch Papiere, Briefe und amtliche Dokumente. Sie zog Bücher aus dem Regal und wedelte so lange, bis die Seiten breit aufgefächert jedes eingesteckte Blatt Papier preisgegeben hätten. Nichts!

Sie marschierte in den Keller, ließ sämtliche Lampen hell aufleuchten und arbeitete sich durch Eingemachtes, Gartengeräte, Weihnachtsdeko, altes Kinderspielzeug und Werkzeugschränke. Alles vollkommen unauffällig.

Eins, zwei, drei, vier Eckstein – alles muss versteckt sein!

Die Stimme in ihrem Kopf schien sich gut zu amüsieren. Ann hatte sich an sie gewöhnt, kämpfte schon lange nicht mehr dagegen an. Erzählt hatte sie kaum jemandem davon, nicht mal dem Hase. Zu groß war ihre Angst vor den Konsequenzen, vor den Blicken und den verstörten Gedanken ihrer Mitmenschen.

Entnervt klopfte sie sich den Staub von der Hose. Wenn ihre Eltern ein Geheimnis bewahrten, so musste es doch irgendein Zeugnis darüber geben, irgendeinen Hinweis … Wenn sie nur wüsste, wonach genau sie eigentlich suchte!

Sie öffnete die nächste Tür, die den Blick freigab auf ein einsames Möbelstück in einem sonst absolut leeren Raum: den Weinschrank. Sie griff nach einer Flasche und machte sich auf den Weg nach oben.

Drei Stunden später waren zwei Drittel getrunken und der Wohnzimmerboden bedeckt mit aufgeschlagenen Fotoalben und wild verteilten Bildern.

»Der Wasserschaden …«, murmelte sie. Die Zeit von ihrem zweiten Lebensjahr an bis sie fast fünf gewesen war, war fototechnisch nicht dokumentiert. Das heißt, eigentlich war sie das schon, nur hatte ein Wasserschaden – angeblich – sämtliche Fotos dieser Jahre, inklusive der Negative, vernichtet. Ann nahm einen großen Schluck Wein, schloss die Augen und ließ sich nach hinten in den Sessel fallen. Als sie die Lider wieder öffnete, starrte sie der große Mahagonischrank mit seinen weit geöffneten Türen an. Seit sie denken konnte, besaßen ihre Eltern dieses prächtige Stück, das so schwer war, dass sie bei Renovierungsmaßnahmen stets drumherum tapeziert hatten.

Sie stutzte, schob die Alben zur Seite, hockte sich vor den Schrank und untersuchte den Sockel. Bis auf ein paar winzig kleine Kerben war der unversehrt. Das rötliche Holz schimmerte seidig und machte einen tadellosen Eindruck. Kein noch so zarter Hauch eines Wasserrandes. War das möglich? Wenn die Brühe so hoch gestanden hatte, dass die Fotos und Negative in den gestapelten Taschen hinter den Türen oberhalb des Sockels zerstört worden waren, müssten dann nicht Spuren am Holz zu erkennen sein?

Darauf kannst du deinen Arsch verwetten!

Ann kroch in die Zimmerecke, in die schmale Lücke rechts neben den Schrank und presste eine Gesichtshälfte an die weiße Raufasertapete, um hinter den Schrank sehen zu können. Die Abschlussleiste des Laminats verhinderte ein Anschmiegen der Rückseite an die Wand. Der kleine Spalt bestätigte Anns Erinnerungen: Hinter dem Trumm klebte ein Scherenschnitt des Möbelstücks in Form einer Blümchentapete – voilà: das allererste Gewand des Wohnzimmers. Dieser Schrank hatte seit dem Erstbezug des Hauses hier gestanden und war nie abgebaut worden, andernfalls wäre die Tapete dahinter neueren Datums. Was auf alle Fälle von Nöten gewesen wäre nach einem Wasserschaden: neue Tapeten!

Sie kroch wieder vor das Möbelstück, schaute sich die Türen von innen und außen genau an, ließ ihren Kopf im Schrank verschwinden und untersuchte jeden noch so kleinen Fleck. Nichts! Hatten ihre Eltern sie also angelogen? Hatte es diesen Wasserschaden nie gegeben? Wozu? Was war auf diesen Fotos, das keiner sehen durfte?

Du solltest ›Die Geheimnisvolle‹ in ›Der Falsche Fuffziger‹ umtaufen.

Sie kroch in die Mitte der Alben und sortierte sie nach Jahreszahlen. Dann nahm sie eine Schatulle mit alten Aufnahmen aus der Kindheit und Jugend ihrer Eltern – es waren nicht viele – und legte sie der Reihe nach aus. Zeitlich einordnen konnte sie sie nicht. Auf den Rückseiten stand nur selten etwas, und wenn, war es mit schwarzem Edding unkenntlich gemacht worden. Dann starrte sie Minutenlang auf die Ansammlung und ließ sie auf sich wirken. Ihre Mutter als junges Mädchen vor einem Baum, ihre Eltern als junges Paar vor der Fahrertür eines Autos, Oma Rose mit dem kleinen Jürgen auf dem Arm vor einem Blumenbeet … So ging es immer weiter.

Ann rieb sich die Stirn. Irgendetwas fehlte. Hastig suchten ihre Augen die alten Bilder ab. Aber natürlich! Auf keinem war zu erkennen, wo es gemacht worden war! Keine Skyline als Urlaubserinnerung, kein Haus, kein Straßenname, keine Automarke oder gar ein -kennzeichen von dem ersten, stolz präsentierten Wagen, kein Raum in der Totalen! Nur Susanne, Jürgen und seine Eltern, Oma Rose und Opa Johann, vor nichtssagenden Hintergründen. Hastig schlug Ann das Album auf, in dem sich die Fotos ihres ersten Lebensjahres befanden, und blätterte es wie wild durch. Genau dasselbe! Ann im Stubenwagen, Ann im Laufstall, Ann auf Jürgens Arm vor einem blühenden Rapsfeld. Keine Anhaltspunkte, in welchem Raum der Stubenwagen oder der Laufstall gestanden hatten. Es gab keine ortsspezifischen Hinweise!

Aber dann – nach dem mysteriösen Wasserschaden! Ann riss ein anderes Album an sich – da war sie vier gewesen. Und mit einem Mal war alles da! Susanne strickend auf dem Sofa, vor sich der Couchtisch mit Deckchen und Blumenvase. Sogar das Nachbarhaus war durch die Scheibe zu erkennen. Das Heim, so wie Ann es kannte, präsentierte sich bis ins letzte Detail in ganzen Reihenaufnahmen, genauso wie die wechselnden Familienautos. Es gab Fotos mit Freunden, von Feiern und vom Urlaub im Ferienhäuschen in den schwedischen Schären.

Nachdenklich starrte sie auf das Bilderchaos. Oder bildete sie sich das alles nur ein? War das einfach nur Zufall? Werde ich langsam paranoid? Sie schloss die Augen und ging die Ausbeute des heutigen Tages gedanklich noch einmal durch. Es ging nicht um das, was sie gefunden hatte, sondern um das, was fehlte!

Sie sprang auf und rannte ins Schlafzimmer. Auf dem Nachtschrank ihres Vaters stand ein Bilderrahmen. Die Aufnahme zeigte Susanne und Jürgen als Brautpaar am Tag ihrer Hochzeit. Eine Studioaufnahme vor einem einfarbigen, nichtssagenden Hintergrund. Ann löste die Klemmen, schob die Rückwand zur Seite und nahm das Foto heraus. Auf der Bildunterseite stand eine aufgedruckte Nummer und eine Jahreszahl: 1986. Mist! Kein Hinweis auf das Studio, in dem es fotografiert worden war.

Und wo sind die anderen? Die Gruppenfotos, die Bilder vor und in der Kirche, vom Empfang und von der Feier? Du kannst mir doch nicht erzählen, dass nur dieses eine Foto gemacht wurde!

Nichts davon hatte Ann gefunden, konnte sich nicht mal daran erinnern, je welche gesehen zu haben.

Sie lief zurück ins Wohnzimmer, öffnete abermals die breite Klapptür der kleinen Bar des Mahagonischranks und den dahinterliegenden Pseudo-Tresor, griff nach dem Familienstammbuch und fing an zu blättern. Namen, Geburtsdaten, Tag der Hochzeit, Ort der Hochzeit, Geburtsort von Ann – alles war dort ordnungsgemäß vermerkt. Die darauffolgenden Seiten waren leer. Keine weiteren Kinder …

Gedankenverloren machte Ann sich wieder auf den Weg ins Obergeschoss. Ihre Eltern kamen beide gebürtig aus der Nähe von Hamburg. Geheiratet hatten sie in Neustadt, auch Ann war hier geboren worden. Susanne hatte keine Geschwister, Jürgen einen Bruder, der in der Schweiz lebte und den sie nur selten zu Gesicht bekamen. Anns Großeltern mütterlicherseits waren früh verstorben, sie hatte sie nie kennengelernt. Irgendwann – vor Anns Geburt – waren Susanne und Jürgen nach Neustadt gezogen. Er hatte bei der Stadt einen Job als Angestellter im nichttechnischen Verwaltungsdienst angenommen. Sie arbeitete noch heute als Apothekerin im Ort.

Während sie das Hochzeitsfoto wieder einrahmte, schüttelte Ann entnervt den Kopf. Sie sollte sich auf ihr eigenes Leben konzentrieren, statt nach Verschwörungen in dem ihrer Eltern zu suchen.

Plötzlich rutschte eine der Klemmen vom Rahmen und fiel hinunter. Hell klirrend kam sie auf dem Nachttisch auf, sprang zur Seite und verschwand in der Ritze dahinter. Ann ging in die Knie und blickte suchend unters Bett. Keine Klemme weit und breit. Sie zog den Stahlrahmen, an dem die hölzernen Nachttische befestigt waren, von der Wand. Das zu erwartende metallisch klingende Geräusch kündete vom Erfolg ihrer Bemühungen. Als Ann in die Knie ging, fiel ihr Blick auf die Rückwand der nun frei im Raum stehenden Bett-Nachttisch-Kombination. Mit mehreren Lagen Klebestreifen war sie befestigt worden, die umgeklappte Klarsichthülle. In ihr: eine weiße Plastikkarte, ein schmaler Streifen Papier und ein kleiner Schlüssel, der im Schein der Deckenlampe verführerisch aufblitzte.

*

Rerik, noch fünf Tage

Das Meer lag ruhig da und spiegelte die Graunuancen des Himmels wider. Fast schien es, als befände es sich in einem tiefen, friedlichen Winterschlaf. Bei knapp zehn Grad und totaler Flaute mutete der erste Samstag im November ungewöhnlich mild an. Ann öffnete schnaufend ihren dick gefütterten Anorak.

»Nicht, dass du noch seekrank wirst!« Fredde grinste breit. Sein Hoodie und die Steppweste waren eindeutig die bessere Wahl. »Ich hab schon einige lustige Geschichten gehört von diesen Forschungsfahrten.«

Das Profil ihrer Schuhe hinterließ tiefe Abdrücke im nassen, vom Wasser glattgebügelten Sand.

»Das könnte dir so passen, Polizeioberkommissar Frederik Steinmann. In dem Fall würdest du ja wohl eure WAPO-Jolle anwerfen und mich retten kommen!«, gab sie grinsend zurück.

»WAPO-Jolle? Unverschämtheit! Keiner hat ein so prachtvolles Boot wie unsere Dienststelle! Und das lassen wir uns garantiert nicht von einer Landratte wie dir vollkotzen.«

»Wer ist hier ne Landratte?« Überschwänglich kniff sie ihn in den Arm.

»Wann legt ihr ab?«

»Montagmorgen um sieben. Bedeutet: sechs Uhr da sein.« Sie verdrehte die Augen.

»Für dich als ewige Studentin kaum zu schaffen. Vielleicht solltest du einen Abend vorher an Bord gehen – damit sie nicht ohne dich ablegen.«

»Ha, ha, super witzig!« Der erneute Kniff ging ins Leere, da Fredde rechtzeitig zur Seite sprang. Lachend sah sie ihm ins Gesicht. Er war zu einem tollen Kumpel geworden, hatte ihr in den letzten anderthalb Jahren so manches Mal beigestanden und sich, als einfacher Polizist, der er war, weit für sie aus dem Fenster gelehnt. Ein Besuch bei ihm, kurz bevor sie von Rostock aus aufbrechen würde, war deshalb ein Muss.

»Ein Wahnsinnsangebot! Das Climate Science ist ja selbst mir ein Begriff. Und das will was heißen.« Sein Blick folgte einer sanft dahingleitenden Möwe.

»Irre, oder?«

»Wie sind sie auf dich gekommen?«

»Dr. Martens, der wissenschaftliche Fahrtleiter, hat mich ausgesucht.«

»Und ihr kennt euch woher?«

»Gar nicht. Das ist einer dieser aberwitzigen Zufälle, die einem als Anstoß der eigenen Karriere den richtigen Drive verschaffen können. Er hat die Berichterstattung um die Neustädter Morde verfolgt, insbesondere die Artikel, in denen es darum ging, welche Rolle ich dabei gespielt habe. Meine Hartnäckigkeit und mein Engagement haben scheinbar Eindruck hinterlassen. Als er dann noch hörte, dass ich Journalistik studiere …« Mit gemischten Gefühlen dachte sie an das verrückte Frühjahr, das Fredde und sie enger zusammengeschweißt, ihr eine gute Freundin genommen – und eine der ›Drei‹ eingebracht hatte.

»Wie auch immer. Für dich wird das der Beginn einer traumhaften Karriere! Nach all dem Scheiß hast du dir das echt verdient.«

»Danke für die Blumen! Ich hätte mich nur gern besser vorbereitet. Ein Treffen mit Dr. Martens kam aber aus Zeitgründen nicht mehr zustande. Mit genaueren Informationen hätte ich mich thematisch schlau lesen können. So muss ich auf meine Intuition hoffen – und auf eine stabile Internetverbindung.« Sie blieb stehen, hob einen kleinen, flachen Stein auf und ließ ihn über die spiegelnde Wasserfläche springen.

Eine Zeit lang warfen sie schweigend.

»Zwischen dir und Marc ist aber alles im Lot, oder?« Ohne den Kopf vom Meer wegzudrehen, schielte er vorsichtig zu ihr hinüber.

Sie stutzte, fand diese Frage merkwürdig. »Klar. Warum fragst du?«

»Na ja, du hier im hohen Norden, er beim BKA in Wiesbaden.«

Und bei ihm: die bezaubernde Sam!

Ann ignorierte die bissige Bemerkung ihres zweiten Ichs, ihrer inneren Stimme, der sie aus nicht herzuleitenden Gründen den eigentümlichen Namen ›Eigil‹ gegeben hatte.

»Wann habt ihr euch das letzte Mal gesehen?«, hörte sie Freddes Stimme fragen.

»Vor fünf Wochen, während der Semesterferien.«

»Und da hatte er kaum Zeit für dich.«

Ann zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Was Fredde so alles wusste.

»Er hat es mir erzählt. Und er hatte ein echt schlechtes Gewissen«, drückte der sein Bedauern aus.

Für die süße Sam hatte er umso mehr Zeit, wette ich.

Ann wusste, wie bescheuert das war. Sie wollte vertrauen. Ganz bestimmt. Und trotzdem nagte die Eifersucht langsam aber beständig an ihrer Substanz. Marc und sie waren seit vierzehn Monaten zusammen. Seit acht Monaten lebte er in Wiesbaden, machte beim Bundeskriminalamt ein duales Studium zum Kriminaltechniker im Bereich Biochemie. Eine Wahnsinnschance, nachdem er seine Polizeikarriere aufgrund einer schweren Schussverletzung eigentlich hatte an den Nagel hängen müssen. Insofern: Besser hätte es gar nicht kommen können.

»So’n Quatsch! Wir wussten alle, dass die kommende Zeit extrem arbeitsintensiv für ihn werden würde. Demnächst beginne ich mit meinem Master, dann hocken wir beide nur noch über Büchern …«

»Ich meine, die Wiesbadener Truppe ist schon echt cool. Wenn ich allein an Sam denke!« Freddes Augen leuchteten begeistert. »Es gäbe nur wenige, die dieses Juwel von der Bettkante schubsen würden!« Peinlich berührt brach er ab. »Ich meine … also, unter denen, die nicht so einen Treffer gelandet haben wie Marc und ich, mit meiner süßen Isabelle und …«

Oh Mann, Fredde!

*

Hafen Rostock-Warnemünde, Kai Marienehe, noch drei Tage

4,8 Grad. Ann stand am Pier, blickte auf das vertäute Forschungsschiff, die Neptun, und beobachtete einige Minuten lang das emsige Treiben. Letzte Kisten und Säcke wurden an Bord getragen, Menschen liefen hin und her. Alle schienen genau zu wissen, was sie zu tun hatten.

Sie selbst hatte in der letzten Nacht kein Auge zugemacht, und das lag nicht an einem Besuch der ›Drei‹. Sie war einfach nur übelst aufgeregt. Climate Science – wenn das klappte, dann wäre klar, in welche Richtung das Thema ihrer Masterarbeit gehen würde.

Sie atmete tief durch, griff nach ihrem Rucksack und steuerte die Gangway an.

Sie sah Leute, die sich lachend in den Arm nahmen oder überschwänglich auf die Schulter klopften. Neben Deutsch, mal perfekt, mal gebrochen, hörte sie englische und dänische Begrüßungssalven, während ein Trupp von wetterfest vermummten Männern weiterhin Material und Gerätschaft an Bord schleppte.

»Vorsicht da!«, raunzte es hinter hier. Ann beeilte sich hochzukommen und sprang zur Seite.

Ein Berg von einem Kerl wälzte sich mit einer Kiste auf der Schulter an ihr vorbei.

»Name?«

Hektisch wandte sie den Kopf. Ein hageres Männlein, das in seiner Wetterkombi zu versinken drohte, schaute sie erwartungsvoll an.

»Ann – äh, Johanna Arnold. Die Journalistin.«

»Na wunderbar!«, erklang es neben ihr und schon wurde sie herzlich am Arm und in die Runde einer kleinen Gruppe Mitreisender gezogen, während das Männlein ihren Namen auf einer Liste abhakte und rief: »Ich brauch noch den Pass!« und dann »Na dann, eben später« hinterhermurmelte.

»Hauke!«, meinte der besitzergreifende Mann gut gelaunt und hielt ihr seine Hand hin. »Schön, dass du mit an Bord bist. Darf ich vorstellen? Ingke Amundsen, Bereich Mikrobiologie, und Naresh Sharma, Geophysiker, zwei Wiederholungstäter, die es gern ganz genau nehmen.«

Super, eine Walküre und ihr Nerd. Das wird sicher nett!

Die Amundsen verzog ihre prallen Lippen zu einem spöttischen Grinsen, während Naresh unsicher lächelte, seine strahlend weißen, ebenmäßigen Zähne aufblitzen ließ und Amundsen hilfesuchend ansah. »What did he say?« Ingke, so schätzte Ann, dürfte knapp über dreißig sein, der indische Wissenschaftler wirkte jünger.

»Fabian«, meinte ihr gegenüber ein blasser Typ und nickte ihr zu. »Studentische Hilfskraft.«

Ihm schlossen sich eine Chemikerin, ein Geologe, dessen Brillengläser so schmierig waren, dass Ann seine Augen nur erahnen konnte, und eine Meeresbiologin an. Die Namen würde sie sich hoffentlich in den nächsten Tagen eingeprägt haben.

»Sobald wir vollständig sind, wird es eine Sicherheitseinweisung geben. Ich rate jedem, gut zuzuhören und sich an die Maßgaben zu halten. Das betrifft auch jene, die schon häufiger dabei waren. Der Weg zur nächsten Klinik ist weit, unter Umständen – wenn es ganz übel kommt – zu weit.« Er machte eine bedeutsame Pause. »Danach werde ich die Schichten bekannt geben. Es gibt zwei Teams, wir arbeiten in Sechs-Sechs-Schichten, um die Zeit an Bord der Neptun möglichst effizient zu nutzen. Dich …« Hauke sah Ann direkt in die Augen »… werde ich meiner Schicht zuteilen. Da ich die Mission leite, kannst du davon ausgehen, dass du nicht allzu viel Schlaf bekommen wirst …«

Alle schauten sie erwartungsvoll an. Doch Ann war vorbereitet. Sie hatte sich durch einige Wochenberichte ähnlich gearteter Forschungsreisen gelesen. Es gab sie frei für jeden einsehbar auf den Internetseiten der beteiligten Institute. Sie nickte souverän. »Kein Problem!«

»Du bist ne echte Memme, Tjerk! Machst ständig einen auf dicke Hose, aber wenn es darum geht, was zu riskieren, klemmst du den Schwanz ein!«

Erwartungsvoll drehten alle ihre Köpfe. Die vor Spott triefende Stimme gehörte einer Frau, die trotz ihres augenscheinlich schweren Gepäcks erstaunlich leichtfüßig die Gangway erklomm. Direkt gefolgt von einem Michelin-Männchen mit hochrotem Kopf und zornig funkelnden Augen.

»Du hast doch nicht alle Tassen im Schrank! Selbst einem beschränkten Hirn wie deinem müsste doch wohl klar sein, dass die Folgen katastrophal wären!«, wetterte er zurück, dass die Speicheltropfen nur so umherflogen.

»Und es geht schon wieder los. Das darf doch wohl nicht wahr sein …«, sang Amundsen leise die Verse eines uralten deutschen Schlagers. »Eines wird diese Fahrt mit Sicherheit nicht: langweilig.« Sie zwinkerte Ann zu und verabschiedete sich mit einem Nicken in die Runde. »Dann werd ich mal mein Quartier beziehen.«

Kapitel 2

Sieben Seemeilen nordöstlich von Rostock

Ann schritt den Gang des unteren Decks entlang. Sie schielte auf ihr Handy. Dem Kabinenplan zur Folge, den sie sich abfotografiert hatte, müsste ihre Schlafkammer im vorderen Teil des Schiffs zu finden sein, auf der rechten Seite. Die Neptun war ein über fünfzig Meter langes, modernes, extrem gut ausgestattetes schwimmendes Labor. Das technische Datenblatt versprach einige Highlights. Dr. Martens hatte Ann eine detaillierte Führung versprochen … nebenbei, während der Arbeit. »Ich renne eh ständig hin und her. Und da du mich möglichst häufig begleiten solltest, ergibt sich das von allein«, hatte er gemeint und sich anderen Dingen zugewandt. Nach der Besprechung, die eigentlich nur daraus bestand, wer welcher Schicht zugeteilt worden war, in welchem Zeitraum diese sich bewegten und wo der Kabinenplan hing, war Hauke zielstrebig und in ein Gespräch mit Kollegen vertieft, verschwunden.

Ein ganz spezieller Geruch, der nur Dingen anhaftete, die permanent Wind, Wetter und salzhaltigem Wasser ausgesetzt waren, vermischt mit dem Aroma schlecht zu lüftender kleiner Räume, stieg ihr in die Nase. Der Gang war nicht besonderes breit, dafür bis in die letzte Ecke grell ausgeleuchtet. Ann versuchte, das Attribut ›eng‹ zu ignorieren. Sie blieb vor einer schweren Metalltür stehen. Sechs große Hebel und ein Rad starrten sie an. Zudem gab es eine normale Klinke, die sie nun unschlüssig niederdrückte. Sie zog, zunächst zaghaft, dann immer kräftiger, bis der Koloss sich gnädigerweise bewegte und den Blick auf einen weiteren Gang freigab. Ann stieg durch den Metallrahmen der Luke, eine circa zwanzig Zentimeter hohen Kante, die wohl den Schutz vor eindringendem Wasser darstellte, und lief weiter. Hinter ihr schlug das Schott mit einem lauten Klicken zu. Die weißen Wände strahlten grell im Neonlicht. Der blau gestrichene Boden gab sich kühl und pragmatisch.

»Da ist sie doch«, murmelte Ann und blieb vor einer der Kabinentüren stehen. Sie wollte sie gerade öffnen, da hörte sie dahinter ein Rumoren. Es schien, als sei ihre Mitbewohnerin, laut Plan eine gewisse Dr. Alette Roux, schneller gewesen. Ann klopfte. Die Tür ging auf und vor ihr stand – die Frau, die laut Tjerk nicht alle Tassen im Schrank hatte!

 

Ein paar Minuten später rannte Ann durch den Längsgang von Deck B. Martens hatte gesagt, sie solle zu ihm stoßen, sobald sie ihre Kabine bezogen hätte. Sie fände ihn im Nasslabor auf Deck B. Er hatte doch B gesagt, oder? Ann stöhnte. Das fing ja gut an.

»Kann ich helfen?«

Ein Mann war auf den Gang getreten und zog hinter sich die Kabinentür zu. Auf seiner Jacke prangte das Logo der Reederei. Ein von Lücken durchzogener Drei-Tage-Bart in dunkelgrau zierte sein Kinn.

»Nasslabor«, brachte Ann mühsam hervor. Der Müsliriegel klebte widerspenstig an ihren Zähnen. Von Frühstück hielt man am Ablegetag wohl eher wenig.

»Hauptdeck. Achtern. Steuerbord.« Er grinste und streckte ihr seine Hand entgegen. »Erster Offizier, Peer Bolten.«

Sie wischte sich die Finger an ihrer Jeans ab und ergriff die dargebotene Hand: »Journalistin, Ann, orientierungslos.«

»Keine Angst. Das wird sich schnell ändern. Hier oben, auf Deck B, befinden sich der Musterplatz, die Kajüten der Befehlsspitze, also die des Kapitäns, des ersten und zweiten Offiziers, der Maschinisten und des Fahrtleiters.«

»Dr. Martens.«

»Richtig. Über uns, auf Deck C: der Steuerstand. Unter uns, auf dem Hauptdeck, das Universallabor, das Nasslabor, der Sondenraum, die Kombüse, die Messe, die Mannschaftskabinen, die Krankenstation, Arbeitsräume und im Außenbereich unsere hydraulischen Kräne, die Geräte- und Materialcontainer, sowie der Heckgalgen.«

Ann folgte Bolten nach draußen.

»Ganz unten, im Rumpf der Neptun, findest du die Kammern der Wissenschaftler, die Motoren, die Stauung, das Kühllabor, die Durchflussanlage und so weiter.«

Ann versuchte ein selbstsicheres Lächeln. »Na dann ist ja alles klar. Dann will ich mal … Vielen Dank.« Winkend drehte sie sich um und wollte wieder unter Deck gehen. Da hörte sie ihn räuspern.

»Ähem, ich würde den Niedergang gleich hier nehmen,« erklärte er mit einem unverhohlen belustigten Gesichtsausdruck und zeigte auf die steile Metallstiege.

»Natürlich!« Sie hoffte, ihre roten Wangen würden dem kalten Wind zugeschrieben werden, und eilte hinunter. Sie sollte unbedingt einen Schnellkurs in Seemannslatein belegen.

Direkt am Eingang des Hauptdecks fand sie das Nasslabor. Ann rügte sich innerlich für ihr planloses Rumgerenne. Beim Hineingehen sah sie Martens, wie sollte es anders sein, in einer Besprechung mit zwei Kollegen.

»Ah, die Presse! Wir gehen gerade den ersten Einsatz von Rosi durch. Wenn wir unsere Position erreicht haben, muss alles reibungslos funktionieren.«

Neugierig schaute sie sich um. Die Wände des vollgestopften Raums waren mit Metall ausgekleidet. Aus dem gleichen Material: die an der Wand angebrachten Tische. Viele von ihnen hatten eingelassene Becken, auf denen engmaschige Gitterroste ruhten. Darauf wiederum standen seltsam runde Platten auf drei Beinen, die Ann an alte Filmdosen erinnerten, in denen zu Großmutters Zeiten die mehr oder weniger legendären Leinwandstreifen aufbewahrt wurden. Nur dass an diesen Platten feine Schläuche angebracht waren. Leitungen waren generell das Thema dieses Raumes. Es gab kein Gerät, das nicht in ein Wirrwarr von Schläuchen integriert war. Von der Steckdosenleiste, die unterhalb der niedrigen Decke angebracht war, führten zahllose Stromleitungen zu Messinstrumenten, Monitoren und anderen skurrilen Apparaten. Messbecher, Ampullen und Apothekerfläschchen Größe XL füllten die spärlichen Zwischenräume und machten den chaotischen Eindruck perfekt. Auch der Geruch, der Ann sofort aufgefallen war, war absonderlich. Eine Mischung aus Elektronikdunst und … ja, was eigentlich? Ihr fiel ad hoc nichts ein, um den Gedankengang befriedigend abzuschließen. »Rosi?«

»Unser CTD. Damit können wir die Temperatur, den Salz- und Sauerstoffgehalt in unterschiedlichen Tiefen messen. Mit ihrer Hilfe entnehmen wir die Wasserproben. Du wirst dabei sein, wenn wir die Süße ins Wasser lassen. Dann erklär ich dir alles.«

»Hauke, kannst du mal?« Eine Frau steckte ihren Kopf durch die Tür.

»Klar«, meinte der, ließ die drei stehen und eilte aus dem Raum.

Na super! Das konnte ja lustig werden. Zügig folgte sie ihm. Sie kam sich vor wie eine Praktikantin, die ihrem Chef den Kaffee hinterhertrug.

Du bist eine Praktikantin …

 

Es dauerte noch weitere drei Stunden, bevor sie sich unglaubliche zehn Minuten am Stück mit dem Fahrtleiter unterhalten konnte, ohne dass sie von irgendjemandem gestört wurden. Bis dahin war sie wie eine Bekloppte hinter ihm her gerannt, hatte versucht, so viel wie möglich aufzuschnappen, sich Notizen gemacht und die Atmosphäre in sich aufgesogen.

Ihr Magen grummelte laut und vernehmlich.

»Hunger?« Sein Blick wanderte zur Uhr an seinem Arm.

»Geht schon.«

Seine fein abgegrenzten Augenbrauen schnellten ungläubig nach oben. »Hier kann dir viel passieren. Arbeiten bis zur Erschöpfung, Nässe, Kälte, Seekrankheit, Schlafmangel … aber eins mit Sicherheit nicht: Hunger!«

Sie folgte ihm durch den engen Gang des Hauptdecks.

»Vorsicht!«, warnte er, als er die dicke Metallluke aufzog. »Diese Dinger haben’s in sich. Die Klimaschutztüren sind wichtig, um den Labor- vom Wohnbereich zu trennen und bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen. Bedeutet im Umkehrschluss, dass dir so’n Teilchen auch schon mal aus der Hand gerissen werden kann, wenn der Zug zu groß ist und …« Oberlehrerhaft ruhte sein Blick auf ihr.

»Es steht die Todesstrafe darauf, wenn man sie nicht direkt hinter sich wieder schließt, ich weiß!« Sie grinste. So viel hatte sie von der Einweisung behalten. Kurz hinter dem Schott verengte ein ausgeklapptes Brett den Durchgang. Es war an einer Tür angebracht, die mit einem Loch versehen war. Davor stand ein Matrose, der just in diesem Moment seine Mahlzeit gereicht bekam, sich wegdrehte und ging. Allein für den wunderbaren Duft, der ihnen entgegenschlug, hätte Ann töten können.

Hauke lachte. »Wir können von Glück sagen – unser Koch versteht sein Handwerk.« Durch die Luke wurde ihm ein üppig gefüllter Teller angereicht, den er Ann in die Hand drückte. »Du musst nur fix sein. Zuspätkommen hasst er. Da kann es dir passieren, dass du dich am kalten Büffet aus dem Kühlschrank bedienen musst. Wir haben feste Essenszeiten zu den Schichtwechseln. Deftiges gibt es zu jeder Tages- und Nachtzeit. Du magst zum Frühstück ein Steak? Um Mitternacht steht dir der Sinn nach Rührei? Kein Problem!« Als sie beide versorgt waren, folgten sie dem Gang bis zur sogenannten Messe, dem Essensraum. Links in der Ecke gab es einen Tisch mit Ecksofa und mehreren Stühlen, an denen scheinbar nur Crewmitglieder sitzen durften. Vorn mittig ein ebenso großer mit entsprechender Bestuhlung und ganz rechts ein weiterer, der jedoch bedeutend kleiner ausfiel.

Ungläubig starrte sie auf die Teller derer, die schneller gewesen waren. Viele Plätze waren bereits besetzt. Sie erkannte die Amundsen und Fabian, der ein wenig abseits saß und irgendwie verloren wirkte.

Sie setzten sich und aßen einen Moment lang schweigend. Ann versuchte, die Köstlichkeiten nicht allzu ordinär herunterzuschlingen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Alette Roux den Raum betrat.

»Konntest du dich schon mit deiner Kammernachbarin bekanntmachen?« Hauke Martens hatte, wie Ann beim Hochsehen auffiel, für einen Mann unverschämt langen Wimpern.

»Für mehr als ein hastiges Hallo hat es noch nicht gereicht.«

»Unsere Zahl an Einbett-Kabinen ist begrenzt und wir sind bis auf den letzten Platz belegt«, entschuldigte er sich.

»Schon okay.« Sie zögerte. »Dieser Tjerk scheint nicht sehr viel von ihr zu halten.«

»Alette Roux ist Mitinhaberin einer Geo-Engineering-Firma. Sie und ihr Kompagnon sind auf der Neptun, um zu untermauern, dass ihr millionenschweres Projekt Erfolg haben wird.«

»Tjerk ist ihr Kompagnon? Ist bestimmt eine harmonische Partnerschaft.«

»Tjerk? Um Himmelswillen nein! Sie würden sich zerfleischen. Zudem würde er da nie mitziehen. Kannst du dich an ihre Ankunft erinnern? Hinter den beiden müsstest du noch einen blassen, recht unscheinbaren Mann wahrgenommen haben. Simon Willems.«

Ann gab zu, dass der ihr entgangen war.

Hauke stand auf, ging zum Kühlschrank und kam mit einem Joghurt zurück. »Wir fahren regelmäßig Expeditionen, um Monitoring-Langzeitdaten zu erfassen, betreiben Forschung zum Salz- und Sauerstoffgehalt der Ostsee, überwachen den Ph-Wert, die Temperatur und den Fischbestand und noch so einiges mehr. Das nennt sich Umweltüberwachung. Aber auch externe Wissenschaftler können Fahrtzeiten beantragen und die Neptun für ihre Forschung nutzen. Alette und Simon gehören nicht zum Institut. Sie verfolgen ihre eigenen Ziele.«

Er setzte sich wieder, zog den Deckel ab und fing an zu löffeln.

»Und die wären?«

»Um das zu verstehen, brauchst du Einblick in die Thematik. Ich versuch es mal grob zu umreißen. Im Großen und Ganzen hat die Ostsee zwei schwerwiegende Probleme: erstens den Sauerstoffmangel, zweitens die Nährstoffüberfrachtung. Die Ostsee ist ein Brackwassermeer. Brackwasser deswegen, weil ständig eine beachtliche Menge leichtes und salzarmes Flusswasser einfließt – und mit ihm große Mengen Dünger und Nährstoffe aus der Landwirtschaft. Letzteres hat besonders auf die küstennahen Regionen Auswirkungen. Bedingt durch den Klimawandel steigt zudem die Temperatur an der Oberfläche. Fatale Konsequenz: Wärme und Nährstoffe lassen den Sauerstoffgehalt sinken, höhere Lebewesen werden verdrängt. Gerade in den Sommermonaten kommt es in Tiefen ab fünfzehn Meter daher schnell zu Sauerstoffminimumzonen.«

»Den Todeszonen!«

Hauke lächelte nachsichtig. »Ich halte nichts von Panik verbreitender Rhetorik. Den Nährstoffstrom über unsere Flüsse können wir sehr gut steuern, zum Beispiel, indem wir weniger Dünger auf die landwirtschaftlich genutzten Flächen bringen. Wir haben also einen direkten Einfluss auf die Sauerstoffversorgung der küstennahen Bereiche. Schwieriger wird es im Bezug auf das Tiefenwasser. Die kleinen Sauerstoffmoleküle aus der Atmosphäre schaffen es nicht bis dort runter. Das süße Brackwasser der Ostsee hat zu wenig, bleibt also nur der Zustrom aus der sauerstoffreichen Nordsee. Und hier liegt das Problem. Es gibt nur wenige, enge Stellen, über die das lebensspendende Nass in die Ostsee gelangen kann. Leider reicht die gewöhnliche Menge Nordseewasser bei Weitem nicht aus, um alle Bereiche der Ostsee zu versorgen.«

Ann nickte. Hauke bestätigte das, was sie im Vorfeld recherchiert hatte. »So sind immer größere Teile des Tiefenwassers unterversorgt. Und ohne Sauerstoff kann es kein komplexes Leben geben! Die Fische, all die bodennah lebenden Organismen, die in der Ostsee beheimatet sind …«

»… verschwinden. Dieses Phänomen hat es in den letzten achttausend Jahren immer wieder gegeben, dass es sich nun ausbreitet, ist allerdings besorgniserregend«, ergänzte er.

Wieder nickte Ann wissend. »Siebzigtausend Quadratkilometer sollen betroffen sein.«

»Richtig. Die besonderen geografischen Gegebenheiten der Ostsee machen es so schwierig. Es gibt eine Vielzahl verschieden tiefer Becken, durch die sich das schwerere Salzwasser kämpfen muss. Zunächst fließt es in das achtundvierzig Meter tiefe Arkona-Becken bei Rügen. Nur, wenn der Zustrom stark genug ist, kann er auf der anderen Seite wieder herausklettern, um dann ins Bornholm-Becken zu fließen. Das hat eine Tiefe von neunzig Metern.«

»Je tiefer das Becken, desto größer die Hürde. Schwache bis mittelstarke Einströme kommen nicht viel weiter als bis zum Bornholm-Becken.« Auf Anns Stirn hatte sich eine kleine Sorgenfalte gebildet.

»Erst wenn hundertfünfzig Kubikkilometer Wasservolumen sowie eine Gigatonne Salz eingeflossen sind, haben die tiefsten, entferntesten Becken eine Chance. Andernfalls …«

»… ist dort irgendwann jeglicher Sauerstoff aufgebraucht.«

Jetzt war es an Hauke zu nicken. »Genau. Und es kommt noch schlimmer: Mit der Zeit bilden sich an diesen Stellen erhebliche Konzentrationen Schwefelwasserstoff – hochtoxisch und absolut vernichtend für die meisten Organismen.«

Ann sann kurz über das Gehörte nach. Konzentriert drehte sie eine ihrer langen Haarsträhnen um ihren rechten Zeigefinger. »Die Nährstoffüberfrachtung und die Erwärmung verschärfen den Sauerstoffmangel, schon klar, das Phänomen des schwachen Zustroms und die Unterversorgung der Becken muss es aber schon immer gegeben haben – zumindest seitdem die geografischen Gegebenheiten so sind wie heute. Was ist mit den Salzwassereinbrüchen? Werden sie wirklich immer seltener? Warum funktioniert nicht, was über so viele Jahrhunderte wunderbar geklappt hat? Liegt das tatsächlich nur am Wind?«

»Du hast dich gut vorbereitet. In der Tat, es hängt einzig und allein am Wind – was in diesem Fall sehr fatale Auswirkungen hat. Salzwassereinbrüche entstehen nur dann, wenn heftiger Ostwind mehrere Tage lang Brackwasser aus der Ost- in die Nordsee drückt und danach lang anhaltende Weststürme große Mengen sauerstoffreiches Nordseewasser einströmen lassen. Das ist der einzige Weg, über den die grundnahen Schichten der zentralen Ostsee versorgt und die Flora und Fauna am Leben erhalten werden können. Ein extrem fragiles und schlecht zu korrigierendes System also. Und lange Zeit sah es wirklich so aus, als sei das Schicksal der Ostsee besiegelt – die Ausrichtung der Winde hatte sich geändert und Salzwassereinbrüche fanden kaum noch statt. Von 1980 bis 2010 gab es gerade mal fünf. Die Sauerstoffminimumzonen breiteten sich bedenklich aus. Doch dann schien sich der Wind erneut zu drehen. Seit November 2013 konnten wir acht starke Einströme verzeichnen, darunter einen extrem gewaltigen im Dezember 2014, der selbst dem Gotlandtief Fische bescherte.«

Ann traute dem Braten nicht. Haukes Gesichtsausdruck sah nicht nach Entwarnung aus. »Das klingt erfreulich. Warum höre ich ein Aber mitschwingen?«

»Der Sauerstoff – er hält sich nicht. Er baut sich viel schneller ab als früher. Fische siehst du längst keine mehr im Tiefenwasser vor Gotland. Die lebensfeindlichen Zonen breiten sich trotz der Einbrüche wieder aus.«

»Was, lass mich raten, mit den Auswirkungen des Klimawandels zusammenhängt.«

»Sieht ganz so aus. Wie genau, das ist das Rätsel, das es zu lösen gilt. Was uns nun endlich zu den Zielen führt, die Alette und Simon auf die Neptun verschlagen haben. Sie forschen an neuen Ansätzen, die uns Wege aufweisen könnten, wie man diese toten Bereiche mit Sauerstoff versorgen kann. Und darin sind sie schon ziemlich konkret. Sie wollen es mithilfe riesiger Pumpen in die betreffenden Zonen transportieren, um langfristig Phosphor im Bodensediment zu binden. Sie wollen die Gebiete – bildhaft gesprochen – reanimieren und dauerhaft am Leben erhalten.« Er erhob sich.

Ann tat es ihm gleich. »Hört sich nach einem guten Plan an. Weshalb ist Tjerk dagegen?«

Haukes Funkgerät knackte. Leise war eine Stimme zu hören. Er zog es aus seiner Jackentasche, meldete sich und lauschte. Als er es wieder wegsteckte, meinte er: »Er ist nicht der Einzige. Er ist nur der, der es am deutlichsten ausspricht.« Er wies auf die Tür »Wir sollen auf die Brücke kommen.« Dann drehte er Ann den Rücken zu und ging schnellen Schrittes voran.

»Wir müssen den Zeitplan anpassen«, begrüßte Kapitän Barne Rehder die beiden. »Da kommt was auf uns zu, klein, aber ungemütlich. Zunächst sah es so aus, als bliebe der Sturm außer Reichweite. Jetzt aber …«

Interessiert betrachtete Ann die riesige abgeschrägte Konsole, auf der sich unendlich viele Schaltflächen, Drehknöpfe, grün, gelb und rot leuchtende Bedienelemente, ein eingelassener, grauer Telefonhörer, ein Gashebel, der GPS-Monitor und ein paar lustig aussehende Mikrofonpinne befanden.

»Wann?« Hauke studierte die Bilder des Satellitenfilms auf einem weiteren Monitor.

Ann drehte den Kopf. Seitlich, rechts neben dem Gashebel, gab es noch mehr Bildschirme. Sie zeigten Bereiche des Außendecks, wie zum Beispiel den Heckgalgen.

»Genau zu der Zeit, zu der wir über dem Bornholm Becken liegen.«

Die abgerundeten Fenster der Brücke wirkten winzig im Gegensatz zu der Konsole. Auf Sicht fahren schien Ann ziemlich schwierig.

Dagegen ist Autofahren ein Kinderspiel, mutmaßte sie.

»Was schlägst du vor? Alternativroute?«, fragte der Fahrtleiter.

»Ich würde der Lady lieber ein bisschen Dampf auf den Kessel geben und den zweiten Motor zuschalten. Bei voller Fahrt und reibungslosem Ablauf der Messungen, müsste die Zeit reichen. Wir wären fertig, bevor uns der Sturm trifft.«

»Wie viel Zeit bleibt uns für den Vorgang?« Hauke sah Barne warnend an. »Rechne nicht zu knapp! Du weißt, wie lange eine Entnahme dauern kann. An dieser Stelle haben wir mindestens drei – wenn alles glatt geht. Hinzu kommt das Ausbringen der Phytoplanktonnetze, falls der Seegang das überhaupt zulässt. Dann alles wieder sichern …«

»Drei Stunden, wenn die Satellitenvorschau recht behält.«