Kalter Sog: Ostsee - Karen Kliewe - E-Book
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Kalter Sog: Ostsee E-Book

Karen Kliewe

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Beschreibung

Düstere Geheimnisse an der Küste – Journalistik-Studentin Johanna Arnold ermittelt. Für Fans von Eva Almstädt und Katharina Peters  Juli 2018. Die Fassade des weiß gekalkten Reetdachhauses strahlt hell in der warmen Sommersonne. Eine üppig blühende Kletterrose schmiegt sich an seine Ostseite. Niemand ahnt, welch dunkles Geheimnis sich hinter der traditionell bemalten Holztür von Nummer 47 verbirgt.  Eigentlich wollten die angehende Journalistin Johanna und ihre Mitbewohnerin Marie auf dem Darß ihren Urlaub genießen. Wären da nicht Nik und sein ominöses Verschwinden. Angeblich gönnt sich der Sohn ihrer Pensionswirtin eine Auszeit, irgendwo im schönen Portugal. Doch schon bald stoßen die Frauen auf Ungereimtheiten. Je tiefer sie eintauchen, desto undurchsichtiger wird die Geschichte und sie werden in einen Sog aus Lügen, Hass und Gewalt hineingezogen. Selbst als es ihnen gelingt, Nik ausfindig zu machen, bleiben viele Fragen offen. Verbirgt sich hinter dem, was sie ans Licht gebracht haben, eine noch grausamere Wahrheit?

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ein Fall für Journalistin Arnold bei Piper:

Letzte Spur: Ostsee

Feuchtes Grab: Ostsee

Toxische Tiefe: Ostsee

 

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Sandra Lode

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Peter Molden.

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Epilog

Das Nachwort der Autorin

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

 

 

 

Für meine Eltern,

den Klavierspieler und die erste Geige

Prolog

Drei Jahre zuvor

W a r u m?

Die Frage hatte ihr gesamtes Denken vereinnahmt. Wie besessen war sie Situationen und Erinnerungen durchgegangen, hatte ihre grauen Zellen angefleht, sich anzustrengen. Es musste einen Grund geben!

Aber da war nichts.

Nichts als Ungewissheit und ihr vor Angst stinkender Körper.

Wie sollte sie kämpfen, ohne zu wissen, was den Gegner antrieb? Sie konnte nur warten und hoffen, dass sie im entscheidenden Moment das Richtige sagen würde.

Stöhnend richtete sie sich auf, soweit das überhaupt möglich war.

Den Boden des leerstehenden Raums bedeckte eine schmierige Schicht. Dreck, der sich jahrzehntelang angesammelt hatte. Halb vergammeltes Laub, Pflanzenfasern, eine alte Plastiktüte und anderer Unrat waren hineingeweht oder vor langer Zeit abgelegt worden. Abgelegt – wie sie.

Keine drei Meter neben ihr tropfte Wasser aus einer defekten Leitung. Zu weit entfernt, um ihren Durst stillen oder ihr geschundenes Gesicht kühlen zu können.

Mutlos rüttelte sie an der Metallfessel, die ihr linkes Handgelenk umschloss. Zu oft schon hatte sie gezogen, langsam oder ruckartig, gerade oder in allen nur möglichen Drehbewegungen. Rote, abgeschürfte Hautstellen waren das klägliche Resultat. Die Kette war kurz und durch einen dicken Ring mit der Wand verbunden.

Schräg gegenüber ließ ein türgroßer Durchbruch diffuse Helligkeit hinein. Die Lichtgräben der zwei Stahlkellerfenster dagegen waren ihren Namen nicht wert. Sie kannte das Gebäude nur zu gut. Es lag weit draußen. Von den Menschen vergessen, ein Lost Place.

Sie leckte sich die spröden, aufgeplatzten Lippen.

Plitsch. Plitsch.

Das monotone Geräusch des Unerreichbaren quälte sie. Ein Rinnsal aus vielen kleinen Tropfen schloss sich immer wieder zu winzigen Pfützen zusammen, die jedoch keinerlei Anstalten machten, sich in ihre Richtung auszudehnen, um ihr den Höllendurst zu nehmen.

Die kurze Kette verhinderte ein Absenken des gefesselten Arms. Mittlerweile war er taub. Der Rest ihres Körpers schmerzte. Jeder Atemzug kostete Überwindung. Die Schläge, die Tritte – einmal hatte es grauenerregend gekracht, als einer ihrer Knochen geborsten war.

Das Entsetzen über die Brutalität war das Eine. Viel schlimmer aber waren die quälenden Fragen.

»Warum tust du das?«

»Was hab ich falsch gemacht?«

»Was habe ich dir denn getan?«

Die Antwort war immer die gleiche gewesen: blanke Gewalt.

Ein schwaches Brummen riss sie aus den Gedanken. Ihre großen dunklen Augen versuchten, den Grund auszumachen. Da! Eine Fliege bewegte sich im leichten Zickzackkurs durch den Raum, landete am Rand der kleinen Pfütze und trank.

Grace begann zu weinen. Noch vor wenigen Stunden war sie sich sicher gewesen, so schlimm das alles war: Sie würde hier unten nicht sterben!

Nun aber packte sie eiskalte Todesangst.

Kapitel 1

Zingst

Die Meiningenbrücke kam in Sicht, endlich! Sie selbst konnte nicht mehr befahren werden. Und ein Neubau ließ auf sich warten. Eine Behelfsbrücke verband die Halbinsel Fischland Darß mit dem Festland. Viermal am Tag hob sich ein Teil der Fahrbahn und ließ Segelboote und Schiffe passieren. Dann hieß es warten. Gerade aber war sie unten. Das bedeutete freie Fahrt in Richtung Sommerurlaub. Ann boxte Marie liebevoll in den Oberarm.

»Ja! Ich kann das Meer schon riechen! Und das Eis! Und die Cocktails …«

»Und die sonnengebräunte Haut der süßen Beachboys.« Marie lachte ausgelassen.

»Die überlass ich dir. Die nächste rechts«, wies Ann ihre Mitbewohnerin an. »Wir schmeißen nur schnell die Sachen ins Zimmer und dann nichts wie ran an den Strand!«

Sie verließen die Jordanstraße, durchquerten den kleinen Kreisverkehr und folgten dem Hägerende, bis der Deich in Sicht kam.

»Wenn du dort drüben durch das kleine Wäldchen gehst, kommst du direkt zum Sportstrand. Da ist immer was los. Ah, und hier – die Surfschule.«

Ein paar Hundert Meter weiter tauchte das ersehnte Schild auf: Pension Dünenzauber.

Hedda war nicht da. Also checkten die beiden Frauen ein, rafften Badetücher und Sonnencreme zusammen, schlüpften in Bikini und strandtaugliche Sachen und zogen los.

Das Wetter war herrlich. Siebenundzwanzig Grad, blauer Himmel und dann: Das erste Mal seit Monaten Ostseesand unter den Füßen! Ann streifte die Flip-Flops ab und eilte durch den schmalen Streifen Wald die Düne empor. Auf dem Kamm blieb sie wie verzaubert stehen.

Marie hielt schnaufend neben ihr.

Was für ein Anblick! Ein leichter Lufthauch spielte mit den langen Blättern des Dünengrases. Dahinter feiner weißer Strand so weit das Auge reichte. Die Ostsee glitzerte verheißungsvoll in der Sommersonne und strahlte mit dem Blau des Himmels um die Wette. Ann liebte diesen Moment des Ankommens, des ersten Blicks auf ihre Baltic Sea.

Marie schob sich ein paar rote Locken aus dem Gesicht und betrachtete die vielen bunten Sonnenschirme und Badetücher. »Wow. Hier geht was ab. Los, stürzen wir uns ins Getümmel!« Dann rannte sie los.

 

Rostock

Es war lange her.

Er stand am Hafen. Dort, wo der Journalist gestanden haben musste. Sein Blick ruhte auf den Pollern des leeren Kais. Die Ärmel seiner Jacke und seine Hosenbeine flatterten im Wind, ähnlich hektisch wie sein erregtes Herz. Er fröstelte. Die Sommersonne vermochte seinen ausgemergelten Körper nicht zu wärmen. Es war das europäische Klima – er war es einfach nicht mehr gewohnt.

Das Schlottern störte ihn nicht. Er wusste, wofür er das tat. Der Lohn würde unermesslich sein.

Ganz langsam ging er in die Hocke, streckte die knochigen langgliedrigen Finger aus und strich fast zärtlich über den rauen Asphalt. Erneut durchfuhr ihn ein heftiges, diesmal lustvolles Zittern. Je langsamer es gehen, je länger es dauern würde, desto tiefer wäre seine Befriedigung. Der Anfang war gemacht, allein das zählte.

Lächelnd erhob er sich. Er war wieder da!

 

Zingst

»Du hast einen Sonnenbrand!« Marie kicherte albern und zeigte auf Anns Nasenrücken.

»Und du einen im Tee!« Ann grinste.

»Möglich ist das. Die Cocktails vom Zuckerhut sind aber auch zu lecker!«

»Wir hätten was essen sollen.«

Die Pension kam in Sicht.

»Wir duschen, tauschen Klamotten und suchen uns ein kleines feines Restaurant.« Marie gähnte herzhaft. »Ganz wichtig: Du musst unbedingt verhindern, dass ich mich hinlege. Alkohol macht mich immer so was von müde.«

»Zuallererst muss ich Hedda Hallo sagen. Schließlich hat sie uns eingeladen.« Ann ging auf den kleinen Empfangstresen und die dahinterstehende, freundlich blickende junge Frau zu. »Hallo. Ob Sie mir sagen könnten, wo ich Hedda, äh, Frau Rohde finden kann?«

Bevor die Angesprochene antworten konnte, trat eine etwa sechzigjährige, braungebrannte Frau aus dem Hinterzimmer und rief begeistert: »Nun guck sich einer diese junge, hübsche Dame an! Johanna Arnold! Mir kommt es vor, als wär’s gestern gewesen. Da warst du so!« Die Pensionswirtin hielt die Hand in Höhe ihres Knies. »Darf ich?« Sie breitete die Arme aus und drückte Ann herzlich an sich. »An euch Kindern sieht man, wie die Zeit vergeht.« Sanft schob sie Ann von sich weg und studierte ihr Gesicht. »Mein Gott, du wirst deiner Mutter immer ähnlicher.«

Den Kommentar hätte sie sich gern schenken dürfen, murmelte Eigil, Anns innere Stimme.

»Äußerlich ja, das sagen viele.« Hedda, so fand Ann, war alt geworden. Die Haare weißlich-grau, Gesicht, Hals und Arme übersäht von Falten. Und auch wenn ihr Lachen unbefangen wirkte, in ihren Augen lag etwas Ernsthaftes. »Unglaublich, dass du uns bei dir wohnen lässt. Vielen Dank! Wir würden dir aber gern was dafür geben …«

»Papperlapapp! Dein Vater hat mir erzählt, du stehst kurz vor deiner Masterarbeit. Da ist es gut, wenn man vorher noch mal so richtig durchatmen kann! Und wo geht das besser als hier bei uns in Zingst?«

Ann lächelte dankbar. »Wirklich sehr lieb von dir. Aber in der Hochsaison brauchst du doch sicher jedes Zimmer …«

»Na, noch haben in den meisten Bundesländer die Sommerferien nicht mal angefangen. Der große Ansturm kommt erst noch. Also keine Angst. Wir werden wegen euch nicht am Hungertuch nagen! Apropos Hunger. Wie sieht’s aus, habt ihr schon was gegessen, du und …?«

»Oh, entschuldige! Das hier«, Ann zog Marie nach vorn, »ist meine Paderborner Mitbewohnerin Marie.«

»Freut mich sehr. Sie haben es wirklich toll hier.« Anns Freundin streckte Hedda die Hand entgegen.

Kurzerhand nahm die Pensionswirtin auch sie in den Arm. »Fühlt euch wie zu Hause! Also, wie sieht’s nun aus mit Essen?«

 

Eine Stunde später saßen die drei an Heddas privatem Küchentisch. Nicht ganz das, was die Urlauberinnen sich vorgestellt hatten. Absagen, da waren sich beide einig, wäre unhöflich gewesen und stand nicht zur Debatte.

»Isst Peter nicht mit?« Ann sah Hedda dabei zu, wie sie Reis, Fisch und Salat verteilte.

»Der hat heute Abend seine Männerrunde. Aber er freut sich, dich wiederzusehen. Weißwein?«

Marie und Ann nickten.

Die Gastgeberin ließ sich seufzend auf den Stuhl fallen. »So, nun erzähl doch mal, was macht meine alte Heimat? Hast du schon Pläne für die Zeit nach dem Studium? Und wer ist eigentlich dieser Marc?« Sie zwinkerte spitzbübisch.

Also erzählte Ann, wie es um Heddas alte Nachbarschaft in Neustadt in Holstein bestellt war, was ihre Eltern so trieben, wie das Journalistik-Studium bislang gelaufen war und dass sie gern für wissenschaftliche Sparten publizieren würde. »Die Welt von morgen. Zukunftstechniken im Bereich Wirtschaft und Umwelt, das reizt mich sehr.«

»Du bist wie gemacht dafür. Du schaffst das, da bin ich mir sicher. Und dein Freund Marc, ist der auch Journalist?«

Ann schüttelte den Kopf. »BKA Wiesbaden. Noch in der Ausbildung.«

Hedda hob erstaunt die Augenbrauen. »BKA. Spannend! Wohl kein Zufall, oder? Ich hab von deinen … Verwicklungen im Fall des toten Pastors gehört. Und dann noch die Sache mit dem Forschungsschiff.«

»Ann kann super kombinieren. Der macht so schnell keiner was vor«, meinte Marie mit vor Begeisterung leuchtenden Augen. »Wäre sie nicht gewesen, wäre die Wahrheit nie ans Licht gekommen!«

Ann atmete tief durch. Zeit für einen Themenwechsel. »Meine Beziehung zu Marc hat ja nichts damit zu tun, dass er beim Bundeskriminalamt ist. Wie geht’s denn eigentlich Dominik? Lebt er noch auf dem Darß?« Bildete sie sich das ein oder lag plötzlich ein Schatten über Heddas Gesicht?

»Ja. Er ist verheiratet. Sie haben eine vierjährige Tochter – Sofie.«

»Wow! Und was macht er beruflich?«

»Er arbeitet bei einer hiesigen Bootsbau- und Verleihfirma. Macht Schreinerarbeiten und so.«

»Hört sich an, als hätte er das Passende gefunden.«

Heddas Lächeln wirkte gequält. »Ja. Es war nicht einfach. Du kennst ihn ja. Diese Energie und Abenteuerlust, dieser Freiheitsdrang! Ich weiß gar nicht, von wem er das hat. Er hat sich schwergetan, immer wieder Ausbildungen abgebrochen.«

»Abenteuerlustig, mutig … ja, daran kann ich mich erinnern. Nik war für jeden noch so schrägen Spaß zu haben.« Ann sah zu Marie hinüber. »Wir sind Tür an Tür aufgewachsen. Na ja, eigentlich habe ich ihn immer nur von Weitem angehimmelt. Er ist sechs Jahre älter als ich und sah damals verdammt gut aus.« Ihr Blick wechselte zurück zu Hedda. »Gibt’s ein Foto? Hat er immer noch diese strohblonde Matte auf dem Kopf?«

Die Pensionswirtin griff hinter sich in eine Schublade und zog einen Stapel Bilder hervor. Zwei davon reichte sie Ann.

»Das gibt’s doch nicht! Dein Sohn hat sich ja gar nicht verändert!« Sie reichte die Fotos an Marie weiter. »Die Mädels haben sich damals die Klinke in die Hand gegeben.«

»Kein Wunder.« Marie nickte anerkennend. Das Foto zeigte einen selbstbewussten, fröhlich lachenden Mann. Groß, sportlich – Surferboy hätte Maries Mama dazu gesagt. »Und die kleine Ann, war die auch verschossen in den gutaussehenden Nachbarsjungen?« Sie gab die Bilder an Hedda zurück.

»Die kleine Ann war zarte fünfzehn, als Nik, Hedda und Peter wegzogen.«

»Genau das richtige Alter für den ersten richtigen Liebeskummer.« Marie seufzte theatralisch.

»Nee, ich hab den nur beneidet, um seine Coolness und sein Motorrad. Sieht seine Tochter – Sofie, richtig? Sieht sie ihm ähnlich?«

Der Gesichtsausdruck der Pensionswirtin war nur schwer zu deuten. Seltsam, Ann hatte sie als einen sehr fröhlichen Menschen in Erinnerung.

»Sofie ist nicht seine leibliche Tochter.«

»Oh, na ja. Die Hauptsache ist doch, dass die drei glücklich miteinander sind.«

»Dominik ist ein toller Vater. Er kümmert sich ganz rührend. Und Sofie liebt ihn.«

»Vielleicht hat er ja die Tage mal Zeit. Wäre bestimmt lustig, ihn wiederzusehen.«

Hedda knetete angestrengt ihre Finger. Marie warf Ann einen fragenden Blick zu.

»Hedda? Alles in Ordnung?«

Als die Wirtin hochsah, bemerkte Ann einen verdächtigen Glanz in ihren Augen.

»Dominik ist nicht hier auf dem Darß. Er ist irgendwo in Portugal.«

»Was macht er denn in Portugal?«

Hedda wirkte hilflos. »Ich weiß nicht. Also es stimmt schon. Er schwärmt immer wieder davon, von der Zeit damals, als er für ein paar Monate dort war. Aber das war vor seiner Ehe und bevor es die kleine Sofie gab.«

»Er hat in Portugal gelebt?«

»Na ja, gelebt … Er hatte sich eine Auszeit genommen. Er hatte Stress in seinem damaligen Job, war ungebunden. Ihm war es hier zu eng. Er hasste feste Strukturen. Dann ist er einfach weg.«

»Wann war das?«

»2010.«

»Wie hat er seinen Lebensunterhalt bestritten?«

»›Mal hier kellnern, mal da schrauben, Mama‹, hat er gesagt, ›ich brauch hier nicht viel. Die meiste Zeit des Tages lebe ich! Du solltest sehen, wie wunderschön es hier ist.‹«

»Warum ist er weg aus seinem Paradies?«

»Weil das Paradies dann zu bröckeln beginnt, wenn die Tücken des Alltags zuschlagen. Feste Strukturen bedeuten eben auch ärztliche Versorgung, Obdach und eine warme Mahlzeit am Tag. Als junger Mensch ist es leicht, von einem Tag in den anderen zu leben. Der Sommer bringt Touristen. Wo die sind, ist das Essen schnell verdient. Als er zurückkam, war er krank und hatte ein paar schlimme Tage hinter sich. Trotzdem schwärmt er immer noch von seiner Zeit da unten.«

»Und jetzt ist er wieder hin?«

»Sagt seine Frau.«

»Du glaubst ihr nicht?«

»Doch, eigentlich schon. Aber, ach, ich weiß auch nicht. Damals war das ganz anders. Ich hatte sehen können, wie unzufrieden er gewesen war, wie sehr ihn alles eingeengt hatte. Ich hatte zwar nicht damit gerechnet, dass er sofort so weit in den Süden abhauen würde, trotzdem … Diesmal war davon nichts zu spüren. Eigentlich war alles wie immer. Bis sie plötzlich meinte, er wäre nach Portugal geflogen und sie wüsste nicht, wann er zurückkommen würde.«

»Wann war das?«

»Vor über drei Wochen.«

»Aber er hat sich doch sicher zwischendurch bei dir gemeldet.«

Hedda schüttelte den Kopf.

»Nicht mal eine Handynachricht?«

»Nichts.«

»Und deine Versuche, ihn zu anzurufen …«

»… enden allesamt bei der Computerstimme des Telefonanbieters, dass der Teilnehmer momentan nicht zu erreichen ist.«

»Hatten die beiden Streit, er und seine Frau?«

»Ich weiß es nicht. Sie sagt nein.«

»Wie ist sie so?«

»Sehr liebenswert. Aber unglaublich still und schüchtern. Zu Anfang war das schon besonders. Es passte nicht zu dem, was er sonst nach Hause brachte. Aber vielleicht hat Dominik genau das gebraucht. Einen Gegenpol zu sich selbst.«

»Wie kommt sie damit klar, dass er … weg ist?«

»Sie wirkt traurig. Scheint sich aber wegen Sofie zusammenzureißen.« Hedda schüttelte wieder den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass er die beiden einfach im Stich lässt.«

»Und Niks Arbeitgeber? Wusste der davon?«

»Dominik hat ihn angerufen und sich krankgemeldet.«

»Was hat er als Begründung angegeben?«

»Eine dicke Erkältung. Angeblich hätte er sich total verschnupft angehört.« Erneutes, vehementes Kopfschütteln. »Ich sag ja nicht, dass ›der alte‹ Dominik zu den zuverlässigsten Menschen gehört hat, aber dass er als Ehemann und Familienvater von jetzt auf gleich alles hingeschmissen haben soll … Er weiß doch auch, dass die beiden auf sein Einkommen angewiesen sind.« Sie sah ihr direkt in die Augen. »Ann, ich hab da ein ganz mulmiges Gefühl.«

 

Die Stimmung war angespannt gewesen, als Marie und Ann Hedda verlassen hatten. Marie war schnell eingeschlafen, Ann dagegen dachte an Nik. Ihr Gehirn kramte tief in den Erinnerungen und holte gemeinsam Erlebtes hervor. Wobei ›gemeinsam Erlebtes‹ die falsche Formulierung war. Nik war mit seiner Clique um die Häuser gezogen und die kleine Ann hatte von Weitem fasziniert zugesehen. Trotzdem, sie mochte den Nachbarsjungen, hatte es toll gefunden, wenn er ihr ein Lächeln oder eine Begrüßung geschenkt hatte, statt sie zu ignorieren. Und Hedda war so besorgt gewesen heute Abend.

Wir sind hier, um Urlaub zu machen, murrte Eigil.

Eigil. Was für ein bekloppter Name! Wie war sie nur darauf gekommen, ihrer nervigen inneren Stimme einen derart schrägen Namen zu geben?

Sonnenbaden, schwimmen, lecker essen, Party machen, so was eben! Das verkorkste Leben anderer geht uns nichts an, quengelte ihr Alter Ego weiter.

Ann seufzte. Gegen einen lockeren Besuch bei Niks Frau kann keiner was haben. Ich will ja nur mal sehen, wie die so ist, gab sie gedanklich zurück.

*

Eine halbe Stunde. Das war die Vorgabe. Marie hatte ihr versichert, das wäre okay, und sich mit einem Buch an den Strand begeben.

Ann stand vor einem Sechs-Parteien-Haus in der Nähe des Bodden-Hafens und klingelte bei Ott-Rohde.

Hedda hatte gemeint, die Chancen stünden gut, Dominiks Frau anzutreffen. Sie ginge momentan keiner Arbeit nach.

Die Gegensprechanlage knackte. »Ja?«

»Hallo! Mein Name ist Johanna Arnold. Ihr Mann, Dominik und ich, wir waren Nachbarn, sind zusammen aufgewachsen. Ich mache Urlaub bei Hedda. Sie meinte, es wäre okay, wenn ich vorbeischaue.«

Stille. Dann: »Mein Mann ist nicht da.«

»Ich weiß. Hedda hat gesagt, er wäre vor über drei Wochen nach Portugal geflogen und noch nicht zurück. Darf ich trotzdem kurz reinkommen?«

»Warum? Was wollen Sie?«

»Mich nur ein wenig mit Ihnen unterhalten. Hedda macht sich Sorgen.«

»Das muss sie nicht. Dominik geht es gut.«

»Das heißt, Sie haben mit ihm gesprochen? Wann kommt er zurück?«

»Hören Sie, ich kenne Sie nicht. Gehen Sie, bitte!«

»Könnten Sie Ihrem Mann ausrichten, er möge sich umgehend bei seiner Mutter melden? Sie macht sich wirklich große Sorgen.«

Stille.

»Ich versuch’s. Bitte gehen Sie jetzt!«

»Danke. Grüßen Sie ihn von mir, von Ann, seiner Nachbarin aus Neustadt in Holstein. Und – Frau Ott-Rohde, falls Sie Hilfe brauchen, Hedda und ich freuen uns über Ihren und Sofies Besuch.«

Ob Niks Ehefrau Anns Angebot überhaupt noch gehört hatte?

Ann drehte sich um ihre eigene Achse. Was jetzt? Von der halben Stunde waren gerade mal zehn Minuten um. Ihr Blick fiel auf das Hinweisschild ›Hafen‹. Irgendwo dort müsste sich, Heddas Aussage nach, die Firma befinden, für die Nik arbeitete. Dank des eigentümlichen Slogans hatte sich Ann den Namen sogar merken können. Bodden-Bob baut Boote topp, hatte unten auf der Visitenkarte gestanden, die Hedda ihr gezeigt hatte.

Ann radelte los.

Der kleine Hafen war schnell erreicht. Sie schlenderte Richtung Anleger, vorbei an einigen Restaurants. Die Baltic Star, ein Mississippi-Schaufelraddampfer, lag längsseits und wartete auf ihren nächsten Einsatz. Daneben eines der berühmten Zeesboote. Die Masten mit ihren typisch rotbraunen Segeln streckten sich dem blauen Himmel entgegen, das Eichenholz schimmerte in der Sonne. Einige Touristen bekundeten Interesse. Der Rest des langen Holzanlegers war leer. Industrie schien es hier keine zu geben. Ann drehte um und überquerte einen kleinen Platz. Vor einem Boot mit dem verheißungsvollen Namen Futterkutter hatte sich eine kleine Schlange Hungriger gebildet. Sie verlangten nach Krabbenbrötchen, Scholle und Dorsch mit Pommes, Matjes- oder Bismarckbrötchen. Ann beschloss, sich einzureihen.

»Was darf’s sein?«

»Backfisch mit Pommes, zweimal bitte.«

»Kommt.«

Auf dem Kutter war ordentlich was los. Ein Mitarbeiter war damit beschäftigt, im Akkord Fisch und Krabben anzubraten, einer machte nichts anderes, als Brötchen aufzuschneiden, ein anderer befüllte diese und zwei weitere kümmerten sich um die Bestellung und Ausgabe. Ein eingespieltes Team.

»Sagen Sie, wissen Sie, wo ich den Schiffsbaubetrieb Bodden-Bob finden kann?«

Der Mann schüttelte den Kopf, während er die Pommes in zwei Trichtertüten schüttete.

Die Brötchenaufschneide-Frau wandte sich um und deutete mit dem Messer in Richtung Kranichhaus. »Circa zweihundert Meter da runter. Ich glaub, die zweite oder dritte Straße links rein.«

*

»Du warst aber nicht mehr bei Bodden-Bob, oder?« Marie leckte sich genüsslich die Fingerspitzen.

»Nee, dann wäre unser Essen vollends kalt gewesen. Gib her, ich laufe eben.«

Marie faltete die leeren Trichtertüten und Pappteller zusammen und reichte sie Ann. Die flitzte über den Strand zum nächsten Mülleimer.

»Und jetzt?«

Ann ließ sich aufs Badetuch fallen. »Jetzt: ein Mittagsschläfchen! Danach ne Runde Beachvolleyball spielen.« Sie zog die Sonnenbrille vom Kopf bis vor die Augen und betrachtete das Spektakel auf dem nahegelegenen Feld. »Oder gleich ins Wasser. Vielleicht aber auch erst ein Eis …«

Marie verdrehte die Augen. »Du weißt genau, was ich meine.«

»Wenn es sich ergibt, schau ich irgendwann mal bei Bob vorbei. Ich hoffe, Dominiks Frau schafft es, dass er sich bei Hedda meldet. Wird sich schon alles klären. Wir haben Urlaub!«

 

Langsam färbte sich der Himmel orangerot. Das Meer glitzerte, die Wellenzungen schwappten sanft über den Sand. Urlauber flanierten gemächlich die Seebrücke entlang bis hin zur Tauchgondel und wieder zurück. Eine Horde Silbermöwen hoffte auf ein Stück Eiswaffel oder Pommes. Besonders dreiste flogen attackenartige Manöver, um die Beute aus den Händen der Ahnungslosen zu stibitzen. Die vereinzelten spitzen Schreie der Opfer kündeten von ihrem Erfolg.

Frisch geduscht und jede mit einem Cocktail in der Hand, warteten die beiden Frauen entspannt auf den Sonnenuntergang. Von oben aus der Bar drang Reggae-Musik zu ihnen. Noch wärmte der Sand ihre blanken Füße. Anns Blick folgte einer Lachmöwe. Lautlos segelte sie über den Strand.

»Wunderschön!« Maries Augen leuchteten.

»Morgen machen wir eine Radtour über Prerow zum Leuchtturm Darßer Ort. Und wenn wir dann noch Lust haben, weiter bis zum Weststrand. Laut Arte gehört der zu den zehn schönsten Stränden der Welt. Angeblich sehr urwüchsig und wildromantisch.«

»Wildromantisch – genau meins!« Marie seufzte. »Das war die beste Idee, die du je hattest. Mit mir hier herzufahren.«

Ann stand auf und klopfte sich den Sand von der Kleidung. »Trink mal lieber aus. Ich hol noch zwei. Dasselbe noch mal?«

Oben beim Zuckerhut angekommen, reihte sie sich in die Schlange der Wartenden.

»Ich hoffe inständig, Sie sind hier, um Urlaub zu machen!«

Perplex drehte Ann sich um. Akyol Ergun, seines Zeichens Kommissar aus Rostock!

Mit argwöhnischem Blick musterte er sie. »Ich jedenfalls bin es!« Dann sah er suchend neben und hinter sie. »Wo ist der Rest der Miss-Marple-Gang? Wo sind Wendt und Steinmann?«

Ann begann zu lachen. »Was für eine Überraschung! Kommissar Ergun, schön Sie zu sehen. Keine Angst, Marc ist in Wiesbaden und Fredde sitzt brav auf der Reriker Wache. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie an der Ostsee Urlaub machen.«

»Wir haben Familie da, aus der Türkei. Meine Frau meinte, auf dem Darß könnten wir ein paar schöne Tage verbringen.« Er drehte sich zur Seite und winkte einer kleinen Gruppe zu. Interessiert besah Ann sich die Frau, von der sie annahm, es könnte sich um die Ehefrau handeln.

»Sind Sie allein hier?«

Ann schmunzelte. »Sind Sie nicht im Urlaub? Sie sollten das Gesprächsmuster von argwöhnischer Befragung in ungezwungenen Small Talk ändern.«

»Das ist Small Talk!«

Ann rückte vor und gab die beiden leeren Gläser zurück. Sofort registrierte sie seinen Blick. »Nur weil ich zwei zurückgebe, heißt das nicht, dass es eine Begleitung gibt.« In ihren Augen blitzte es listig. »Vielleicht war ich nur zu faul, das erste Glas sofort zurückzugeben.«

Sie bemerkte, wie der Barkeeper sie fragenden ansah.

»Zwei Caipirinhas!«

»Oder Sie sind einfach wahnsinnig durstig«, meinte Ergun, ohne seinen ernsten Gesichtsausdruck abzulegen.

Ann bezahlte, nahm die Getränke entgegen, beugte sich zu dem Kommissar und flüsterte: »Lächeln hilft, besonders beim Small Talk. Ich wünsche Ihnen einen schönen Urlaub, Herr Kommissar.«

*

Am nächsten Morgen, Marie und Ann hatten ihr Frühstück gerade beendet, kam Hedda auf sie zu. Sie runzelte die Stirn. »Hat Peter euch eigentlich schon begrüßt?«

Ann lachte. »Ja, gestern Abend. Wir sind regelrecht in ihn reingelaufen. Ist er schon wieder unterwegs?«

»Wie immer. Manchmal denke ich, er fährt jede Klorolle einzeln holen, damit ich ihn hier nicht so rannehme. Wie gefällt es euch denn bislang? Ihr habt schon richtig Farbe bekommen, ihr zwei!«

»Alles super. Dein Frühstück ist der Knaller!«

Marie nickte begeistert.

»Wir wollen gleich mit den Rädern los – zum Weststrand«, fuhr Ann fort.

»Nehmt Obst mit! Habt ihr euch ein paar Stullen geschmiert?«

»Schon passiert!« Ann wies auf den kleinen Stoffbeutel in ihrer Hand. Gleichzeitig kam es ihr so vor, als läge Hedda etwas auf dem Herzen. »Können wir irgendwas für dich tun?«

»Eigentlich möchte ich euch in eurem Urlaub nicht in Beschlag nehmen, aber ihr habt nicht zufällig Lust, mit mir heute Abend bei Sofie und ihrer Mutter vorbeizuschauen?«

»Hat er sich immer noch nicht gemeldet?«

Hedda schüttelte den Kopf.

Ann und Marie wechselten einen schnellen Blick.

»Klar. Wir helfen gern. Ich weiß nur nicht, ob sie so begeistert sein wird, wenn wir bei ihr auftauchen. Schließlich sind wir Fremde für sie«, gab Ann zu bedenken.

»Das wird sie aushalten müssen. Ich würde gern wissen, was euch euer Gefühl sagt. Meines sagt mir immer mehr, dass da was nicht stimmt.«

*

Der Ausflug war wunderschön gewesen. Das Karma des Weststrands – unglaublich. Der Wind hatte leicht aufgefrischt und ein paar Schäfchenwolken an den Postkartenhimmel gezaubert. Ann nahm sich vor, wiederzukommen, abseits der Saison, wenn die Natur ihre Schönheit in aller Stille entfalten konnte. Und Marc würde sie mitnehmen.

Jetzt gerade war die Stimmung eine ganz andere. Angespannt. Hedda hielt vor dem Mehrfamilienhaus. Die Bremsen des alten Golf Variant quietschten.

Wenn schon Ann sich fehl am Platz fühlte, wie musste es erst bei Marie aussehen? Ein kurzer Seitenblick genügte. Ihre Mitbewohnerin knabberte nervös an ihrer Unterlippe.

»Hedda? Eins noch. Ich war gestern schon mal hier. Sie wollte aber nicht mit mir reden.«

Die Pensionswirtin erwiderte Anns Blick durch den Rückspiegel und meinte nur: »Dann wollen wir mal.«

Dieses Mal wurde der Öffner direkt nach dem Klingeln gedrückt. Sie folgten Hedda nach oben.

»Oma, Oma!« Die helle Stimme überschlug sich fast vor Begeisterung. Ein kleines Mädchen mit zwei kurzen Zöpfen, Stupsnase und großen dunklen Kulleraugen zappelte aufgeregt auf dem Treppenabsatz.

»Da ist sie ja, meine süße Ostseenixe! Dann lass dich mal anschauen! Bist du etwa schon wieder gewachsen?«

Übermütig warf sich die Kleine in Heddas ausgebreitete Arme.

Über deren Schulter hinweg beäugte sie neugierig, wer da noch die Treppe hochkam. »Wer bist du?«

»Das, meine Süße, ist Ann. Früher hat sie direkt neben der Oma gewohnt. Ich kannte sie schon, da war sie so groß wie du jetzt.«

Die Augen des Mädchens wurden noch größer. »Echt?«

Ann lächelte. Gott, war die niedlich!

»Echt!«

»Ist die lieb, Oma?« Eigentlich wollte Sofie wohl flüstern. Hören konnten es trotzdem alle.

»Ganz doll lieb.«

Das schien dem Mädchen zu reichen. Sie fing an zu zappeln, sodass Hedda sie absetzen musste.

»Oma, komm! Ich zeig dir, was ich gemalt hab!«

Die Frau, die vor ihnen im Türrahmen erschien, war klein, knapp über eins sechzig, hatte die gleichen großen, fast schwarzen Augen wie Sofie und dunkles, kurzgeschnittenes Haar. Trotz des sonnigen Wetters war ihre Haut hell und ungebräunt. »Hedda, wie schön! Kommt doch rein!«

Die beiden Frauen umarmten sich kurz.

»Darf ich vorstellen? Johanna Arnold und ihre Freundin Marie. Ich habe Johanna aufwachsen sehen, im Nachbarhaus, damals in Neustadt in Holstein.«

Sofies Mutter senkte schüchtern den Blick. »Ich muss mich entschuldigen – für gestern. Es war ein bisschen viel und ich wusste nicht …«

»Schon gut. Absolut verständlich! Ich hab Sie ja regelrecht überfallen.«

»Grace«, stellte sie sich vor und hielt Ann die Hand hin. »Wir können gern auf das ›Sie‹ verzichten.«

Kapitel 2

Rostock

Er war aus der Übung. Zu lange hatte er sich seinem unnützen Dasein hingegeben. Erst jetzt, nachdem sich eine frische Spur aufgetan hatte, merkte er, wie belanglos die letzten Jahre gewesen waren. Seine Macht, seine Raffinesse, sie waren verpufft. Hatten einen zahnlosen Tiger zurückgelassen. Dabei hatte er sich ständig vorgemacht, er läge auf der Lauer. Er schnaufte verächtlich. Aus dem Lauern eines Jägers war der Dornröschenschlaf eines vertrockneten, alten Greises geworden. Sein Aussehen machte ihn zwar für andere unsichtbar, vor allem in der Menge, andererseits auch wenig vertrauenswürdig. Er musste an sich arbeiten. Er musste sich wieder zu der Erscheinung machen, die er einmal gewesen war. Nur so konnte er sich mit Informationen versorgen, ungesehen heranpirschen, Dinge einfädeln und vorbereiten, sodass am Ende nur noch eine Wahrheit blieb – seine. Ein langer Weg. Aber er hatte Zeit.

Beginnen würde er hier. Entschlossen griffen seine Finger nach der Türklinke des Herrenfriseursalons.

 

Zingst

»Grace, hast du mit ihm gesprochen? Was ist mit ihm?« Heddas besorgte Augen suchten die ihrer Schwiegertochter.

Die schien bei jedem Wort zusammenzuzucken. »Es tut mir leid, Hedda«, flüsterte sie. »Er geht nicht ran. Ich habe es so oft versucht.«

»Aber Sie … äh du sagtest doch, Hedda müsste sich keine Sorgen machen, Dominik ginge es gut. Gestern, durch die Gegensprechanlage.« Ann besah sich Dominiks Frau genauer. Sie trug schlichte, sandfarbene Sachen und eine Bluejeans, bis auf den Ehering und zwei winzig kleine Ohrstecker keinen Schmuck. Sie war auf eine unaufdringliche Art hübsch. Am meisten beeindruckten ihre großen Rehaugen.

»Ja, das hoffe ich.«

»Was soll das heißen, das hoffst du?« Heddas Stimme kippte aufgebracht.

»Er reagiert weder auf meine Anrufe noch auf meine Handynachrichten. Aber Steffen … der meinte, es ginge Nik gut. Er bräuchte nur etwas Zeit.«

Anns fragender Blick wurde ignoriert. Stattdessen kam Sofie hereingestürmt und wedelte mit ein paar Blättern.

»Omi! Du musst jetzt kommen! Ich hab ganz viele bunte Blumen gemalt.« Leicht verstört ließ Hedda sich ins Kinderzimmer ziehen. Marie folgte den beiden.

»Steffen?«

»Ein Freund.« Grace senkte den Kopf, als stünde die Antwort auf den Spitzen ihrer Ballerinas.

»Ich möchte nicht anmaßend wirken, aber ich muss das fragen. Was ist vorgefallen? Hast du eine Ahnung, warum Dominik euch allein lässt und nach Portugal abhaut?«

Grace wies auf eine kleine Tischgruppe, ging vor und setzte sich. »Ich denke, es ist meine Schuld. Manchmal glaube ich, ich kann ihm einfach nicht gerecht werden.« Sie sprach leise.

»Wie darf ich das verstehen?«

Das Lächeln der jungen Frau wirkte gequält. »Laut Hedda weißt du, was Dominik ausmacht. Ich glaube, es ist nicht zu übersehen, dass wir unterschiedlicher nicht sein könnten. Er hat vor nichts, ich vor allem Angst. Er braucht Veränderung, ich Stabilität. Er ist süchtig nach Adrenalin, ich bin heilfroh, wenn mein Körper keines ausschüttet. Und trotzdem liebe ich ihn so sehr.« Den letzten Satz hatte Ann kaum verstehen können.

Hast du gehört? Sie sagt, sie liebt ihn so sehr. Nicht, dass sie sich beide lieben …, merkte Eigil leise an.

»Gab es Streit?«

Grace schüttelte ganz leicht den Kopf.

»An welchem Tag ist er weg?«

»Am Mittwoch, den 6. Juni.«

Die Antwort kam schnell und präzise.

»Das weißt du so genau?«

In Graces Augen stand Unverständnis. »Seitdem frage ich mich, ob ich ihn verloren habe.« Sie wandte den Kopf ab, als müsse sie aufsteigende Tränen verbergen.

»Kannst du mir den Tag schildern? Was hat er nach dem Aufwachen gemacht? War zunächst alles wie sonst?«

Grace zögerte.

Kein Wunder. Du dringst hier ein, eine Wildfremde, und stellst lauter intime Fragen, die dich nix angehen …

»Alles wie immer.« Grace atmete vorsichtig durch.

»Ist er morgens noch zur Arbeit?«

»Dachte ich.«

»Kommt er gewöhnlich mittags nach Hause?«

Grace schüttelte den Kopf. »Er isst mit den anderen im Hafen.«

»Jeden Tag? Geht das nicht ganz schön ins Geld?«

»Ich koche nicht allzu gut.«

»Und Sofie und du?«

»Für uns reicht’s. Aber immer nur schwach gewürztes Gemüse mit Nudeln, Reis oder Kartoffeln, das ist auf Dauer nichts für Dominik.«

»Wann hast du gemerkt, dass er weg ist? Und wie hast du eigentlich erfahren, wohin er geflogen ist?«

»Er kam abends nicht nach Hause. Auf seinem Handy hab ich ihn nicht erreicht. Zunächst dachte ich, er wäre bei Steffen oder Benni. Oder er hätte bei Hedda vorbeigeschaut. Als es immer später wurde, begann ich, mir Sorgen zu machen. Ich klingelte Dirk aus dem Bett.«

»Dirk?«

»Dirk Lange, Dominiks Chef.«

Bodden-Bob ist also ein Dirk …

»Ich fragte ihn, ob sie eine Nachtschicht einlegen müssten. Das kommt schon mal vor. Er sagte, Dominik hätte sich krankgemeldet. Da bekam ich Angst.«

»Wie kamst du auf Portugal?«

»Nachdem ich alle Freunde, alle Möglichkeiten durchtelefoniert hatte – ohne etwas herauszufinden –, bin ich ins Schlafzimmer. Seine Zahnbürste fehlte, ein paar T-Shirts, einige Jeans und dann gab es da diesen Zettel.«

»Welchen Zettel?«

Grace stand auf und verließ lautlos den Raum.

Während Ann wartete, sah sie sich ein wenig um. Auf dem Sideboard standen Fotos. Eines von Grace und Dominik, wie sie verliebt in die Kamera strahlten. Viele von Sofie, eines sogar zusammen mit ihrer Oma Hedda. Eine glückliche kleine Familie.

Grace war zurück und hielt ihr den Abriss eines Notizblocks hin.

Liebe Gracie,

sei mir nicht böse, aber ich brauche ein wenig Zeit für mich. Ich fliege dorthin, wo das Meer den Himmel berührt, nach Portugal. Gib der Kleinen einen dicken Kuss und sag ihr, Papa ist bald zurück.

 

Keine Unterschrift.

»Er hat immer wieder erzählt, wie unglaublich schön es dort ist. Er wollte mir alles zeigen, irgendwann.«

»Kennt Hedda den Zettel?«

»Natürlich!«

*

»›… wo das Meer den Himmel berührt.‹ Ganz schön poetisch.« Ann saß auf dem Beifahrersitz und sah vorsichtig zu Hedda herüber.

»Ja, wenn Dominik von Portugal redet, ist er ein ganz anderer Mensch. Er spricht mit so viel Liebe und Hingabe über dieses Fleckchen Erde …«

»Vielleicht müsst ihr ihm wirklich ein bisschen Zeit geben.« Ann berührte mitfühlend Heddas Unterarm. »Er kommt bestimmt bald zurück.«

Sie fuhren schweigend. Heddas tiefe Stirnfalte glättete sich ein wenig.

»Grace ist nett«, begann Ann nach einer Weile.

»Ja, das ist sie.«

»Und Sofie – zuckersüß, die Kleine. Ich kann verstehen, dass Dominik sie lieb hat.«

»Eben das ist es, was mich so unruhig macht. Er würde sein kleines Mädchen nicht einfach so im Stich lassen.«

»Er lässt sie nicht im Stich, Hedda. Er nimmt sich nur eine Auszeit.«

Vor einer roten Ampel mussten sie halten.

»Und dafür stiehlt er sich heimlich davon? Sagt keinem was? Lügt seinen Chef an und ruft nicht mal mich, seine Mutter, an, um mir zu sagen, dass es ihm gutgeht?«

»Manchmal muss man sich erst mal selbst über einiges klar werden, bevor man sich den Fragen anderer stellen kann.«

»Ein Anruf, Ann, nur ein Anruf: ›Mama, mir geht es gut.‹ Ist das zu viel verlangt?«

»Nein, ich weiß.«

*

Am späten Abend hockten die beiden Urlauberinnen auf ihrem Zimmer und sahen auf den kleinen Monitor von Anns Notebook. Seit einer halben Stunde stand die Konferenzschaltung mit Fredde und Marc. Der eine war aus Rerik, der andere aus Wiesbaden zugeschaltet. Ann beendete soeben ihre Ausführungen. »So richtig beruhigen konnte ich Hedda nicht.«

»Ich kann sie verstehen«, meinte Marie. »Ihr Sohn ist seit über drei Wochen verschwunden, ohne ein Lebenszeichen.«

»Tja, er ist vierunddreißig«, gab Ann zu bedenken.

»Und er hat so was schon mal gebracht«, merkte Fredde an. »Für uns gäbe es gar keinen Zweifel. Der Typ will seine Ruhe. So bitter, wie das ist, man kann nur warten, ob, beziehungsweise dass er wieder auftaucht. Ziemlich arschig seinen Angehörigen gegenüber.« Fredde, alias Frederik Steinmann, sollte es wissen. Arbeitete er doch selbst bei der Polizei, schob Dienst in Rerik auf einer kleinen Wache zwischen Rostock und Wismar.

»Hm.« Anns Blick ging gedankenverloren ins Leere.

»Du bist die Einzige, die den Mann kennt. Wie schätzt du die Sache ein, Ann?« Marc kannte seine Freundin nur zu gut. Er sah, wenn es in ihr arbeitete. Er wusste, wie sehr sie es hasste, mit unbeantworteten Fragen klarkommen zu müssen.

»Das ist ja mein Problem. Ich kenne ihn nicht. Das alles ist viel zu lange her. Ich kann das gerade absolut nicht einschätzen. Aber Heddas Unruhe steckt an. Und ich frage mich die ganze Zeit, ob es nicht doch irgendeinen Weg gibt, sich Sicherheit über seinen Zustand zu verschaffen. Denn, selbst wenn er zunächst hingeflogen ist und alles perfekt war, inzwischen könnte das ganz anders sein. Dann wiederum denke ich: Dominik ist ein selbstbewusster, erwachsener Mann. Wäre er in Schwierigkeiten, würde er sich melden oder zurückkommen.«

»Weiß Hedda, wo ihr Sohn damals in Portugal genau gelebt hat? In welcher Stadt, in welchem Viertel oder noch konkreter in welcher Wohnung?«, fragte Fredde.

Ann schüttelte den Kopf. »Die Region vielleicht. Mehr aber auch nicht. Für sie hörte es sich so an, als sei er mal hier, mal dort untergekommen.«

»Ich glaube, einem Sechsundzwanzigjährigen gewährt man eher Unterschlupf als einem Vierunddreißigjährigen. Bedeutet, er wird diesmal, vor allem am Anfang, Geld für Essen und Unterkunft gebraucht haben. Hedda könnte diese Grace bitten, die Kontoauszüge zu kontrollieren. Wenn man weiß, bei welcher Bank er Geld gezogen hat, wüsste man, in welcher Gegend er steckt«, schlug Marc vor.

Anns Gesicht hellte sich auf. »Megaidee! Und anhand der Abbuchungszeiten hätte man ein hoffentlich aktuelles Lebenszeichen. Wer Geld abheben kann, dem kann es so schlecht nicht gehen, oder?« Erleichtert lehnte sie sich zurück.

Auch Maries Körper entspannte sich. »Dann steht einem chilligen Strandurlaub ja jetzt nichts mehr im Wege. Puh, Gott sei Dank! Ich dachte schon, Anns nächste Verbrecherjagd stünde an und ich: mittendrin!«

Die anderen drei lachten.

»Ja, arme Marie. Ich hatte schon ein richtig schlechtes Gewissen. Kaum sind wir hier, schon schicke ich sie allein an den Strand oder schleppe sie zu der vergrämten Frau eines Ex-Nachbarn, wo sie eine Vierjährige bespaßen darf.« Ann zog ihre Mitbewohnerin in die Arme und drückte sie übertrieben herzlich. »Ich mach’s wieder gut. Morgen lad ich dich zu ner Boddenrundfahrt ein.«

Marie befreite sich protestierend. »Ihh, geh weg! Sabber mich ja nicht an!«

»Obacht, Marie! Nicht dass sie dich nur loswerden will.« Fredde zwinkerte den beiden vergnügt zu.

»Du meinst, sie versenkt mich im Bodden?«

»Also sagt mal, was geht denn hier ab? Ich gehöre zu den Guten!« Ann tat entrüstet.

»Das lass nicht den Ergun hören! Für ihn sind viele deiner Methoden eindeutig illegal.« Marc grinste.

»Apropos Ergun! Wisst ihr, wer hier auf dem Darß Urlaub macht?«

*

Ann hatte lange Ruhe gehabt. Die Gespräche mit ihrem Psychotherapeuten Dr. Gisbert Hase schienen endlich Früchte zu tragen. Vielleicht war es auch die Zeit, der Abstand, der es zusehends leichter machte.

In dieser Nacht allerdings hatte sie unruhig geschlafen. An einen Albtraum konnte sie sich nicht erinnern. Ihres Wissens hatte sich keiner der ›Drei‹ blicken lassen. Ihre drei Dämonen, die ihr seit den traumatischen Erlebnissen das Leben schwermachten. Und doch fühlte sie sich abgekämpft und unausgeschlafen.

Gähnend reckte sie sich. Marie schlummerte noch friedlich. Der Blick auf die Uhr zeigte, eigentlich war es noch viel zu früh. Leise griff Ann nach frischer Wäsche, T-Shirt und kurzer Hose und schlich ins Bad.

»Guten Morgen!«

Überrascht blickte Hedda auf. »Guten Morgen, du bist aber früh dran.« Sie war gerade dabei, Schälchen mit Lachs, Hering und geräucherter Forelle auf dem Frühstücksbuffet-Tisch zu verteilen.

»Der frühe Wurm kriegt den heißesten Kaffee.«

»Ich glaube, der erste ist nicht einmal durch.«

»Wie, du fängst an zu arbeiten, ohne einen Schluck Kaffee?«

»Der für die Urlauber …« Hedda lächelte. »Du darfst dir natürlich auch was von unserer Spezialmischung ›Hallo Wach‹ aus der Mitarbeiterkanne nehmen. Was habt ihr beide heute vor?«

»Boddenfahrt, maybe.«

»Schön. Nehmt euch Kopfbedeckungen mit. Es soll wieder sehr heiß und sonnig werden.«

»Kann ich dir helfen?« Ann folgte Hedda in die Küche.

»Nicht nötig. Hier weiß jeder, was er zu tun hat.« Die Wirtin nickte in Richtung der zwei Servicekräfte, die dabei waren, das Buffet aufzubauen.

Ann blieb an Heddas Seite. »Wie lange kennt ihr euch eigentlich schon, du und meine Eltern?«

Erstaunt sah Hedda hoch. »Deine Eltern? Na, seitdem ihr in das Nachbarhaus eingezogen seid. Ich war heilfroh. Die alte Dame, die vor euch dort gewohnt hat, war alles andere als einfach.«

»Ach ja?«

»Ständig dieses Gemecker! Mal war Dominik zu laut, mal war er über den Rasen ihres Vorgartens gelaufen … Sogar die Polizei hat sie uns regelmäßig auf den Hals gehetzt! Und dann kamt ihr! Du warst so eine süße Maus. Ich kann mich noch gut an unsere erste Begegnung erinnern, wie du mir fröhlich lachend entgegengerannt kamst auf deinen kleinen Speckbeinchen. Dein Vater hatte Not, dich wieder einzufangen. Mein Gott, es kommt mir vor, als wär das gestern gewesen.«

Ann stockte. »Die erste Begegnung war das aber nicht, oder?«

»Doch, doch. Ihr wart gerade angekommen. Der Möbelwagen stand sogar noch vor der Tür. Ich wollte fragen, ob ich helfen kann. Aber damals waren deine Eltern noch sehr zurückhaltend, fast verschlossen. Es hat ein bisschen gedauert, bis wir miteinander warm wurden. Peter wurde nicht müde, sie zu einer Grillwurst einzuladen.« Sie lachte. »Aber es hat sich gelohnt! Das sind feine Menschen, deine Eltern.«

Ann lächelte unsicher. »Ja, das sind sie.« Sie schluckte. »Haben sie dir erzählt, wo sie vorher gewohnt haben?«

»War das nicht Hamburg?«

Ann nickte. »Da war ich noch zu klein. Ich erinnere mich nicht mehr.« Eigentlich war ich da noch gar nicht auf der Welt, dachte ich bislang zumindest.

»Kein Wunder. Du musst anderthalb, maximal zwei gewesen sein, als ihr nebenan eingezogen seid.«

 

Ann rannte aus der Pension, kletterte den Deich hoch und lief ein paar Hundert Meter über den asphaltierten Weg, der mit fortschreitendem Tag unzähligen Touristen als Fahrradstrecke dienen würde. Ihr Herz klopfte aufgeregt. Sie zog ihr Handy heraus und wählte Marcs Nummer. Seine Mobilbox meldete sich. Sie drückte das Gespräch weg, hielt an einer Parkbank, setzte sich und starrte auf die erwachende Stadt. Bislang war sie davon ausgegangen, ihre Eltern hätten schon in dem ihr bekannten Haus gewohnt, bevor sie geboren wurde. Warum eigentlich? Wie kam sie darauf?

Weil sie nie etwas anderes erwähnt haben? Eigil.

»Eigentlich haben sie gar nicht über die ersten Jahre meines Lebens gesprochen. Na ja, so gut wie gar nicht«, murmelte Ann.

Der Wasserschaden.

»Ja, der Wasserschaden. Der angeblich alle Fotos aus den Jahren 1991 bis Anfang 1995 zerstört haben soll. Ich glaube, ich sollte mehr über die Zeit in Erfahrung bringen, in der wir noch nicht in Neustadt gewohnt haben.«

Und du könntest Hedda fragen, ob sie sich an einen Wasserschaden im Jahre 1995 erinnern kann, regte Eigil an.

Während Ann zurückging, versuchte sie, in ihrer Erinnerung zu kramen und herauszufinden, warum sie so überzeugt gewesen war, seit ihrer Geburt in Neustadt gewohnt zu haben.

 

Als sie zurück war, sah Ann Grace mit Sofie an der Hand in der Pension verschwinden. Neugierig eilte sie hinterher.

»Das ist wirklich total lieb von dir, danke. Ich versuche, so schnell wie möglich zurück zu sein«, hörte sie Grace sagen.

»Ach, hör auf! Du weißt, du kannst sie jederzeit bringen, nicht wahr, kleine Ostseenixe?«, antwortete Heddas Stimme.

»Omi, darf ich Dita in der Küche helfen?«

Ann bog um die Ecke und sah die drei vor der Bürotür stehen.

»Aber natürlich. Dita wird sich freuen und Hilfe kann sie gut gebrauchen.«

»Guten Morgen Grace, hi, Sofie! Verbringst du den Tag heute bei der Oma?« Ann lächelte die Frauen an.

Sofie nickte begeistert.

»Ich hätte die Kleine aber auch vom Kindergarten abholen können«, warf Hedda ein.

»Lass mal. So musst du nicht extra fahren und Sofie ist genauso gern bei dir, nicht wahr, Schätzchen?« Grace beugte sich zu ihrer Tochter und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Dann wandte sie sich ab und ging in Anns Richtung. »Guten Morgen«, grüßte sie und wollte vorbeigehen.

»Ich nehme an, er hat sich noch nicht gemeldet?«

Grace blieb neben ihr stehen und schüttelte den Kopf.

»Eure Kontoauszüge. Ihr habt bestimmt ein gemeinsames Konto, oder?«

Die Verwirrung in Graces Gesicht war nicht zu übersehen. »Ja, warum?«

»Du hast die Belege der letzten Wochen doch sicher schon vorliegen. Gibt es Auslands-Abbuchungen von einer portugiesischen Bank?«

Interessiert trat Hedda näher.

Weiterhin sichtbar verwirrt antwortete Grace verunsichert: »Ich weiß nicht. Also ja, ich habe letzte Woche Auszüge geholt. Mir ist aber nichts aufgefallen. Kann natürlich sein, dass ich was übersehen habe. So genau hab ich nicht geguckt.«

Anns Blick flackerte kurz zu Hedda rüber und wieder zurück. »Würdest du sie diesbezüglich noch mal durchschauen? Gut wäre, wenn du alle bis zum heutigen Tag einsehen könntest. Man könnte über die Bank den Aufenthaltsort herausfinden und über das Datum, beziehungsweise die Tage der Abbuchung, dokumentieren, dass es ihm gut geht. Es wäre so eine Art Lebenszeichen.«

In Heddas Augen blitzte Hoffnung auf.

Grace nickte begeistert. »Aber natürlich! Eine gute Idee! Dass ich da nicht selbst drauf gekommen bin.« Ungewöhnlich offenherzig drückte sie Anns Arm. »Ich kümmere mich und melde mich sofort!« Lächelnd verließ sie die Pension.

Sichtbar gerührt nahm Hedda Ann in den Arm. »Ich wusste es, du bist ein schlaues Mädchen!«

 

Rostock