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Zwei tote Frauen. Ein grausames Ritual. Wer kann den Alptraum stoppen? Im deutsch-dänischen Grenzgebiet werden die halb verwesten Leichen von zwei Frauen gefunden, begraben nach einem uralten Wikinger-Ritual. Die dänische Polizei und Kommissar Ohlsen aus Flensburg stehen vor einem Rätsel. Gibt es auch eine Verbindung zu den seit Kurzem vermissten jungen Frauen? Längst arbeiten die Dänen mit Archäologin Fria Svensson zusammen, doch Ohlsen zögert noch, Frias Hilfe wieder in Anspruch zu nehmen – und begeht einen großen Fehler!
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Seitenzahl: 516
Veröffentlichungsjahr: 2025
Im deutsch–dänischen Grenzgebiet an der Ostsee wird bei archäologischen Grabungen eine Frauenleiche gefunden, bestattet nach einem uralten Wikinger–Ritual, aber mit billig nachgemachten Grabbeigaben. Auch Kommissar Ohlsen und sein Team der Kripo Flensburg ermitteln im Fall einer unbekannten Toten, die ähnlich begraben wurde – bisher erfolglos. Haben die Todesfälle etwas mit den jungen Frauen zu tun, die seit einiger Zeit vermisst werden? Die Sorge wächst, dass es bald noch mehr Tote geben könnte. Um dem geheimnisvollen Wikinger- Kult auf die Spur zu kommen, arbeitet die dänische Polizei wieder mit der Archäologin Fria Svensson zusammen. Doch Ohlsen zögert, die Hilfe der Dänin noch einmal in Anspruch zu nehmen, und verlässt sich auf eine andere Expertenmeinung. Als Fria eine folgenschwere Entdeckung macht, ist es für den Einsatz der deutschdänischen SOKO fast schon zu spät …
Von Karen Kliewe ist bei dtv außerdem erschienen:
Die Brandung – Moorengel
Karen Kliewe
Leichenfischer
Ostsee-Krimi
Lort!
Der Tag ging genauso mies weiter, wie er angefangen hatte. Erst der Streit mit seiner Frau – vor dem ersten Kaffee, das musste man sich mal vorstellen – und dann dieses Dreckswetter! Er war noch keine zwei Minuten raus aus der Kabine, da hätte er am liebsten hingeschmissen, sich in sein Auto gesetzt und auf den Weg nach Hause gemacht. Wobei – was hätte ihn da schon erwartet? Auch nur Astrids ständiges Gezeter.
Er schniefte. Seine Nase lief. Schlimmer war der Regen. Bei-nahe waagerecht peitschte er ihm entgegen, reagierte sich an seiner Gesichtshaut ab. Dünne Rinnsale flossen langsam und eisig seinen Rücken herunter. Gereizt vor sich hin brummend neigte er den Kopf und hob einen Arm, um sich gegen die nadelspitzen Tropfen zu schützen. Schuld war der verdammte Wind. Er kam direkt vom Meer. Die Böen schafften es sogar unter seine Kleidung und stahlen ihm das letzte bisschen Wohlfühlwärme.
Blindlings stapfte er weiter. Jeder Schritt verursachte einen eklig schmatzenden Laut, sobald er einen seiner dicken Arbeitsschuhe aus dem aufgeweichten Boden zog.
Angestrengt blinzelte er durch den Regenschleier. Egal, das musste jetzt echt reichen! Mit kalten, klammen Fingern tastete er nach dem Reißverschluss seiner Hose. Sekunden später folgte ein tiefer Seufzer der Erleichterung. Der Druck ließ nach. Urin vermischte sich mit Regenwasser.
Er blickte zurück. Der Bagger leuchtete orange auf der trostlosen Fläche. Eingerahmt von dem alten R4 der Chefin und der Karre der Grabungsassistentin. Bekloppte Archäologen! Freuten sich wie doof über irgendwelche Verfärbungen im Boden. Dafür ließen sie sich tagelang nass regnen und froren sich den Hintern ab. Zum Glück konnte er den ganzen Tag in seinem Bagger sitzen, Radio hören und brauchte nur ab und zu mal eine Schicht Erdreich abschieben. Bei diesem Skodvejr, diesem miesen Wetter, war selbst das zu viel. Die Schönheit des wogenden, zarten Frühlingsgrüns von Sträuchern und Gräsern versank im Grau der Schlechtwetterfront. Baumkronen wurden hin und her geworfen. Das Rauschen ihrer Blätter war gewaltig. Wütend, wie das des Meeres.
Fluchend drehte er den Rücken in den Wind. Beinahe hätte er sich das Hosenbein bepinkelt.
»For satan, ist das kalt!« Zügig zog er sich wieder an und stampfte einmal kurz auf, um die Arbeitshose an die richtige Stelle rutschen zu lassen.
Ein kaum wahrnehmbares Knacken. Dann verschwand sein linkes Bein in einem Loch. Schwerfällig und mit einem kurzen Laut der Überraschung sackte sein Oberkörper nach vorn und schlug dumpf auf, bevor der Boden unter ihm nachgab und er wie ein Stein in einen Hohlraum fiel. Gesplittertes Holz, das sich in seine Bauchdecke bohrte, ließ ihn aufstöhnen. Seine linke Hand rutschte durch etwas Kaltes, Schleimiges. Die Rechte sandte Signale, die er so schnell nicht deuten konnte. Auch der penetrante Geruch überforderte ihn. Ein intensives Gemisch aus feuchtem Erdreich, verschimmeltem Holz und … Was zum Teufel stank hier so? Wütend und mit schmerzverzerrtem Gesicht rappelte er sich auf. Er wollte gerade zu einer schallenden Schimpftirade ansetzen, als seine Augen erkannten, worauf er da gerade gelegen hatte.
Ein langer, qualvoll klingender Schrei kroch aus seiner Mundhöhle und zerriss die Stille der ländlichen Einöde.
Ein paar Stunden zuvor
Fria Svensson stopfte die letzten Strähnen ihres dicken, dunkelblonden Haars unter die gummierte, mit künstlichem Fell besetzte Mütze. Wie sie aussah! Ungläubig betrachtete sie ihr Spiegelbild. All die Lagen, in die sie sich reingepresst hatte! Sie fing bereits an zu glühen, ihre Wangen leuchteten tomatenrot. Die alte braune Outdoorhose spannte über ihren Schenkeln, als hätte sie Nilpferdbeine. Ob sie sich so überhaupt hinhocken konnte? Der Versuch brachte ein erstaunlich positives Ergebnis. Zweifelnd blickte sie auf das finale i-Tüpfelchen in ihren Händen: eine übergroße Regenhose. Zog sie die auch noch über, konnte man sie gleich als Boje in die Ostsee werfen. Die Form wäre in etwa die gleiche.
»Ah, wir kommen genau im richtigen Moment, meine Damen und Herren! Live und in Farbe werden wir Zeuge, wie die berühmte Entdeckerin Roaldine Amundsen zu ihrer mehrwöchigen Reise in die Arktis aufbricht. Frau Amundsen, auf ein Wort! Wie fühlt man sich vor einer derart gefährlichen Expedition? Sind Sie auf alle Eventualitäten vorbereitet?« Mit wirr abstehendem Haar, freiem Oberkörper und in Boxershorts war ihr zierlicher Mitbewohner Marten aus seinem Zimmer getreten, in der ausgestreckten Hand ein imaginäres Mikrofon. Seine schönen dunklen Augen musterten sie amüsiert. »Super Outfit, Fria! Sieht ein bisschen so aus, als hättest du einfach alles übereinandergezogen, was der Kleiderschrank hergegeben hat.«
»Statt Spott wäre Mitleid angebracht. Bølle und ich werden uns die nächsten Stunden durch eiskalten Wind und Regen kämpfen.« Insgeheim freute Fria sich über die gelöste Stimmung ihres Mitbewohners. Oft genug kämpften sie um jeden Lichtblick in der Dunkelheit seiner Trauer und Selbstzerstörung.
Ihr dreibeiniger Mischlingsrüde trippelte aufgeregt zwischen ihnen hin und her.
»Du meinst, du willst tatsächlich höchstselbst auf einer eurer Grabungen buddeln? Was ist los, sind euch die Studenten weggelaufen?«
»Alle krank! Ein nie da gewesener Totalausfall. Gerade mal eine Grabungsassistentin ist mir geblieben.«
»Und da willst du ausgerechnet bei dem Wetter raus?«
»Bekloppte Idee, ich weiß. Aber wir sind dermaßen im Verzug, das fällt uns alles auf die Füße! Außerdem ist Frühling.«
»Im Kalender.«
»Früher hat uns das auch nichts ausgemacht, oder, Bølle?«
Der Hund bellte, als er sah, wie sie eine große Thermoskanne in das seitliche Fach ihres Rucksacks schob, setzte sich daneben und blickte sie erwartungsvoll an.
»Ich denke, du kommst ganz gut ohne Lunchbox aus«, kommentierte sie sein Betteln.
Marten hob ihn hoch, hielt seinen eigenen Kopf neben den des Hundes und setzte einen Dackelblick auf. Bølles Rute zuckte euphorisch.
Fria gab sich geschlagen, ging zurück zum Kühlschrank und zog eine große Mohrrübe aus dem Gemüsefach. »Die gibt’s aber erst heute Mittag.« Sie quetschte das Wurzelgemüse seitlich ins Gepäck. »So, und jetzt muss ich raus hier, bevor ich verdampfe! Vielleicht überkommt es dich ja und du überraschst mich heute Abend mit deinem genialen Chili!«, rief sie Marten noch zu, bevor sie ins Treppenhaus verschwand. Bølle schoss an ihr vorbei, hüpfte die Stufen hinunter und wartete, bis sie die Haustür öffnete. Der eisige Nordostwind hatte es bis in den Kern des kleinen Ortes geschafft. Er kam vom Kattegat über den Großen Belt, drückte in die Flensburger Förde und trieb Schleier von feinem, dichtem Regen vor sich her. Wahnsinn – vor ein paar Tagen noch hatten sie in der Frühlingssonne gesessen.
Geduckt rannte Fria zu ihrem alten Wagen, einem olivgrünen R4. Zügig ließ sie sich in den zerschlissenen Sitz fallen. Wie erwartet knarrte das Chassis, als wolle es kundtun, wie schwer es war, alle Schweißnähte und Dichtungen geschlossen zu halten. Ein paar Sekunden lang blieb die Archäologin sitzen und beobachtete den wilden Tanz der Tropfen. Die alten, eingeschossigen Häuser auf der anderen Straßenseite schienen sich unter dem Regen wegducken zu wollen. Ihre Mansardendächer hatten schon vielen Stürmen getrotzt. Fria mochte die verwitterten Holzlattenzäune und vom Wind zerzausten Vorgärten. Sie riss ihren Blick los. Hatte sie alles? Stiefel, Schaufel und Kelle lagen im Kofferraum, ebenso wie die Trimble Robotic Station, das Gerät zum Einmessen der Flächen.
»Gut, dann wollen wir mal!«
Von Klüfterhöft bis zur deutsch-dänischen Grenze waren es gute fünfzehn Minuten. Dann noch eine Dreiviertelstunde durch ihr skandinavisches Heimatland bis zur Grabungsfläche. Ihr Blick wanderte nach unten in den Fußraum. In diesem Rucksack steckte eine gigantische Ration Essen. Die Plackerei unter freiem Himmel machte irre hungrig. Eine Erinnerung, die auch nach Jahren nicht verblasst war.
Die Zeit war stehengeblieben.
Seitdem Julia die Augen geöffnet hatte und der dumpfe Nebel aus ihrem Kopf gekrochen war.
Sie wusste sofort, dass nichts mehr so war wie bisher. Kein morgendliches Aus-dem-Bett-Quälen. Keine anzüglichen Blicke von dem widerlichen Typen aus der Nachbarwohnung. Keine Telefonate im Dreitagesrhythmus mit ihrer Mutter, die ihr immer wieder dieselben Fragen stellte. Kein Warten darauf, dass ihre älteren Geschwister sie endlich einmal besuchen kamen und sie ihnen stolz ihr neues Leben präsentieren konnte. Ihre kleine, unspektakuläre Welt – sie existierte nicht mehr.
Falsch! Sie ist da! Ich muss nur zu ihr zurückfinden!
Dabei hatte sie gerade erst ihren ganzen Mut zusammengenommen und war von zu Hause ausgezogen. Hatte die neue Stelle als Bäckereifachverkäuferin angetreten, nichts Besonderes. Nichts, womit die Familie sich brüsten konnte. Aber etwas Eigenes. Ein Anfang.
Gute Menschen verdienten Gutes.
Ich bin ein guter Mensch! Zumindest nicht so schlecht wie viele andere. Bin immer freundlich und zuvorkommend. Und hilfsbereit. Ich hab alles getan, worum man mich gebeten hat. Das muss doch was wert sein!
Zugegeben, das eine oder andere Mal hatte sie sich beschwert. Über die Launen ihrer Chefin, über nörgelnde Kunden, über das spärliche Gehalt. Jetzt schämte sie sich dafür. Sie würde alles – wirklich alles – dafür tun, in ihr altes Leben zurückzudürfen. Eine zweite Chance, war das zu viel verlangt?
Bitte, ich will … ich möchte nach Hause!
Wie lange sie schon mit hochgezogenen Knien auf dem blanken Fußboden saß, wusste sie nicht. Die Flecken auf ihrem Arm leuchteten dunkelrot. Sie hatte sich gekniffen, immer wieder, immer fester. Sie wollte aufwachen.
Bitte!
Fria sah die dänische Landschaft wie durch einen Schleier.Ihr warmer Atem. Ihr Körper. Die nasse Kleidung. Bølle. Die Scheiben des R4 waren beschlagen. Bei Bruna, ihrer Grabungsassistentin, sah es nicht anders aus. Auch sie hatte sich zur Mittagspause in ihren Wagen zurückgezogen. Sie hatte gemeint, sie müsse ein längeres Gespräch mit ihrer Mutter führen, das sie endlich hinter sich bringen wolle. Also saß nun jede für sich. Die Kälte war allgegenwärtig. Selbst hier in der Fahrgastzelle.
Fria Svensson rieb sich zum wiederholten Mal die tauben Finger. Bis heute Morgen hatte sie erfolgreich verdrängen können, was sie jahrelang, Tag für Tag, draußen auf den Ausgrabungen in Kauf genommen hatte. Sie war bis in die Eingeweide durchgefroren. Ihre Kleidung und ihr Haar stanken nach Bagger-Diesel und bis auf ein paar Pferdeknochen hatte die Voruntersuchung der abgeschobenen Fläche noch nichts ergeben. Und trotzdem liebte sie ihren Beruf. Die Polizeilaufbahn abzubrechen undauf Archäologie umzusatteln hatte in vielerlei Hinsicht Vorteile und ihr, was das Wichtigste war, emotionale Ruhe gebracht. Ermitteln, Spuren verfolgen, Thesen mit Beweisen stützen und Schlussfolgerungen ziehen konnte sie auch als Wissenschaftlerin. Im Grunde genommen arbeiteten die Fachleute beider Berufsgruppen recht ähnlich. Nur hatte sie als Historikerinden Vorteil, von den menschlichen Tragödien, die hinter den Knochenfunden lauerten, verschont zu bleiben. Ihre Toten waren schon so lange Geschichte, dass es möglich war, die Erkenntnisse, die sich um ihr Leben und Sterben rankten, mit einer professionellen Distanz zu bearbeiten. Keine trauernden Angehörigen, keine hilflosen Opfer, die es nicht schafften, der Gewaltspirale zu entkommen. Beeilen musste Fria sich nur, wenn ein Bauherr damit drohte, eine Ausgrabung für beendet zu erklären und die Fläche ihrer eigentlichen Nutzung zuzuführen. Oder wenn Fundstücke zu zerfallen drohten. Abgesehen davon hatte sie alle Zeit der Welt. Wenn die Mittel es hergaben. Und sie nicht mit tausend anderen Dingen beschäftigt war. Und … Sie lächelte. Wenn das Wörtchen wenn nicht wäre. Der Lieblingssatz eines deutschen Professors, der sie während ihrer Auslandssemester sehr geprägt hatte.
Sie nahm einen Schluck heißen Kaffee und freute sich über die warme Spur, die er in ihrem Innern hinterließ. Bølle hatte sich auf dem Beifahrersitz eingekringelt.
Die Tür des Baggers wurde aufgestoßen. Oliver Skov sprang heraus, sah sich einmal um und kämpfte sich dann grimmig zu einer Ansammlung von Büschen durch. Der Arme! Fria konnte fast hören, dass er sich darüber beschwerte, wie ungünstig Bruna und sie geparkt hatten.
Nettie wünschte sich nur eins: in Ruhe gelassen zu werden. Sie hatte vieles bekommen. Nichts davon hatte sie für möglich gehalten. Nichts davon gewollt.
Ganz schön undankbar. Das war sie. Die Eltern würden sich für sie schämen. Und für ihre bösen Gedanken. Aber was sollte sie tun? Sie waren da, in ihrem Kopf. Sie dachten sich von ganz allein.
Sie wollte das gar nicht entschuldigen. Sie – die unterbelichtete Nettie – war schlecht. Durch und durch. Sie würde töten, immer und immer wieder. Nicht aus Lust. Nicht, weil sie das Sterben oder den Schmerz hübsch fand.
»Dumme Nettie! Hübsch ist nicht das richtige Wort!«, schalt sie sich. Ein anderes fiel ihr aber nicht ein. Also blieb das so. Das mit dem Töten auch. Obwohl es ihr keinen Spaß machte.
Sie schob die Schultern nach hinten und richtete sich auf. »Es ist die logische Konsequenz.« Ein leichtes Lächeln huschte über ihr rundes Puppengesicht. Logische Konsequenz. Lieblingsworte. Sie war sehr stolz auf sich, weil sie sie behalten hatte.
Frias Augen folgten Oliver Skov, der auf das Gebüsch zustapfte. Frische Triebe in leuchtendem Hellgrün klammerten sich trotzig an wogende Zweige. Vor all dem Grau wirkte es beinahe, als wären sie aus Plastik. Skov würde ihnen zu einer Extraportion Dünger verhelfen, so viel schien sicher. Hoffentlich hielt sie selbst bis zum Feierabend durch. Fria hatte wenig Lust, ihren Allerwertesten in die frostige Aprilbrise zu halten.
Ihr Handy klingelte.
»Villads! Was gibt’s?«
»Außer dass ich finde, die Chefin des Ørerup-Museums sollte das Spielen im Dreck anderen überlassen?« Wie immer klang ihr Mitarbeiter eine Spur zu arrogant. Wie sagten die Deutschen? Leicht verschnupft. Er war Geschichtswissenschaftler. Einer, der nicht für zehn Goldschmiedewerkstätten der Kaiserzeit Dienst auf einer Grabung tun würde. Und – er war scharf auf ihren Posten.
Fria verdrehte die Augen. »Komm schon, ich muss wieder auf die Fläche. Was ist?«
»Ich habe hier einen ganzen Stapel von Leihanfragen. Die Pressestelle sitzt mir im Nacken. Die vier Kanonen müssen abgeholt werden und der Lkw ist noch nicht mal bestellt, geschweige denn, dass die Packmittel zusammengesucht wären. Was glaubst du, wie und wann ich das alles schaffen soll?«
In der Zeit, in der du mir die Ohren vollheulst?, hätte Fria gern geantwortet. Laut sagte sie: »Ich weiß, das ist viel verlangt. In ein paar Stunden ist Wochenende, dann kannst du dich ausruhen. Und am Montag ist bestimmt Alberte wieder da. War’s das?«
»Nej!« Er dehnte den Vokal in die Länge. »Glaubst du, ich rufe dich an, um mich bei dir auszuheulen, oder was? Du könntest deinen Mitarbeitern ein wenig mehr Kompetenz und Professionalität zutrauen.«
Fria atmete tief und geräuschlos ein und wartete.
Pikiert fuhr er fort. »Einer muss zur Westküste raus. Irgendwelche Idioten haben da versehentlich einen Grabhügel angeschnitten. Und ich sag dir gleich: Ich werde es nicht sein. Ich hab hier echt genug zu tun!«
Sie hörte ihn schnauben.
»Einen Grabhügel angeschnitten? Åh nej! Okay, ich kümmere mich. Vielleicht kannst du …« Erschrocken hielt sie inne.
Ein langer, entsetzter Schrei wehte zu ihr herüber. Sie wischte über die beschlagenen Fenster und versuchte, etwas zu erkennen.
»Was war das?« Villads’ Stimme kroch leise aus dem Handy.
Sie hielt es wieder an ihr Ohr. »Weiß nicht. Melde mich.« Fria drückte das Gespräch weg und sprang aus dem Wagen. Bølle spurtete voraus. Auch Bruna stieg aus ihrem Auto und blickte verstört zu ihr herüber.
Beide richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Büsche, hinter denen zunächst der Baggerfahrer und jetzt auch der Mischlingsrüde verschwunden waren. Von Oliver Skov war nichts zu sehen.
Warum?
Julia kämpfte sich durch die Zeit.
Durch die Fragen, die ins Leere liefen.
Durch kaum steuerbare Emotionen.
Panik, die wie eine Springflut aus ihrem Innern hervorquoll, bis sie meinte, ersticken zu müssen.
Angst. Verzweiflung. Selbstmitleid. Erschöpfung.
Angst trotz Erschöpfung.
Sie kam in Wellen.
Wo sollte sie hin mit ihren Gedanken?
Manchmal rannte sie wie irre schreiend durch den Raum, nur um sich danach unter selbst auferlegtem Schweigen in eine Ecke zu hocken.
Warum ich?
Wut. Aber nur kurz.
Böse Mädchen landen in der Hölle!
Aktionismus, getrieben von dem Gedanken, es aus eigener Kraft hier rauszuschaffen.
Sieh dich um! Prüf jede Ritze, jede Fuge! Gibt es Werkzeug – irgendwas, das sich nutzen lässt?
Der erste Gedanke an Selbstaufgabe. Nicht von Dauer. Dann siegte die Erkenntnis, dass es bis dahin noch ein weiter Weg sein würde.
Scheiß auf den Weg! Ich will das hier nicht! Ich will hier raus!
Verzweifelt riss und rüttelte sie an der Kette. Es musste sie geben, die Rettung, die Aktion, die all dies ungeschehen machte, die alles zum Guten wendete.
Und wenn nicht? Wenn’s das war mit meinem Leben?
Tränen, die sich nicht aufhalten ließen. Ein Brustkorb, zu eng zum Atmen.
Das durfte nicht sein.
Nicht so.
Nahezu zeitgleich umrundeten Fria und Bruna das Gebüsch. Bølles aufgeregtes Bellen begleitete ihren Spurt. Viel beunruhigender jedoch waren die röchelnden und stöhnenden Laute, die an Intensität zunahmen, je näher sie dem Dickicht kamen. Und dann sahen sie ihn. Skov, wie er vornübergebeugt und scheinbar ohne Verstand hin und her lief. Die Arme seltsam von sich gestreckt.
Fria spürte eine erste Erleichterung. Der Baggerfahrer war zwar blass wie eine Wand, schien aber unverletzt.
»Skov, was ist los, was ist passi…?«
Bilder und Töne, die auf sie einstürzten. Skovs hilfloser, angeekelter Gesichtsausdruck. Die Heftigkeit, mit der er sich übergab. Brunas seltsame Vorwärtsbewegung, als wäre sie starr vor Angst. Dann ihr spitzer Schrei.
Fria trat neben sie. Ein Loch im Boden.
Bølles Bellen. Brunas Wimmern. Skovs Würgen. Aus dem Hintergrund angewehte Fetzen eines Schlagers aus dem Baggerradio.
Fria starrte auf die sterblichen Überreste zu ihren Füßen. Die Verwesung war weit fortgeschritten. Kein Wunder, dass es den Arbeiter umgehauen hatte. Sie zog Bruna mit sich, redete beruhigend auf den Baggerfahrer ein und schob beide in Richtung Grabungsfläche. »Bølle, Fuß!« Dann zog sie das Handy aus der Jackentasche, rief ihre Kontakte auf und scrollte zum Buchstaben O. Kurz bevor ihr Finger den Bildschirm berührte, schüttelte sie unmerklich den Kopf. Ohlsen! Wie kam sie nur auf ihn? Als ob der deutsche Ermittler in Dänemark zuständig wäre. Sie atmete tief durch und wählte die Nummer ihres Bruders. »Troels? Du musst sofort herkommen! Raus, zu uns, zur Grabung. Hier liegt eine Leiche.«
»Du darfst nicht aufgeben!«, flüsterte Julia, doch ihre Stimme klang so fremd und mutlos, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb.
Scheiße, jetzt reiß dich endlich zusammen!
Sie dachte an ihre Mutter, hörte ihre vorwurfsvolle Stimme. Mama hatte recht gehabt. Zu Hause wäre das nicht passiert. Aber ich musste ja unbedingt ausziehen. Selbst schuld! Jetzt würde Mama weinen. Auch daran war sie schuld.
Ein ziehender Schmerz im Unterleib. Sie musste so dringend aufs Klo! Den Oberkörper vor und zurück wiegend starrte sie auf das kurze Ende des Raumes. Da stand eines. Mit gesenktem Kopf fuhr Julias Blick die Wände entlang. Was, wenn man ihr zuschaute? Es gab ein paar seltsame Löcher da oben, wo die Zimmerdecke auf der Wand auflag. Ob sich Kameras in ihnen versteckten?
Ihre Augen wanderten weiter.
Raus hier! Es gibt eine Möglichkeit – du musst sie nur finden!
Der Raum war drei mal vier Meter groß. Sie hatte ihn abgeschritten. Irgendwann, als sie meinte, wieder etwas klarer bei Verstand zu sein. Keine Fenster, dafür eine Lüftungsanlage. Die brummte. Pünktlich, alle fünfzehn Minuten, wenn Julias Schätzung richtig war. Gerade war es still.
Was, wenn sie nicht wieder anspringt? Was, wenn sie das Ding abschalten?
Julias Schneidezähne gruben sich nervös in ihre Unterlippe. Gleichzeitig ertappte sie sich dabei, wie sie zappelnd dasaß und vollkommen wahllos Sekunden zählte. Wie ein Junkie, der seinem nächsten Schuss entgegenfieberte.
Fünfundvierzig, sechsundvierzig, siebenundvier–
»Sie wird wieder anspringen. Natürlich wird sie das. Alles andere macht keinen Sinn.«
Julia schloss die Lider …
Sinn. Nur vier Buchstaben. Für etwas so Großes.
… und riss sie wieder auf.
Hier machte nichts Sinn. Ein massives Türblatt ohne Klinke oder Knauf. Scheinbar der einzige Zugang zu diesem Raum.
Was für Räume haben keine Fenster?
Endlich – das ersehnte Surren! Die Lüftungsanlage! Beglückt lachte Julia auf. Sie würde kämpfen! Würde sich wehren! Sie würde das schaffen!
Euphorisch schloss sie erneut die Augen. Zum ersten Mal atmete sie tief und bewusst durch die Nase ein. Es roch nach Baumaterialien und Putzmitteln. Mit geöffnetem Mund ließ sie Luft durch ihren Rachen streichen. Kein Duft, keine Ausdünstung sollte ihr entgehen. Aber nein, da war nichts anderes. Kein Hinweis, der ihr helfen konnte. Das Brummen erstarb. Julia hielt den Atem an und lauschte angestrengt.
Absolute Stille. Schmerzhaft laut.
Wie der Gedanke, der sie erneut zum Weinen brachte. Wenn sie nichts und niemanden hören konnte, würde im Umkehrschluss auch niemand sie hören.
Polizeihauptkommissar Ohlsen freute sich auf das Wochenende. Auf eines, das er so verbringen konnte, wie es ihm gefiel. Mit mehr oder weniger erfolgreichen Handwerksarbeiten an seiner windschiefen Kate, stundenlangen Touren durch die naturbelassenen Gebiete der Flensburger Förde, einem guten Buch oder dem Besuch seines Lieblingsrestaurants. Es gab niemanden, der Erwartungen an ihn stellte oder Lösungen forderte. Keine zwischenmenschlichen Brennpunkte, die seine nordische Empathiefähigkeit auf die Probe stellten. Und – er durfte all die unausgesprochenen Worte für sich behalten, ohne dass sich jemand vor den Kopf gestoßen fühlte. Gekrönt wurde das Ganze von dem Umstand, dass er sich auch gedanklich ein Päuschen gönnen konnte. Kein Fall, der ihn nicht losließ, kein Gewaltverbrechen, das ihm den Schlaf raubte. Die Arbeit blieb in den vier Wänden der Polizeistation.
Die letzten Tage und Wochen war es angenehm geruhsam zugegangen in der Außenstelle Norgaard. Eine Vermisstensache, die sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatten klären können. Ein Unfall mit Fahrerflucht. Ein Einbruch. Ein paar Anzeigen wegen Nötigung, Körperverletzung und Sachbeschädigung. Er und sein Team hatten im Büro gesessen und Ermittlungsergebnisse für die Staatsanwaltschaft aufbereitet. Keine Überstunden. Keine Wochenendarbeit. Das Mutterschiff, die Kripo Flensburg, hielt die Füße still. Das durfte gern so bleiben. Er fuhr den Rechner herunter, trat aus seinem Büro und schlenderte den Flur entlang. Die hellgraue Farbe konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der einen frischen Anstrich nötig hatte. Auf der Wache gab es einiges, das in die Jahre gekommen war. Ohlsen sollte sich demnächst mal Zeit nehmen und eine Bestandsaufnahme machen. Die Beschaffungsstelle würde sich sicher über seine Anträge freuen.
»Golla wird’s schon richten!« Erst hörte er sie, dann sah er, wie Sinje Cassuben dem Kollegen Reepschläger, den alle hier nur Palle nannten, einen freundschaftlichen Stups in die Seite gab.
»Wenn nicht, ist da ja auch noch Gottfridsson!« Palle präsentierte ein paar sportliche Moves und deutete eine Finte an.
Ohlsen bezweifelte, dass dieser Gottfridsson eine Chance hätte, wäre er mit einem ebenso kurzgewachsenen, hageren Körper ausgestattet wie der hoch motiviert herumtänzelnde Kollege.
»Was glaubst du, Boss, wird Handewitt Melsungen schlagen?« Sinje strahlte den Hauptkommissar mit ihren hellgrünen Augen an.
»Ganz klar!« Ohlsen hob den Daumen und versuchte, begeistert auszusehen. Er interessierte sich nicht die Bohne für Handball, wusste aber mittlerweile, was er zu antworten hatte. Offiziell war er seit Kurzem leidenschaftlicher Fan der SG Flensburg-Handewitt.
»Chef?« Oltmann, der Älteste ihres Teams, lugte durch den Türrahmen. »Sie haben es geschafft. Die Leiche ist identifiziert.« Er wedelte mit ein paar Bögen Papier.
»Die Frau aus der Grube?«
Oltmann nickte.
Sinje und Palle rückten näher.
»Sie heißt Celine Schwarz. Sechsundzwanzig. Kommt aus Ingolstadt.«
»Ingolstadt?«
»Knappe neunhundert Kilometer von hier. ’ne ganz schöne Ecke! Wissen wir, was sie hier oben gemacht hat?« Palle blickte nachdenklich auf das Porträtfoto.
Braunes schulterlanges Haar, eng stehende Augen, Wangenpiercings … Viel zu jung zum Sterben.
Oltmann schüttelte den Kopf. »Flensburg ist dran.«
»Gut!« Ohlsen klopfte mit den Fingerknöcheln auf die Schreibtischplatte. »Ich bin weg! Schönes Wochenende!«
An der Decke hing eine schlichte weiße Lampe. Die einzigeim Raum. Sie leuchtete, seit Julia die Augen geöffnet hatte. Einen Schalter gab es auch. Niemals würde sie den drücken! Sie wagte nicht einmal daran zu denken, wie es sein würde – hier – in absoluter Dunkelheit.
An der langen Raumseite, auf dem Boden: eine Matratze mit Decke und Kopfkissen. Allein die Vorstellung, sich daraufzulegen, erzeugte einen Würgreflex.
Die Bauchkrämpfe wurden schlimmer. Sie krümmte sich. Sah wieder zur Toilette. Und wenn sie doch ganz schnell …?
Mitten im Raum standen ein Stuhl und ein Tisch. Darauf lagen ein paar Bögen Papier und ein Stift.
Papier und Stift? Wozu? Was wollt ihr von mir?
Die nächste heftige Krampfattacke in ihrem Unterbauch zwang sie zum Handeln. Gebückt spurtete sie los, riss im Vorbeirennen die Decke von der Matratze, hüllte sich so gut es ging darin ein, zog sich die Hose herunter und setzte sich mit hochgezogenem, unter den Achseln eingeklemmtem Oberbett auf die Kloschüssel. Der schnelle Blick beim Öffnen des Deckels hatte zu ihrer Beruhigung nichts Ekliges ergeben. Voller Scham verbarg sie den Kopf in den Händen. Sie beeilte sich. Unerträglich, wenn sie jetzt hereinkämen. Wieder angezogen ließ sie die Decke fallen. Auf einem kleinen Waschbecken fand sie Seife, Zahnputzzeug und eine Haarbürste. Sie schüttelte sich angewidert. Keine dieser Borsten würde je ihren Körper berühren.
Aber … halt!
Sprachen all diese Gegenstände nicht dafür, dass sie leben sollte? Aber wozu? Wofür sollte sie sauber und gepflegt sein?
Übelkeit stieg langsam in ihr hoch.
Dieser eine Gedanke. Er lauerte in ihrem Hinterkopf, seitder Nebel sich verzogen hatte. Sie wollte ihn nicht zulassen. Und doch … Vorsichtig horchte sie in sich hinein, befragte ihren Körper nach Anzeichen. Was hatten sie mit ihr gemacht? In der Zeit, an die sie keinerlei Erinnerung besaß?
Ist es nicht besser, das nicht zu wissen?
Ihr Leib war steif und unfähig zu antworten. Entschieden drängte sie den Gedanken zurück, konzentrierte sich stattdessen auf die Gegenstände im Raum.
Papier und Stift.
Mehrere Plastikflaschen mit Mineralwasser und Schachteln mit Butterkeksen. Kein Verhungern, kein Verdursten. Sie brauchten sie. Wozu?
Neuer Gedanke. Sie wollten Geld!
Nein, das kann nicht sein!
Eine Entführung, um Lösegeld zu erpressen? Würde man sie auffordern, eine Nachricht an ihre Eltern zu schreiben – mit diesem Stift, auf diesem Papier? Unmöglich! Sie waren nicht vermögend.
Eine Verwechselung!
Sie nickte entschieden. So musste es sein. Sie war die Falsche. Das würden sie bald merken und sie wieder laufen lassen. Sie hatte die Entführer nicht gesehen. Sie hatte keine Ahnung, wohin man sie gebracht hatte. Sie wusste nichts. Es gab also keinen Grund, sie nicht gehen zu lassen. Fast euphorisch ging sie zu ihrem Platz zurück, genau gegenüber der einzigen Tür. Sie würde warten! Bis sie kamen, um sie freizulassen.
Das große Fleischmesser in ihren Händen glänzte im Licht der Deckenlampe. Ein Stich hatte gereicht. Es war ganz leicht gewesen. Bis auf das zarte Schlecken, mit dem sie die Schneide aus seinem Rumpf herausgezogen hatte, sogar ziemlich geräuschlos. Weil sie genau gewusst hatte, wohin sie stechen musste. Sie hatte das alles hier tausendmal durchgespielt. Nettie stand ganz ruhig an seiner Seite. Beobachtete, wie sich die rote Pfütze unter ihm ausweitete. Wie das Blut Fugen füllte und Flächen aussparte. Wie es unerklärliche Muster auf den Boden malte. Und wie seine in einem überraschten Ausdruck eingefrorenen Augen sie anstarrten.
Man hat immer eine Wahl!
Allein für diese Erkenntnis hatte sie ihre Großmutter geliebt. Warum Nettie so lange gebraucht hatte, um ihren Rat zu befolgen? Was für eine Frage! Weil sie nie unüberlegt handelte.Weil sie es nicht gewohnt war, eigene Entscheidungen zu treffen. Weil sie ein sanfter und geduldiger Mensch war. Und so stand sie da. Abwartend. Beobachtend. Lernend.
Aufgrund von Frias Beschreibung hatten sie das große Besteck aufgefahren. Ermittler, Mitarbeiter der Spurensicherung, Kriminaltechniker und Rechtsmediziner. Dazu noch Einsatzkräfte, die den Fundort sicherten. Es wimmelte nur so von Polizisten. Alles konzentrierte sich auf das Loch im Boden und seinen brisanten Inhalt.
»Was denkst du?« Troels Svensson, leitender Ermittler bei der Kripo Granskov in Dänemark und zuständig für das dänisch-deutsche Grenzgebiet, wandte sich von seiner Schwester ab und beobachtete jeden Handgriff der Kollegen. Ihre weiße Schutzkleidung stach aus all dem Nassen, Organischen heraus.
Fria runzelte die Stirn und wartete, bis die Fotos der Fundsituation gemacht waren und der kleine Gegenstand vorsichtig aus dem Matsch befreit werden konnte. »Sieht aus wie eine Gewandnadel.« Ihre Augenbrauen schnellten überrascht in die Höhe. »Darf ich …?« Die Finger ihrer ausgestreckten Hand zappelten ungeduldig. »Ein Blick aus der Nähe und ich könnte dir sicher mehr erzählen.«
»Ich fürchte, da wirst du dich gedulden müssen.« Troels nickte dem Spusi-Mitarbeiter zu.
Fria musste mitansehen, wie der das Objekt der Begierde sorgsam verpackte und beschriftete.
»Wir werden hier noch einige Stunden beschäftigt sein. Schwer zu sagen, was sich unter der Schlammschicht alles verbirgt.« Eine starke Windböe riss die Worte des Kriminaltechnikers mit sich.
Die weiße Plane des Schutzzeltes flatterte bedenklich.
Ein Mann kam auf sie zu. Der leitende Rechtsmediziner. Er war groß, hatte breite Schultern und einen markanten Bart. Fria hatte ihn genau beobachtet, er schien außerordentlich gründlich vorzugehen und hatte sich trotz der schwierigen Wetterbedingungen viel Zeit mit der ersten Leichenschau gelassen.
»Wir können mit der Bergung beginnen.« Die feste Stimme unterstrich sein selbstbewusstes Auftreten.
Fria fühlte sich unwohl, als sie von seinen hellen Augen taxiert wurde.
»Haben wir schon ein Geschlecht? Also, der Haarlänge nach …« Troels ignorierte die Tropfen, die an seinen Schläfen herunterliefen.
»Weiblich. Das Schambein am Becken.« Der Rechtsmediziner deutete mit dem Kopf in Richtung Grube. Leuchtend weiß ragten einige blank gewaschene Skelettteile aus Matsch und Kleidungsresten.
»Alter?«
»Werden die Wachstumsfugen zeigen, wenn der Dreck runter ist.«
»Gib mir eine erste Einschätzung. Irgendwas, womit ich die Datenbank füttern kann.«
»Jung. Kein Kind.«
Fria verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein und beobachtete die Vorbereitungen zur Bergung der Leiche. Konnte der Kerl mal aufhören, sie so anzustarren?
»Also über sechzehn und unter dreißig?«
Das Brummen des Rechtsmediziners war nicht zu deuten.
»Mølgaard?«
»Warte, bis ich sie auf meinem Tisch liegen hab, dann weißt du’s.« Endlich löste sich sein Blick von Frias Gesicht. Er drehte sich um und rief dem Bergungsteam zu: »Ich will jeden kleinen Schritt lückenlos dokumentiert haben, ist das klar?«
»Und die Liegezeit? Komm schon!« Troels ließ nicht locker.
»Ob du’s glaubst oder nicht, ich kann immer noch nicht hellsehen, Svensson! Wie lange sie in der Grube liegt, ob der Fundort auch der Tatort ist oder sie hierhin umgebettet wurde, weiß ich noch nicht. Sei froh, wenn du nach Abschluss unserer Arbeit schlauer bist.«
»Anders gefragt: Wie lange ist sie schon tot? Und komm mir nicht wieder mit dem Analysequatsch. Ich will eine grobe Einschätzung! Dass sie nicht erst gestern gestorben ist, sehe selbst ich. Sechs Monate? Ein Jahr? Fünf Jahre?«
»Betonung auf grob. Mindestens ein Jahr, höchstens vier Jahre.«
»Aber der Gestank …«
»Bakterien im Boden. Außerdem scheint mir der Verwesungsprozess ungewöhnlich langsam abgelaufen zu sein. Ist vorerst nur ’ne Vermutung. Wir werden sehen, was die Proben bringen.«
Und wenn sie falschlag? Wenn es gar nicht um Lösegeld ging? Wenn sie junge Frauen raubten, um sie für sich …?
Nein, nein, nein – auf keinen Fall! Ich könnte niemals … Julia lachte hysterisch. Unvorstellbar!
Alles wird gut.
Ihre blauen Augen tasteten die dicke Metallschelle ab, die ihr linkes Fußgelenk umschloss, wanderten zum anderen Ende der stabilen, langen Kette, die an der Wand befestigt war und ihr erlaubte, jeden Punkt im Raum zu erreichen.
Nichts wird gut.
Julia schrie so laut und seltsam fremd, dass sie über sich selbst erschrak.
Es gab keinen Anfang und nahm kein Ende. Sie presste die Hände gegen die Schläfen, bis ihre Arme zitterten und ihr Kopf dröhnte. Doch das änderte nichts.
Da war ein großes schwarzes Loch. Nicht der Funke einer Erinnerung. Wie war sie hierhergekommen? Wo war sie überhaupt? Wann war das mit ihr passiert? Was war mit ihr passiert? War es gerade Tag oder Nacht?
Sie war wie aus Raum und Zeit gefallen.
Es war spät. Leise schloss Fria die Tür zu ihrer Wohnung.
»Zuerst bekommst du was zu Fressen, kleiner Rabauke! Ich bin ein schlechtes Frauchen, ich weiß«, flüsterte sie und schlich in die Küche.
Während sie das Futter in den Napf gab, hörte sie aus dem Flur ein aufgeregtes Winseln.
Nanu! »Bølle?« Mit dem dreckigen Löffel in der Hand betrat sie den Flur. Der Hund schnüffelte an der Bodenritze der Badezimmertür, rannte dabei immer wieder hin und her. Dann knurrte er leise. Bølle liebte Marten, nie würde er sich ihm gegenüber aggressiv verhalten.
Ein leises Plätschern. Da war jemand. In ihrem Bad. Ob Marten Besuch hatte? Ausgeschlossen! Fria war ja schon froh, wenn sie ihn dazu bekam, für ein paar Minuten vor die Tür zu gehen. Er lebte seit Monaten vollkommen zurückgezogen. Gab sich ganz seiner destruktiven Malerei hin.
Ohne die Badtür aus den Augen zu lassen, lief Fria zu Martens Zimmer. Die großen Flügeltüren standen einen Spaltbreit offen. »Marten?« Leise trat sie ein. Schemenhaft konnte sie die Umrisse seines Ateliers erkennen. Staffeleien, riesige, teilweise zerschnittene Leinwände, zerrissene und zerknüllte Skizzen, Pinsel, Tuben und Töpfe. Das Chaos war noch größer, als sie es in Erinnerung hatte. Was war hier passiert? War er das wirklich ganz allein gewesen? Sie huschte durch den Raum und betrat das angrenzende Schlafzimmer. Vorsichtig zog sie den schweren Vorhang ein wenig zur Seite. Das fahle Licht der Straßenlaterne offenbarte einen friedlich schlafenden Marten. Wie jung er aussah. Und verletzlich. Fria musste daran denken, wie oft er kurz davor gewesen war, das alles hier zu beenden. Das irdische Dasein, wie er es nannte, das er einfach nicht mehr ertragen konnte. Sie zwang sich, den Blick von ihm zu lösen und sich dem Problem hinter der Badezimmertür zu stellen. Den mit Nassfutter beschmierten Löffel umklammernd eilte sie lautlos zurück. Immer noch presste Bølle seine Nase gegen die Türritze. Sein Knurren war lauter geworden. Das Plätschern hinter der Tür auch.
Ob Marten vergessen hatte, den Wasserhahn zuzudrehen?
Dann würde der Hund wohl kaum so reagieren.
Sie blickte auf das Besteck in ihrer Hand. Ihre Fingerknochen traten weiß hervor.
Vielleicht wäre es besser, den Löffel gegen ein Fleischmesser zu tauschen?
Als ob sie wirklich den Mut hätte, damit auf einen Eindringling loszugehen!
Sie atmete kurz ein. Dann stoßweise wieder aus. Legte die Hand auf die Klinke. Drückte sie beherzt herunter. Dann stieß sie entschlossen die Tür auf.
Der Anblick war derart unerwartet, dass sie sie instinktiv wieder zuzog. So abrupt, dass nicht mal Bølle hindurchschlüpfen konnte.
Ein Kassettenrekorder.
Wer besaß heutzutage so etwas?
Er leuchtete karminrot. Abschreckend. Warnend. Sein Fach war bestückt. Julia starrte auf die beiden Bandwickelrollen, die sie wie zwei Augen zu beobachten schienen.
Was, wenn auf dieser Kassette etwas wäre, eine Nachricht, die alles erklären würde?
Julia brauchte lange, bis sie den Mut fand, die Power-Taste zu drücken.
Sanft tropften die Worte der warmen Frauenstimme aus dem Lautsprecher. Sie sang. Alte Kinderlieder. Das Grauen darüber trieb Julia in eine heftige Panikattacke. Sie schlug auf den Kasten ein, bis er still war. Wie krank musste man sein, um ihr so etwas anzutun? Zitternd stolperte sie zum Waschbecken, riss das Handtuch vom Haken und warf es über den Rekorder. Weg! Karminrot erstickt von grauem Frottier.
Erschöpft rutschte sie mit dem Rücken die Wand hinunter, zog die Knie an, umschlang sie mit beiden Armen und drückte ihre Beine ganz fest an ihren Oberkörper. Sie befand sich in einem abartigen Albtraum!
Es war nicht nur der Rekorder. Da lagen Taschenbücher.
Bücher! Als ob ihr nach Lesen wäre!
Trotzdem musste sie fast schon zwanghaft hinsehen. Ein Sachbuch, das einem das Topflappenhäkeln näherbringen sollte.
Topflappen?
Ein hysterischer Laut quetschte sich zwischen ihren Lippen hindurch. Was glaubten die, welcher Generation sie angehörte?
Dann noch ein Liebesroman. Und ein Thriller.
Was zum Teufel soll das alles?
Julia schluckte die aufsteigenden Tränen herunter.
Sie liebte … hatte Thriller geliebt.
Vorher.
Jetzt fühlte sie den unbändigen Drang, allen Lesern da draußen zuzurufen: »Nichts, was Autoren sich ausdenken könnten, ist mit der Wirklichkeit vergleichbar! Nichts! Es gibt keine Worte für das, was ich empfinde, während Sekunden zu Minuten und Minuten zu Stunden werden. Für die Hölle, durch die ich gehe! Also lasst die Finger davon! Geht raus in die Natur! Fühlt die Sonne und den Frühling! Habt eine gute Zeit zusammen! Passt auf euch auf und bitte, bitte findet mich!«
Ohlsen sah durch die Sprossenfenster seines kleinen Fischhuses. Der Regen hatte sich zurückgezogen und einem wolkendurchwirkten Himmel Platz gemacht. Die wilden, pludrigen Gebilde eilten über den Nachthimmel und knipsten das Mondlicht an und aus, wie es ihnen gefiel. Dieses wiederum verlieh ihnen magische, leuchtend weiße Konturen. Wie gern hätte Ohlsen draußen in der Hängematte gelegen, unter seinem Walnussbaum, der den von einer Steinmauer umgebenen Innenhof nahezu überspannte, und dem Spektakel weiter zugesehen.
»Zu kalt«, brummte er und überlegte, wie er das Wochenende verbringen könnte. Die App auf seinem Handy verriet, dass es morgen trocken bleiben sollte. Perfekt, um sich dem Loch am Dachunterschlag zu widmen. Oder der feuchten Wand an der Westseite. Davon abhalten würde ihn niemand.
Er setzte sich in den alten Ledersessel und sah zu dem Foto auf der kleinen Anrichte hinüber. Wie hübsch sie war, seine Lies. Und wie verrückt. Wenn er an ihr erstes Aufeinandertreffen dachte … Getroffen hatte sie ihn, das stand außer Frage.
Er war oben an der Nordspitze gewesen, in Holnis, und hatte sich den Kopf freipusten lassen. Die Wolken waren über den Oktoberhimmel gehetzt. Schneller waren nur die Kitesurfer gewesen mit ihren bunten Segeln. Ohlsen hatte den Wassersportlern bei ihren Sprüngen zugesehen. Und dann war sie gekommen, von der Strandseite und wie aus dem Nichts – und hatte ihn hinterrücks umgerissen. Bevor er gewusst hatte, was los war, waren er und die Surferin in einem Wirrwarr aus Kiteschirm und Leinen versunken. »Sorry, mein erstes Mal«, hatte eine Stimme hinter den Segeltuchlagen gemeint. Worauf er verärgert den ziemlich dämlichen Vorschlag unterbreitet hatte, es doch mal auf dem Wasser zu versuchen. Dieses Lachen! Er würde es nie vergessen. Sie hatte sich frei gewühlt und ihn angestrahlt. »Ich mag deinen Humor. Du musst mit mir essen gehen.« Bis heute war er sich nicht sicher, ob sie das Wort Essen wirklich in den Mund genommen hatte. In der darauffolgenden Nacht hatte es jedenfalls keine Rolle gespielt. Lies hatte den Takt vorgegeben und er war ihm verwundert gefolgt.
Das war noch heute so. Er vermisste sie. Ihr Lachen. Ihre zart duftende Halsbeuge. Ihre fordernden Finger auf seiner Haut. Wenn sie bei ihm war, war er ein anderer Mensch. Sie machte aus dem funktionierenden, analytisch denkenden Klotz einen pulsierenden, lebendigen Körper, so kam es ihm vor. Und doch fiel es ihm schwer, sich ganz auf ihre Welt einzulassen. Aber wenn sie von diesem Job heimkam, dann würde er sich von seiner Komfortzone verabschieden und sich von Lies mitreißen lassen. Drei Monate hatten sie Zeit. Die Freistellung war genehmigt. Sie würden durch die Metropolen dieser Welt bummeln, Berge besteigen und Höhlen durchschwimmen. Vielleicht würde das alles ändern. Vielleicht würde er dann verstehen, was sie immer wieder von ihm wegtrieb. Raus aus seinem kleinen, beschaulichen Norgaard. Weg von dem Friedlichen, Berechenbaren, Norddeutschen, hinein in die bunte Welt der Superlative.
Erschöpft schob Nettie eine rotblonde Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Sie mochte die Ruhe, die sich in dem Zimmer ausgebreitet hatte, durch das Haus strömte und wie eine schützende Decke über allem lag. Nettie hatte Dutzende Namen für das Fehlen von Geräuschen. So wie für die Gefühle, die sie damit verband. Es gab Stille, die ihr Angst machte, schwarze Löcher, die jeden Ton verschluckten, es gab die Ruhe vor dem Sturm und das geräuschlose Nichts danach. Manchmal war die Lautlosigkeit auch ein stummer Verbündeter. Heute Nacht bot sie ihr Schutz, denn er war nicht da, hatte seine unleserliche Tonspur mitgenommen.
Einzig das sanfte, regelmäßige Atmen der Kleinen war zu hören. Beruhigend schön. Nettie stand neben dem Gitterbettchen. Es war aus weiß gestrichenem Holz gefertigt. Vom Stoff der Decke grinsten sie lustige Äffchen und Elefanten an, dort, wo das Nachtlicht die Schatten zurückdrängte. Wie so oft betrachtete Nettie das Gesicht des pausbackigen Mädchens, das in dem Bett schlief. Pausbackig wie das ihre.
Die in der Ecke hockende kleine Stoffgiraffe hatte Netties Mutter genäht. Das war, nachdem sie aufgehört hatte zu weinen. Mama hatte lange geweint. Warum, das hatte Nettie zunächst nicht verstanden. Bis die Angst eine andere geworden war. Dann war der Schmerz gekommen. Und plötzlich hatte auch Nettie geweint. Obwohl sie doch eigentlich am liebsten lachte. Damals.
Jetzt war sie nicht mehr allein. Das war schön. Sie liebte es, mit der Kleinen zu spielen. Dann vergaß sie für einen Moment alles andere. Alles, was mit ihm zusammenhing. Sein Gesicht, das sie nicht lesen konnte. Seine Worte, die das eine sagten und das andere meinten. Die Art, wie er sie betonte. Immer gleich. Nettie gab ihr Bestes. Und doch wollte er ihr die Kleine immer wieder wegnehmen. Aber Nettie war stark. Sie hatte es geschafft, ihn umzustimmen! Bis jetzt.
Sie beugte sich ganz dicht zum Gesicht des Mädchens hinunter. Wie lange es wohl noch schlafen würde? Nettie richtete sich auf, seufzte leise und beschloss, sich wieder an die Arbeit zu machen. Das ganze Blut auf den Fliesen. Der Abtransport des Toten. Die Frage, wohin mit ihm. Das alles hatte viel Kraft gekostet. Und Probleme geschaffen. Sie mochte keine Probleme. Es musste andere Wege geben. Bessere. Wenn sie ganz doll nachdachte, würde ihr bestimmt etwas einfallen. Sie war klug, tüchtig und gründlich, das hatte schon ihre Oma immer gesagt. Nettie wünschte sich so sehr, dass Oma von ihrem Stern herunterkäme und ihr sagte, was sie tun sollte. Dann könnte Nettie mit dem Morden aufhören. Aber so?
»Bist du noch wach?« Frias Finger flogen über die Handytastatur und tippten auf Senden. Gleichzeitig hätte sie am liebsten laut losgelacht.
Ihr Bruder, der zweitjüngste, antwortete sofort. »Ja. Er du okay?« Matthis war eine Nachteule und der Einzige, den Fria um diese Uhrzeit getrost behelligen konnte. Er arbeitete als Stadsadvokat für die dänische Seite.
Wieder einmal dankte Fria dem Schicksal dafür, sie mit dieser Familie gesegnet zu haben. Drei Brüder, Troels, Matthis und Jais, die füreinander da waren, auf die sie sich zu jeder Zeit verlassen konnte. Und ihr Vater Eskild, gütiges, geliebtes Familienoberhaupt und Fels in der Brandung, der sie und ihre drei jüngeren Brüder allein großgezogen hatte, ihnen Liebe geschenkt und Werte vermittelt hatte. Dass sie alle für die dänische Polizei tätig waren oder Hand in Hand mit ihr zusammenarbeiteten, gab dem Leben des Svensson-Clans die besondere Note.
Fria ließ das Handy durchwählen und wartete, bis Matthis’ sonore Stimme erklang.
»Hej, geliebtes Schwesterchen! So spät noch wach?«
»Mit welcher Strafe muss ich rechnen, wenn ich einem nackten Mann, einem splitterfasernackten Mann, eins mit dem Löffel übergebraten habe? Zu meiner Schande muss ich gestehen, an der Tatwaffe klebte Bølles Nassfutter.«
Sie hörte ihn lachen. »So, wie du das ›splitterfasernackt‹ betonst, nehme ich an, er war unbewaffnet?«
»Ja. Zu meiner Verteidigung kann ich vorbringen, dass er ohne Vorwarnung und mitten in der Nacht in meinem Bad stand. Und er ist groß und breit und Furcht einflößend. Mit wilden Tattoos auf den Armen und einem Bart, um den Thor, ach, was sage ich, um den ihn die gesamte Götterwelt beneiden würde. Ich plädiere auf Notwehr.«
»Hast du Erste Hilfe geleistet nach deiner Attacke?«
»Ich bin abgehauen und hab mich mit Bølle hinter meiner Zimmertür verschanzt.«
»Du bist geflohen? Uh, das sieht nicht gut aus! Tätlicher Angriff, unterlassene Hilfeleistung und Flucht – Schwesterchen, du sitzt tief in der Sch…«
»Ich hab’s geahnt! Du musst mich vertreten!«
»Verteidigen ist nicht so mein Ding, das weißt du doch. Wie geht’s dem Opfer? An deiner Stelle würde ich ihm als Wiedergutmachung ein Abendessen anbieten. Wer weiß, vielleicht entwickelt sich da …«
»Es verschwand hinter Martens Schlafzimmertür.«
»Oh.«
Fria konnte sich lebhaft vorstellen, was gerade in Matthis’ Kopf vorging. Sie haderte selbst noch mit dem Bild des blonden Hünen, eng umschlungen mit Marten, ihrem zart gebauten, feminin anmutenden Mitbewohner.
»Da erübrigt sich meine Frage, was der Typ in deinem Bad zu suchen hatte«, meinte Matthis nach einem kurzen Moment des Schweigens.
»Du weißt ja, Marten hasst die Menschen oder er liebt sie. Menschen, nicht ihre Geschlechtszugehörigkeit.«
»Ich dachte nur, weil er und Emilia …«
»Vielleicht gerade wegen ihr.« Fria dachte an Martens Ex. Die Beziehung zu ihr hatte ihn in ein tiefes Loch gestoßen. »Ich frag mich nur, wo er Thors Ebenbild kennengelernt hat. Marten ist die letzten Monate nicht vor die Tür gegangen.«
»Wenn ihm seine Ruhe lieb ist, wird er dir die Antwort nicht verwehren. Und du bist wirklich mit einem Löffel in euer Bad gestürmt, um seinen Freund zu verprügeln?« Sie hörte ihn ausgelassen lachen. »Dein Ernst? Wo sind deine Manieren? Hat Eskild dir nicht beigebracht, anzuklopfen?« Er hatte Mühe, die Worte herauszubringen.
»Es ist mitten in der Nacht. Bølle hat geknurrt. Marten in seinem Zimmer gelegen und geschlafen. Keiner konnte damit rechnen, dass er Herrenbesuch hat. Ich hab gedacht … Ich weiß auch nicht, was ich gedacht hab.« Auch Fria konnte vor Lachen kaum sprechen. »Oh, Matthis, du hättest mich sehen sollen! Das war so peinlich!«
»Apropos … sehen. Wie war eigentlich Thors Reaktion auf die Löffelattacke?«
»Keine Ahnung. Ich hab die Tür zugeschmissen, bevor er sich vollends umgedreht hatte, und mich in mein Zimmer geflüchtet.« Ihr Blick fiel auf den Hund, der friedlich neben ihr schnarchte. »Das heißt, wir, Bølle und ich, sind in mein Zimmer und haben uns eine noch peinlichere Gegenüberstellung erspart. Ich meine, wer rennt denn auch – wie Gott ihn schuf – durch fremde Wohnungen?«
»Beschwer dich noch! Du bekommst wenigstens was geboten!«
»Armer Matthis! Ich werde Helle sagen, dass dir der Sinn nach Abwechslung steht. Deine Frau hat bestimmt nichts gegen den Besuch eines knackigen Chippendales.«
»Wozu braucht sie einen zweiten, wo sie schon einen zu Hause hat? Scherz beiseite. Wie geht’s eurem Baggerfahrer? Hat er sich von seinem Schock erholt?«
»Du hast mit Troels gesprochen? Wann?«
»Vor zwei Stunden etwa.«
»Konnte er schon was zur Identität der Leiche sagen?«
»Nej. Die Maschinerie ist gerade erst angelaufen. Die werden das ganze Wochenende brauchen, um alle Spuren vom Tatort zu sichern. Die Bedingungen sind schwierig.«
»Der Matsch, ich weiß. Was sagt Odense?«
»Die Rechtsmedizin? Die legen erst morgen richtig los. Troels meinte, sie hätten in dem Erdloch allerlei Wikingerkram gefunden. Könnte sich um einen dieser Darsteller handeln, die auf Mittelaltermärkten und in Haithabu performen. Oder einen Fan. Die verkleiden sich ja oftmals auch.«
»Gut möglich. Leider durfte ich mir die Fundstücke nicht genauer ansehen.«
»Du quengelst jetzt nicht wirklich rum, Fria, oder?«
»Spar dir deine Standpauke, Herr Stadsadvokat! Ich weiß, dass ich als Zivilistin nicht an den Beweismitteln rumfingern darf. Bist du am Sonntag bei Papa?«
»Kommt drauf an, wie schnell Troels und seine Mannschaft sind. Sollte es wider Erwarten schon jemanden geben, den ich anklagen kann, werde ich anderes zu tun haben, als bei unserem alten Herrn vorbeizuschauen.«
»Das Gleiche gilt dann wohl für Troels. Der arbeitet bestimmt das Wochenende durch«, murmelte sie. »Hm … Ich glaube, es macht Sinn, bei ihm auf der Dienststelle vorbeizufahren. Ich könnte ihm bei den Wikingerfundstücken zur Seite stehen. Vielleicht ergibt sich ein Hinweis, der bei der Identifizierung der Leiche helfen kann.«
Sie hörte Matthis ungläubig schnauben.
»Seit wann bist du Expertin für Tand und Modeschmuck? Troels meinte, den Kram könnte man für kleines Geld im Internet bestellen. Da ist nicht mal Patina dran, Schwesterchen. Nix für Archäologen also. Lass unseren Bruder seine Arbeit machen! Der hat genug zu tun, nerv ihn nicht!«
»Meine Hilfe ist für dich also gleichbedeutend mit nerven?«
»Du bist neugierig, sonst nichts!«
»Ein gesundes Maß an Neugier ist eine Tugend für jeden ermittelnden Polizisten.«
Als Fria hörte, wir Matthis geräuschvoll einatmete, fügte sie schnell noch »Und für jeden Archäologen!« hinzu. »Außerdem kann Troels dann gleich mal den Thor aus dem Nachbarschlafzimmer durch die Datenbank laufen lassen«, murmelte sie.
»Fria!«
»Was? Ist ja wohl nicht verkehrt, zu wissen, wer in der eigenen Wohnung ein und aus geht.«
Je länger Julia mit sich und dieser Situation allein war, desto häufiger wünschte sie sich einen Stand-by-Knopf für ihr rastloses Hirn. Raus aus der zermürbenden Gedankenmühle.
Ständig die gleichen Abläufe. Das Starren auf die Tür. Das Lauschen auf Geräusche. Das Bangen um die Belüftung. Das hartnäckige Wiederkehren der immer gleichen Fragen. Das Schwanken zwischen Panik und Erschöpfung. Und über alldem die Angst, einzuschlafen. Nicht mitzubekommen, wenn sie den Raum betraten.
Unwillkürlich kam ihr das Bild eines kleinen Spielzeugroboters in den Sinn, der so lange geradeaus fuhr, bis er vor ein Hindernis stieß, dann abdrehte, in eine andere Richtung rollte, um erneut abzuprallen. Bis jemand sich erbarmte und ihn abstellte. Oder – bis die Batterien leer waren.
Ihre würden noch lange halten.
Zeit, sich alldem zu stellen, hatte sie also genug.
Ist das so? Wie viel hab ich wirklich noch?
Keine Antwort zu finden war schrecklich.
Die Antwort zu kennen noch schrecklicher?
Ohlsen saß auf seinem Fischhus-Lieblingsplatz, dem zweitliebsten nach der Hängematte, und streckte genüsslich die Gliedmaßen von sich. Die schlichte Bank bestand zwar nur aus übereinandergeschichteten Klinkersteinen, einem uralten Brett als Sitzfläche und ein paar Kissen, stand aber windgeschützt und bot den ersten Ausblick auf den hereinbrechenden Tag.
An die Hausfassade gelehnt griff Ohlsen nach seinem Kaffeepott und blinzelte in die Morgensonne. Die Pflanzen in seinem winzigen Innenhofgarten schaukelten im Wind, ließen Tausende von Tropfen funkeln. Das, was hier wuchs, hatte Charakter, war zäh und robust. Denn Ohlsens grüner Daumen beschränkte sich auf den gelegentlichen Gebrauch der Heckenschere, immer dann, wenn der kleine, mit Feldsteinen gepflasterte Hofplatz kaum noch als solcher zu erkennen war.
Der Himmel über ihm präsentierte sich in einem verheißungsvollen Blau. Gut so, irgendwann musste der Frühling ja kommen. Ohlsen zog den Kragen der Fleecejacke höher und wärmte seine Finger an dem Becher. In seiner Hosentasche vibrierte es leicht. Sein Handy. Es war Lies.
»Guten Morgen!« Ihre Stimme klang fröhlich. Im Hintergrund war es ungewöhnlich still. Ohlsen sah auf die Uhr. Viertel nach acht.
»Moin. Und? Wie läuft es?«
»Gut. Deswegen rufe ich an. So wie es aussieht, sind wir schneller fertig als gedacht.«
»Du kommst eher nach Norgaard?«
»Nicht gut? Wenn’s nicht passt, kann ich auch noch ein wenig durch die Gegend ziehen. Ist echt schön hier.«
»Was? Nein! Komm her – sofort!« Immer das Gleiche! Er schaffte es einfach nicht, seine Emotionen angemessen rüberzubringen. »Du weißt doch, dass ich … Also, ich freu mich total auf dich!«
Er hörte sie lachen.
»Ganz ruhig, Ohlsen! Ich kenn dich doch. Dich und deinen norddeutschen Charme. Was macht die Norgaarder Unterwelt? Habt ihr viel zu tun?«
»Nö. Alles ruhig hier.«
»Sehr gut. Sag Bonnie und Clyde, sie sollen die Pause verlängern, oder lass sie einfach laufen. Ich will dich ganz für mich.«
»Aye, aye, Ma’am! Wo bist du? Ist so still bei dir.«
»Wir warten auf den Helikopter.«
»Helikopter? Wofür? Ich dachte, ihr müsstet durch die Röhre hoch zum Kopf der Windkraftanlage.«
»Das Projekt konnten wir gestern schon abschließen. Ist aufgestellt und montiert. Und der Heli-Job ließ sich vorziehen. Super, oder? Heute bringen wir Flugwarnkugeln an.«
»Flugwarnkugeln?«
»Diese dicken, orangefarbenen Bälle, die an den Seilen der Hochspannungsleitungen hängen. Sie erinnern mich immer an den Abakus, den ich als Kind hatte. Mit den bunten Holzkugeln, die man hin- und herschieben konnte, um zu rechnen.«
Ein unangenehmes Kribbeln wanderte über Ohlsens Körper. »Wer überprüft denn, ob der Strom abgestellt ist?« Warum hatte er sich auch eine Freundin suchen müssen, die den Adrenalinkick liebte?
Wieder hörte er sie lachen.
»Wir natürlich. Mit einem Stromprüfer. Der ist ein klitzekleines bisschen größer als der, den du zu Hause hast.«
»Aus dem Heli heraus?«
»Wir hängen an einem Seil untendrunter. Wir müssen ja irgendwie in die Mitte der Stromleitungen kommen. Dinger anschrauben, fertig! Wenn’s windstill ist und der Pilot ’ne ruhige Hand hat, kein Problem. Die Autobahn unter uns ist gesperrt. Wird schon schiefgehen!«
»Könntest du dem Piloten bitte ausrichten …«
»Das sind alles Profis, Ohlsen.«
»Ja, na klar. Wie lange dauert der Job?«
Plötzlich wurde es furchtbar laut auf ihrer Seite.
»Lies? Was heißt das denn jetzt? Wann kommst du?«
»Der Heli! Muss auflegen«, schrie sie. Dann war die Leitung tot.
Ohlsen schüttelte den Kopf. Diese Frau war unglaublich.
Dass das mit ihnen überhaupt hielt … Nicht zum ersten Mal fragte er sich, was sie eigentlich in ihm sah. Eine Basis, zu der sie jederzeit zurückkehren konnte? Eine lieb gewonnene Gewohnheit, zu schön, um sie abzulegen, aber nicht genug, um den Alltag damit zu füllen?
Und er?
Ohlsen hob die Tasse an seine Lippen. Der Kaffee war kalt. Ohne eine Miene zu verziehen, nahm er ein paar Schlucke.
Konnte er mit ihr mithalten? Machte er sich nicht selbst etwas vor, wenn er glaubte, er und sein beschauliches Norgaarder Leben würden ihr reichen?
Eine Hummel, aufgrund der Witterung noch langsam in ihren Bewegungen, kroch vor seiner Schuhspitze über den Boden. Die Blätter um ihn herum raschelten leise. Ohlsen sah sich um. Er mochte das mit weißem Lehmputz versehene Fischhus mit seinen Holzläden, Sprossenfenstern, dem alten gusseisernen Bilegger, dem Ofen, der sich in die Wand zwischen Küche und Wohnraum einfügte, seinen kleinen, gemütlichen Räumen mit den niedrigen Decken. Es hatte Macken und musste ständig ausgebessert werden – ein bisschen war es wie er. Und erneut fragte er sich, ob sich eine Frau wie Lies jemals an einem solchen Ort wohlfühlen würde.
Während ihrer Morgenrunde entlang der Flensburger Förde hatte Fria zwei taktische Pläne ausgearbeitet. Erstens würde sie sich ihrem ersten Bauchgefühl zum Trotz einer Gegenüberstellung mit Martens neuem Freund stellen. Heute noch. Sie musste einfach wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Die Frühstücksbrötchentüte klemmte bereits unter ihrem Arm. Und zweitens würde sie den Jungs auf der dänischen Wache einen Freundschaftsbesuch abstatten, egal was Matthis davon hielt. Und falls ihr Bruder Troels sich querstellte und ihr nichts sagen wollte, blieb immer noch ihr Ex-Freund Stig Bjerregaard, den sie anzapfen konnte. Wenn auf ihrer Grabung eine Leiche gefunden wurde, und das auch noch von einem ihrer Mitarbeiter, dann hatte sie als Leiterin des Museums ein berechtigtes Interesse.
Entschlossen betrat Fria die Wohnung. Bølle rannte direkt zu Martens geschlossener Ateliertür und verlangte Einlass.
»Nej, du Rabauke. Es ist zu früh, die beiden schlafen noch. Außerdem bist du pitschnass.« Wie üblich war ihr dreibeiniger Freund mit vollem Einsatz in die eiskalte Ostsee gerannt. Unter seinem Bauch bildete sich bereits eine kleine Pfütze. Sie stockte. Andererseits – Marten hatte sie nicht darüber informiert, dass er Besuch hatte, und Bølle war hier zu Hause. »Sieh es als kleine Rache für den nächtlichen Schockmoment«, murmelte sie, wohl wissend, wie kindisch ihr Verhalten gerade war, und öffnete die Tür. Bølle stürmte los.
So musste sie wenigstens nicht warten, bis die beiden ausgeschlafen hatten. Fria schlenderte in die Küche und setzte Kaffee auf.
Morgen! Morgen würde er all das erledigen, was bislang liegen geblieben war. Jetzt gab es Wichtigeres. Laurenz Koch wärmte sich die Finger an dem Coffee-to-go-Becher und beobachtete, wie das Campusgelände der Europauniversität Flensburg zum Leben erwachte. Er wusste immer noch nicht, wie er sie überzeugen sollte, er wusste nur, dass die Zeit reif war, es zu tun.
Er dachte an den misslungenen Kuss. Es war nicht seine Schuld gewesen. Er hatte nichts falsch gemacht. Sie war einfach zu betrunken gewesen. Natürlich bekam sie eine zweite Chance! Wenn man ihm eines nicht nachsagen konnte, dann, dass er nachtragend war. Manches brauchte eben seine Zeit.
Sein Blick richtete sich gen Westen. Blauer Plastikbeutel neben dem Mülleimer. Pistaziengrüner E-Roller, achtlos auf den Rasen geworfen. Wie fast jeden Morgen würde sie aus Richtung des Campusbades kommen, an der Mensa vorbeifahren, auf das Gebäude Riga zuhalten und dann ihr Fahrrad in der Nähe vom Vilnius-Komplex abstellen. Sie war meist früher da als die anderen. Sie hatte immer viel zu tun, engagierte sich für den AStA und bei Umweltschutzdemos. Er selbst war einige Male mitgegangen. Um in ihrer Nähe zu sein. Mehrfach war er kurz davor gewesen, der Umweltorganisation beizutreten. Sie hätte das bestimmt gut gefunden. Wären da nur nicht ihre sogenannten Freunde. Ältere Frau in brauner Cordhose und dunkelblauer Windjacke mit dicker Aktentasche unter dem Arm. In der Ferne das Martinshorn eines Rettungswagens. Der Deckel des zweiten Müllcontainers von rechts steht leicht offen.
»Moin, Süße«, murmelte er, als er sie erblickte. Eng anliegendes Ringelshirt unter geöffneter Bomberjacke, dazu hellblaue, ausgewaschene Jeans mit Schlag. Weiße Sneaker mit aufgestickten roten Blüten. Er würde ihre energiegeladene Art, Fahrrad zu fahren, überall erkennen. Ihr langes blondes Haar, das beschwingt hinter ihr herwehte. Die Stellung ihrer Füße auf den Pedalen, ein klein wenig nach innen gerichtet. So brauste seine Samantha an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken. Das kränkte ihn keineswegs. Bei ihr war er gern Voyeur. Laurenz lächelte. Er war ein Glückspilz.
Julia hustete. Das Kratzen in ihrem Hals machte sie wahnsinnig. Immer wieder fixierten ihre Augen die Plastikflaschen. Die durchsichtige Flüssigkeit schimmerte mit jeder Minute verlockender. Und schon stritten die Stimmen in ihrem Kopf wieder. Die eine warnte sie davor, davon zu trinken. »Wer weiß, was sie dir ins Wasser gemischt haben. Sie wollen dich gefügig machen. Oder gleich vergiften!«
Die andere Stimme beschwor sie, endlich nach einer der Flaschen zu greifen. »Los, mach sie auf! Worauf wartest du? Willst du verdursten?«
Julia kroch zum Tisch hinüber und ließ ihren Po auf die Fersen niedersinken. Dass sie sich einmal so nach einem Schluck Wasser sehnen würde, hätte sie nie gedacht. Normalerweise mochte sie nur süße Getränke. Cola, Sprite oder Apfelschorle.
Ihr Oberkörper wippte vor und zurück. Dann drehte sie den Kopf und betrachtete das kleine Waschbecken. Aus dem Hahn kam es auch – klares, köstliches Wasser.
»Wie dumm kann man sein? Weißt du, von welcher Quelle dieser Dreckshahn gespeist wird? Wahrscheinlich kommt die Plörre aus irgendeinem Tank. Den mit üblem Zeug zu versetzen, ist noch viel einfacher!«
Julia rieb sich verzweifelt die Schläfen.
»Das einzig Dumme wäre, nichts zu trinken! Die Entführer wollten ihrem Opfer eigentlich nichts antun, versorgten es mit Wasser und Keksen. Doch leider machte ihnen Julia K. einen Strich durch die wohlgemeinte Rechnung. Sie verdurstete, bevor die Entführer es verhindern konnten. Was für Schlagzeilen! Was für ein sinnloser Tod!«
Julia griff nach einer der Flaschen und zog sie zu sich. Der Originalitätsring war unversehrt. Ihre Finger tasteten den Flaschenhals ab. Sie konnte keine Einstichstellen entdecken.
»Nur ein kleines bisschen«, murmelte sie. Ungeschickt mühte sie sich mit dem Verschluss ab. Dann, endlich, ein erster vorsichtiger Schluck. Was für eine Wohltat! Wie das Wasser ihre klebrige Zunge, die vertrockneten Schleimhäute und ihren kratzenden Hals reanimierte! Sie brauchte mehr! Erst noch verhalten, dann immer gieriger sog sie an der Flasche, setzte sie erst ab, als sie vollkommen leer war.
Erschrocken hielt sie inne. Sie spürte ihr Herz hämmern. Würde sie für ihr dummes Verhalten zahlen müssen? Warum hatte sie sich nicht zügeln können? Warum hatte sie nicht abwarten, langsamer trinken können? Ängstlich horchte sie in sich hinein. War da nicht schon eine Welle bleierner Müdigkeit, die ihren Körper flutete?
Die Dienststelle der dänischen Kriminalpolizei in Granskov war ähnlich überschaubar wie die der deutschen in Norgaard. Bei Bedarf wurde sie durch Ermittler aus den umliegenden größeren Dependancen aufgestockt. Fria kam gern vorbei. Was natürlich auch daran lag, dass die Wache sich voll und ganz in der Hand des Svensson-Clans befand, unweit der Grenze und ganz in der Nähe von Ørerup, dem Standort ihres Museums.
Als sie mit einem fröhlichen »Hej!« die Tür aufstieß, wurde sie von Gelächter empfangen. Ihr jüngster Bruder Jais und Stig Bjerregaard, ihr Ex-Freund, klatschten sich ab.
»Was hab ich gesagt?«, tönte Jais.
»War aber knapp«, relativierte Stig mit Blick auf die Wanduhr. Dann kam er auf Fria zu und nahm sie in den Arm. »Schön, dich zu sehen!« Das blonde Deckhaar, wie immer zu einem Seitenscheitel frisiert, kitzelte an ihrem Ohr, während sie in seinem kurzärmeligen, blauen Hemd versank. Er trug noch immer das Parfum, zu dem sie ihn vor Jahren überredet hatte. Und er hielt sie einen Moment zu lange an seine Brust gedrückt.
Sie entzog sich ihm und sah Jais stirnrunzelnd an. »Was hast du gesagt?«
Die beiden Männer grinsten sich vielsagend an.
»Jais!« Fria zog die Vokale bedrohlich in die Länge.
»Ich hab gewettet, dass du noch vor zwölf Uhr mittags hier auftauchst.« Er hockte sich hin und kraulte Bølle liebevoll die Ohren. »Was hast du als Bestechungsanreiz mitgebracht? Kanelsnegle?«
Fria verschränkte die Arme vor der Brust. Typisch Jais! Er konnte Unmengen Essen verschlingen, vor allem Süßkram, und nahm nicht ein Gramm zu. Tatsächlich befand sich eine große Tüte voller Zimtschnecken in ihrem Rucksack. »Ich glaube, die habt ihr gar nicht verdient, ihr Lästermäuler!«
