Feuchtes Grab: Ostsee - Karen Kliewe - E-Book
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Feuchtes Grab: Ostsee E-Book

Karen Kliewe

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Beschreibung

Johanna Arnold ermittelt wieder – und dieser Fall betrifft sie persönlich. Für Leser*innen von Eva Almstädt und Ragnar Jónasson Januar 2017. Die Nacht ist weit fortgeschritten. Ein Netz aus feinen Tropfen ziert das kalte Metall des monströsen Stahlkolosses. Die blasse Haut der jungen, nackten Frau, die an einem seiner Pfeiler angelehnt dasitzt, schimmert unwirklich. Ihr Name: Denise. Ihr Mörder: Ihr Freund – so viel steht fest. Oder ist er nur der Sündenbock? Johanna Arnold, angehende Journalistin und Freundin des Opfers, plagen Zweifel. Ihre Recherchen bringen nicht nur Ungeahntes über die Tote zum Vorschein, sondern auch das grausame Vermächtnis einer düsteren Nacht im Jahre 1945. Doch wie lässt sich beweisen, was niemand sehen will? »Karen Kliewe schafft es, den Leser in Atem zu halten und die Fantasie anzuregen, selbst mit zu forschen.«  ((Leserstimme Netgalley))

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Sandra Lode

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog

Das Nachwort der Autorin

Gewidmet den Opfern des 3. Mai 1945

Prolog

Vor den Toren von Neustadt in Holstein

Die Feuchtigkeit kroch durch Ritzen, drang tief ins Holz ein, ummantelte jedes noch so kleine Steinchen und legte sich wie ein perlenbesticktes Netz über eiskaltes Metall. Die regensatten Wolken hatten sich zu einer dichten Decke zusammengezogen und hingen schwer über dem Land. Nicht einmal das Licht des abnehmenden Mondes drang bis auf die Erde. Es gab keine Laternen, keine Sicherheitsbeleuchtung.

Das halb verhungerte Jungtier schob vorsichtig seine Nase aus dem Dachsbau, in dem es seit einigen Wochen Zuflucht gefunden hatte. Der Fluch der späten Geburt nahm ihm die Chance auf Leben. Der beginnende Winter ließ die Insekten verschwinden, Nüsse und Obst waren rar geworden. Die nächste menschliche Siedlung: unerreichbar für den abgemagerten Waschbären. Und so schlief er die meiste Zeit, wurde mit jedem Tag schwächer. Nun aber hob er unsicher den Kopf. Es roch nach Mensch. Und es kam näher, bahnte sich langsam, aber beharrlich seinen Weg durch den schmalen, gleißend hell erleuchteten Grat.

Außerhalb des Lichtkegels erhob sich die nächtliche Schwärze wie ein undurchdringliches Bollwerk. Dem Mann war das egal.

Vorsichtig trug er den schlaffen Körper den unebenen, schwer zugänglichen Hang hinauf. Er spürte, wie die leblosen Arme immer wieder gegen seinen Rücken schlugen. Ihre noch warme, nackte Hülle hing über seiner linken Schulter. Er selbst war groß und kräftig und hatte definitiv schon schwerer tragen müssen.

Die starken Scheinwerfer des Mercedes G500 halfen ihm, die richtige Stelle zu finden. An der vordersten Ecke der riesigen Sortieranlage legte er seine Fracht behutsam nieder.

Ein perfekter Platz. Zentral gelegen und von der Hauptachse des Areals aus gut zu sehen. Außerdem würden die Pfeiler des Stahlgerüsts, die sich hoch über ihm mit der monströsen Zunge des Förderbands vereinten, ein Wegkippen der Leiche verhindern. Fast andächtig betrachtete er den Stahlkoloss – so kraftvoll, so kalt. Daneben wirkte ihre Hülle auf süße und zugleich schmerzhafte Art und Weise zart, weich und zerbrechlich.

Mit Bedacht zog er den Körper in eine sitzende Position und lehnte ihn an eben jenen Pfeiler. Dann winkelte er ihre Knie an, indem er ihr die Unterschenkel an den Rumpf schob, und stützte diese ebenso an der Stahlkonstruktion ab. Um ein Wegrutschen zu verhindern, kratzte er einen passenden Haufen Kies zusammen, fixierte so ihre nackten Füße.

Er griff in seine Jackentasche und zog eine Rolle handelsübliches Panzerband und ein scharfes Teppichmesser heraus.

Mit sanftem Druck klebte er den Anfang des Bandes auf ihren rechten Handrücken, winkelte den dazugehörigen Arm an und presste vorsichtig ihre Handinnenfläche auf ihr rechtes Auge. Um sie dort zu fixieren, zog er das Klebeband weiter unter ihrem linken Auge entlang, bis zum linken Ohr. Hier hielt er inne, nahm ihren anderen Arm, winkelte ihn an und legte die Handfläche über das verbleibende Ohr. Er schnappte sich die vor ihrem Gesicht baumelnde Rolle und klebte die Hand am Ohr fest, zog das Band weiter um ihren Hinterkopf, bis er wieder vorn angekommen war. Sicherheitshalber führte er die Rolle noch zwei weitere Male um ihren Kopf, bevor er das Stück abschnitt.

Danach trennte er zwei kurze, in etwa gleichlange Streifen des Panzerbandes ab und strich sie, fast liebevoll, x-förmig über ihren Mund.

Er trat ein Stück zurück und betrachtete in aller Ruhe sein Werk.

Ihre helle, fast weiße Haut bildete einen unglaublich eindrucksvollen Kontrast zum Schwarz des Klebebands. Die irdische Hülle dieses zarten Wesens hatte – und das freute ihn sehr – kaum Schmutz abbekommen, wirkte rein, wie über alle Niedertracht erhaben.

Fast wie eine strahlende Lichtgestalt.

Zufrieden fuhr er die Klinge seines Messers ein und steckte es zusammen mit der Kleberolle in seine Jackentasche.

Er nahm das Handy heraus und machte genau ein Foto.

Dann ging er zurück zu seinem Wagen. Obwohl er es kaum für nötig hielt, zog er einen Spaten aus dem Kofferraum, ging zur Leiche und fing an, rückwärts gehend, seine Stiefelspuren zu verwischen, indem er den Kies glatt zog.

Er kletterte in den Geländewagen und betrachtete zum allerletzten Mal die sich ihm darbietende Szene.

Mit der linken Hand hielt sie sich ein Ohr, mit der rechten ein Auge zu und war gleichzeitig auf ewig zum Schweigen verdammt. Ihr zartes, nacktes Antlitz in dieser kalten, rauen, scharfkantigen Kulisse: ein wahres Kunstwerk.

Er lächelte. Genauso hatte er es sich vorgestellt.

Vorsichtig steuerte er den großen Wagen rückwärts bis zur nächsten Einbuchtung, drehte und fuhr langsam die steile Streckenführung entlang, raus aus dem Krater der Kiesgrube.

Er ließ sich Zeit. Um diese Uhrzeit, bei diesem Wetter, wagte sich niemand auf das Abbau-Gelände. Zu groß war die Gefahr, mit dem Auto vom unbefestigten, schmalen Damm abzurutschen und in die Tiefe zu stürzen oder von sich plötzlich lösenden Massen der meterhohen Kiesberge verschüttet zu werden. Auch für ihn lag hier das größte Risiko, das einzige, das seine Mission zum Scheitern bringen konnte. Deswegen – und nur für diesen besonderen Anlass – hatte er sich den monströsen Wagen besorgt. Seine riesigen Räder bahnten sich sicher ihren Weg durch die unwirtliche Gegend.

Er fuhr durch das Absperrgitter, durch das er sich einige Zeit zuvor Zutritt verschafft hatte. Ein paar Meter weiter sah er die Straße, wie zu erwarten dunkel und einsam.

Die kleinen Kiesel, die sich im Profil seiner Reifen verkeilt hatten, flogen nach allen Seiten weg, als er langsam beschleunigte.

Über Reifenabdrücke am Tatort brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Der grobe Untergrund würde kaum etwas hergeben. Außerdem: Der Wagen kam nicht aus dieser Gegend und er würde ihn, ein paar Stunden später, viele Kilometer entfernt von hier wieder loswerden. Für die Suche der Ermittler ein hoffnungsloses Unterfangen.

Er schaltete das Radio ein, drückte auf CD und lauschte entspannt den Klängen der Symphonie ›Fantastique‹ von Hector Berlioz.

Kapitel 1

Paderborn

Ein Tag war wie der andere: grau, trist und feucht. Ann seufzte, löste den Blick vom Schmuddelwetter hinter der Fensterscheibe und sah genervt hinunter auf ihre Fachlektüre. Die Buchstaben wollten einfach keinen Sinn ergeben. Ständig wechselten sie ihre Plätze, tanzten wie wild hin und her. Sie wusste: Das war nicht real. Ihr Kopf weigerte sich lediglich, die Informationen aufzunehmen. Sie las den Abschnitt noch einmal und wurde dabei das Gefühl nicht los, sich in der Endlosschleife eines sinnlosen Unterfangens zu befinden. Entnervt klappte sie das Buch zu.

Alles hatte sich verändert. Obwohl sie sich so bemüht hatte! Sie hatte versucht, in die Normalität abzutauchen, das Geschehene als erledigt abzuhaken und wie Müll zu entsorgen. Trotzdem klebte es an ihr wie eine dicke Schicht Profi-Harz an Handballerhänden. Sie fühlte sie, sobald sie die Augen morgens öffnete: die unterschwellige Bedrohung.

Wie besessen hatte sie versucht, dort anzuknüpfen, wo sie vor einem halben Jahr gestanden hatte. Sie hatte Vorlesungen besucht, sich an eine Facharbeit begeben, für Prüfungen angemeldet – sie wollte ihr gewohntes, ihr sicheres Leben zurück. Doch es war wie verhext, nichts gelang. Die Wut darüber war das zweite, nach der Hilflosigkeit Unerträgliche, mit dem sie von nun an lebte. Was war sie nur für eine jämmerliche Gestalt – nicht in der Lage, am normalen Leben teilzunehmen! Dabei sollte sie glücklich sein, sollte jeden Tag feiern: Sie hatte überlebt. Stattdessen zuckte sie ständig zusammen, fand enge Räume unerträglich und ließ nachts das Licht brennen. Albträume und Panikattacken waren ihre neuen, treuen Begleiter, bestimmten einen wesentlichen Teil ihres Tagesablaufs. Dazwischen fühlte sie sich erschöpft und ausgelaugt, hatte Schwierigkeiten, sich zu fokussieren.

Der Abschluss in Journalistik rückte in unerreichbare Ferne, war ähnlich wahrscheinlich wie die zeitnahe Landung der Menschheit auf dem Mars.

Ihre Therapeutin meinte, Ann solle sich nicht zu sehr unter Druck setzen, mit der Zeit würde es besser werden. Sie würde lernen, mit den Ängsten umzugehen. Als ob sie das wollte! Wozu hatte diese Frau überhaupt studiert, wenn sie nicht mal in der Lage war, die vollkommen irrationalen, überzogen fehlgeleiteten, chemischen Abläufe eines gestörten Geistes wieder in die richtigen Bahnen zu lenken? Es musste ihn geben, diesen Reset-Knopf der menschlichen Festplatte. Jeder Actionheld hatte ihn. Keiner glaubte, dass ein Tom Cruise an Schlafstörungen litt, nur weil bei einer seiner Rettungsaktionen die halbe Menschheit draufgegangen war!

Ihre Augen folgten den Bahnen der Regentropfen, die sich einen Weg die Fensterscheibe abwärts suchten. Dieses Wetter gab einem echt den Rest!

Sie stand auf und ging in die kleine Küche der WG. Ihre Mitbewohnerin und beste Freundin Marie war arbeiten. Sie versorgte alle Wettergeplagten mit Glückshormonen, indem sie ihnen Sahnetorten und koffeinhaltige Getränke servierte.

Ann füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein. Ein heißer Tee tat es vielleicht auch.

Wir sollten abhauen – weg aus diesem Grau.

Wenigstens darauf konnte sie sich verlassen. Auf die Stimme in ihrem Kopf, die sie schon ihr ganzes Leben lang begleitete. Im Kindesalter hatte sie ihr Stärke und Trost gegeben. In der Pubertät und danach war sie zu ihrem größten Kritiker geworden, war verletzend, oft sogar gemein gewesen. Sie war mit ihr gealtert. Aus dem kindlichen Klang war eine erwachsene, eher männliche Stimme geworden. Vor Kurzem hatte Ann beschlossen, ihr einen Namen zu geben: Eigil. Ein Name, der ihr seit ihrer frühen Kindheit vertraut schien. Keine Ahnung warum. Vielleicht hatte es einen Nachbarsjungen oder einen Kindergartenfreund gegeben, der seine zarten Spuren hinterlassen hatte.

Fest stand: Seitdem aus der Stimme Eigil geworden war, war die Beziehung zwischen ihnen um einiges versöhnlicher.

Ihr Handy brummte. Für jede Ablenkung dankbar, ging sie zurück an den Schreibtisch, auf dem es seinen zuckenden Tanz vollführte.

Im Display leuchtete der Name ›Lotte‹ auf.

Sofort war Anns Laune besser. Wie schön! Es war viel zu lange her, seit sie sich mit ihrer Schulfreundin ausgiebig ausgetauscht hatte.

»Lotte, hey!«

Der Klang der tränenerstickten Stimme ließ Anns Puls schlagartig nach oben schnellen.

»Sie ist tot! Sie ist einfach … tot! Gestern war sie noch da. Und heute? Weg. Einfach weg! Für immer!«

Sie hörte ein verzweifeltes Schluchzen.

Ihr Kopf suchte nach Verknüpfungen. Wen konnte Lotte meinen?

»Lotte? Beruhig dich. Was ist passiert?« Die Innenwände ihres Halses schrien nach Spucke. Ihre Stimme verlor jedwedes Volumen.

»Ich weiß es nicht! Sie sagen einem ja nichts. Kevin geht nicht an sein Handy und bei ihr zu Hause traue ich mich nicht anzurufen. Aber es ist das Stadtgespräch«, schniefte Lotte.

Kevin? Welcher Kevin? Ann ging panisch sämtliche Bekannten Neustadts durch. Kannte sie einen Kevin?

»Lotte – wer ist gestorben?«

»Denni!« Wieder hörte sie hemmungsloses Weinen.

Der Name traf Ann wie ein harter Schlag ins Gesicht. Nein, das konnte nicht sein.

Denni? Ihre Denni?

Lotte, Denni und Ann – im Amtsdeutsch Charlotte, Denise und Johanna –, das war ihr halbes Leben ein Dream-Team gewesen. Lotte und Ann waren schon während der Grundschulzeit unzertrennlich gewesen, und dann war in der fünften Klasse Denise dazugekommen. Von da an hatte es sie nur noch im Dreierpack gegeben. Alles hatten sie geteilt, sich alles erzählt. Zusammen durch dick und dünn. Allerbeste Freundinnen eben. Nach dem Abi wurde das anders. Ann ging nach Paderborn, Lotte nach Köln und Denise nach Augsburg. Im Studium lernten sie andere Leute kennen, die Telefonate wurden seltener, die Besuche zu Hause auch. Andere beste Freundinnen nahmen ihren Platz ein. Trotzdem blieb eine tiefe Verbundenheit.

Von der aber, das musst du zugeben, nicht mehr viel zu merken ist.

Bis vor Kurzem hatten sie versucht, sich wenigstens einmal im Jahr zu sehen, zumeist zum Folklore-Festival.

»Ann? Bist du noch da?«

»Wie? Äh, ich meine wann? Wann ist sie …?«, flüsterte Ann.

»Gestern.«

»Wo?«

»Ich weiß es nicht. Es kursieren unglaublich viele Gerüchte. Die einen sagen, sie hätte einen Unfall gehabt, die anderen meinen, sie hätte sich … Aber doch nicht Denni! Wieso sollte sie sich was antun?«

»Woher hast du das? Vielleicht stimmt es gar nicht!«

»Neustadt ist ein Dorf, das weißt du doch. Erst bekam ich ein paar Nachrichten auf mein Handy. Von Matze, Jenna und Co, der alten Schulgang eben. Die haben gefragt, ob ich schon davon gehört hätte, und wollten wissen, ob es stimmt. Dann kamen Kunden in unsere Apotheke. Auch sie haben mir davon erzählt. Ich hab natürlich gleich versucht, Denni zu erreichen. Mehrfach! Fehlanzeige! Dann hab ich Kevin angerufen. Der geht aber auch nicht ran!«

»Wer zum Geier ist Kevin?«

»Dennis Freund. Das weißt du nicht? Die sind bestimmt schon ein halbes Jahr zusammen.«

Anns Gewissen meldete sich. Sicher, Paderborn war gut dreihundertsiebzig Kilometer weit weg, trotzdem hätte sie die Kontakte besser pflegen können. Im Grunde wusste sie nichts vom Leben derer, mit denen sie mal so dick befreundet gewesen war.

Aus den Augen, aus dem Sinn. Mach dir nichts draus. Da bist du nicht die Einzige.

»Das heißt noch gar nichts. Es kann sich um einen blöden Irrtum handeln. Pass auf. Gleich klingelt dein Handy und Denni lacht sich kaputt, dass du annehmen konntest, sie sei tot.«

Wieder hörte sie verzweifeltes Schluchzen.

»Nein, es ist so. Ich weiß es. Irgendwann kam der alte Herr Brämer rein. Dennis Opa. Er wollte Medizin für seine Frau abholen. Normalerweise ist der immer gut gelaunt. Aber dieses Mal? Er war ganz in sich zusammengefallen, ließ den Kopf hängen, hat mich nicht mal angeschaut. Schob mir nur das Rezept rüber. Ich hab mir ein Herz genommen und ganz vorsichtig gefragt, was mit Denise ist. Er konnte mir nicht ins Gesicht sehen. Er hatte Tränen in den Augen, schüttelte die ganze Zeit den Kopf. Ich hab noch nie so viel Schmerz in seinem Gesicht gesehen. Ich hab mich nicht getraut, ihn weiter auszufragen. Und noch was: Im E-Paper der Lübecker Nachrichten stand, dass sie heute Morgen eine Frauenleiche gefunden haben – im Kieswerk! Eine Siebenundzwanzigjährige aus Neustadt. Das kann nicht sein, oder? Was sollte sie denn da? In der Kiesgrube?«

Ann merkte, wie der Klumpen in ihrer Magengegend größer wurde. Ihre Hände zitterten. Unweigerlich roch sie wieder das Feuchte, Modrige, was ihr seit dem letzten Sommer nicht mehr aus der Nase ging. Für diese Art von emotionalem Stress war sie noch nicht bereit.

»Ann? Was sollen wir denn jetzt machen?«

Es fiel ihr schwer zu antworten. Ihre Stimmbänder streikten, ihre Zunge schien am Gaumen festzukleben. Das hasste sie noch mehr als den widerlich modrigen Geruch.

Beruhig dich. Es ist alles gut. Es wird sich alles klären. Geh was trinken.

Sie rannte in die Küche, hielt ihren Mund unter den Strahl des Wasserhahns und trank in gierigen Schlucken. Sie spürte, wie die Flüssigkeit ihre Kehle hinunterlief, doch das Gefühl auszutrocknen wollte einfach nicht vergehen.

Hektisch griff sie nach der Tüte Halsbonbons und steckte sich eins in den Mund. Mit dem Lutschen kam endlich auch der Speichelfluss zurück. Ihr rasender Puls fuhr langsam wieder runter.

»Ann?«

»Lotte, ich weiß auch nicht. Am besten versuchst du weiterhin, diesen Kevin zu erreichen. Ich werd sehen, was ich rauskriegen kann. Ich melde mich wieder bei dir, okay? Kommst du klar?«, krächzte sie.

Als Antwort kam nur ein Schniefen.

»Und Lotte, melde dich, sobald du was erfährst, ja?«

Als die Verbindung unterbrochen war, ließ Ann sich auf einen Küchenstuhl fallen und starrte auf die gegenüberliegende, blau gestrichene Wand.

Minutenlang.

Noch immer zitternd nahm sie ihr Handy und wählte Dennis Nummer.

Bitte, bitte, geh ran …

Sie wählte einmal, zweimal, dreimal – nichts.

Was konnte sie tun?

Sei nicht albern. Du kannst nichts tun. Du bist doch selbst ein totales Wrack. Lass ein paar Tage verstreichen. Es ist sicher nur ein Irrtum.

Sie rief die Nummer ihrer Mutter auf.

»Johanna. Wie geht es dir?«, hörte sie zur Begrüßung. Die Stimme kroch eisig aus dem Mikrofon.

Als ob sie das wirklich interessieren würde. Die ist doch froh, wenn sie nichts von dir hört.

»Lotte hat mich angerufen. Sie sagt, Denni sei tot. Stimmt das? Habt ihr davon gehört? Habt ihr von der Frauenleiche im Kieswerk gehört?« Wozu lange drumherum reden?

»Was?« Susannes Tonlage wechselte von unterkühlt zu entsetzt. »Du meinst, deine alte Schulfreundin Denise? Was ist passiert?«

»Genau das, hoffte ich, könntet ihr mir erzählen. Lotte weiß nichts Genaues. Sie meinte, die ganze Stadt würde davon sprechen.«

»Also, wir haben nichts mitgekriegt.«

»Könnt ihr euch mal umhören? Kennt ihr jemanden, der zuverlässige Informationen haben könnte? Keinen haltlosen Tratsch. Fakten! Lotte und ich müssen wissen, was mit Denni passiert ist.«

»Und wenn ihr bei ihrer Mama anruft? Ihr seid doch früher ständig bei ihr ein- und ausgegangen«, schaltete sich ihr Vater ein.

Ah, der Herr Papa hört mit. Und was für tolle Ideen er hat. In etwa so? ›Hallo Renata, wie geht’s denn so? Ach, stimmt das eigentlich, dass deine Tochter tot in der Kiesgrube gelegen hat?‹ Wie unglaublich feinfühlig.

Warum hatte sie überhaupt angerufen? »Könnt ihr?«, wiederholte Ann ungeduldig.

»Gehst du noch zu der Psychologin?«

»Mit mir ist alles okay. Ich muss jetzt los.«

*

Neustadt in Holstein

Als sie den Briefumschlag öffnete und ihr das Foto entgegenrutschte, lag zunächst Verwirrung auf ihrem Gesicht.

»Was zum Teufel …?«

Dann wanderte die Erkenntnis ganz langsam durch die Bahnen ihres Gehirns.

Sie stieß einen spitzen Schrei aus und warf das Kuvert samt Inhalt zu Boden. Zitternd und mit rasendem Puls lehnte sie an der Flurwand und starrte auf das Unfassbare.

Es dauerte Minuten, bevor sie langsam darauf zu kroch, mit spitzen, zitternden Fingern die Nachricht unter dem Foto hervorzog und zu lesen begann.

Es gibt Dinge, die sollte man besser ruhen lassen, bevor man alle mit in den Abgrund reißt.

Sie zwang sich, das Foto erneut zu betrachten.

Dann wurde ihr übel.

*

Paderborn

Die beiden hatten die halbe Nacht gequatscht. Ann hatte von Denni erzählt, von ihrer Schulzeit und was für ein lustiger Mensch sie gewesen war. Marie hatte zugehört und sie getröstet. Sie solle doch erst mal abwarten, hatte sie gemeint. Vielleicht hätte Lotte das Gehörte ja doch falsch interpretiert.

Nun saßen sie da: total müde und fertig an ihrem kleinen Frühstückstisch.

»Entschuldige, ich hab dich mit meinem Gejammer die ganze Nacht wach gehalten.«

»Red keinen Quatsch! Wofür sind Freunde da?« Marie nahm einen großen Schluck heißen Kaffee. »Du solltest hinfahren.«

»Ich weiß.«

»Es ist wegen deiner Mom, oder?«

Ann konnte es nicht beschreiben. Irgendetwas war da. Irgendetwas verheimlichten ihre Eltern ihr. Je mehr Fragen sie gestellt hatte, desto mehr hatten sie gemauert. Besonders ihre Mutter erschien ihr abweisend und fremd. Ann war auf nie gekannte, aggressive Gegenwehr gestoßen. Seitdem fand sie es einfacher, die beiden auf Distanz zu halten.

Wir werden das Geheimnis schon noch lüften. Alles zu seiner Zeit.

»Ich kann sie grad nicht um mich haben. Ich denke, ich werd mich bei Lotte einquartieren.«

Ann nahm die NordWestBahn Richtung Bielefeld Hauptbahnhof, um zwölf Uhr dreizehn. Eine knappe Stunde später stieg sie um in den Intercity Richtung Berlin, den sie in Hannover verließ, um anschließend den zum Hamburger Hauptbahnhof zu nehmen.

Es war Viertel vor drei. Zufrieden blickte sie sich um. Der Zug war so gut wie leer. Sie konnte sich einen Sitzplatz aussuchen. Gedankenverloren beobachtete sie die auf dem Bahnsteig umhereilenden Leute. Ihre Gesichter waren blass, die Augen unbeweglich und ins Nichts gerichtet. Sie marschierten wie an Leinen gezogen, schauten nicht nach links und rechts. Als wären sie leere Hüllen, die der Umgebung bei jedem ihrer Schritte die Farben entzogen und alles in einem trübsinnigen Grau zurückließen.

Als der Zug die Station hinter sich gelassen hatte, kramte Ann ihr Tablet heraus und rief den Zeitungsartikel auf, den Lotte ihr geschickt und den sie sich schon gestern mehrfach durchgelesen hatte. ›Tote im Kieswerk‹ lautete der Titel. Die Informationen, die der Bericht hergab, waren schnell herausgefiltert.

Am frühen Morgen des 25. Januar hatten Arbeiter eines Kieswerks bei Schichtbeginn die Leiche einer siebenundzwanzigjährigen Frau gefunden. Es wurde genannt, in welcher Grube die Tote entdeckt worden, nicht jedoch, woran sie gestorben war. Ob ein Gewaltverbrechen vorlag oder es sich um einen Unfall handelte, darüber schwieg sich die Polizei aus ermittlungstaktischen Gründen aus, schrieb das Redaktionsmitglied mit Namen Werner Jensen. Ann beschloss, Kontakt mit dem Herrn aufzunehmen. Vielleicht wusste er mehr, kannte Details.

Sie schrieb Lotte eine Nachricht: »Gibt’s schon was Neues? Hab mich auf den Weg gemacht.«

Während sie auf eine Antwort wartete, rief sie bei Marc an.

Ihr Freund lebte in Rerik. Dort hatten sie sich auch vor einem halben Jahr kennengelernt. Ein ursprünglich harmloser Urlaub, eine Vermisste, die Sorge eines kranken Geists, entdeckt zu werden – all das wäre Ann beinahe zum Verhängnis geworden. In diesen turbulenten acht Wochen waren Marc und sie sich nähergekommen. Seither versuchten sie sich in einer Fernbeziehung.

»Hey«, hörte sie seine Stimme.

»Hey, sitze jetzt im Zug. Hast du schon Nachricht?« Damit meinte sie, ob er schon eine Antwort auf seine Bewerbung beim Kriminaltechnischen Institut des BKA in Wiesbaden hatte.

Ursprünglich war er auf dem Weg gewesen, Kriminalkommissar zu werden. Dann aber, bei einem Einsatz vor zwei Jahren, so schwer verletzt worden, dass er seitdem im Rollstuhl saß. Monatelang hatte er mit seinem Schicksal gehadert, durch Ann nun endlich den Mut gefasst, etwas Neues anzugehen.

»Nein. Immer noch nichts.«

Ann wusste, wie sehr er sich diese neue Perspektive wünschte. Er hatte sogar eine Zusatz-Ausbildung zum Chemielaboranten in Erwägung gezogen. »Keine Antwort ist immer noch besser als eine Absage.«

»Und bei euch? Hat deine Freundin sich gemeldet?«

»Nein, das Letzte kam gestern Nacht. Ging aber über wilde Spekulationen nicht hinaus. Im Moment ist sie arbeiten und wird keine Zeit haben zu schreiben.«

»Was willst du als Erstes machen?«

»Wir werden unseren Mut zusammennehmen und bei Dennis Mutter vorbeifahren. Dann weiß ich wenigstens, dass ich mich keinen wilden Spekulationen hingebe.«

»Gute Idee. Wenn du mich brauchst …«

»Ich weiß, lieb von dir. Aber ich glaube, das müssen Lotte und ich jetzt zusammen durchstehen. Das sind wir Denni schuldig. Und ich wohn ja für die Zeit bei Lotte, und ich weiß nicht …?«

»Hey, alles gut. Ich halte es auch für besser, wenn ich nicht dazwischenfunke. Weiß deine Mutter, dass du kommst?«

»Nein.«

Kurze Zeit schwiegen beide.

»Sie erfährt es früh genug.« Ann hatte jetzt echt Besseres zu tun, als sich mit ihrer Mutter zu befassen.

In Hamburg stieg sie in den Anschlusszug Richtung Lübeck, der immerhin fast pünktlich kam und ebenso planmäßig weiterfuhr. Draußen vor der Fensterscheibe verwandelte sich das düstere Grau in ein nasskaltes Schwarz.

Wir hätten abhauen sollen. Weg von dem ganzen Scheiß hier.

Gott, war sie froh, wenn die ersten Frühlingsboten auftauchten und die Dunkelheit weniger Raum bekam.

Fast eine Stunde später stand sie vor Lübecks prachtvollem Bahnhofsgebäude und wartete auf den Bus, der sie in ihre alte Heimatstadt, direkt an die Ostsee bringen würde.

Bis zum letzten Sommer waren es Dinge wie die flachen Landstriche, die typischen Backsteinhäuser und der kaum wahrnehmbare Geruch des Meeres gewesen, die ein angenehm beruhigendes Gefühl in ihr ausgelöst hatten. Das war jetzt anders. Sie war nervös. Über das Vertraute hatten sich tiefe Schatten gelegt.

Sie stellte sich an die Bushaltestelle zu drei anderen Wartenden, zog den Kragen ihrer Jacke höher und hoffte, dass es trocken blieb.

Endlich, um zwanzig nach fünf, fuhr der Bus in Neustadt ein.

Ann ergriff ihren Rollkoffer und machte sich auf den Weg, Lotte von ihrem Arbeitsplatz, der alten Stadtapotheke, abzuholen. Sie überquerte das Binnenwasser, ließ den Pagodenspeicher links liegen und stand nach wenigen Minuten am südlichsten Eckpunkt des Marktplatzes. Während sie ihn überquerte, schaute sie nachdenklich auf die umliegenden Häuser, das beige-gelbe Rathaus mit seinen zwei Säulen, die Banken, Apotheken … Warum gab es ausgerechnet um diesen Platz herum so viele Banken und Apotheken?

Sie passierte das Wasserspiel – jetzt im Januar nur an den trostlosen, runden Ablaufgittern im Boden zu erkennen –, steuerte auf die alte Stadtapotheke zu und trat ein.

Lautlos gab die Schiebetür die Sicht auf die Theke frei. Ann sah Lotte, hörte, wie die einer alten Dame die Anwendung eines Medikaments erklärte. Ihre Blicke trafen sich. Die Freundin kam augenblicklich ins Stocken.

Ann merkte, dass Lotte die Tränen in die Augen schossen, beeilte sich zu sagen: »Entschuldigung. Äh, ich warte auf dich in der Rösterei, okay? Bis gleich«, drehte auf dem Absatz um und verließ das Geschäft.

Draußen schaute sie auf die Uhr. Eine knappe halbe Stunde noch, bis zu Lottes Feierabend. Perfekt also, um sich einen Chocolate Chai Elephant Vanille mit weißer Schokolade zu gönnen.

Sie ging die Fußgängerzone entlang in Richtung Kremper Tor und spähte durch das Fenster der Kaffeerösterei. Es gab nur wenige Gäste.

Die Wahl fiel auf einen Fenstertisch. Ihr Blick wanderte gedankenverloren über die liebevoll dekorierten Köstlichkeiten.

Eine innere Unruhe packte sie, während sie auf ihren Chai wartete. Sie fand es unerträglich, dazusitzen und nicht zu wissen, was passiert war.

Sie erinnerte sich an ihr letztes Treffen mit Denni.

Das war unglaubliche sechs Monate her. Noch vor den dramatischen Ereignissen des letzten Sommers waren sie auf dem Folklore-Festival gewesen und zusammen durch die Kneipen gezogen, hatten Leute getroffen, zu teils extravaganter Musik getanzt und viel Spaß gehabt. Es war so voll gewesen, dass ein Umfallen unmöglich schien, selbst wenn man die Beine hochgezogen hätte. Um halb vier Uhr morgens hatten sie sich betrunken in den Armen gelegen und geschworen, sich nun häufiger zu treffen. Großes Beste-Freundinnen-für-immer-Ehrenwort.

Und jetzt?

Das sollte es also gewesen sein?

Unfassbar!

Ann musst schlucken, merkte, wie es in ihrem Hals wieder eng wurde.

Denk nicht an so was. Es ist bestimmt alles ganz anders.

Drei Minuten nach sechs betrat Lotte das Café. Sie musste ihre Sachen zusammengerafft haben und herübergeeilt sein.

Ann stand auf, um ihre Freundin in die Arme zu schließen. Lotte fing sofort an zu weinen.

Ann schluckte den dicken Kloß hinunter und versuchte, das vor ihr auftauchende schwarze Loch zu ignorieren. Sie wollte Antworten.

»Was gibt’s Neues? Bist du sicher, dass sie …?«

Lotte nickte. »Das mit dem alten Brämer hatte ich dir erzählt, oder? Die Nachbarin von Denni, ein echtes Klatschweib, war mittlerweile auch in unserer Apotheke. Sie erzählt überall rum, wie schlimm es doch für Dennis Mama ist und dass sie nicht wissen möchte, mit wem sich Denni da eingelassen habe. Ich musste mich echt zusammenreißen. Ich hab sie gefragt, ob sie wüsste, was passiert wäre. Sie meinte: ›Natürlich! Sie haben die Kleine in der Kiesgrube gefunden! Und es war kein Unfall! Sie haben sie umgebracht. Erschossen! Und wer weiß, was sie noch alles mit dem armen Ding gemacht haben.‹ Eine schreckliche Frau. Die rennt durch die Stadt und erzählt lauter widerliches Zeug über Denni.«

»Erschossen? Glaubst du das?«

»Nein! Ich weiß nicht – keine Ahnung.«

»Was ist mit Kevin?«

»Geht immer noch nicht an sein Handy. Ist wie vom Erdboden verschluckt.«

Kapitel 2

Ann fiel es schwer, den Knopf zu drücken.

Dann holte sie tief Luft, gab sich einen Ruck und tat es doch.

Lange passierte nichts.

»Komm, sie ist wahrscheinlich gar nicht da.« Lottes Stimme zitterte.

Noch mal mochte Ann nicht klingeln. Vielleicht wollte Dennis Mutter einfach in Ruhe gelassen werden.

Als sie sich gerade umgedreht hatten, ging die Tür hinter ihnen auf – sehr langsam. Kaum hatte Renata sie erkannt, schrie sie auf und fing laut an zu weinen. Gleichzeitig wedelte sie einladend mit den Armen. »Lotte! Ann! Ihr beide. Oh Gott, kommt doch rein«, schluchzte sie.

Sie sah fürchterlich aus. Sie musste stundenlang geweint haben. Ihre braunen, schulterlangen Haare waren fettig und ungekämmt. Über ihr orange-gelb gemustertes T-Shirt hatte sie sich eine Strickjacke gezogen, die über und über mit roten Rosen bestickt war. Sie war blass, hatte dunkle Ringe unter den rot geweinten Augen und einen fast schon irren Blick. Man erkannte sie kaum wieder.

Während Ann geschockt stehen blieb, ging Lotte an ihr vorbei und nahm Renata in den Arm. Zusammen standen sie schweigend im Türrahmen.

Lotte und Ann waren früher viel bei Renata und Denni gewesen. Renata hatte ihre Tochter allein großgezogen, mit ein wenig Hilfe ihrer Eltern, die im oberen Stockwerk des Hauses wohnten. Dennis Vater hatte sie sitzengelassen. Er war Monteur gewesen, hatte einen projektbezogenen, zeitlich begrenzten Vertrag in der Region gehabt und war nach ein paar Monaten weitergezogen. Denni hatte ihn nie kennengelernt.

Ihre Mutter war immer froh gewesen, wenn die drei Mädchen Zeit bei ihr verbrachten, bei ihr aßen, übernachteten. Sie versuchte es ihnen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, so angenehm wie möglich zu machen. Auch, wenn sie nie viel Geld gehabt hatte.

Es war eine tolle Zeit gewesen.

Renatas Weinkrampf verebbte schnell. Man merkte ihr an, dass sie schon zu viele Tränen vergossen hatte. Sie konnte einfach nicht mehr. Erschöpft winkte sie ihre Gäste herein.

Als die drei die Küche betraten, war Ann erstaunt, wie ordentlich es aussah. Sie hatte das absolute Chaos erwartet.

Müde setzte Renata sich auf einen Stuhl. »Es ist schön, euch zu sehen. Denise hätte sich gefreut.« Ihr versagte die Stimme.

»Wir wollten sehen, ob wir etwas für dich tun können«, sagte Lotte.

Still warteten die beiden Freundinnen auf eine Antwort. Ann hatte das Gefühl, die Traurigkeit um sie herum würde den Sauerstoff verdrängen und die Luft immer dicker machen. Irgendwann würde die nicht mehr durch die Öffnungen ihrer Nase, ihres Mundes passen. Sie sah sich selbst, wie sie vom Stuhl sank, auf dem kalten Küchenboden auf der Seite liegen blieb und wie ein sterbender Fisch mit glasigem Blick nach Luft schnappte.

Lass das! Konzentrier dich darauf zu erfahren, was hier los ist.

»Kannst du uns sagen, was passiert ist?« Anns Stimme zitterte.

Renata drückte ihr die Hand. Dann stand sie auf, schenkte jedem ein Glas Wasser ein und reichte Ann ein paar Taschentücher.

»Wenn wir das nur wüssten«, sagte sie und setzte sich wieder. »Am Mittwoch, gegen Mittag, standen plötzlich zwei Polizisten in unserer Filiale. Sie hielten mir den Ausweis von Denise unter die Nase und fragten, ob das meine Tochter sei. Ich war total erschrocken und wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Sie baten mich mitzukommen. Es wäre etwas Schreckliches passiert. Denise wäre tot. Danach war alles wie in einem schlechten Film, als wäre man gefangen in einem Albtraum. Ich warte immer noch darauf aufzuwachen.«

Sie schwieg einen Moment.

»Sie meinten, sie hätten ihre … ihre Leiche im Kieswerk gefunden. Sie wäre erschossen worden. Da war ich mir sicher: Das muss ein Irrtum sein. Was sollte sie dort? Dann noch zu dieser Jahreszeit, im Dunkeln!«

Wieder hielt Renata ein paar Minuten inne.

»Meine Denise – erschossen! Das kann doch nur ein Albtraum sein, oder?« Sie sah die Freundinnen nicht an, ihre Stimme war leise, klang gebrochen.

Lotte kamen erneut die Tränen.

»Ich musste mit, zur Identifizierung. Und dann lag sie da. So blass! So ganz anders! So war sie doch nie gewesen. Das war nicht meine Denise! Meine Kleine war voller Wärme, hatte leuchtende Augen und dieses süße Lachen. Sie war immer so lebenslustig! Dieses arme Ding da hatte nichts mehr von ihr, und doch …«, schluchzte Dennis Mutter.

»Und sie hatte da so ein, so ein Loch. Mitten auf ihrer …!« Renata tippte sich mit ihrem Zeigefinger immer wieder gegen die Stirn. Ihr irrer Blick ließ Ann erschaudern.

Sie hatten Denni in den Kopf geschossen? Geschockt hielt sie den Atem an.

Renata vergrub das Gesicht in ihren Händen und schwieg.

Hinter ihr, im Türrahmen, sah Ann plötzlich Denise stehen. Sie war sich sicher, dass es Denni war, obwohl die Erinnerung einfach keine Gesichtszüge formen wollte. Stattdessen sah sie unter dem Haaransatz einfach nur flache, glatte Haut. Keine Augen, keine Nase, kein Mund – und erst recht kein hässliches Loch. War es das, was es ihr unmöglich machte, Dennis Erscheinung ein Gesicht zu geben? Das Loch in ihrer Stirn? Trotz der fehlenden Attribute hatte sie das Gefühl, die Gestalt schaue sie beklemmend vorwurfsvoll an.

Keine zwei Meter weiter saß Lotte, die richtige, echte Lotte. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet.

»Wann hast du sie denn das letzte Mal gesehen?«, unterbrach Ann die Stille.

»An dem Abend. Kevin hatte sich gemeldet. Sie wollte zu ihm.«

»Einen Abend, bevor man sie gefunden hat?«

Renata nickte müde. »Klar, sie war erwachsen. Trotzdem war sie meistens so lieb und gab mir Bescheid, wenn sie abends noch wegging. Oder sie hinterließ mir einen Zettel. Natürlich blieb sie häufig auch einfach bei Kevin. Deshalb hab ich mir auch keine Sorgen gemacht, als sie morgens nicht …« Wieder versagte ihre Stimme.

»Was sagt Kevin, was passiert ist?«, fragte Lotte.

»Das ist es ja!« Aufgebracht schaute Renata erst Lotte, dann Ann an. »Er sagt, er hätte sich nicht bei Denni gemeldet. Sie hätten gar nicht vorgehabt, sich zu treffen. Sie wäre nicht bei ihm gewesen! Wie kann das sein? Wo sollte sie denn sonst gewesen sein? Warum sollte sie mir was vorschwindeln? Dazu gab es doch gar keinen Grund!«

»Du glaubst, er hat gelogen?«

»So muss es sein. Anders ergibt es keinen Sinn. Das Ganze ergibt sowieso keinen Sinn«, fügte sie dann noch hinzu.

»So etwas lässt sich doch überprüfen, oder?« Lotte schaute fragend zu Ann.

Die nickte. »Weißt du, wie er sich mit ihr verabredet hat? Hat er sie auf ihrem Handy angerufen? Ihr ne Nachricht geschickt?«

Renata schüttelte den Kopf. »Ihr Handy hat man nicht gefunden.«

»Fehlte sonst noch irgendwas?«

»Ich glaube nicht. Ihre Handtasche, ihr Portemonnaie, die Papiere, ihre Schlüssel, alles noch da. Nur ihr Handy nicht.«

»Gab es in letzter Zeit neue Freunde? Irgendwen, über den sie sprach, den du nicht kanntest?«

»Das hat mich die Polizei auch schon gefragt. Aber nein, sie hatte auch keinen Kontakt zu … warte, wie haben die das formuliert? Zu zwielichtigen Kreisen. Sie nahm keine Drogen, hatte keine Geldsorgen. Sie war einfach nur meine Kleine. Sie konnte keinem was zuleide tun, also warum? Warum sie? Ich versteh das nicht!«

»Weißt du schon, wann die Beerdigung sein wird? Wir helfen dir gern. Sag einfach, was wir tun können!«

Lotte nickte zustimmend.

»Das ist lieb von euch. Bis jetzt will die Polizei sie nicht freigeben. Wann das sein wird, wollten oder konnten sie mir nicht sagen. Mir bleibt also nichts weiter, als zu warten und …« Renata zuckte hilflos mit den Schultern.

»Gründliche Beweissicherung dauert ihre Zeit.«

»Ich weiß, aber es ist so schlimm, sich vorzustellen, dass meine Kleine da ganz allein in diesem kalten, schrecklichen Raum auf einer harten Metallpritsche liegt. Wo sie doch bei mir sein sollte.«

*

Eine Stunde später saßen Ann und Lotte in deren Wohnzimmer, tranken Wein und versuchten, Ordnung in das gedankliche Chaos zu bringen.

»Wir müssen mit Kevin reden«, sagte Ann. »Wo arbeitet er und als was? Weißt du, wo er wohnt? Wie haben sich die beiden eigentlich kennengelernt?«

»Er arbeitet als technischer Zeichner bei der Firma Johannsen. Er hat eine kleine Mietwohnung in der Nähe vom Südfriedhof. Kennengelernt hat sie ihn im letzten Sommer am Süseler Moor. Denise und ich waren baden, er Wakeboard fahren. Keine zwei Wochen später waren sie ein Paar.«

»An der Wassersportanlage? Wie ist es denn da so?«

»Hat schon was. Du kannst schwimmen gehen, dich auf die Wiese legen oder Wasserski fahren. Außerdem gibt’s eine Strand-Bar und ein Restaurant. Eine wirklich coole Location. Einige nutzen sie, um zu zeigen, was sie sich während des Winters in der Mucki-Bude antrainiert haben, und versuchen, im Windschatten der lässigen Wakeboard-Cracks ein bisschen Bewunderung abzustauben. Ein echtes Schaulaufen!«

»Und Kevin? Gehört der auch dazu?«

»Zu den Wakeboard-Cracks oder zu den Muskel-Schnittchen?« Lotte lächelte. »Also, der kann zwar fahren, aber eher durchschnittlich. Und ja, er geht regelmäßig in ein Fitnessstudio. Sieht ganz gut aus – wenn man drauf steht. Als Denni sich auf ihn einließ, hab ich erst gedacht: ›Oh Mann, nur nicht so einer.‹ Es kam schon ziemlich viel doofes, oberflächliches Gelaber. Lag wahrscheinlich auch daran, dass seine Leute dabei waren. Im Nachhinein kann ich sagen: Er ist ganz nett. Nicht, dass ich ihn besonders gut kennen würde, so oft war ich mit den beiden nicht zusammen. Aber Denni hat mir einiges erzählt.«

»Kannst du ihn noch mal anrufen? Wenn das nichts bringt, sollten wir ihn besuchen. Kennst du die genaue Adresse?«

Lotte nickte.

»In welches Fitnessstudio geht er denn?«

»Ich meine, Denni hat mal das in der Werftstraße erwähnt, bin mir aber nicht sicher.«

Beide hingen ein paar Minuten ihren Gedanken nach.

»Ich kann einfach nicht glauben, dass man ihr in den Kopf geschossen haben soll«, sagte Lotte.

In der Tat, das ist unglaublich, dachte Ann.

Er sah, wie die Kamera langsam über ihre zarte, weiche Haut fuhr, die sanfte Linie ihres Halses entlang weiter nach unten. Ihre Knie verdeckten die Rundungen ihrer Brüste. Der Standpunkt verlegte sich ein Stück nach rechts und gab den Blick frei. Er zog den Ausschnitt der Vergrößerung noch höher. Beim Anblick ihrer Brustwarzen lief ihm ein angenehmer Schauer über den Körper.

Zu Anfang hatte er sich noch schlecht gefühlt.

Dann hatte er dem Drang nachgegeben. Hatte sich den Film immer und immer wieder ansehen müssen.

Zu wissen, dass er der Einzige war, der Zugang zu diesen Bildern hatte, erzeugte in ihm ein unbeschreibliches Gefühl der Macht und Lust.

Er hielt den Film an, ging zurück zu der bestimmten Stelle. Seine Erregung wuchs schlagartig.

Erstaunlich. Mit jedem Mal steigerte sie sich. Allein die Vorfreude darauf hinterließ ein prickelndes Gefühl auf seiner Haut.

Das hier konnte ihm keiner nehmen. Das war ganz allein seins!

Als Lotte am nächsten Morgen zur Arbeit ging, zog Ann los, um Kevin ausfindig zu machen. Lotte hatte ihr das Fahrrad überlassen.

Sie versuchte es zunächst bei seiner Wohnung.

Ohne Erfolg.

Also strampelte sie vom Friedhof aus in Richtung Hafen, dann über die Brücke, um zum Industriegebiet an der Sierksdorfer Straße zu gelangen. Hier war die metallverarbeitende Firma Johannsen ansässig. Höflich fragte sie den Pförtner, ob sie mit Kevin Tiersch sprechen könne. Nach einem kurzen Telefonat verneinte der, meinte, dass Herr Tiersch krankgemeldet sei.

Ob er doch zu Hause war, in seinem Bett lag und einfach keinen sehen wollte?

Auf dem Rückweg beschloss sie, im Fitnessstudio vorbeizuschauen. Das lag keine zehn Minuten Fahrzeit entfernt.

Lotte hatte ihr ein Foto von Kevin und Denni gezeigt. Ann hoffte, ihn erkennen zu können.

Sie betrat den weitläufigen Bereich mit den Foltermaschinen und stellte mit Erstaunen fest, dass, trotz des Freitagmorgens, etliche Geräte besetzt waren. Das Publikum war bunt gemischt.

Ein Mittfünfziger, am Bauch gut bestückt, saß auf einem Trimm-Rad und strampelte trotz seiner Fülle in einer bemerkenswerten Geschwindigkeit. Sein Shirt war derart verschwitzt, dass man fürchten musste, die Grenze seiner Aufnahmekapazität könnte sekündlich überschritten werden. Als Ann die ersten Rettungsringe an die Wand fantasierte, wandte sie sich ab und entdeckte zwei Frauen um die dreißig, deren Hauptziel zu sein schien, ihre Stimmbänder zu trainieren. Beide waren gekleidet, als wären sie dem neuen Sportswear-Katalog entsprungen. Sie bewegten sich absolut mühelos und synchron auf nebeneinander stehenden Steppaerobic-Geräten. Dabei standen ihre Münder nicht eine Sekunde still. Ob sie überhaupt mitbekamen, was die andere erzählte? Luft holen brauchten sie allem Anschein nach nicht.

Ann ließ ihren Blick weiter durch den Raum gleiten.

Hinten links gab es einen jungen Mann, der unter hohem Kraftaufwand mehrere schwere Gewichte bewegte, indem er mit den Armen zwei gepolsterte Bügel nach außen drückte. Der könnte es sein.

Zögernd ging sie auf ihn zu. Sein Kopf war vor Anstrengung rot, sein Gesicht und die blanken Arme glänzten verschwitzt.

»Kevin? Kevin Tiersch?«

Er hielt kurz inne, schaute sie desinteressiert an und fuhr dann mit seiner Übung fort.

»Ich bin Ann, Johanna Arnold. Denni und ich waren befreundet.«

Sie sah ihm zu, wie er stoisch die Bügel nach außen drückte und sich die Gewichte dabei hoben. Als er die Arme langsam vor der Brust zusammenführte, senkten sie sich wieder.

»Du bist doch Kevin, Dennis Freund, oder?«

Bügel nach außen, Gewichte hoch.

»Und?« Er sah sie nicht einmal an.

Bügel nach innen, Gewichte runter.

»Ich würde mich gern kurz mit dir unterhalten.«

Bügel nach außen, Gewichte hoch.

Keine Antwort.

Bügel nach innen, Gewichte runter.

»Ich weiß, es ist bestimmt nicht leicht, darüber zu sprechen, aber vielleicht kannst du mir helfen, einige Dinge zu verstehen. Das wär echt nett von dir.«

Bügel nach außen, Gewichte hoch.

»Ich hab mit Renata, Dennis Mutter, gesprochen. Sie sagte, Denni wäre an dem Abend zu dir gefahren, weil du sie darum gebeten hättest. Du aber hättest der Polizei gesagt, sie wäre gar nicht bei dir gewesen, ihr wärt auch nicht verabredet gewesen. Stimmt das?«

Bügel nach innen, Gewichte runter.

Bügel nach außen, Gewichte hoch.

Bügel nach innen, Gewichte runter.

»Kevin, bitte. Sie war auch meine Freundin.«

Die Gewichte waren gerade wieder auf dem Weg nach oben, als Kevin sie abrupt fallen ließ und Ann ärgerlich anschaute. Er schnappte sich das Handtuch, das über seinen Beinen gelegen hatte, und wischte sich den Schweiß von Armen, Händen und Gesicht.

»Komisch nur, dass ich dich gar nicht kenne.«

Er stand auf und marschierte auf ein anderes Gerät zu. Ann merkte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg.

»Wir haben uns nicht mehr so oft gesehen, das stimmt. Ich hatte in den letzten Monaten viel Mist an den Hacken und …« Sie schnaubte. »Ist auch egal. Du kannst mir glauben, Lotte, Denni und ich waren jahrelang unzertrennlich. Du kannst Renata fragen! Und ich will verdammt noch mal wissen, was mit ihr passiert ist!«, rief sie lauter, als sie eigentlich vorgehabt hatte.

Kevin legte ein paar Gewichte mehr auf, setzte sich und fing an, eine Art lang gezogenen Kleiderbügel vor sich herunterzuziehen. Der Seilzug hinter seinem Rücken hob die Masse an aufeinandergestapelten Barren in die Höhe.

»Wir waren für diesen Abend nicht verabredet. Ich hab sie nicht zu mir bestellt. Sie war nicht bei mir und wollte auch nicht zu mir.«

»Wann hast du sie denn das letzte Mal gesprochen?«

»An dem Abend. Wir haben telefoniert.«

»Hat sie da erwähnt, dass sie noch weg wollte? War sie anders als sonst?«

»Das hab ich alles schon der Polizei erzählt.«

»Als ob die mich in ihren Bericht gucken lassen würden!«

»Nein, sie wollte nirgendwo mehr hin. Sie war auch nicht seltsam oder anders. Sie war wie immer. Wir haben uns über ganz normalen Kram unterhalten. Sie hat sich in der gleichen Art und Weise verabschiedet, wie sie es immer getan hat, wenn wir die Nacht nicht zusammen verbracht haben. Zwischen uns war alles bestens. Wir haben uns nicht gestritten. Es gab keine Trennungsabsichten. Ich hatte keine heimliche Freundin und sie keinen Lover. Es gab keine neuen, mir unbekannten Gesichter in ihrem Umfeld. Sie hatte keinen Stress auf der Arbeit. Ach, und ich besitze keine Waffe. – Zufrieden? Verhör beendet? Dann kann ich ja jetzt in Ruhe weiter trainieren und du dich vom Acker machen.«

Energisch stand er auf, ging drei Geräte weiter und stellte alles so ein, wie er es brauchte. Dabei drehte er ihr demonstrativ den Rücken zu.

Ann gab sich geschlagen und ging langsam zum Ausgang. ›In Trauer vereint‹ schien nicht das Lebensmotto von Kevin Tiersch zu sein. Wenn er überhaupt trauerte, machte er das wohl mit sich allein aus.

Denni und er hatten an dem Abend also noch telefoniert. Das zumindest hatte er zugegeben. Mittlerweile wusste jeder, dass man Telefonate über die Verbindungsnachweise belegen konnte. Nicht nur, wer wen angerufen, sondern auch, wie lange das Gespräch gedauert hatte. Nur, was gesprochen wurde, ließ sich leider nicht nachvollziehen. Er konnte die Wahrheit gesagt, aber ebenso gelogen haben. Sie konnten ihn als Verdächtigen nicht ausschließen.

Sie musste mehr über ihn und seine Beziehung zu Denni herauskriegen. Wenn er gelogen haben sollte, wenn er Denni umgebracht haben sollte, musste irgendwas vorgefallen sein. Wie war sein Umfeld? Wäre es ihm möglich, an eine Waffe zu kommen? Wäre er vom Typ her überhaupt in der Lage, so etwas durchzuziehen? Jemandem in den Kopf zu schießen, von vorn, während diese Person dem Schützen womöglich noch in die Augen sah – da gehörte schon einiges dazu. Ann würde wetten, dass die Wenigsten das konnten. Ein Mord im Affekt, ein Unglücksfall, das ja, aber so etwas …?

Als sie das Fitness-Center verließ, fiel ihr Blick auf den blau-weißen Schriftzug ›LN‹, das Logo der Lübecker Nachrichten. Kurzentschlossen öffnete sie die Tür der Zweigstelle.

Der kleine Raum bot einer Theke und zwei Arbeitsstellen Platz. Links war ein Mitarbeiter gerade mit einer telefonischen Beratung beschäftigt. Sein Headset tanzte lustig auf seinem Kopf, während er emsig auf einer Computertastatur herumtippte.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Die Dame rechts von ihm, laut Namensschild eine gewisse Frau Brokhinke, lächelte Ann freundlich an.

»Guten Tag. Mein Name ist Johanna Arnold. Ich bin Journalistik-Studentin und schreibe gerade an einer Facharbeit.« Sie zog ihren Studentenausweis heraus. »Dabei sind mir die Artikel Ihres Mitarbeiters Herrn Werner Jensen ins Auge gefallen. Ich würde mich gern mit ihm über seine Arbeit unterhalten. Wäre das möglich?«

»Ah, ein Nachwuchs-Talent. Da wird sich der Werner aber freuen, dass er mit seiner Arbeit überzeugen konnte. Geben Sie mir Ihre Kontaktdaten? Ich leite es gern an ihn weiter.«

»Er ist nicht zufällig da?«

»Nein, wir sind hier nur die Anzeigenannahme. Die Redaktion befindet sich in Oldenburg. Die bekommt die Texte aber auch nur per Datenleitung.«

»Ich muss in absehbarer Zeit zurück nach Paderborn. Wenn er sich zu einem Gespräch bereit erklären würde, worüber ich mich wirklich sehr freuen würde, wäre es schön, wenn es zeitnah stattfinden könnte.«

»Das will ich ihm gern ausrichten.«

Ann hinterließ ihre Handynummer, bedankte sich und ging.

Sie schwang sich auf Lottes Fahrrad und fuhr die Bahnhofsstraße hinunter, bis sie auf die Lienaustraße traf. Das alte Backsteingebäude der Polizeidienststelle von Neustadt war schnell erreicht. Quietschend brachte sie das alte Rad zum Stehen.

Ihre Uhr zeigte zwölf Uhr siebzehn. Für ein Mittagessen mit Lotte noch zu früh.

Zielstrebig stellte sie ihr Rad ab und marschierte hinein. Was hatte sie schon zu verlieren?

Dem Beamten am Empfang stellte sie sich vor und bat darum, den Ermittler im Fall Denise Brämer sprechen zu können. »Sie wissen schon, die Tote aus der Kiesgrube.«

»Worum geht es denn?«

»Ich bin eine enge Freundin der Familie. Sie können sich sicher vorstellen, wie schwer das momentan für uns alle ist, insbesondere natürlich für ihre Mutter. Ich versuche ihr zu helfen, wo ich nur kann. Auch bei den Vorbereitungen für die Beerdigung. Leider haben wir immer noch keine Information, wann sie, also, wann das sein könnte. Das belastet alle sehr. Können Sie mir da vielleicht weiterhelfen?«

»Ich verstehe, einen Moment bitte.« Er griff zum Hörer und schilderte einem Kollegen das Anliegen. Als er auflegte, meinte er: »Es kommt sofort jemand. Einen Moment bitte. Sie dürfen sich gern dort drüben setzen.« Er zeigte auf ein paar Stühle, die aneinandergereiht an der Wand gegenüber angebracht waren.

Einige Minuten später erschien ein Polizist in Uniform und bat sie in ein Büro. So wie Ann die Lage einschätzte, war das nicht der ermittelnde Kommissar. Es wäre auch zu schön gewesen.

Der Beamte stellte sich vor und bat Ann, sich auszuweisen. Er kopierte ihren Pass und setzte sich dann auf den gegenüberstehenden Stuhl.

»In welchem Verhältnis stehen Sie zur Familie der Toten? Sind Sie mit ihr verwandt?«

Ann schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin eine enge Freundin. Wie Sie sicherlich wissen, hatte Denise keinen Kontakt zu ihrem Vater. Renata, ihre Mutter, hat sie allein großgezogen. Oben im Haus wohnen noch Renatas Eltern. Sonst gibt es wenig Verwandtschaft, von denen ich wüsste. Also ist es selbstverständlich, dass wir, meine Freundin Lotte und ich, Renata helfen, wo es nur geht.«

Er nickte. »Und diese Lotte ist wer?«

»Eine ebenso gute Freundin wie ich. Wir waren immer zu dritt. Denise, Lotte und ich.«

»Nennen Sie mir bitte den vollen Namen und die Meldeadresse ihrer Freundin.«

»Lotte Peters, äh, Charlotte Peters, Kleine Marktstraße 15a.«

»Danke.«

Ann sah zu, wie er sich Notizen machte. »Wann werden Sie Denni freigeben? Wann können wir sie beerdigen?«

»Dazu kann ich Ihnen keine Auskunft geben. Ich kann Ihnen versichern, wir arbeiten mit Hochdruck daran. Sobald wir mehr wissen, werden wir uns mit Frau Brämer in Verbindung setzen.«

»Sie sind nicht der ermittelnde Beamte, oder?«

Er grinste sie an. »Nein. Ich gebe Ihre Angaben nur an sie weiter.«

»An sie?«

»An Oberkommissarin Petra Ehrenfeld. Es ist gut möglich, dass sie Sie in den nächsten Tagen kontaktiert und um eine Aussage bittet.«

Ann nickte. »Wenn sie meint. Ich glaube aber nicht, dass ich helfen kann. Ich war zum Todeszeitpunkt nicht mal in der Nähe von Neustadt.«

Sie sah, wie es in seinen Augen blitzte. »Wann war denn der Todeszeitpunkt?«

Ups … Fettnapf!

Was für eine dusselige Äußerung.

»Ich dachte, da sie am fünfundzwanzigsten Januar gefunden wurde, wird es sich wohl um den Vierundzwanzigsten, oder um die Nacht vom Vierundzwanzigsten auf den Fünfundzwanzigsten handeln, richtig? Und ich war schon seit Wochen nicht mehr hier.« Betont selbstsicher fixierten ihre grünen Augen den Beamten.

Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd.

Wieder notierte er sich einige Zeilen.

»Wissen Sie, was uns am meisten zu schaffen macht? Die Art wie sie … also dass man ihr in den Kopf geschossen hat. Von vorn in die Stirn! Wer macht denn so was? Wer ist in der Lage, einem Menschen in den Kopf zu schießen? Das bringt doch keiner! Schon gar niemand, der sie gekannt hat, dem sie dabei in die Augen geschaut hat.« Der Typ musste doch aus der Reserve zu locken sein.

Wieder sah sie der Beamte mit seinem wachen, fast schon lauernden Blick an.

»Ja, es erschreckt einen immer wieder, zu was für aberwitzigen Taten Menschen fähig sind.«

Ann schüttelte den Kopf. »Aber nicht hier. Wir befinden uns im kleinen beschaulichen Neustadt, nicht in der Bronx irgendeiner großen Metropole. Denni war in keiner Gang, gehörte keinem dunklen Milieu an. Gibt es so was hier überhaupt? Bandenkriminalität? Hier findet man mit Sicherheit Sachen wie Kleinkriminalität, Beziehungstaten und Steuerhinterziehung! Das, was Denni passiert ist, mutet aber an wie ein Auftragsmord.«

»So, Sie glauben also, es gab im Leben Ihrer Freundin so bedeutende Dinge, dass jemand sich bewogen fühlte, für viel Geld einen Profikiller anzuheuern? Was für Dinge könnten das denn gewesen sein?«

Das machst du super! Bis gerade war das eine reine Routinebefragung … aber spätestens jetzt hast du’s geschafft, dich interessant zu machen.

Oh Mann, sie redete sich hier um Kopf und Kragen. Sie holte tief Luft, versuchte ihre Stimme stark und überzeugend klingen zu lassen. »Das habe ich nicht gesagt. Ich weiß von keinen ›bedeutenden Dingen‹. Ich weiß nur, dass normale Menschen das nicht könnten, einem anderen kaltblütig in die Stirn schießen. Gibt es denn irgendwelche Hinweise auf den Mörder?«

»Darüber kann ich Ihnen leider nichts sagen.« Er stand auf. »Wie gesagt, Oberkommissarin Ehrenfeld wird sich sicherlich noch mit Ihnen und Frau Peters unterhalten wollen. Wir melden uns.«

*

Sie hatten das Frühstück gerade beendet, als Anns Handy klingelte. Es war der Redakteur der Lübecker Nachrichten, Werner Jensen. Sie einigten sich auf ein Treffen bei ihm zu Hause am frühen Nachmittag. Kaum war das Gespräch beendet, meldete sich Lottes Festnetzanschluss.

»Ja bitte?«, hörte Ann Lotte fragen.

»Am Apparat.«

»Äh ja, ich denke, das geht.«

»Ja, die ist zurzeit bei mir. So lange, bis wir … also auf jeden Fall bis zur Beerdigung.«

»Richte ich ihr aus.«

»Okay. Auf Wiederhören.«

Ann schaute Lotte fragend an.

»Das war die Polizei. Sie wollen mit uns reden.«

Kapitel 3

Pünktlich um elf saßen die beiden Freundinnen im Wartebereich der Polizeiwache.

Lotte wurde als Erste abgeholt. War ja klar, dass sie nicht zusammen befragt wurden.

Zwanzig Minuten ließ man Ann warten. Zwanzig Minuten, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen.

Dann wurde sie in ein leeres Büro geführt. Lotte war nirgends zu sehen.

Als die Tür endlich aufging, hoffte Ann, dass man ihr die Enttäuschung nicht allzu sehr ansehen würde. Die Frau, die den Raum betrat, war Mitte Vierzig und wirkte eher wie ein gelangweiltes Hausmütterchen als wie eine durchsetzungskräftige Kommissarin. Ihre graue Strickjacke hing ausgeleiert über ihrem ebenfalls grauen Schlabberpulli. Ihre Hände schienen gerade noch Kartoffeln geschält zu haben und das auf ihrem Kopf war weit davon entfernt, als Frisur bezeichnet werden zu können. Der Gesichtsausdruck der Kommissarin konnte bestenfalls als gutmütig bezeichnet werden, ihr Blick als das Gegenteil von wach und aufmerksam. Und die sollte den Mord an Denni aufklären?

Unterschätz sie nicht – denk an Columbo, dachte Ann. Wahrscheinlich hat sie ungeahnte Fähigkeiten und ne bombige Aufklärungsquote.

Leider unterstrich die Dame ihre Wirkung mit einer quälend langsamen und behäbigen Art, Fragen zu stellen, gepaart mit dem Fehlen jeglicher Betonung in ihrer Stimme.

Ann sah sie vor sich: die schrecklichsten Massenmörder, trickreichsten Betrüger und brutalsten Vergewaltiger – alle zu Tode gelangweilt. Geständig nur, um der Monotonie zu entfliehen. Gleichzeitig schämte sie sich für ihre abwertenden Gedanken. Sie kannte die Frau gar nicht und fällte doch schon nach Sekunden ihr Urteil. Dennis Tod brachte in ihr wohl nicht nur Trauer hervor …

»Guten Tag, Frau Arnold. Nett, dass Sie es einrichten konnten. Mein Name ist Petra Ehrenfeld.«

Ann nickte ihr als Begrüßung zu.

»Sie hätten uns sagen sollen, dass Sie zurzeit bei Frau Peters wohnen.«

»Ich wusste nicht, dass das für Sie von Bedeutung ist.«

»Dann erzählen Sie mal, in welcher Beziehung Sie zu der Toten stehen.«

Ann berichtete ihr von ihrer Jugendzeit und der langjährigen, engen Freundschaft zu Denise.

»Wie haben Sie von ihrem Tod erfahren?«

»Lotte rief mich an.«

»Charlotte Peters?«

Ann nickte.

»Wann war das?«

Ann überlegte kurz. »Am Mittwoch.«

»Seit wann sind Sie in Neustadt?«

»Seit Donnerstagabend.«

»Gestern sagten Sie einem Beamten, dass Sie glauben, Frau Brämer wäre durch einen Auftragsmörder getötet worden. Wie kommen Sie darauf?«

Erst denken, dann reden.

Ann merkte, wie ihre Unruhe wuchs.

»Weil sie durch einen Schuss in den Kopf, in die Stirn getötet wurde. Das stimmt doch, oder?«

»Woher stammt diese Information?«

»Renata hat uns davon erzählt, von dem Loch in der Stirn. Sie hat es bei der Identifizierung selbst gesehen.«

»Renata Brämer, die Mutter der Toten?«

Ann nickte.

»Und was könnte jemanden veranlasst haben, einen Profikiller auf Ihre Freundin anzusetzen?«

»Das weiß ich doch nicht!« Ann konnte nicht anders. Die monotone Stimmlage der Ehrenfeld brachte sie zum Kochen. Dieses quälend langsame Aussprechen der Wörter, der gelangweilte Ausdruck in diesem breiigen Gesicht – es grenzte an Folter. Ständig war man kurz davor, der Kommissarin ins Wort zu fallen und ihren, scheinbar mit viel Mühe herausgepressten Satz zu beenden, damit es endlich voranging.

»Sie dürfen uns ruhig alles, was Ihnen durch den Kopf geht, alles, was Sie sich vorstellen können, mitteilen. Wir werden mit diesen Informationen behutsam umgehen und sie gründlich prüfen.«

»Ich weiß aber nichts! Es ist nur eine Vermutung. Was glauben Sie denn, wie das Loch in ihre Stirn gekommen ist?« Anns Stimme war um einiges lauter geworden.

»Och, da gibt es viele Optionen. Was mich verwundert, ist, dass Sie, obwohl Sie Denise Brämer als normale, anständige Frau beschreiben, als Erstes die Möglichkeit eines Auftragsmords in Betracht ziehen. Das wäre für mich, in einem durchschnittlichen, nicht kriminellen Umfeld, der abwegigste Gedanke, das, worauf ich als Letztes käme. Es sei denn, es gäbe außergewöhnliche Umstände, die diese Schlussfolgerung als Möglichkeit zuließen. Gibt es die? Diese außergewöhnlichen Umstände? Gibt es etwas, das Sie uns verschweigen?«

Jetzt verlor Ann endgültig die Fassung. Diese erbärmliche Erscheinung …! Stellte hier lächerliche Anschuldigungen in den Raum. Als ob sie irgendwas verschweigen würde! Als ob Denise sich selbst in was reingeritten, ihren Tod womöglich herausgefordert hätte!

Ende der Leseprobe