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Ein scharfsinniger Roman über die Geschichte unserer Gegenwart und die Kraft unserer Träume – von der Autorin des Bestsellers Mädchen, Frau etc. Was wäre, wenn der afrikanische Kontinent die Welt erobert hätte und Sklavenhandel mit Europäern betreiben würde? Booker-Preisträgerin und Bestsellerautorin Bernardine Evaristo denkt die Vergangenheit neu: Doris, ein weißes Mädchen aus England, wird nach Aphrika verschleppt und dort als Sklavin verkauft. Doch sie verliert nicht ihren Mut. Sie muss alles riskieren, um die Fesseln ihrer Gefangenschaft abzulegen und ein freies Leben zu führen. Eben noch spielt Doris mit ihren Schwestern Verstecken auf den Feldern hinter ihrem Cottage. Im nächsten Moment wird ihr ein Sack über den Kopf gezogen und sie findet sich im Laderaum eines Sklavenschiffs wieder, das in die Neue Welt segelt. Dort muss sie einem ambossanischen Feudalherrn dienen, der von ihrer Minderwertigkeit überzeugt ist. Doch Doris kann nicht aufhören, von ihrer Flucht zu träumen. In den folgenden Jahren setzt sie alles daran, ein freier Mensch zu werden. Als ihre Fluchtversuche scheitern, wird sie zur Strafe auf die Zuckerrohrfelder geschickt. In den Plantagen, an der Seite der starken Wikingerin Ye Mémé, entdeckt Doris jedoch eine ungekannte Stärke in sich. Unerwartet findet sie zurück zu ihrem blonden Herz. Und am Ende sogar zu ihrem ungebrochenen Freiheitswillen. »Ein phänomenales Buch. Zweifellos ein feministischer Klassiker.« WOMEN'S PRIZE FOR FICTION »So menschlich und authentisch. Eine humorvolle und intelligente Neuinterpretation von Vergangenheit und Gegenwart.« GUARDIAN
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Seitenzahl: 366
Veröffentlichungsjahr: 2025
Bernardine Evaristo
Blondes Herz
Roman
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Tropen
Sprache und Sprachgebrauch in diesem Roman folgen der Figurenrede. Die Übersetzung orientiert sich bei kritischen Ausdrucksweisen, Sprachfärbungen und Vergleichen eng am Original.
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Tropen
www.tropen.de
J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstraße 77, 70178 Stuttgart
Fragen zur Produktsicherheit: [email protected]
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Blonde Roots« im Verlag Hamish Hamilton, London
© 2008 by Bernardine Evaristo
Für die deutsche Ausgabe
© 2025 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte sowie die Nutzung des Werkes für Text und Data Mining i. S. v. § 44b UrhG vorbehalten
Cover: Zero-Media.net, München unter Verwendung der Daten des Originalverlags
Illustration: © Jon Gray
Foto Bernardine Evaristo: © Jennie Scott
Gesetzt in den Tropen Studios, Leipzig
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
Lektorat: Johanna Schwering
ISBN 978-3-608-50275-6
E-Book ISBN 978-3-608-12384-5
Landkarte
Erstes Buch
Großer Gott, führ mich heim
Die Gospel-Bahn
Es
Raub am helllichten Tag
Doklanda
Die Middle Passage
Ach,
Little Miracle
Wo bin ich?
Zweites Buch
Die Flamme
Bescheidene Anfänge – persönliche Tragik
Manche sind mehr Mensch als die anderen
Das graue Herz der Finsternis
Die Seelenrettung
Auf der Welle des Erfolgs
Betrogene Güte
Werbepartner
Drittes Buch
Oh Sweet Chariot
Ene, mene, mu
Der Gerechtigkeit wird Genüge getan
Das Inselparadies
Balsam in Gilead
Im Haus meines Masters
Watet im Wasser
Nachtrag
Danksagung
Dem Gedenken an die 10 bis 12 Millionen Menschen aus Afrika, die als Versklavte nach Europa und Nord- und Südamerika verschleppt wurden … und für ihre Nachkommen
1444–1888
Alles auf der Welt unterliegt der Interpretation: Welche Interpretation zu einer bestimmten Zeit jeweils vorherrscht, das ist eine Erscheinungsform der Macht und nicht der Wahrheit.
Friedrich Nietzsche zugeschrieben
Da muss ich also wieder einmal Bürodienst versehen und die Geschäftsbücher durchgehen, während der Boss, mein Bwana, mit der ganzen Familie ausgegangen ist, um auf irgendeiner schicken Party in der Nachbarschaft die Rum-Cola-Gläser klirren zu lassen und den Schwabbelhintern zu schwenken. Früher hoffte ich immer, der Heilige Voodoo-Abend wäre der eine Tag im Jahr, an dem wir Versklavte auch freibekommen würden – aber weit gefehlt, es läuft alles wie gehabt.
Draußen vor dem Fenster sind die Palmen zu beiden Seiten der breiten Straße mit Girlanden in Gold und Silber geschmückt. Es sind hohe, schlanke Bäume mit der hochnäsigen Haltung jener, die von klein auf die kostbare Kokosmilch auf dem Kopf balancieren, und an ihren glänzend grünen Wedeln baumeln flackernde Öllichter in rot bemalten Kalebassen.
Die Reste des gestrigen Sandsturms wurden sorgfältig vom Kopfsteinpflaster gefegt, die Händler mit ihren Imbissangeboten bis auf Weiteres fortgejagt.
Frösche und Grillen sorgen für einen berauschenden nächtlichen Chor, zu dessen Klängen ein Kamelwagen nach dem anderen stinkreiche Partygäste vor den benachbarten Compounds absetzt. Die Männer tragen alle farbenprächtige Kaftane, und ihre glamourösen, beleibten Frauen tun ihr Bestes, einander mit pfauenfederbedruckten Turbanen zu übertrumpfen, die sie zu den ausgefallensten femininen Schleifen gebunden haben.
Sämtliche Häuser wurden frisch geweißelt, auf den Buntglasscheiben sind Abbilder der Götter zu sehen: Oshan, Shangira, Yemonja. Vor den Veranden halten steinerne Sphingen Wacht, die Eingänge sind von Fackeln auf hohen Marmorsockeln gesäumt, deren Flammen wie schlüpfrig-bläuliche Finger nach der klebrigen Nachtluft fassen.
Aus den Obergeschossen dröhnen die fiebrigen Elektrobeats der Jugend, aus den unteren dringen die weichen Klänge der Marimba durch das Gelächter und Geplauder von Menschen, die allen Grund dazu haben, das Fest der Liebe auch zu feiern, denn sie alle leben als freie Männer und freie Frauen mitten in der Gegend mit den höchsten Immobilienpreisen der uns bekannten Welt: Mayfah.
Mein eben erwähnter Bwana ist Chief Kaga Konata Katamba I. Sein Vermögen hat er im Bereich Import-Export gemacht, im berüchtigten transatlantischen Sklavenhandel, und sich schließlich ganz dem Leben in der besseren Gesellschaft verschrieben, als dauerabwesender Zuckermagnat, Teilzeitgatte, Freizeitvater, anständiger Mensch außer Dienst und, nicht zu vergessen, völlig verheerte Seele.
Außerdem ist mein Boss Vollzeitgegner des Abolitionismus und verbreitet in seinem persönlichen Sprachrohr Die Flamme – einer Flugschrift, die landauf, landab in Umlauf ist – kostenfreie Tiraden zugunsten der Sklaverei.
Trotz aller Abneigung blätterte ich gerade in der neuesten Ausgabe dieses Machwerks und spürte schon, wie sich mein Magen zusammenkrampfte und mir die Kehle eng wurde, da schob auf einmal eine Hand einen zusammengefalteten Brief durch das offene Bürofenster und war sofort wieder verschwunden, bevor ich erkennen konnte, zu wem sie gehörte.
Ich faltete den Brief auf, las die magischen Worte und meinte mit einem Mal, im eigenen Kopf zu ertrinken.
Wellen krachten und donnerten durch meinen Schädel.
Ich stieß den gewaltigsten aller stummen Schreie aus.
Dann verlor ich das Bewusstsein.
Wie lange, weiß ich selbst nicht, ein paar Minuten vielleicht, aber als ich wieder zu mir kam, saß ich noch immer auf meinem Stuhl, mein Kopf war nach vorn gesackt, und ich hielt den Brief in der Hand.
Durch einen wässrigen Schleier las ich ihn erneut.
Es stimmte, es war Wirklichkeit – ich sollte die Möglichkeit zur Flucht erhalten.
Großer Gott.
Nach so vielen Jahren auf der Warteliste hielt ich das in der Hand, was ich mir am sehnlichsten wünschte. Und trotzdem kam es plötzlich viel zu schnell. Ich saß da wie erstarrt. Meine Gedanken rasten vor tausend Wenns und Abers. Wenn ich versuchte, mein Leben seiner rechtmäßigen Besitzerin zurückzugeben – nämlich mir selbst –, musste ich es auch aufs Spiel setzen. Und wenn ich unvorsichtig war oder Pech hatte, endete ich womöglich am örtlichen Schandpfahl oder auf dem Henkersblock.
Dann meldete sich mein Überlebenswille.
Mein Kopf klarte auf.
Ich war wieder ganz da.
Zerriss den Brief in winzige Fetzen.
Stand auf und wandte mich der Holzmaske mit den Zügen des Bwana an der Wand zu.
Und zeigte ihm hochherrschaftlich-vornehm den Mittelfinger.
Der Brief teilte mir mit, dass die Underground Railroad nach zwischenzeitlicher Unterbrechung aufgrund eines entgleisten Zugs den Dienst wieder aufgenommen habe. So etwas kam recht häufig vor, wenn es nicht gelang, genügend Triebkraft vom städtischen Versorgungswerk abzuzweigen, oder wenn ein Fahrzeug unter der Last zu vieler flüchtiger Versklavter zusammenbrach, die auf der langen Reise heim ins Mutterland eine sichere Fahrt aus der Stadt hinaus ergattern wollten.
Ich konnte nur hoffen, dass die Nachricht auch vertrauenswürdig war, denn die Widerstandsbewegung wurde nur allzu oft von Schläfern unterlaufen, die unvermittelt ganze Zellen von Aufständischen verrieten.
Tief im Innern war mir klar, dass jene, die mit Versklavten Handel trieben, diese Geldquelle niemals aufgeben würden. Schließlich handelte es sich dabei um den lukrativsten internationalen Wirtschaftszweig aller Zeiten, der nicht zuletzt groß angelegte Menschentransporte umfasste: Millionen von uns Waißen wurden vom Kontinent Europa auf die sogenannten Westjapanischen Inseln verschifft, die so genannt wurden, weil der ach so große Entdecker und Abenteurer Chinua Chikwuemeka sie auf seiner Suche nach einem neuen Seeweg nach Asien gefunden und geglaubt hatte, er sei auf den sagenumwobenen Inselstaat Japan gestoßen.
Da saß ich nun also, im Vereinigten Königreich von Großambossanien (VK oder GA sind die gängigen Abkürzungen), das zum Kontinent Aphrika gehört. Das Festland liegt gleich jenseits des Ambossa-Kanals und ist auch als Sonniger Kontinent bekannt, weil es hier immer so brüllend heiß ist.
Großambossanien selbst ist im Grunde nur eine nicht sonderlich große Insel, die eine ständig wachsende Bevölkerung zu ernähren hat, ihre gierigen Langfinger deshalb über den ganzen Erdball streckt und sich komplette Länder und Bevölkerungen zusammenraubt.
Einschließlich mir. Ich gehörte zu den Geraubten.
Darum war ich hier.
Die Nachricht ließ mir nur eine Stunde Zeit, um zum stillgelegten Bahnhof Paddinto zu kommen, und enthielt genaue Anweisungen, wo ich im Gestrüpp das Einstiegsloch finden würde, durch das ich unbemerkt in den U-Bahn-Schacht hinunterkäme. Dort würde mich ein Mitglied des Widerstands erwarten und mich durch die nasskalten unterirdischen Tunnel führen. So wurde es mir versprochen und hoffentlich nicht gebrochen, denn sonst wäre es aus mit mir.
Das versklavte Leben hatte mich gelehrt, dass kein Versprechen je mit einer Geld-zurück-Garantie kam und eine Beschwerde beim Kundenservice bloß eine Meldung bei der Geschäftsführung zur Folge hatte, und wenn das geschah, bekam man so richtig eins aufs Dach.
Trotzdem glaube ich fest an die Hoffnung. Schließlich bin ich ja noch am Leben.
Die Untergrundbahnen der Stadt Londolo hatten vor vielen Jahren offiziell den Betrieb eingestellt, weil immer mehr Tunnel unter dem Gewicht der oberirdischen Gebäude einstürzten. Seither griff die Stadt wieder auf langsamere, dafür aber deutlich zuverlässigere Transportmittel zurück: Pferdewagen und -karren, Kamele, Elefanten, Postkutschen und, für besonders versessene Fitnessfanatiker, Velozipede. Das einzige Fortbewegungsmittel, das uns Versklavten zur Verfügung stand, war bekannt unter dem Namen Schusters Rappen.
Aber eines Tages hatte irgendein heller Kopf in der Widerstandsbewegung den Geistesblitz, die stillgelegte U-Bahn wieder zu nutzen, und ermöglichte damit vielen von uns, aus der schwer bewachten Stadt Londolo heraus bis zu den Docks zu gelangen, von wo aus die lange, gefahrvolle Reise zurück nach Europa angetreten werden konnte.
Zum ersten Mal, seit ich fortgeholt worden war, konnte ich mir ernsthaft den Gedanken erlauben, vielleicht nach Hause zurückzukehren. War das überhaupt möglich? Ich hatte noch so lebhafte Erinnerungen an meine Eltern, an meine drei Schwestern, an unser kleines Steinhaus auf dem Anwesen und an Rory, meinen geliebten Cockerspaniel. Aber falls meine Familie den Überfall der Männer aus den Borderlands, die mich seinerzeit entführt hatten, lebend überstanden haben sollte, waren sie inzwischen wahrscheinlich längst alle tot.
Hier in Großambossanien unterteilten sie uns in »Stämme«, dabei waren wir viele verschiedene Nationen mit jeweils eigener Sprache und überlieferten Sitten und Gebräuchen, wie beispielsweise in den Borderlands, wo alle Männer karierte Röcke und darunter keine Unterwäsche trugen.
Hier in Großambossanien nannten sie Europa auch den Grauen Kontinent, weil der Himmel dort immer wolkenverhangen ist.
Aber ach, wie sehnte ich mich nach diesem grauen Himmel.
Nach dem unablässigen Nieselregen und dem rauen Wind, der mir um die Ohren brauste.
Nach meiner mollig warmen wollenen Winterwäsche und den robusten Holzpantinen.
Nach Mams saftigen Sandwiches und ihrer sämigen Kürbisbrühe.
Nach dem knisternden Feuer im Kamin und den Liedern, die wir dort alle zusammen sangen.
Wie sehnte ich mich nach der Gegend im äußersten Norden, aus der ich fortgeholt worden war.
Wie sehnte ich mich nach England.
Wie sehnte ich mich nach zu Hause.
Ich kann voller Stolz verkünden, dass ich einer langen Ahnenreihe von Kohlbauern entstamme.
Meine Eltern waren ehrliche Landwirte, die ihre Felder bestellten und sich nie eines Diebstahls schuldig machten, selbst wenn es im Sommer einmal schneite oder den ganzen Winter hindurch regnete und die Ernte ihnen im Keim verdorrte und zu Mulch verkam.
Dabei besaßen wir selbst kein Land, o nein, wir waren Leibeigene, das letzte Glied in der Ackerbau-Nahrungskette, und doch klirrten keine Ketten auf dem Boden, wenn wir unserer Wege gingen. Und im Grunde waren wir auch niemandes Eigentum, sondern tief verwurzelt in diesem Boden, denn wenn das Land durch Tode, Eheschließungen oder auch Kriege den Besitzer wechselte, taten wir es mit ihm und blieben so dem Ort verbunden, über ganze Generationen hinweg.
Vereinbart war, dass unser Herr, Lord Perceval Montague (für uns nur Percy, hinter seinem Rücken natürlich), der zigste Erstgeborene aus der Familie, an deren Nabelschnur die Meinen hingen, uns ein paar Felder verpachtete. Als Gegenleistung zogen alle männlichen Leibeigenen als Fußsoldaten für ihn in die Schlacht, und ich kann versichern, das war seinerzeit eine völlig rechtlose Gesellschaft. Es ging damals hoch her im fernen Norden. Wenn irgendwer jemand anderem Land oder Vieh entwenden wollte, dann tat er das unter Einsatz roher Gewalt, sofern dem Gewehrfeuer nicht mit Schießpulver begegnet wurde oder eine Privatarmee zur Verteidigung ausrückte, selbst wenn die nur ein zusammengewürfelter Haufen aus linkischen Landarbeitern war.
Wir bestellten also unser Stückchen Land und dazu noch das von Percy.
Von allem, was wir ernteten, mussten wir die Hälfte an ihn abtreten.
Er hätte Armenfürsorge betreiben sollen, tat das aber so gut wie nie.
Wollten wir etwa seinen Karren borgen, um damit zum Markt zu fahren, oder seine Kornmühle und seinen Brotbackofen nutzen, mussten wir dafür extra zahlen, und war die Ernte einmal schlecht gewesen, häuften wir Schulden an, die sich über viele Jahre auf unseren Abrechnungen niederschlugen.
Das Herrenhaus, Montague Manor, war ein eindrucksvoller Granitklotz, wie Grabsteine erhoben sich seine Mauern vor einem Himmel, der von den täglichen nordischen Regengüssen erbebte.
Auf uns Kinder übte es eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, trotzdem war ich unter meinen Schwestern die Einzige, die den nötigen Mumm aufbrachte, den Verlockungen des großen Hauses tatsächlich zu erliegen.
Eines Tages, als alle anderen beim jährlichen Sommerjahrmarkt auf den Ländereien waren, schlich ich mich durch die schwere hölzerne Eingangstür hinein in die gewaltige Dielenhalle des Herrenhauses, während meine Schwestern sich im Gebüsch versteckten und wie ein hasenfüßiges Publikum daraus hervorlugten. Ich gab mir Mühe, möglichst leise zu sein, aber meine Holzpantinen hallten von der hohen Decke wider.
An den Wänden hingen Gobelins mit den Bildnissen schöner Jungfrauen, die Einhörner streichelten, Rentiergeweihe verzweigten sich wie die Äste eines Baumes, und gleich gegenüber der Tür hing ein gewaltiger Bärenkopf mit geifernd gebleckten Reißzähnen. Seine wässrigen, durchsichtigen Augen verfolgten mich auf Schritt und Tritt.
Als ich tief unter mir aus dem Boden klagendes Stöhnen hörte, geriet ich in Panik, machte auf dem Absatz kehrt, stürzte zurück zur Tür und prallte dabei gegen einen ausgestopften Wolf, der aussah, als wolle er zum Sprung ansetzen und sich einen Bissen genehmigen. Das Stöhnen musste wohl aus Percys legendärem Kerker gekommen sein, wo er Wilderer und Gefangene aus den Scharmützeln mit den Borderlandern festhielt. Irgendwann wurden sie dann auf den langen Marsch durch die Wälder geschickt, hin zum nächsten Schiff, das dort anlegte, bevor es seine Reise in die Neue Welt antrat – so hatten wir es jedenfalls gehört.
Für uns Bauernkinder war die Neue Welt ein fernes Land jenseits der Weltmeere, über das wir nichts weiter wussten, als dass dort niemand hinwollte, denn die, die doch aufbrachen, kamen nicht mehr zurück.
Unser Zuhause war das Apple Tree Cottage am äußersten Rand des Anwesens. Eine windschiefe Ansammlung aus Holzbalken und lehmverputzten Mauern. Überall raschelten Insekten. Im Grunde wimmelte das ganze Haus vor Ungeziefer – vom Wespennest im strohgedeckten Dach bis hin zu den Flöhen, die ständig »Körper-wechsle-dich« spielten, weil unser Blut ihr Lebenselixier war. Durch die Haustür kam man in ein kleines Wohnzimmer mit Lehmboden und offenem Torffeuer. Zu beiden Seiten des Raums, der zugleich als Küche diente, waren mit schweren grünen Wollvorhängen zwei Schlafstellen abgetrennt. Fensterscheiben konnten wir uns aufgrund der hohen Steuerabgaben nicht leisten, darum blieben die Fensterläden geschlossen, und drinnen herrschte ewiger Winter.
Madge, Sharon, Alice und ich teilten uns eine Strohmatratze. Wir schliefen unter einer kunterbunten Flickendecke, die von zwei noch vor unserer Geburt verstorbenen Großtanten aus Stoffresten genäht worden war. Ich hatte mir den Platz in der Mitte gesichert und wurde in den eisigen Nächten von meinen Schwestern warm gehalten.
Dann war da noch unser Hund Rory, der immer herumsprang und alles umwarf, obwohl er, wie Mam oft schimpfte, »schon lang kein Welpe mehr« war. Anschließend sah er sich dann durch ihren Fußtritt zu einem improvisierten Weitsprung veranlasst und landete jaulend, die Beine nach allen Seiten weggestreckt, was urkomisch aussah.
Pa und Mam, das waren Mr Jack und Mrs Eliza Scagglethorpe.
Pa hatte Muskeln, die als lange, sehnige Stränge direkt unter der Haut saßen, denn es war ja kaum Fett vorhanden, um die Knochen abzupolstern. Sein Hals verschwand ganz hinter einem struppigen Bart, den er »ums Verrecken nicht« trimmen wollte, und seine Wangen waren rissig, wo der bitterkalte Wind sie wund geweht hatte. Er ging gebeugt wie ein dürrer, vom Sturm niedergedrückter Baum, weil er Kohlköpfe setzte und erntete, seit er ein kleiner Junge war.
Sein Haar hatte das dunkle Rot der Menschen aus den Borderlands. Unter dem Bauernhut mit der breiten Krempe, den er draußen immer trug, ringelte es sich bis auf die Schultern hinab.
Als ich noch zu klein war, um es besser zu wissen, krempelte er manchmal den Kittelärmel hoch, ließ mich einen Finger auf die pochende Vene an seinem Arm legen und machte mir weis, dort würden Tausendfüßler hausen. Dann lief ich kreischend weg, er jagte mir nach, und unterwegs rannten wir Hocker, Eimer und meine Schwestern über den Haufen.
Pa liebte seine Kohlköpfe mit großer Leidenschaft und sagte immer, man müsse sie genauso zärtlich behandeln wie Kinder. Was wusste ich damals nicht alles über diese gottverflixten Kohlköpfe! Der January King war »knackig und stark im Geschmack«, die Autumn Queen dunkelgrün, der Savoy King ein »zähes kleines Miststück«. Und was wusste ich nicht alles über die Kohlkopfkriege von einst, als die Scagglethorpes für die Montagues den Sieg über die Paldergraves errangen!
In jener Zeit v. d. Skl. (vor der Sklaverei) verabscheute ich kein Essen so sehr wie Kohl.
Was würde ich heute um einen geben!
Pa beklagte sich nie darüber, dass er keinen Sohn hatte, trotzdem wussten wir alle, wie er darüber dachte, denn manchmal, wenn er uns ansah, konnte er seine Enttäuschung nicht recht verbergen.
Wer würde die Scagglethorpe-Tradition des Kohlanbaus einmal fortführen?
Aber die düsteren Gedanken schüttelte er immer schnell wieder ab.
»Na los«, forderte er uns Mädchen auf. »Sagt mir, dass ich einen Wunsch frei hab.«
»Was denn für einen Wunsch?«
»Stellt euch nicht dümmer, als ihr seid. Sagt mir, dass ich einen Wunsch frei hab. Den ihr mir erfüllen könnt.«
»Aber wir können doch gar nicht zaubern, wir sind keine guten Feen.«
»Das ist ein Spiel, ihr Spatzenhirne, und ihr gebt mir jetzt einen Wunsch frei, sonst schmeiß ich euch einen Kohlkopf an eure nichtsnutzigen Birnen.«
»Ist ja gut, Pa, du hast einen Wunsch frei.«
»Na, dann wollen wir mal sehen. Was soll ich mir denn wünschen? Oh, ich weiß, was ich mir wünsche.« Und er kratzte sich am Kinn, als wäre ihm der Gedanke eben erst gekommen. »Ich wünsche mir, meine Mädchen in solchen Reifröcken aus kostbarem Fischbein zu sehen, wie sie die Ladys oben im Haus tragen, mit hübsch geschminkten Wangen und Perlen um den Schwanenhals; euch über Bälle wirbeln zu sehen, mit einem galanten Gentleman am Arm, gewinnendem Lächeln auf den Lippen und gläsernen Schühchen an den Füßen.«
»Aaach, bist du wieder schmalzig«, sagte ich dann und griff anschließend zum Spiegel, um zu sehen, ob ich tatsächlich einen »Schwanenhals« hatte.
In der Nacht träumte ich von einem Kleid aus gelber Spitze, mit Reifrock und Puffärmeln. So auserlesen schön war mein Kleid, meine gläsernen Schuhe so zierlich, dass alle den Atem anhielten, wenn ich über die Wiesen eilte, fassungslos darüber, was für eine elegante Erscheinung ich geworden war.
Aber dann machte ich alles wieder kaputt und bekam Hühneraugen von den engen Schuhen, ein Schuh zerbrach, die scharfe Glaskante schnitt mir in den Fuß, und der Schmerz weckte mich wieder auf.
Pa erhob sich immer schon, bevor das Tageslicht der Nacht den ersten Schubs versetzte. Wenn er nach Einbruch der Dunkelheit zurückkam, war er unleidlich, bis er etwas gegessen hatte.
Freitags trank er nach dem Essen gern einen Humpen Ale (mehr als einen angeblich nie), und dazu ging er rüber zu Johnny Johnsons Scheune auf dem None-Go-By-Hof, auf eine »kleine Runde« mit den »Jungs« – lauter alte Männer, die auf die Vierzig zugingen. Wenn er zurückkam, stank er nach Gerste und den Kräutern, mit denen das Ale gewürzt war, sang irgendein derbes Lied, das wir schon hörten, wenn er noch mehrere Felder weit weg war, lehnte dann schnaufend in der offenen Tür, ließ kalte Luft ins Zimmer wehen, schwadronierte darüber, dass »die Stunde des kleinen Arbeiters schon noch kommen« werde, torkelte schließlich in seinen kuhmistverklebten Stiefeln herein und sackte in seinen Sessel, die Beine von sich gestreckt, den Kopf so weit zurückgelegt, dass sein stoppeliger Adamsapfel bebend hervorstand.
»Wie’s den Jungs wohl geht?«, fragte Mam laut, sobald sie ihn schnarchen hörte, und hob dabei nicht einmal den Blick von ihren Stricknadeln, die wie zwei Schwerter im Kampf aneinanderschlugen.
Nie werde ich vergessen, wie es war, als ich Pa zum ersten Mal mittags sein warmes Schmalzbrot bringen durfte.
Die Wolken hingen so tief vom Himmel, dass ich ihn ewig nicht finden konnte, aber dann stand er plötzlich da, eine Hand auf die Mistgabel gestützt, ragte er aus dem Nebel empor. Wie eine Vogelscheuche sah er aus, und mir wurde mit einem Schlag klar, wie sehr ihn diese Knochenarbeit schon zermürbt hatte.
Er sang, aber keins von den üblichen schlüpfrigen Liedchen, über die wir Mädchen kicherten und unsere Mutter sich mokierte. Vielmehr klang er wie einer der Chorknaben aus der Kirche, deren Stimmen noch nicht aufgeraut, verschlammt und zornig davon waren, jahrein, jahraus mit dem Spaten durch den vereisten Boden zu brechen, Eselsmist wegzuschaufeln oder in der Winterkälte, gekleidet in grobes Sackleinen und mit nichts als Holzpantinen an den bloßen Füßen, stundenlang Holz zu hacken.
Es war die Stimme des Knaben im Mann. Des Kindes, das in meinem Vater fortlebte.
Sein Herz war voller Sehnsucht nach etwas, das er verloren hatte oder besitzen wollte.
Und mein Herz zerkrümelte wie altbackenes Brot.
Are you going to Scarborough Fayre?
Parsley, sage, rosemary and thyme,
Remember me to one who lives there,
She once was a true love of mine.
An meinem zehnten Geburtstag war die Reihe an mir, mit verbundenen Augen aufs Feld hinauszugehen und den ersten Kohlkopf der Saison aus dem Boden zu ziehen. Wenn man zehn wurde, hatte man bereits die Pocken, die Schweißsucht und praktisch jede andere der vielen Krankheiten überstanden, die Kinder frühzeitig dahinraffen konnten, und die Wahrscheinlichkeit stieg, dass man es bis zum Erwachsenenalter schaffte. Wenn noch viel Erde am Kohlkopf hing, würde man einmal reich werden, wenn nicht, blieb man arm.
An jenem Frühlingstag stapften wir im Morgengrauen durch das feuchte Gras, vorbei an den Bäumen, an denen sich bereits winzige lavendelfarbene Blütenblätter zeigten.
Für mich stand längst fest, welchen Berufsweg ich einschlagen wollte. Ich würde eine der seltenen Seidenhändlerinnen werden, wie die junge Margaret Roper aus der Siedlung bei Duddingley, die sich auf einem Karren hatte mitnehmen lassen und in ihrer eigenen Kutsche zurückgekehrt war. So wie sie würde auch ich sieben Jahre lang in die Lehre gehen und dann mein eigenes Geschäft führen. Erst einmal musste ich aber Pa überreden, dass er Percy überredete, mich ziehen zu lassen. Ich wusste, er hätte nur Spott und Hohn für die Idee übrig, dass eine seiner törichten Töchter Geschäftsfrau werden könnte.
Aber das schreckte mich nicht.
Es würde Jahre dauern, die Schulden abzustottern, aber irgendwann wäre ich reich genug, um sie selbst zu bezahlen.
Ich hatte alles genauestens geplant.
Wie man das eben so macht mit zehn.
An meinem Kohlkopf hing ein großer Klumpen Erde.
Ich schlug ein Rad vor Freude und sang lauthals: »Wey, hey, hey, the cat and the fiddle and the cow jumped over the moon!«
Tja, was soll ich sagen:
Da bin ich wohl ganz schön verkohlt worden.
Aber all diese Erinnerungen würden mich kaum rechtzeitig zum Bahnhof bringen.
Wie ein Leopard, der zu viel Kolanuss intus hat, schoss ich aus dem Büro des Bwana hinaus und eilte quer durch das Compound, das weitläufigste in der ganzen Stadt. Über den frisch gesprengten, quietschgrünen Rasen, vorbei an dem kakteengespickten Steingarten und den breithüftigen, mütterlichen Palmen im Ananashain, vorbei an den orange- und rosafarbenen Rutschbahnen und Karussells auf dem Abenteuerspielplatz, am zuckrigen Duft der Mangostan-, der Pawpaw- und Vanillebäume, vorbei an den Kamelkoppeln, bis ich schließlich, hinter alldem, die versteckten Sklavenquartiere erreichte, die rücksichtsvollerweise gleich neben der Jauchegrube und dem Schweinestall errichtet worden waren.
Dort angekommen betrat ich die winzige Hütte, die ich mit meinen Mitbewohnerinnen teilte: Yomisi und Sitembile.
Yomisi war Mitte dreißig, so wie ich. Geboren war sie allerdings als Gertraude Schultz auf einem Getreidehof in Bayern. Sie war mit achtzehn von Sklavenfängern entführt worden, als sie an einem kühlen Sonntagmorgen nach der Messe auf dem Heimweg war und die Dummheit beging, eine Abkürzung über den Friedhof zu nehmen. So war sie schließlich nach Londolo gekommen und schlief nun allnächtlich neben meiner Wenigkeit. Wir waren ein ungleiches Paar: ich die Optimistin, sie die Pessimistin. Ich hielt meine Rückfahrkarte fest in der Brust verwahrt und träumte ständig von der Flucht; sie hatte ihre bereits in tausend Stücke zerrissen, als sie kurz nach der Entführung zum ersten Mal von ihren drei Kidnappern vergewaltigt worden war.
Seither sann sie wild entschlossen auf Rache.
Yomisi kochte für den Bwana. Klapperdürr, mit grünen Augen und schweren Lidern musste sie in der Küche einen eisernen Maulkorb tragen, damit sie bei der Arbeit nichts aß. Er umschloss ihr Gesicht wie zwei metallene Hände, die ihr eine durchlöcherte Scheibe auf den Mund drückten. Diese Apparatur wurde am Hinterkopf mit einem Schloss fixiert.
Ihre Lippen wurden rissig davon. Ihr ganzer Mund trocknete aus. Die Zunge schwoll an. Das Zahnfleisch blutete. Selbst abends, wenn ihr der Maulkorb abgenommen worden war, hielt sie die Zähne beim Sprechen noch zusammengebissen.
Manchmal erbrach sich der Bwana die ganze Nacht hindurch, oder eins seiner Kinder bekam hohes Fieber. Durchfälle waren an der Tagesordnung. Der Bwana litt so regelmäßig an Halluzinationen, dass es bereits an Wahnsinn grenzte, und seine ganze Familie entwickelte unablässig derart unerträgliche Ausschläge, dass man sie oft dabei beobachten konnte, wie sie sich in gemeinschaftlicher Raserei ganze Hautfetzen abkratzten.
Und alle hatten den Juju-Zauber der vielen Geschäftsfeinde des Bwana im Verdacht, niemand die duldsame, abgemagerte Köchin.
Glasscherben.
Gammelfleisch, getarnt mit intensiven Kräutern und Gewürzen.
Giftpilze.
Grünzeug, dessen Namen sie verschwieg.
Es war das Einzige, was ihr noch Freude machte.
Meine zweite Mitbewohnerin war die fröhliche junge Sitembile, die erst Anfang zwanzig war. Sie rief uns Normalsterblichen gern in Erinnerung, dass sie als Olivia de Champfleur-Grimaldi, Prinzessin von Sachsen-Coburg, Bourbon, Orleans und Habsburg in einem Palast im alten Königreich Monaco geboren worden war. Im Zuge eines Krieges mit Frankreich als Geisel genommen, war sie schließlich in die Sklaverei verkauft worden, weil ihr Vater, der König, kein Geld für die Freilassung einer Tochter ausgeben wollte, wo er doch bereits fünf Söhne hatte, die um die Thronfolge Schlange standen.
Sitembile bekleidete das ehrwürdige Amt der hauseigenen Toilettenfrau, jeden Morgen leerte sie etwa fünfzig Nachttöpfe aus und verbrachte dann den Rest des Tages damit, die Plumpsklos auszumisten und sie mit Kalk zu desinfizieren, um Fliegen und anderes Ungeziefer fernzuhalten.
Wenn ihre Zeit es zuließ (was sie selten tat), saß sie auf unserer Türschwelle und plapperte vor sich hin, führte ausgedehnte Selbstgespräche, in die sie alle, die ihr zuhörten, erst spät einbezog, und dann wunderte sie sich, wenn wir uns beklagten, wir hätten keine Ahnung, wovon sie eigentlich redete.
Sie drehte sich die Haare zu schlammverklebten Zöpfchen und rieb sich die Haut mit Ockerfarbe ein, um sie dunkler zu machen, in der Hoffnung, so vielleicht die Aufmerksamkeit eines der freundlicheren, jüngeren, attraktiveren Geschäftspartner des Bwana zu erregen, der ihr ein neues Leben als favorisierte Geliebte bieten würde. Mit ihren bemerkenswerten Kurven rund um eine von Natur aus schmale Taille war diese Hoffnung gar nicht so abwegig.
Yomisi gab sich Mühe, Sitembiles Begeisterung mit der oft geäußerten Weisheit zu zügeln, dass Traum und Enttäuschung nur zu gern Hand in Hand gingen.
Ich half Sitembile, sich den glatten, unversehrten Rücken mit Ockerfarbe einzureiben, und hielt dagegen, dass Träume zumindest die Laune besserten.
Das Leben hatte uns drei Frauen zusammengewürfelt, und wir hatten Wege gefunden, es miteinander auszuhalten.
Jetzt aber brach ich klammheimlich aus.
Ohne ein einziges Wort.
Unsere Baracke war ganz aus Wellblech gebaut, und im Sommer war es darin nachts glühend heiß. Unsereins stand keines der schicken, kühlen, weiß gestrichenen Lehmfachwerkhäuser zu, die am hinteren Ende des Compounds standen, mit ihren palmgedeckten Dächern, Mangrovenholzbalken, Fenstern und umlaufenden Veranden. Nein, wir durften in unserer schmuddeligen Blechdose entweder schmoren oder erfrieren, und gleich nebenan hatten wir einen dreieinhalb Meter hohen Termitenhügel, den wir tunlichst unversehrt ließen, schließlich war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er sonst mitten in unserer Behausung wieder errichtet würde.
Als ich die Hütte betrat, konnte ich sicher sein, dass die anderen irgendwo auf dem Gelände beschäftigt waren, denn wir arbeiteten alle pausenlos. Selbst wenn es einmal aussah, als wäre eine Aufgabe abgeschlossen, hielt uns immer noch Madama Blessing beschäftigt, die herrische erste Ehefrau des Bwana. Der Legende nach sollte sie einmal das reizendste junge Mädchen in der Stadt gewesen sein, aber nach so vielen Ehejahren mit dem Bwana und der Tatsache, dass er sich nur immer noch mehr Ehefrauen zulegte, die sie befehligen musste, war ihr die Macht zu Kopf gestiegen, und so war sie das Ungeheuer geworden, als das wir sie alle kannten und hassten.
Heute hatte sie eine klobige Goldkette um den fettfaltigen Hals getragen, mit einem Rubin und einer diamantbesetzten Akuaba-Fruchtbarkeitspuppe daran. Vollkommen lächerlich, wo sie doch offensichtlich längst jenseits der Wechseljahre war. Von ihrer Hand mit den gepflegten Fingernägeln sprang einem ein goldener Ring in Form eines knurrenden Löwen entgegen, der einen, auch wenn sie einmal versuchte, freundlich zu wirken, immer daran erinnerte, dass sie es nicht war. Der bildschöne, elfenbeinfarben lackierte Knochen, der ihre Nase durchbohrte, und der Pflock, der in ihrer Unterlippe steckte, wiesen sie als Frau aus, die einen Ehemann besaß (als ob das irgendwer je bezweifelt hätte).
An diesem höchsten aller Festtage war sie mit einer ihrer besonders charmanten frühmorgendlichen Launen aufgewacht und hatte sämtlichen Versklavten in Reichweite befohlen, sich auf alle viere niederzulassen und die unermesslichen Weiten ihres heiß geliebten, mit beigefarbenen Steinplatten belegten Bodens zu schrubben – mit Seifenlauge und einer Nagelbürste. Um so richtig tief in die Ritzen zu kommen, erklärte sie und ließ den Blick einmal über die versammelten nackten Füße ihrer Untergebenen schweifen, um sodann mit Hüften und Schultern Schwung zu holen und ihren massigen Körper mit der Eleganz eines dreibeinigen, halb blinden und anderthalb Tonnen schweren Nilpferds den Flur entlang davonzuwuchten.
Die Augen sind Spiegel der Seele, und hätte sie sich die Mühe gemacht, in unsere zu schauen, sie hätte wohl in jedem einzelnen Paar Gelüste nach einem Axtmord erblickt.
Madama Blessing besaß ihrerseits große, schreckensweite Augen, die ihr ganzes Gesicht beherrschten, und wenn ihr Blick umherwanderte und -kreiste, konnte man nur beten, dass er einen nicht ins Visier nahm, denn tat er das, gesellte sich zu dem Schrecken in diesen Augen Empörung über ein Verbrechen, für das man bestraft werden musste, obwohl man es noch gar nicht begangen hatte. Zugleich verfügte sie über eimerweise Selbstmitleid, was bei unseren Mastern und Mistresses recht häufig vorkam – ihnen geschah das Unrecht, nicht uns. Ihr Lieblingstuch war über und über mit dem Adinkra-Symbol Atamfo Atwameho bedruckt, was so viel heißt wie: »Ich bin von Feinden umgeben.«
Ich raffte etwas Kleidung zusammen und stopfte sie in einen Korb, dann griff ich mir eine Wrappa und wickelte sie mir um die Schultern. Sie würde die hübsch personalisierten Tätowierungen verdecken, die auf meinen Schulterblättern prangten. Dem Geschmack von Sklavenhaltern entsprechend stand dort der Name meiner ersten Mistress, Panyin Ige Ghika – kurz PIG.
Einst war ich die Gefährtin ihrer Tochter gewesen, Little Miracle.
Ach, Little Miracle – aber von ihr später mehr.
Nachdem mich der Bwana gekauft hatte, ließ auch er mir seine Initialen eingravieren: KKK.
Wer will sich das ausmalen – ein rot glühendes Schüreisen in die Haut gedrückt zu bekommen? Zwei Mal! Die vom Schock verzögerte Reaktion, während es bereits zischt und qualmt, und dann die Tränen aus warmem Blut, die über Arm und Rücken rinnen.
Ich hatte nur wenig mitzunehmen. Wir hatten nie viel an, wegen der Hitze, an die ich mich nie recht gewöhnt habe, genauso wenig wie an die ambossanische Kleiderordnung – diese Wrappa-Tücher, in die man sich ständig wickeln musste – oder an das Barfußlaufen, das ich schrecklich unangenehm fand, vor allem, da ich mich so gern an meine Holzpantinen erinnerte. Wie sehnte ich mich nach ihrem kühlen, perfekt geformten Fußbett, nach der leichten Erschütterung, die man spürte, wenn das Holz auf harten Untergrund traf. Und oben ohne herumzulaufen ist auch alles andere als lustig, wenn man drei Kinder geboren hat und die Brüste schlackern wie überreife Butternutkürbisse. Ganz zu schweigen von der Frisur, die Madama Blessing mir als der angesehensten Sklavin im Haushalt verordnet hatte! Meine langen, glatten, blonden Haare wurden mit Draht verstärkt und am ganzen Kopf zu lauter kleinen Zöpfen geflochten. Ich wollte noch widersprechen, ihr erklären, dass wir Waißen einfach nicht die Gesichtszüge haben, um so etwas tragen zu können. Aber sie fand, ich müsse anständig aussehen, wenn ich ihren erlauchten Besuch empfing, und nicht wie eine abgerissene, dahergelaufene Europanerin. Bei diesem Besuch handelte es sich meist um Mitglieder des sogenannten Überhauses, des Regierungsgremiums von Großambossanien, und fast immer waren es ebenfalls Plantagenbesitzer, die sich ihren Platz im Parlament erkauft hatten.
All diese Gedanken sausten mir durch den Kopf, während ich im sandigen Boden unter meiner Schlafpritsche grub und schließlich einen abgegriffenen Ziegenhautbeutel hervorzog, in dem sechsundvierzig Pfund Kauri steckten. In all den Jahren, die ich die Einkäufe für den Bwana und seine Familie erledigte, hatte ich immer wieder hier und da eine Muschel abgezweigt. Und dabei nie die Hoffnung verloren, dass ich sie eines Tages brauchen würde.
Leise zog ich die Tür hinter mir zu und überzeugte mich, dass die Luft rein war. Dann platzierte ich den Korb auf meinem Kopf und schlüpfte durch einen Spalt im Gebüsch. Er führte auf eine Gasse hinaus und war für uns Versklavte der Weg, uns vom Compound weg- und wieder zurückzuschleichen, wenn wir uns auf ein romantisches Stelldichein treffen wollten; auch ich kannte ihn, obwohl ich nun schon seit Langem solo war. Ich war ein sehr monogamer Mensch und ganz dem »Ein Mann, eine Frau«-Prinzip meiner eigenen Kultur verpflichtet, sosehr das von der polygamen Bevölkerung Ambossaniens auch als unwirtschaftlich, selbstsüchtig, typisch europanisch verlogen und einfach nur rückschrittlich gegeißelt werden mochte.
Die Liebe meines Lebens war Frank gewesen. Sein Sklavenname lautete Ndumbo, aber so nannte ich ihn nie, wenn wir unter uns waren. Er war einer, der Dinge formte und flickte, ein weithin bekannter Schreiner. Nie fühle er sich so lebendig, sagte er immer, wie in dem Moment, wenn er der schweigenden Versammlung aus abgetrennten Gliedern des Waldes in ihrer Leichenhalle gegenübertrat – dem Holzlager bei Golda’s Green. Dort ruhten sie, den Elementen ausgesetzt, bis sie so weit waren, als nützliche oder zierende Kunstwerke zu neuem Leben erweckt zu werden, und zwar von ihrem Hohepriester – meinem Frank.
Frank maß mehr als sechs Fuß, er war breitschultrig und dunkelhaarig – ein echter Gentleman.
Er wurde nie laut, wenn er mit mir sprach, er kommandierte mich nicht herum, und jedes Mal, wenn er mich anlächelte, lag darin eine Wertschätzung, die ich anfangs nur schwer annehmen konnte. Zu sehr war ich es gewohnt, als selbstverständlich betrachtet zu werden.
Wir verbrachten jede freie Minute zusammen und genossen unsere notgedrungen schlichten Freuden:
Teilten uns ein Stück Kokos-Rum-Kuchen, das Yomisi in der Küche abgezweigt hatte.
Legten uns ins Gras und zählten die Sterne am Nachthimmel.
Er machte mir Arm- und Fußreifen aus Holz und schnitzte innen seinen und meinen Namen ein.
Ich hatte ihm heimlich beigebracht, auf ein Stück Schiefer seinen Namen zu schreiben: Frank Adam Merryweather, Sohn von Frank William Merryweather, aus Hull in England.
Seine Miene, als ihm das zum ersten Mal ganz ohne Fehler gelang. Gestrahlt hat er, wie ein stolzes Kind.
Und nachts zeichneten seine geschickten Schreinerhände die Konturen meines Rückens und meiner Gliedmaßen so gekonnt nach, dass mein erstorbener Körper sein Gefühl zurückgewann und neu zum Kunstwerk geformt wurde.
Am nächsten Tag ging ich dann mit weicheren Gliedern, lockeren Gelenken und federleichten Muskeln meinen Pflichten nach, und mein schweifender Geist machte bei nichts und niemandem halt, nur bei ihm.
Frank war ein so harmloser Mann, aber seine Mistress, die gerade mal fünf Fuß große Madama Subria, warf ihm vor, er hätte sie sexuell bedrängt, und schwärzte ihn bei ihrem Mann an. Der verkaufte Frank auf eine der Westjapanischen Inseln, ließ ihn aber erst noch fünfzig Hiebe mit der neunschwänzigen Katze am Schandpfahl beim Cumburlasgar Gateway am anderen Ende der Straße erdulden. Und alle Versklavten aus der Umgegend mussten zusehen.
Wer könnte sich ausmalen, wie ich mich dabei fühlte? Der arme Frank, sein zerschundener Rücken. Erst stures Schweigen, dann ein erbarmungswürdiges Wimmern, bis ihm schließlich so entsetzliche Schreie entfuhren, dass sie schier den Himmel zerrissen.
Besonders ironisch daran war, dass Madama Subria zuvor ständig versucht hatte, ihn mit ihrem Schmollmund und hautenger Kleidung zu verführen, sie stolzierte vor ihm herum und schwenkte ihren breiten ambossanischen Hintern (sie konnte jede Pobacke einzeln bewegen), wann immer er hinter ihr den Flur entlangging. Er schenkte ihren Avancen keine Beachtung, bis sie ihm eines Tages befahl, die Scharniere der mit Gold und Elfenbein verzierten Truhe in ihrem Schlafzimmer zu reparieren. Da entledigte sie sich urplötzlich aller Kleidung und stand splitternackt vor ihm.
Dazu muss man wissen, dass Madama Subria, so wie im Grunde jede reiche Mistress, ein verwöhntes Geschöpf war. Wenn man ständig ein ganzes Sklavenheer zur Verfügung hat, erwartet man eben, alles zu bekommen, was man will und wann man es will.
Erste Lektion: Als versklavter Mensch weist man Master oder Mistress niemals ab.
Mein Mann lernte das auf die harte Tour.
Sie wurde fuchsteufelswild. Und dann rächte sie sich.
Wir Versklavten beenden unsere Beziehungen nicht selbst. Das erledigen andere für uns. Häufig gehen wir sie nicht einmal selbst ein, auch das tun andere für uns. Fortpflanzen sollen wir uns, aber nur, um für neue Arbeitskräfte zu sorgen.
Meine Kinder wurden allesamt verkauft.
Jedes Mal wieder wurde mir versprochen, ich dürfe das Kind behalten. Eine schamlose Lüge, weil manche werdenden Mütter sich lieber das Leben nahmen, wenn sie wussten, dass ihnen ihr Kind gleich nach der Geburt genommen würde.
Wenn die Wehen kamen, kauerte ich auf einer zerschlissenen Bastmatte und Ma Ramla, die Hebamme (eigentlich Siegfrieda aus Deutschland), kühlte mir mit einem feuchten Tuch das Gesicht, verbrannte Sandelholz-Räucherstäbchen, hielt mich von hinten umschlungen und befahl mir zu pressen.
Jedes Kind kam in die Obhut einer Amme, bis es dann verkauft wurde. Auch das reine Taktik, wie ich herausfand, denn man wusste von Müttern, die zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen neigten, wenn sie den Säugling, den sie seit Monaten stillten, wieder hergeben sollten.
Zwei Mädchen und ein Junge.
Ich habe meine Kinder nie wiedergesehen.
Manchmal, wenn ich mir die Hand auf den Bauch lege, spüre ich noch ihre leichten Tritte.
Ich erinnere mich genau, wie es mich erfüllt hat, das zusätzliche Gewicht eines Kindes zu tragen.
Wie ich ihnen im Bauch englische Kinderreime vorsang:
Little Bo Peep has lost her sheep
And doesn’t know where to find them.
Leave them alone and they will come home
Bringing their tails behind them.
Ich weiß noch, dass Frank bei der Geburt des ersten Kindes dabei war und fest meine Hand hielt.
Danach schwieg er monatelang.
Wir sprachen nicht über unseren Verlust.
Bei der zweiten und dritten Geburt war er nicht mehr dabei.
Wozu auch?
Bis heute träume ich noch oft, dass meine Kinder nach mir suchen.
Dass sie ihre Mutter finden – irgendwie.
Großer Gott.
Frank fehlt mir jeden Tag.
Als er noch bei mir war, fühlte ich mich nie allein.
Die Gasse war menschenleer. Und zum Glück war es dunkel. Ich musste unserer Straße noch ein Stück folgen, bevor ich in einer Seitenstraße verschwinden konnte, um erst nach Edgwa und dann nach Paddinto zu gelangen. Ich sah mich nach allen Seiten um. Immer noch kreuzten gold- und chromglänzende Kutschen auf dem Weg zu einem Voodoo-Abend-Fest, sonst war alles still.
Ich musste langsam gehen, mit der Selbstgewissheit einer Sklavin, die Abendausgang hat. Wenn mich jemand aus der Nachbarschaft entdeckte, würde sofort Alarm geschlagen. Die Freiheit war zum Greifen nahe, und doch sackten meine Knie weg wie nach einem Hieb mit dem Vorschlaghammer. Ich konnte mich kaum aufrecht halten. Wie leicht es doch wäre, mich einfach wieder ins Compound zurückzuschleichen.
Madama Blessing würde über meine Flucht hellauf empört sein, und nachdem ich wusste, wie sie auf erfundene Vergehen reagierte, wurde mir angst und bange bei der Vorstellung, wie es wäre, wenn sie in ihrem Zorn tatsächlich vor Gericht stehen würde, mir Undankbarkeit und Unehrlichkeit als Straftaten vorwerfen und meine Schuld über alle berechtigten Zweifel hinaus belegen könnte, indem sie die schlagenden Beweise (auf frischer Tat beim Fluchtversuch ertappt) vor den Geschworenen präsentierte, die natürlich allesamt ambossanische Sklavenbesitzer waren, so wie sie.
Im Gegensatz zu seiner Frau verschwendete der Bwana die wenigen Gefühle, die er hatte, nicht an seine Sklavinnen und Sklaven. Wo nötig, verhängte er Strafen, mit der ganzen Leidenschaft des nüchternen Geschäftsmanns, der Versklavte entweder in die Tabellenspalte mit den Gewinnen oder in die mit den Verlusten einsortierte. Meine Kinder beispielsweise. Der Bwana hatte keine Verwendung für weitere Hosenscheißer, die in seinem Compound herumkrabbelten und nicht einmal seine DNA in sich trugen, also war es aus geschäftlicher Sicht absolut folgerichtig, sie als »Gewinn« zu verbuchen.
Soweit ich das überblickte, wurde nur dann ein Feuer in ihm entfacht, wenn er nachts im Bett irgendeiner Frau mit solch ungezügelter Wildheit brüllte, dass es uns in unseren Quartieren kalt den Rücken hinunterlief.
Trotz allem aber waren der Bwana und seine Familie das, was ich kannte, und jetzt begab ich mich hinaus in die Gefahren des Unbekannten. Ich hatte es zu sehr viel mehr gebracht als jede herkömmliche Sklavin, die nichts leistete und nicht weiter auffiel. Ich war zur persönlichen Sekretärin des Bwana erhoben worden, weil ich mich gut ausdrücken konnte und schnell von Begriff war (aber nicht zu schlau, zumindest glaubten sie das).
Meine Beschäftigungsvereinbarung sah vor, dass es sich um eine Stelle auf Lebenszeit handelte und meine Arbeitszeiten von Montag bis Sonntag von 0:00 bis 23:55 Uhr dauerten, ich mich, falls nötig, aber jederzeit für Überstunden bereithalten musste. Dafür erhielt ich ein jährliches Gehalt von Nullkommanullnichts sowie, bei guter Führung, einen Bonus in Höhe von Nullnull, hatte aber mit Strafzahlungen in Gestalt von Stockhieben zu rechnen, wenn ich aufsässig oder säumig war oder einfach wegblieb.
Zum Glück war ich nur in den ersten Tagen ein wenig versohlt worden, quasi zu Fortbildungszwecken, denn damals lautete mein Arbeitszeugnis noch: Anwesenheit 100 %, Pünktlichkeit 100 %, Arbeitsmoral 10 %. Könnte noch mehr Leistung bringen und neigt zu Zerstreutheit bzw. Tagträumerei. Seither erfüllte ich sämtliche Leistungsvorgaben. Außerdem wurde von mir erwartet, immer vorzeigbar auszusehen, und ich lernte, ein zuvorkommendes Lächeln aufzusetzen, das keinerlei Spuren persönlichen Wohlbefindens aufwies. Schließlich durften wir ja nicht »zufriedener« wirken als die.
Das alles entsprach den Mindestanforderungen an eine Haussklavin, und ich kann sagen, dass ich dem Bwana wirklich nie Anlass zur Klage gab.
Ich war ein Haus-Wigger wie aus dem Bilderbuch.
Versteckt hinter einem mächtigen Brotfruchtbaum, dessen dickbäuchige grüne Früchte jeden Moment herabfallen, meinen weichen Menschenschädel spalten und meine Hirnmasse überall verspritzen konnten, spähte ich die Straße entlang.
Mein Herz rappelte wie Trockenerbsen in einer Kalebasse.
Vor mir rumpelte eine weitere Kutsche vorbei, darin ein lachendes Paar. Durch den Sand, den die Räder und Hufe mir ins Gesicht schleuderten, erkannte ich so gerade noch die Frau: Es war Madama Subria, diese Buhlerin.
Mit tränenüberströmtem Herzen hatte ich sie beobachtet, als sie sich ansah, wie Frank an den Pfahl gebunden und ausgepeitscht wurde. Sie blinzelte hektisch. Erst glaubte ich noch, sie habe Mitleid mit ihm, dann ging mir auf, dass ihr Tränen um sich selbst in den Augen standen. Ich durchschaue diese Leute so leicht. Kein Kunststück, wenn man selbst unsichtbar ist.
So konnte ich erkennen, dass die Menschen in Großambossanien ihr Herz dafür verhärtet hatten, dass auch wir Menschen waren. Sie redeten sich ein, wir empfänden nicht so viel wie sie, damit sie nichts für uns zu empfinden brauchten. Äußerst angenehm und lukrativ für sie.
Madama Subria, das wurde mir damals klar, hatte jede Hoffnung verloren, noch irgendwen zu finden, der ihr Unterhaltung bot, wenn sie sich langweilte. Mister Subria musste sie wohl gezwungen haben, bei der Züchtigung zuzusehen. Normalerweise waren ambossanische Frauen für so etwas nämlich viel zu »zart besaitet«. Er selbst bekleidete einen angesehenen Posten bei der Baringso-Bank.
Groß und grabesernst stand er da neben seiner hübschen kleinen Gattin, und um seine Lippen spielte ein ungewohntes Lächeln.
Jetzt fuhr die Kutsche vorbei, und ich eilte aus der Gasse hinaus.
Als ich es nach Edgwa geschafft hatte, fühlte ich mich gleich ein wenig sicherer. Ich betrat das Viertel durch sein berühmtes Tor: zwei riesige Elefanten, aus Elfenbeinstoßzähnen geschnitzt, die sich in der Mitte zu einem Torbogen fügten, glorreiche sechzig Fuß hoch.
Nach der vornehmen Kultiviertheit von Mayfah war Edgwa ein regelrechter Sturmangriff auf meine Sinne, überall drängten sich Menschen, und aus den Musikbuden dröhnten die markerschütternden Bässe der Aphro-Beats