Mr. Loverman - Bernardine Evaristo - E-Book
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Mr. Loverman E-Book

Bernardine Evaristo

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Beschreibung

»Evaristo schreibt über das moderne Großbritannien wie keine Zweite.« The Guardian In diesem Roman zeigt Bernardine Evaristo einmal mehr, warum sie zu den wichtigsten Stimmen der britischen Gegenwartsliteratur zählt. Ihr unverwechselbarer Schreibstil, ihr trockener Humor, ihr scharfsinniger Blick auf das Zusammenspiel zwischenmenschlicher Beziehungen und gesellschaftlicher Ansprüche – all das verbindet sich in Mr. Loverman zu einem unvergleichlichen Streifzug durch die Caribbean Community in England. Barrington Jedidiah Walker, geboren und aufgewachsen in Antigua, liebt seine Retro-Anzüge und hat zu jeder Gelegenheit das passende Shakespeare-Zitat parat. Mit seiner Frau Carmel führt er ein beschauliches Leben in Hackney: zwei erwachsene Kinder, ein heimeliges Haus, Ruhestand. Doch unter der perfekten Oberfläche führt Barry ein Doppelleben. Seit Kindertagen liebt er seinen Freund Morris, der wie er als junger Mann nach England ausgewandert ist – und Morris liebt ihn. Die tief religiöse und von ihrer Ehe bitter enttäuschte Carmel ahnt, dass ihr Mann sie betrügt, allerdings hat sie keine Ahnung, mit wem. Während sich die Ehe der beiden auf den unvermeidlichen Abgrund zubewegt, entscheidet Barry, dass er endlich offen mit Morris zusammenleben will. Aber ist das möglich, nach all den Jahren des verborgenen Daseins? Mr. Loverman entlarvt die Irrtümer, denen wir in unserem Leben unterliegen. Mit welchen Konsequenzen müssen wir rechnen, wenn wir uns treu bleiben wollen? Und was, wenn die Angst vor diesen Konsequenzen einfach zu groß ist? »Wer Evaristos Bücher noch nicht kennt, sollte das unbedingt ändern – sie schreibt über das moderne Großbritannien wie keine Zweite.« The Guardian »Eine brillante und – wie Mr. Barrington Walker, Esq. selbst zugegeben haben könnte – ausgesprochen kluge Charakterstudie des modernen London.« Independent on Sunday »Das Schreckgespenst Homosexualität hat eine lange Tradition auf den Westindischen Inseln - Bernardine Evaristo widmet sich jedem Aspekt davon. Ein zarter, zukunftsweisender Roman.« The Spectator »Ein tiefgründiger, humorvoller und vor allem anrührender Roman. Evaristo erzählt uns von Lebenswelten, die wir zu kennen glauben, und räumt mit unseren Vorstellungen auf.« Independent »Ein wunderschön geschriebenes Buch, über das hinterher mit jedem reden möchte, den man kennt.« Bloggers Recommend »Evaristo erzählt mit genauem, auch gnadenlosen Blick, pointiert und ironisch von den Dingen, die zu lange im Schatten standen und bis heute stehen.« ttt

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Bernardine Evaristo

Mr. Loverman

Aus dem Englischen von Tanja Handels

Tropen

Impressum

Sprache und Sprachgebrauch in diesem Roman folgen der Figurenrede. Die Übersetzung orientiert sich bei kritischen Ausdrucksweisen, Sprachfärbungen und Vergleichen eng am Original.

Ein Einblick in den Übersetzungsprozess von Tanja Handels findet sich auf der Website von TOLEDO(ein Programm des Deutschen Übersetzerfonds, www.toledo-programm.de).

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Mr Loverman« im Verlag Hamish Hamilton, London

© 2013 by Bernardine Evaristo

Für die deutsche Ausgabe

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München unter Verwendung der Daten des Originalverlags, Illustration © Jon Gray

Übersetzungslektorat: Johanna Schwering

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-50489-7

E-Book ISBN 978-3-608-12036-3

Inhalt

1

 Die Kunst des Ehelebens

2

 Lied von der Süße

3

 Die Kunst des Normalseins

4

 Die Kunst des Sonntagsessens

5

 Lied von der Verzweiflung

6

 Die Kunst des Zwischenmenschlichen

7

 Die Kunst der Metamorphose

8

 Lied vom Gebet

9

 Die Kunst der Männlichkeit

10

 Die Kunst der Tollheit

11

 Lied vom Verlangen

12

 Die Kunst der Familienführung

13

 Lied von der Macht

14

 Die Kunst des Sogenannten

15

 Die Kunst des Geschäftemachens

16

 Die Kunst der Sprachlosigkeit

17

 Lied vom Freisein

18

 Die Kunst des Reisens

Danksagung

Für David, für alles

Nicht alles, dem man sich stellt, lässt sich auch ändern, aber nichts lässt sich ändern, wenn man sich ihm nicht stellt.

James Baldwin (1924–​1987)

1

Die Kunst des Ehelebens

Samstag, 1. Mai 2010

Morris leidet an dem Gebrechen, das allgemein unter der Bezeichnung »Abstinenz« bekannt ist. O nein, kein Tropfen Fusel kommt ihm mehr über die Lippen, bis er mit den Füßen voran aus dieser Welt scheidet, hat er mir grad erst erklärt, in der Dancehall, während Mighty Sparrow sein »Barack the Magnificent« aus dem Soundsystem schmetterte.

Letztes Mal hatten wir das, als er beschloss, Vegetarier zu werden, ganz großer Witz, schließlich hat der Mann sein Leben lang so ziemlich jedes Teil vom Tier in sich reingestopft, bis auf Fell und Zähne. Aber egal, mit einem Mal fängt Morris an, im Gespräch mit exotischen Wörtern wie »Soja«, »Tofu« und »Quorn« um sich zu werfen, und mich fragt er, wie’s mir denn gefallen würd, wenn mir einer das Bein abhackt und es sich zum Abendessen brät? War mir nicht mal die Antwort wert. Anscheinend hatte er ne Doku über Legehennen gesehn, denen Wachstumshormone gespritzt werden, und messerscharf draus geschlossen, dass er dann demnächst zur Frau wird, dass ihm Männermöpse wachsen und dermehren gleich.

»Alles klar, Morris«, hab ich gesagt. »Aber mir fällt doch auf, dass du nach mehr als siebzig Jahren Hühnerverzehr immer noch keinen BH brauchst. Lass mal hörn, wie du dir das erklärst.«

Was soll ich sagen: Keinen Monat später komm ich an Smokey Joes Hühnerbraterei in der Kingsland High Street vorbei, und wen seh ich drinnen hocken und sich über sein Hähnchen hermachen, die Augen verdreht in wilder Ekstase, als wär er beim altgriechischen Bacchanal und würd von einem knackigen jungen Adonis mit nem Teller saftig goldiger Hähnchenschenkel gefüttert? Sein Gesicht, als ich reingestürmt kam und ihn ertappt hab, wie ihm noch das Fett übers Kinn läuft! Wieso ich da lache? Mann, Morris, du machst mich fertig.

Wir also in der Dancehall, zwischen all den schwitzigen, sexhungrigen Jungspunden (also, aus unserer Sicht), die mühelos mit den Hüften kreisen. Und ich immer bemüht, meine Hüften in ähnlicher Hula-Hoop-Manier zu schwingen, was sich inzwischen leider eher anfühlt, als würd man versuchen, ne rostige Suppenbüchse mit nem altmodischen Dosenöffner aufzukriegen. Darum versuch ich, locker in den Knien zu bleiben, ohne vor Schmerzen das Gesicht zu verziehn oder sie versehentlich zu tief zu beugen, weil ich dann nämlich nicht mehr hochkomm, das weiß ich schon, und dabei muss ich mich auch noch drauf konzentrieren, was Morris mir ins Ohr brüllt.

»Diesmal mein ich’s ernst, Barry. Mit dem ganzen Gift komm ich einfach nicht mehr klar. Mein Gedächtnis ist schon so schlecht, dass ich dienstags denk, es ist Donnerstag, das Schlafzimmer mit dem Bad verwechsle und meinen Älteren mit dem Namen vom Jüngeren anred. Und wenn ich mir dann nen Tee mach, lass ich ihn rumstehn, bis er kalt ist. Soll ich dir was sagen, Barry? Ich fang jetzt auch an, diesen Shakespeare zu lesen, den du so liebst, und Kreuzworträtsel zu machen. Und ich tret ins Fitnessstudio ein, mit Seniorenrabatt, dann kann ich jeden Tag in die Sauna, und der Kreislauf bleibt gut in Schwung, denn jetzt mal unter uns, an diesem verschwiegenen Ort …«

Er verstummte und guckte sich um, ob auch wirklich niemand lauschte. Klar, Morris. Zwei alte Knacker reden über die Plagen und Strapazen des Senilwerdens, und ein ganzer Club voll aufgeheizter junger Leute spitzt die Ohren?

»Letzte Woche ist mir aufgefallen, dass ich Krampfadern krieg«, flüsterte er so dicht an meinem Ohr, dass er reinspuckte und ich es mit dem Finger auswischen musste.

»Morris«, sag ich. »Krampfadern kriegt man halt als alter Mann. Gewöhn dich dran. Und das mit der Vergesslichkeit? Wahrscheinlich hast du Frühdemenz, da kannst du gar nichts machen, außer viel fetten Fisch essen. Und von wegen nichts mehr trinken …«

Dann hielt ich den Mund, denn Morris sah mit seiner kläglich gerunzelten Stirn auf einmal aus wie n kleiner Dackel. Normalerweise plänkelt er immer gleich zurück, packt den vielbeschwornen Cricketschläger aus und zieht mir damit eins über. Morris ist zwar empfindlich, aber nicht überempfindlich, sonst wär er wirklich mehr Frau als Mann – vor allem zu dieser ganz bestimmten Zeit im Monat, wenn sie den irren Blick kriegen und man besser nichts Falsches sagt und auch nichts Richtiges auf die falsche Art. Sogar, wenn man was Richtiges auf die richtige Art sagt, kann’s noch passieren, dass sie mit dem Fleischmesser auf einen losgehen.

»Denk dir nichts. Ich mach doch nur Spaß, Mann.« Ich knuffte ihn in die Brust. »Wenn du tattrig würdst, wär ich der Erste, der’s dir sagt. Kein Anlass zur Sorge, mein Freund. Du bist genauso bei Trost wie eh und je.« Dann brummelte ich noch in mich rein: »Was allerdings nicht viel heißen will.«

Aber Morris starrte mich nur weiter an, mit diesem waidwunden Blick, für den er schon gut neunundsechzig Jahre zu alt ist.

Ich kam zu dem Schluss, dass er unter Alkoholentzug leiden muss. Nicht, dass ich so direkt Erfahrung mit Entzugserscheinungen hätte, denn für mich geht kein Tag je vorbei, ohne dass der süße Balsam meine Lippen benetzt. Der Unterschied zu Morris ist bei mir nur, dass ich die meisten Tage wirklich kaum mehr mach, als mir die Lippen zu benetzen, kleiner Aperitif hier, kleiner Digestif da, Schlückchen zum Aufwärmen oder Runterkommen. Ein Gläschen Appleton-Rum, ein Fläschchen Red Stripe oder Dragon Stout, um die Berauschungsbranche daheim auf den Inseln am Laufen zu halten. Nennen wir’s wohltätiges Handeln. Nur am Samstagabend geb ich meinen bacchanalistischen Tendenzen so richtig nach. Morris hingegen trinkt keinen Alkohol; er ertrinkt drin. Voll, randvoll ist der Mann. Der Alkoholanteil im Blut muss bei ihm um die neunzig Prozent liegen, ungelogen. Sorgen machen muss er sich trotzdem nicht, er gehört zu den Saufbolden, denen das gut zu Gesicht steht.

Jetzt rang er sich endlich durch, sich locker zu machen und ein Grinsen sehn zu lassen. Wo ich bin, bleibt keiner lang betrübt. Yesss. Ich bin der Große Stimmungsaufheller. Ich bin Valium in Menschengestalt.

»Wir sind jetzt Oldies«, sag ich zu ihm. »Damit müssen wir uns abfinden. Und außerdem müssen wir dran glauben, dass wir unsere besten Jahre noch vor uns haben, nicht hinter uns. Mit diesem Zug, der ohne Halt dem Nichts entgegenrollt, kommt man nur klar, wenn man positiv bleibt. Sind wir nicht im Zeitalter des Positiven Denkens? Kennst doch den Spruch: Das Glas ist entweder halb voll oder halb leer. Machen wir’s halb voll. Deal, mein Freund?«

Ich halt ihm die Hand zum Einschlagen hin, aber er fasst’s komplett falsch auf und fängt stattdessen an, sich wie ein Teenager aufzuführen und sich an einem hiphoppigen Faust-an-Faust-plus-Fingerflattern-Handschlag zu versuchen, den wir beide nicht richtig hinkriegen, und wer uns dabei sieht, muss uns für zwei jämmerliche alte Hipster halten, die cool sein wollen.

Morris, ach, mein lieber Morris, was fang ich bloß an mit dir? Du warst schon immer so ein Sorgenkind. Und wer sagt dir schon genauso lang: »Morris, nimm’s dir von der Seele, und pack’s auf meine«?

Jetzt schau dich an, dein Weltergewicht-Körper – aufs Haar derselbe noch, der früher seine Gegner mit dem »Morris-Tänzchen« im Ring umkreiste und damit 1951 auf Antigua sogar Jugendmeister wurde – ist noch so kräftig wie sonst was, trotz der ein, zwei läppischen Krampfäderchen. Du bist noch derselbe Mann, den ich seit damals kenn. Mit denselben eindrucksvollen Armmuskeln. Demselben Bauch, mehr hohl als rund. Und immer noch keine Falten, bis auf die paar am Hals, die sowieso keiner sieht außer mir.

Aber, Morris, eins weiß ich über dich doch ganz genau – dein Herz wie dein Gemüt sind immer schon begeistert mit dem Schiffchen namens Lady Rum in See gestochen. Niemals gehst du mir so spät im Leben noch komplett von Bord aufs Trockne und strandest auf der einsamen Insel, die Stocknüchtern heißt.

Das weiß ich ohne jeden Zweifel, denn ich, Barrington Jedidiah Walker, Esq., hab dich, Monsieur Morris Courtney de la Roux, schon gekannt, da waren wir noch zwei kleine Schlawiner mit Piepsstimmchen und glatten Wangen, die’s nicht erwarten konnten, richtig Eier in die Hose zu kriegen.

Wobei ich mich wirklich nicht beschweren will, denn solang Morris versucht, ein besserer Mensch zu werden, fährt er mich in seinem Ford Fiesta heim, weil ich schon zu beduselt bin, um mich noch ans Steuer zu setzen und durch die Straßen und Gässchen im Londoner Osten zu gondeln, ohne dass die Boys in Blau mich festsetzen. Das vermiss ich schon – sturzbesoffen ein Auto steuern und damit durchkommen, wie wir’s in den Sechzigern und Siebzigern alle ständig gemacht haben. Da war nix mit Überwachungskameras, die einen stumm mit ihren Zyklopenaugen begaffen, dreihundert mindestens, wenn man sich einen Tag lang durch London Town bewegt. Kaum tret ich vor die Tür, schon werd ich beobachtet. Big Brother ist längst in unserm Leben, und kein Mensch sagt was dagegen. Nicht mal nen Popel kann ich mir noch aus der Nase ziehn, ohne dass so ein Ding es für die Nachwelt festhält.

Morris fährt mich bis vor meine Haustür in Stoke Newington, Cazenove Road Nr. 100, wartet ab, dass ich den richtigen Eingang nehm und nicht im Rinnstein zusammenklapp, fährt dann leise im ersten Gang an und winkt mir noch mal fröhlich im Rückspiegel zu.

Eigentlich müsste er mit reinkommen, auf eine heiße Gewürzschokolade und ein Ründchen sanften Altmännertrost.

Stattdessen rutscht mir das Herz in die Hose, denn jetzt muss ich allein in die Höhle der Löwin.

So sieht’s aus, unser Leben.

Auf die Begrüßung folgt immer der Abschied.

Auf Zehenspitzen staks ich über den lärmigen Kiesweg und bin längst in der Gefahrenzone, Carmel hört nämlich mindestens so gut wie ne Fledermaus. Ich schließ auf, öffne die Tür und warte mit gespitzten Ohren. In früheren Zeiten hat Carmel manchmal den Riegel vorgelegt und mich gezwungen, mich über den Zaun in den Garten zu schwingen und im Schuppen auf dem Rasenmähersitz zu warten, bis die Sonne auf- und Carmels Zorn niederging. Bis ich irgendwann die Gartentür eingetreten hab, um ihr zu zeigen, dass sie den König nicht länger aus seinem Schloss verbannen kann.

Einmal sicher im Haus, zieh ich das Sakko aus und werf’s an den Garderobenständer links von der Tür. Es fällt runter. Muss wohl wer den Ständer verschoben haben. Ich versuch’s noch mal. Es landet auf der Treppe. Ein drittes Mal – und Tor! Tschakka! Yesss! Hast es doch noch drauf, Barry.

Während die Menge jubelt, geb ich mir selbst ein High Five und mustere ihn dabei im Spiegel, den »feschen Gentleman«, wie die englischen Ladys seinerzeit immer seufzten. Also, die mit den guten Manieren, versteht sich, im Gegensatz zu den Flittchen, die einem Mann oft weniger schmeichelhafte Bezeichnungen an den Kopf warfen, wenn er ganz unschuldig seines Wegs ging und an nichts Böses dachte. Was soll’s. Die Zeiten sind lang vorbei. Seit mindestens zwanzig Jahren hat mir keine mehr was nachgerufen, bis auf die Angetraute.

Ein echter Saga Boy bin ich immer noch. Und immer noch da, dem Himmel sei Dank. Immer noch rausgeputzt im schicken Zwirn, mit doch recht männlichem Gebaren. Immer noch eins achtzig und paar Zerquetschte, von Schrumpfen keine Rede. Das alte Je-ne-sais-wasgenau immer noch am Start. Haare hab ich zwar keine mehr auf dem Kopf, dafür aber noch den wohlgestutzten Oberlippenbart im Stil der alten Hollywood-Herzensbrecher. Früher haben mir die Leute gesagt, ich seh aus wie der junge Sidney Poitier. Heute sagen sie, wie ein (etwas) älterer Denzel Washington. Was soll ich da groß widersprechen? Tatsachen sind Tatsachen. Manche haben’s halt und manche nicht. Und du hast es drauf, Barry. Du hast es drauf …

Da ich schon fünfzig Jahre wie ein Dieb durch mein eigenes Haus schleich, ist der Weg die Treppe hoch bis zu ihrer Höhle ein ziemlich beklommener.

Die Schlafzimmertür steht einen Spalt offen.

Ich quetsch mich durch und husch hinein.

Als Erstes nehm ich im Dunkeln die goldene Klammer ab, die die zwei Enden meiner blaugestreiften Krawatte zusammenhält. Das einzig brauchbare Geschenk, das ich bekommen hab, als ich bei Ford Motors in Dagenham aufhörte. Vierzig Jahre schuften, und was krieg ich? Ne Krawatte, ne Plakette mit schlechter Gravur, ne Armbanduhr, mehr Timex als Rolex, und ne herablassende Ansprache in der Kantine plus feuchten Händedruck vom leitenden Geschäftsführer, Mr. Affiger-Resthaarkünstler.

»Mit großem Bedauern, Mr. Walker, verabschieden wir uns heute von einem Mitarbeiter, der uns über so lange Zeit hinweg treue Dienste geleistet hat. Ihre Kollegen haben Sie während Ihrer Zeit hier in der Fabrik sehr ins Herz geschlossen. Wie ich höre, sind Sie ganz groß im Witzereißen, haben immer eine Anekdote parat, sind ein eifriger Causeur.«

Er hielt kurz inne, sah mich an, wie um zu gucken, ob ich so ein hochgestochenes Wort französischen Ursprungs überhaupt versteh, und ergänzte dann: »Wissen Sie, ein Mensch, der anderen gern Geschichten erzählt.«

Herrje, es macht mich so was von rasend, wenn die Leute von oben herab mit mir reden, als wär ich ein vertrottelter Hinterwäldler, der keine Ahnung von den Feinheiten der britischen Sprache hat. Als hätt ich nicht die Antigua Grammar School besucht, die beste im ganzen Land. Als wärn all meine Lehrer nicht selbst Abkömmlinge des kolonialen Mutterschiffs gewesen. Als spräch ich kleines eingewandertes Engländerlein nicht genauso lupenreines Queen’s English wie all die vielen Großen Engländer auf der Großen Insel hier. Was ist schon dabei, wenn wir, meine Leute und ich, das britische Idiom verhackstücken, wie’s uns grad passt, paar Silben fallenlassen wie die Unterhosen, der korrekten Syntax in die Suppe pinkeln und unsere Redewendungen willkürlich durcheinanderwürfeln? Ist das etwa nicht unser postmodernes, postkoloniales Privileg?

Na, jedenfalls hatte ich, als ich damals mit dem guten alten Kreuzer Einwanderung aus den Kolonien hier ankam, ein ganzes Sortiment an Schulabschlusszeugnissen im Gepäck, und der einzige Grund, warum ich nicht auf die Uni bin, war der, dass ich dann doch nicht genug Überflieger war, um das einzige staatliche Stipendium für eine englische Universität abzustauben. Seit 1971 besuch ich Abendkurse, um das wieder wettzumachen.

Soziologie, Psychologie, Archäologie, Blablalogie – alles dabei. Englische Literaturwissenschaft, auch Französisch, naturellement. Und von Mr. Shakespeare, Esq., mit dem mich seit Äonen die denkbar erfüllendste intellektuelle Liaison verbindet, fang ich erst gar nicht an, Gevatter! Mit der Kunstologie kenn ich mich übrigens auch aus: Miró, Monet, Manet, Man Ray, Matisse, Michelangelo, Murillo, Modigliani, Morandi, Munch, Moore und Mondrian, den Rest des Alphabets spar ich mir. Damals, 1997, hab ich Morris sogar in diese Skandal-Ausstellung Sensation in der Royal Academy geschleppt, um Emins Schlampenbett, Ofilis Elefantenkacke, Hirsts eingelegten Hai und Quinns Blutkopf zu sehn. Morris spottete: »Das kann ich ja besser.« Worauf ich entgegnete: »Mag sein, Morris, dass wir es hier mehr mit Konzept zu tun haben als mit Kunst, aber wie langweilig wär’s denn, wenn alle Künstler immer nur heiße Männerkörper mit Knackärschen, vollen Lippen und baumelndem Gehänge im Stil der Renaissance malen würden?«

Wobei … wenn man sich’s mal überlegt …

Morris’ abschließende Bemerkung zu der Frage? »Wenn das so ist, pinkel ich jetzt in einen Eimer und stell’s aus als die ganz große Kunst.«

Bei Morris ist das Problem, dass er nicht gern in die Tiefe geht. Nicht, dass er’s nicht könnte, der Mann ist schlauer als die allermeisten. Er hat nämlich damals das Stipendium gekriegt, um an der Hull University Mathematik zu studieren, aber als er da ankam, mochte er die Kälte nicht, er mochte das Essen nicht und das Studium auch nicht, er machte nichts dafür, und als er nach dem zweiten Studienjahr von der Uni flog, wollte er auch nicht wieder heim. Fand dann Arbeit als Buchhalter bei einem Textilgroßhändler in Stratford, der Glückspilz, gar nicht schlecht, wenn man sich anguckt, wie schwer unsereins es hatte, solche Jobs zu kriegen. Sein Chef war ein Mr. Szapiro, polnischer Jude, der aus dem Warschauer Ghetto geflohen war. Morris mochte seinen Chef, aber den Job fand er öde bis zum Hirntod. Trotzdem blieb er dreiundvierzig Jahre.

Derweil hab ich mich intellektualisiert. Ich einfacher Maschinenschlosser kann über jeden tiefsinnigen Lehnstuhlphilosophierer schwadronieren wie ein Fachmann. Dass Sokrates meinte, wir müssten uns selbst erkennen und alles in Frage stellen, unsere eigenen Glaubensgrenzen durchbrechen. Und Platon sagte, man ist nur dann ein moralischer Mensch, wenn man nicht nur weiß, was richtig ist, sondern sich auch bewusst dafür entscheidet. Irgendwann ist mir aber klargeworden, dass man selbst komplett abhebt, wenn man sich zu lang mit diesen altgriechischen Intelligenzbestien befasst. Die sind so verkopft, da dreht man am Ende noch selbst durch. Drum hab ich mein Philosophieseminar an der Birkbeck auch aufgegeben und mich wieder auf die allerälteste und verlässlichste Sorte Weisheit konzentriert: die handgestrickte.

Hätt ich dem Resthaarkünstler bloß mal erzählt, dass ich eigentlich seit Jahren schon nicht mehr bei Ford hätt arbeiten müssen, weil ich mir seit den Sechzigern mein eigenes Immobilienbusiness aufgebaut hab, billig kaufen, aufhübschen und über die Maklerfirma Solomon & Rogers weitervermieten. Die Stechuhr der Fabrik hab ich nur deshalb weiterbedient, weil mir die Arbeit tatsächlich gefiel und ich gern was mit den Händen mach. Ein Mann muss schließlich was mit seinen Händen machen, etwa nicht? Und außerdem hätten mir die Kollegen doch sehr gefehlt: Rakesh, Tommy, Alonso, Tolu, Chong, Arthur, Omar – die Vereinten Nationen von Ford, wie wir uns immer nannten.

Ich leg die Krawattenklammer in die kleine Schale auf dem Nachttisch, die mit den blauen Störchen, ganz im Stil chinesischer Porzellanmalerei der Ming-Dynastie, will mir scheinen. Die kelchartige Form mit den stilisierten Pfingstrosen erinnert mich jedenfalls sehr an die zahlreichen Ausflüge ins Victoria and Albert Museum, zu denen ich Morris regelmäßig verdonner. Das Schälchen hier unterscheidet sich nur darin vom Original, dass Carmel es 1987 für 99 Pence bei Woolworth’s gekauft hat. Spielt aber keine Rolle, denn falls mir das gottverdammte Ding jemals kaputtgehn sollte, kann mir selbst Gott nicht mehr helfen. Früher lagen die Zitronen-Brausebonbons darin, die ich mir so gern auf der Zunge zerbitzeln ließ, bis ich irgendwann beschloss, besser auf meine Beißerchen aufzupassen. Hat sich gelohnt, die unverwüstlichen Hauer strahlen bis heute. Wahrscheinlich bin ich der einzige Vierundsiebzigjährige im ganzen Land, der noch alle beisammen hat, nicht einer gezogen, plombiert, abgeschliffen oder überkront.

Als Nächstes nehm ich die Krawatte ab, häng sie über den Türknauf am Schrank hinter mir und dreh den Oberkörper dabei ein bisschen zu plötzlich. Ich erstarre, dreh mich wieder retour und lass die Muskeln zurück ins Lot finden, solang alles auf einer Achse ist: Kopf, Schultern, Hüften. Vorsicht muss sein, in meinem Alter kann’s schließlich vorkommen, dass etwas, das sich dehnen soll, stattdessen reißt.

Ich lös die goldenen Manschettenknöpfe aus dem gestärkten weißen Hemd und lass sie in das perfekte O des Schälchens fallen. Besagtes Hemd knöpf ich auf und zieh seine Zipfel aus der weiten graugrünen Hose mit der Bügelfalte vorn und den Aufschlägen unten, die nach einer durchzechten Nacht irgendwie immer voll Zigarrenasche sind. Bald wird’s wieder Zeit, mir von Levinsky einen neuen Anzug machen zu lassen. Die Weltreise von London nach Golders Green ist es mir wert, ich weiß nämlich keinen außer ihm, der noch Anzüge im original Fünfzigerjahre-Style macht und dafür keine Savile-Row-Preise einstreicht.

Dann bugsier ich mich aus den Ärmeln, knüll das Hemd zusammen und werf’s in die Ecke unterm Fenster, damit Carmel es waschen kann.

Es fällt herab … wie ein Atemzug.

Das ist gut! Hey, Derek Walcott! Hörst du mich da drüben auf St. Lucia? Mir doch wurscht, ob du den Nobelpreis für Literatur gewonnen hast, du nimmst dich besser mal in Acht, sonst hat Barrington Walker sprachlich im Nu die Nase vorn, mein Freund.

Da hab ich mich so bemüht, und trotzdem kommt Carmels Tiefseeatmung jetzt ins Stocken, sie taucht mit wässrigem Prusten auf, als hätt sie sich grad selbst vorm Ertrinken gerettet.

Be-dauer-licher-weise.

Die Gattin robbt rüber und macht die geblümte Nachttischlampe an, und das Klicken klingt, als würd sie ne Waffe entsichern. Die Haut an ihrem Oberarm schwabbelt um den Knochen.

Jetzt kann ich mich auf ne ordentliche Standpauke gefasst machen.

»Es ist schon Morgen, Barrington.«

Sie sagt alle drei Silben meines Namens …

»Ach, Liebes, du weißt doch, wie manchmal die Zeit verfliegt.«

Feststellung – keine Frage.

»Tut sie das?«

Drohung – keine Frage.

»Warum schläfst du nicht noch ein Weilchen, Liebes?«

Anweisung – keine Frage.

»Zum Schlafen hab ich Zeit genug, wenn der liebe Gott mich zu sich ruft, was ja jetzt auch nicht mehr lang dauern kann.«

Emotionale Erpressung – ohne Frage.

»In dem Fall hoff ich sehr, dass er mich vor dir abberuft, Liebes.«

Glatte Lüge.

»Falls der mit den Hörnern und der Mistgabel dich nicht vorher holen kommt.«

Ich will mich weiter auf die begonnene Aufgabe konzentrieren, aber ein rascher Blick zu Carmel sagt mir, dass sie auf dem Kriegspfad ist.

Ich zieh meine drei Ringe aus und werf sie in das Schälchen. Mein schöner Rubin sieht aus, als wär ein Fingerhut voll Blut in eine ovale Goldfassung geleert worden. Mein Geschenk an mich selbst, als mein erstes Mietobjekt Rendite abwarf. Den goldenen LKW-Reifen hat mir damals dieser Bauarbeiter aus Deutschland geschenkt, 1977. Bisschen der Schlägertyp, die »härtere Tour«. Aber mein Liebling ist die zusammengerollte Schlange mit den Diamantschuppen und den glitzernden Saphiren als Augen, die den Kopf hochreckt, als ob sie gleich selbst in den Apfel beißen will.

Und mein Ehering? Den kriegt man höchstens mit dem Bolzenschneider überhaupt noch von meinem Finger.

Ich war schon oft genug in Versuchung, zur Eisenwarenhandlung zu gehn.

»Jetzt bringst du schon wieder den Zigarrengestank ins Schlafzimmer.«

»Tut mir leid.«

»Und diesen fiesen Rumgeruch.«

»Tut mir leid.«

»Wann wird das endlich besser?«

»Tut mir leid.«

»Hättest wenigstens anrufen können.«

»Ich weiß, es … tut … mir … leid.«

»Seit Jahren sag ich dir, du sollst dir ein Handy anschaffen.«

Bin ich denn bescheuert? Ein Handy, damit mich das alte Mädchen Tag und Nacht jederzeit orten kann?

Carmel spielt dieses Spielchen schon seit langer, langer Zeit. Manchmal hat sie’s paar Monate ruhen lassen oder auch mal paar Jahre, wie damals in den Achtzigern, als sie plötzlich ganz zufrieden wirkte, Spaß an ihrer Arbeit hatte, sich mehr Mühe mit dem Aussehn gab, mit ihren Kolleginnen ausging. Wir hatten Waffenstillstand geschlossen, sie und ich. Und dann, aus heiterm Himmel, ist sie auf einmal wieder stinksauer, obwohl ich nichts weiter will als in die Falle kriechen und schlafen.

Wie sie das sieht, ist ihr Mann ein Frauenheld. Ständig unterwegs, um seinen Samen unter lauter zusammenfantasierten Hyacinths, Merediths und Daffodils auszusäen. Auf welcher Grundlage? Fremdes Parfüm? Lippenstift am Hemdkragen? Damenhöschen in meiner Sakkotasche?

Ich kann meiner Frau ganz aufrichtig sagen: »Liebes, ich hab nie mit ner andern Frau geschlafen.«

Aber sie hat beschlossen, mir nicht zu glauben.

Jetzt fallen ihr fast die Glupscher aus dem Kopf. Wenn sie nicht aufpasst, schnapp ich sie mir irgendwann und spiel Tischtennis damit.

Carmel sollte dankbar sein, sie sollte sich mal klarmachen, dass der Mann an ihrer Seite einer von den Guten ist, weil er nämlich seit fünfzig Jahren immer zurück in ihr Bett kommt. Gut, ja, manchmal erst am nächsten Morgen, manchmal auch erst am Nachmittag drauf, gelegentlich verstreichen sogar ein, zwei Tage …

»Sicher, Liebes. Wenn’s dich glücklich macht, leg ich mir ein Handy zu.«

Aber meine Miene sagt: Brich bloß nicht unsern Waffenstillstand, Liebes.

Ich öffne meinen schweren Messinggürtel. Den mit dem Büffelkopf, der sich in der Mitte teilt, als Schnalle.

Wir sind jetzt an dem Punkt der Prozedur angelangt, wo ich die Hosen runterlass. Zum ersten Mal in dieser Nacht. (Be-dauer-licher-weise.)

Nun muss ich mir irgendwie die Socken ausziehn, aber nach Vorbeugen ist mir nicht, sonst kotz ich am Ende noch auf den räudigen Flokati, den Carmel vor dreißig Jahren gekauft hat, um ihre Knie zu schonen, wenn sie betet, morgens, mittags und abends und manchmal auch noch laut des Nachts, im Schlaf. Trotzdem, würd ich’s wagen, ihn zu beflecken, wird sie die Pumpgun aus ihrem geheimen Arsenal metaphorischer Waffen zücken und mich damit zum Fenster rausballern.

Ich leg das eine Bein quer über das andere, und obwohl ich wackel wie ein Yogi aus der Übung (und spüre, wie Carmel mich stumm beschwört, umzukippen), gelingt es mir, die Socke abzustreifen.

Wir sind in der Sackgasse.

Sie ist die Sphinx, die vor den Toren Thebens wacht. Den Kopf einer Frau, den Körper einer Löwin, Adlerschwingen, Elefantengedächtnis und Kiefer eines Salzwasserkrokodils, die einen Druck von rund dreihundert Kilo pro Quadratzentimeter ausüben können und jederzeit bereit sind, mir den Kopf abzubeißen.

Um es ins Bett zu schaffen, muss ich die richtige Antwort auf das Rätsel geben, das sie mir nicht mal stellt, weil sie glaubt, die Lösung längst zu kennen.

An der Wand vor mir klebt die gottverdammte Tapete, die sie so liebt. Ein gewisses Grundthema ist unverkennbar: grellbunte Blumen, Urwaldpflanzen, tropische Tiere. Das alles fängt jetzt an zu schaukeln, und ich wappne mich für die Elefantenherde, die mich gleich niedertrampeln wird.

Ich bin so müde, dass ich auch direkt im Stehn einschlafen könnt, in meiner klassischweißen Unterwäsche, Slip mit Eingriff plus Unterhemd.

Da erst merk ich, dass ich noch den Hut aufhab. Ich nehm ihn ab, verbeuge mich und schwenke ihn dabei mit ausladender Geste, wie ein Gentleman aus dem 18. Jahrhundert, der sich bei Hofe präsentiert. Als wir frisch verheiratet waren, hätte das allein die Gattin schon zum Vergebungskichern animiert.

Damals sagte sie immer, ich wär der witzigste Mann auf der ganzen Welt.

Heute ist ihr Herz so kalt, dass man ne frostige Scherbe davon abbrechen könnt, um einen Diamanten damit zu zerschneiden.

Wann hab ich diese Frau eigentlich das letzte Mal zum Lachen gebracht? In welchem Jahrzehnt kann das gewesen sein? In welchem Jahrhundert? Welchem Jahrtausend?

Sie starrt mich an wie einen kompletten Schwachkopf.

Was soll ich denn jetzt machen? Zum Bett gehn und riskieren, dass ihr Stinkwutzorn auf mich herabfährt? Mich auf dem Boden zusammenrollen? Im andern Zimmer schlafen? Meinen Seidenpyjama mit Monogramm von Derek Rose anziehn und nach unten gehn? Den Pyjama, den ich höchstpersönlich von Hand waschen muss, weil sie ihn mir sonst ruiniert, so wie meinen neuen Kaschmir-Morgenmantel aus Wolle vom Goldenen Vlies. Die gnädige Ehefrau hat’s fertiggebracht, ihn binnen Monatsfrist in der Waschmaschine drei Nummern zu schrumpfen.

Was zum Geier soll ich denn jetzt machen, wo ich viel zu müde und vollgesoffen bin, um irgendwas andres zu tun als schlafen?

Carmel wälzt sich aus dem Bett, in ihrem blauen Nylonnachthemd mit den Rüschen am Ausschnitt, das beim Gehn immer an diversen Stellen ihres Körpers kleben bleibt. (Be-dauer-licher-weise.)

Sie schlüpft in ihre orangen Plüschpantoffeln mit den Pompons dran und bleibt dicht vor mir stehn. »Heut hab ich erfahren, dass Papi einen zweiten Schlaganfall hatte und in der Klinik liegt, und da hab ich mir gedacht, ich hätt mich von dir nie so gegen ihn aufbringen lassen dürfen.«

Whaaaat? Das war doch nur, als wir frisch verheiratet waren; den Rest der Zeit hat sie sich ganz allein aufgebracht. Seit dreißig Jahren beknie ich sie, endlich mal eine richtig ausgedehnte Heimreise auf die Insel zu machen.

»Vergib mir, aber geht’s hier um den Mann, der deine Mutter so oft vermöbelt hat, dass in der Klinik ein Bett extra für sie reserviert war?«

Morris ist offensichtlich nicht der Einzige, der Zeichen von Demenz an den Tag legt. Seit ich Carmel kenn, gibt’s die Worte »Vater« und »Schwein« quasi nur in direkter Verbindung, genauso wie »Ehemann« und »Schwein« schon länger auf die gleiche Art gekoppelt sind. Ne Geschichtsklitterin ist sie, fast wie diese Holocaustleugner.

»Ist doch schon so lang her … Ich bin mir sicher, meine Mutter hat ihm längst vergeben, seit sie oben beim lieben Gott ist … der hätt sie doch sonst gar nicht … reingelassen.«

Demenz, eindeutig.

»Er ist bald hundert Jahre alt, und ich hab ihn fast dreißig davon nicht gesehn. Jetzt fragt er nach seinem kleinen Mädchen.«

Hat er doch ganz schön lang durchgehalten, aufs Ganze gesehn.

Daheim war er n toller Hecht, aber als ich anfing, für ihn zu arbeiten, ist mir klargeworden, was für n Würstchen er eigentlich ist. Hat Carmels Mutter praktisch alle Knochen gebrochen. Angefleht hab ich sie, den Unmenschen zu verlassen, und was sagt sie? »Halt dich da raus, Barry.«

Zu viele Frauen waren so: Egal, wie oft sie geprügelt wurden, sie meinten immer noch, sie müssten sich damit abfinden. Und wenn sie sich doch mal trauten, zur Polizei zu gehn, kriegten sie nur zu hören, sie sollten gefälligst wieder zurück zu ihrem Mann.

Die Mutter meiner eigenen Mutter ist von ihrem zweiten Mann so schlimm mit der Hippe zerhackt worden, dass sie im Holberton auf dem OP-Tisch landete und anschließend nie wieder laufen konnte. Sie starb noch vor meiner Geburt an inneren Verletzungen. Meine Mutter hat’s mir ständig eingetrichtert. »Du musst Frauen gut behandeln, ist das klar?« Und das hab ich gemacht, kein einziges Mal hab ich die Hand gegen meine Frau erhoben und bin geblieben, bis meine Kinder groß waren. Nie im Leben hätt ich den Platz im Bett meiner Frau für irgendeinen zwielichtigen Möchtegern-Stiefvater frei gemacht, der dann mit Donna und Maxine unter einem Dach nächtigt.

No, Sah, meine Töchter waren sicher.

Carmel soll jedenfalls mal zusehn, dass sie heimfliegt und sich das große Haus sichert, in dem sie aufgewachsen ist, bevor andere Erbanwärter noch das Schloss austauschen. Schließlich hat ihr Vater mehr als achtzig Jahre Zeit gehabt, seinen Samen auszusäen.

Sie steht immer noch dicht vor mir mit ihrem Morgenmundgeruch.

»Hör mir gut zu, Barrington. Am Montag flieg ich heim, um meinen Vater zu sehn, und wenn ich zurück bin, wird sich hier einiges ändern. Ich werd mich nicht mehr damit abfinden, dass du irgendwelchen dämlichen Kühen dein Ding reinschiebst.«

Ich funkle sie an, aber sie blinzelt nicht einmal.

Lass mir bisschen Raum, Frau. Ich hab’s so satt, mich nach einer fidelen Nacht deiner elenden Visage auszusetzen.

»Ich will dir mal was sagen, Carmel. Hier gibt’s nur eine Kuh, und zwar die, die mich dauernd ankeift, obwohl ich das gar nicht verd…«

Bevor ich den Satz zu Ende hab, haut sie mir dermaßen eine runter, dass die Knochen knacken.

Oh, Laaard, sind wir jetzt wieder so weit? Sind wir jetzt ernsthaft wieder so weit?

»Der Herr wird dich strafen«, sagt sie und schiebt sich an mir vorbei.

Ich dreh mich schnell um, weil mir einfällt, dass sie jetzt die schweren Apothekengläser auf der Kommode in Greifweite hat.

»Du und deine Fisimatenten«, sagt sie, fischt ihren hellgelben Frotteemorgenmantel vom Haken, wickelt sich rein und reißt die Tür auf.

Ich geh hinter ihr nach draußen und unterdrücke den übermächtigen Wunsch, ihren Kuhbeinen die sehr steile Treppe runterzuhelfen, alle dreiundzwanzig Stufen auf einmal.

Ruhig Blut, Barry. So einer bist du nicht.

Stattdessen mach ich den Mund auf, aber es fühlt sich an, als müsste ich würgen: Als müsste ich fünfzig Jahre Täuschung, Ernüchterung und Selbstzerstörung im Strahl erbrechen, die Treppe runter, mitten auf ihren Rücken.

Ein Eintopf aus Erbrochenem.

Ein Ehrenmal aus Kotze.

Ein Eimer voller Scheiße.

Carmel … Carmel, Liebes, weißt du was? Soll ich dir was sagen? Du liegst ganz richtig. Ja, richtig liegst du. Mich hat der Herr nämlich längst gestraft. Mach dir da mal keine Sorgen, ich bin schon seit Ewigkeiten auf der Überholspur Richtung Verdammnis. Der Herr hat an dem Tag angefangen, mich zu strafen, als ich entschieden hab, dir in die Hölle dieser sogenannten Ehe zu folgen und nicht meinem Morris-liebenden, süßverliebten, blutvollen, glutvollen, bumsfidelen, pochenden Ding von einem unbeherrsch-, unentrinn-, unbezähmbar männerliebenden Herz.

2

Lied von der Süße

1960

… da bist du nun, Carmel, schwingst auf der weißen Hollywoodschaukel auf Papis Veranda

sanft hin und her, während drinnen alles schläft und das Hochzeitsmahl verdaut

Pepperpot und Conch Fritters, Fungee- und Tamarindeneintopf, Papayakuchen, Süßkartoffelknödel, köstlichste Sugarcakes und Butterflaps

die Körper schwer, während der rumgetränkte Geist durch die Nacht davonfliegt

in den zwei Gästezimmern drängt sich die Verwandtschaft, Tanten – Eudora, Beth, Mary, Ivy –, Onkel – Aldwyn und Alvin –, etliche Angeheiratete, Cousins und Cousinen – Augusta, Obediah, Trevor, Adelaide, Neville, Barbara –, alle von außerhalb angereist, extra zu deinem Ehrentag

auch wenn aus dem Ausland niemand anreisen konnte – aus Brooklyn, Toronto, London

Mommy und Papi sind in ihren Zimmern, eins im Osttrakt des Hauses und eins im Westtrakt, damit Mommy nicht zu hören braucht

wie Loreene, das Dienstmädchen, mit Papi Unzucht treibt, um später, solang’s noch dunkel ist, in ihre Hütte zurückzuschleichen und scheinbar ganz rein und unschuldig wieder rauszukommen und allen Frühstück zu machen, als wär sie keine mannstolle Ehebrecherin

abmurksen könntest du das Weib – und ihn gleich mit

du riechst einen Hauch der Heckenkirsche, die gleich unter der Veranda wächst, und holst tief Luft, hoffst, dass ihr berauschend lieblicher Duft dich endlich müde macht

morgen früh wirst du die gelben Glockenblumen vor deinem Schlafzimmerfenster riechen

aber die vergangenen achtundvierzig Stunden hast du kaum geschlafen, weil dein Kopf nicht aufhören kann, die letzten zwölf davon immer wieder abzuspielen, als

eine gewisse Miss Carmelita Miller zum Altar schritt, eifrig bemüht, nicht über den Saum ihres perlenbesetzten elfenbeinfarbenen Kleids zu stolpern, und eine gewisse Mrs. Barrington Walker den Rückweg antrat

ganz erwachsen und würdig am Arm deines gutaussehenden Gefährten, dabei hättest du am liebsten ein Rad nach dem andern den Mittelgang entlang geschlagen und auf den Kirchenstufen ein Tänzchen aufgeführt, während du mit echtem rosa und weißem Konfetti beworfen wurdest statt mit billigem Reis als Ersatz

du bist jetzt ne richtige Frau, Carmel

ja, eine echte Dame, vereint im heiligen Bund der Ehe, den kein Mensch jemals trennen soll, nach dem Gebot des lieben Gotts, gelobt sei Er, Amen, und den Ring hast du auch, als Beweis, aus Gold ist er, passt wie angegossen auf deinen schmalen Finger, das wird ein Spaß, den überall rumzuzeigen, damit auch alle wissen, dass du einen Mann hast

vom Markt bist

nicht als alte Jungfer endest

so viele Frauen hier kriegen keinen Mann

sondern nur Babys.

dein Mann – der gerade jetzt seine erste Nacht in deinem Kindheitsbett verbringt, seine Beine hängen übers Fußende, so groß und raumgreifend, wie er ist

dein Mann – der so viel Rum Punch getrunken hat, dass er gar nicht mehr gerade stehn und mit dir tanzen konnte, dabei ist er der beste Tänzer von ganz St. John’s und du die beste Tänzerin

dir macht das nichts: Barry ist sogar noch witziger, wenn er betrunken ist, du hast Glück mit ihm

dein ganzes Leben lang hält Mommy dich schon zwischen den Knien, flicht dir die Haare und greint

Carmel, wenn der Tag einmal kommt, musst du dir einen Mann suchen, der dich für dein Wesen liebt. Dein Vater hat mich ausgesucht, weil ich hübsch war, aber das hält sich nicht

und dabei zog sie so fest an deinen Haaren, dass du schreien musstest, und bohrte dir dazu noch die Knöchel in die Kopfhaut

kaum fing ich an, nicht mehr hübsch zu sein, fing er auch schon an, durch den Garten zu streifen und Blumen zu pflücken, die in voller Blüte standen

Mommy, hast du zu ihr gesagt, als dein Tag tatsächlich kam und du mit Barry verlobt warst

mach dir um mich keine Sorgen, Barry ist ein wunderbarer Mensch, der mich mehr zum Lachen bringt als jeder andere auf der Welt, und er findet, ich bin das süßeste Mädchen der ganzen Insel. Siehst du, wie gut wir uns verstehn? Das nennt man zusammenpassen, Mommy. So muss das nämlich sein in einer Ehe

danach war sie erst mal still, hat dir nur weiter die Haare geflochten, als würd sie dich skalpieren wollen

kein Mensch darf dich mehr wie ein Kind behandeln, jetzt, wo du verheiratet bist, auch Papi nicht, der sein Anrecht auf dich verloren hat, seit es an deinen Mann gegangen ist

und du, Carmel, willst auch eine gute, würdige Ehefrau sein, stimmt’s? hast dich zur Vorbereitung in die Hauswirtschaftsfibel aus der Schule vertieft

wenn dein Mann von der Arbeit kommt, wird euer Zuhause ein Hafen der Ruhe und Ordnung für ihn sein

du wirst dein Make-up auffrischen und dir eine Schleife ins Haar binden und das Essen im Ofen warm halten

und wenn er sich verspätet und alles angebrannt ist, wirst du ihn niemals ankeifen wie eins von diesen drittklassigen, unflätigen Weibern, die keinen Mann halten können und als einsame alte Schachteln enden

nein, du wirst ihn mit sanfter, ruhiger Stimme nach seinem Tag fragen und dir seine Triumphe und Klagen mit liebevollem Lächeln anhören

du wirst es nicht vermasseln wie Mommy, die besser mal den Mund gehalten hätt, statt Papi ständig Widerworte zu geben, du willst sein Fehlverhalten gar nicht entschuldigen, und sie tut dir auch wirklich leid, aber Mommy raubt noch nem Heiligen den letzten Nerv, wie Papi ihr immer sagt

nein, du hast genau geplant, wie du dir einen Mann angeln willst, und als Barry dann bei Papi anfing, warst du sofort selig, hast ihm heimlich die Blicke zugeworfen, die du vor dem Spiegel geübt hast, während du noch auf den Richtigen wartetest, und sobald er zu dir rübersah, hast du geheimnisvoll gelächelt und weggeschaut

hat gewirkt

denn bald schon begleitete er dich zur Schule, wartete vorn an der Einfahrt in seiner guten Hose mit der akkuraten Bügelfalte, gestärktem weißem Hemd, ganz elegant, glattrasiert und immer bereit, dich zu necken

Carmel, schlichtweg um-werfend, schlichtweg a-tem-be-rau-bend sähst du aus, wenn du nicht diesen schlichtweg giganto-ma-ni-schen lila Pickel auf der Nase hättest, und dann noch diese zwei Kamelaugen, die so sehr schielen, dass sie sich schon gegenseitig beobachten

oder er schnappte sich deinen Ranzen, warf ihn in weitem, behäbigem Bogen in ein sonnendunstiges Feld voll feuchter Tomaten- und Gurkenpflanzen und zwang dich damit, loszurennen und vor ihm dort zu sein, damit er ihn nicht noch weiter wegschleudert, oder er verfiel in einen völlig übertriebenen Charlie-Chaplin-Gang, mit einem Ast als Spazierstock, als wär er keine acht Jahre älter als du, sondern bloß ein alberner Schuljunge

bis zu dem einen Mal, als dich seine Mätzchen richtig sauer machten, weil sie nun wirklich nicht deiner Vorstellung von romantischem Werben entsprachen, und du den Kopf zurückgeworfen und ihn angebrüllt hast: Mach dich vom Acker, Junge

da hat er mit dem Blödeln aufgehört, blieb ganz still am Straßenrand stehn, mit schiefgelegtem Kopf, und schwieg, während

der alte Pomeroy mit Pferd und Wagen vorbeikam, darauf eine Fuhre Farmarbeiter mit Strohhüten auf dem Kopf und frisch geerntete Schwarze Ananas

Andrina vorbeifuhr mit ihrem großen schwarzen Fahrrad, die kleine Tochter vorne auf dem Lenker und einen Korb Yamswurzeln auf dem Kopf

Doktor Carters todkranker Chevrolet vorbeiknatterte, so laut, als bräuchte er wirklich die letzte Ölung, und

du hörtest von fern das Tuckern eines Bagshaw-Traktors und die Stimmen von Schulkindern, die hinter dir näher kamen

und überall surrten die Fliegen, weil die Felder frisch gedüngt waren, aber du hast dir nicht mal die Mühe gemacht, die eine wegzuwedeln, die sich auf dein Gesicht setzte, du hast nur Barry angeschaut, wie er

dich anschaut, und da stand er nun, mitten in der aufsteigenden Morgenhitze, die Sandalen jetzt ganz staubig, unter den Achseln Schweißflecken, die langsam größer wurden, vom glitzernden Sonnenlicht beschienen, und dann sagte er in einem Ton, wie du ihn noch nie gehört hattest, Carmel, und zog Lippen und Nase kraus, als würdst du stinken wie der Dung da draußen

Carmel … ich weiß doch, eigentlich bist du nicht so sauertöpfisch

und während dir die Tränen in die Augen traten, du wolltest sie noch zurückhalten, aber das ging nicht

kam Barry zu dir, ein bisschen betreten, führte dich zu dem felsigen Vorsprung auf der andern Straßenseite, indem er dir sanft eine Hand an den Rücken legte und dich vor sich herschob, und dort habt ihr euch hingesetzt, die Arme dicht aneinander, du hast die Wärme gespürt, die er abstrahlte, und er knuffte dich sanft in den Oberarm

Tief drinnen bist du nämlich voller Süße, da bin ich mir sicher. Denn weißt du, Carmel, ich kenn mich aus mit der Archäologie des menschlichen Wesens, und ich gelobe hiermit feierlich, dass ich dir helfen werd, all deine Süße zu heben

Süße – das wurde sein Kosename für dich, und als du wusstest, dass du tief drinnen voller Süße bist, konntest du ihm auch keine Widerworte mehr geben, du musstest die ganze Zeit seine Süße sein, sonst wär er ja enttäuscht gewesen

ach, höher und immer höher hinaufschaukeln, bis du ganz oben bist, denn was hast du jetzt?

was hast du jetzt, Süße?

das Beste vom Besten, so sieht’s nämlich aus

kein Mann auf der Insel ist attraktiver, keiner hat ein einnehmenderes Wesen als deiner, das könntest du schwörn, und schlau ist er auch noch, so wie du früher

auf der Antigua Girls’ High warst du Klassenbeste in Latein und Französisch, Zweitbeste in Englisch und Geschichte, Viertbeste in Altertumskunde und Fünftbeste in Altgriechisch, bis du Barry kennengelernt und festgestellt hast, er ist klug genug für euch beide

weiß ja jeder, dass man nicht zu schlau sein darf, sonst kriegt man keinen Mann ab

Mommy hat ewig kein Wort mit dir gesprochen, als du die Schule geschmissen hast

Papi war’s egal, den interessieren nur seine beiden Early-Bird-Lebensmittelläden an beiden Enden der Scotch Row, die einst von den Eltern seines Vaters gegründet wurden, den Millers aus Antigua

die von gewaltigen Porträts an den holzgetäfelten Wänden hinter dir in der Diele herabschauen, halb erstickt von hochgeschlossenen Kleidern und Vatermörderkragen, das buschige Haar zum Mittelscheitel gezähmt, der Schnurrbart pomadeglänzend und an beiden Enden hochgezwirbelt, die stolze Büste ins Mieder gezwängt, die Taille ins Korsett geschnallt

kaum wart ihr verlobt, wurde Barry vom Nachwuchsverkäufer zum stellvertretenden Filialleiter befördert, und Merty meinte, das sei der Grund, warum er dich heiraten wolle, um das Geld deiner Familie in die Finger zu kriegen, nur eins passt leider gar nicht in ihre Theorie, dass er seinen Schwiegervater nämlich nicht leiden kann, weil der Mommy schlägt

außerdem setzt ihr euch sowieso bald nach England ab

Porträtfotos von Mommys Familie, den Gordons, hängen ganz hinten im Flur

Papi nennt sie die »kleinen Leute« – Fischer, Näherinnen, Köhler, sogar Schmuggler blicken befangen in den schwarzen Kasten, der sie unsterblich machen soll

Mommy sagt immer, auch das ist deine Familie, klar?

sie nennt sie die Ahnen, verleiht ihnen damit eine Würde, die ihnen nur gebührt, weil sie tot sind

sind die Leute erst mal tot, tut Verehrung not, zumindest kommt’s dir so vor

dabei müsst es doch eigentlich andersrum sein, je länger sie tot sind, desto weniger zählen sie, warum also reden Mommy und Papi ständig von diesen Toten, als wären sie wichtig?

dich interessiert nur dein Fang des Jahrhunderts

du bist schon ein Glückspilz, was?

Candaisy wollte ihn, Drusilla auch, und sie ist offiziell die Hübscheste, Asseleitha ist zu verschroben, die will gar keinen, aber Merty hat immer den Rock ein Stück gelüpft, wenn er in der Nähe war

du hast nie was gesagt, denn kein Mensch macht Miss Merty Vorschriften, ohne dass es ein paar hinter die Löffel gibt, beste Freundin hin oder her

beim Hochzeitsempfang hat Drusilla dir erzählt, dass Merty deinen Brautstrauß nur deshalb gefangen hat, weil sie einen Hechtsprung über die Mädchen hinweg gemacht hat, die vor ihr standen und allesamt zerrissene Strümpfe und aufgeschürfte Knie davontrugen

du hattest dich schon gefragt, warum sie alle so undamenhaft auf dem Boden rumkrabbelten, als du dich wieder umgedreht hast

aber keine Sorge, Miss Merty, du findest schon noch wen, diesen Clement zum Beispiel, der ein Auge auf dich geworfen hat und wie ein sehr netter Junge wirkt, und eines Tages kommst auch du nach England

alle habt ihr euch gepikst, bis Blut kam, habt eure Daumen aneinandergedrückt und euch geschworen, niemals für lang getrennt zu sein

und da bist du nun

schaukelst, streckst die nackten Beine aus und spürst daran ein leichtes Lüftchen in der klebrigen Hitze, das Nachthemd pappt dir schon am Hinterteil

der Mond wirft seinen schattenhaften Schein auf die Süßholz- und Gummibäume, die Bougainvilleas und Jacaranda, die Dattelpalmen auch

allmählich wirst du ein bisschen schläfrig, hast aber immer noch ein wildes Blubbern neuer und alter Gefühle in dir, das sich nicht beruhigen will, und

jetzt schläft die ganze Insel, bis auf dich und diese lärmenden Zikaden und Laubfrösche, die nachts niemals schweigen

du schaust in den strassbesetzten Himmel, der sich ins Unendliche erstreckt

fragst dich, ob er dir wohl fehlen wird, wenn ihr auf Reisen geht, und korrigierst dich dann: du nimmst den Himmel ja nach England mit, Süße, der Himmel ist immer da, wo du auch bist

du warst noch niemals weg von der Insel, bis auf ein paar Ausflüge nach Barbuda gleich nebenan, was ja nicht zählt, und du warst auch kaum jemals weg aus St. John’s, alles, was du kennst, liegt im Umkreis weniger Kilometer rund um deine kleine Insel mitten in der Karibik

das macht dir Angst, denn plötzlich kommt dir die Welt so groß vor, mit den vielen Milliarden Menschen da draußen

und du gehst ja auch ohne Mommy fort, die Papi nicht verlassen will, sosehr ihr sie auch mitzukommen beschwört, du und Barry

du schaukelst jetzt langsamer, sanfter, ein rhythmisches Einlullen, wie die Schlaflieder, die Mommy dir vorgesungen hat, als du klein warst

bald wird es dich zu deinem Mann zurücktreiben, der ganz verschlafen seine langen, starken Arme ausstrecken und dich an sich ziehn wird – warm und geborgen

Mrs. Barrington Walker, du bist jetzt nicht nur eine anständig verheiratete Frau, du kannst auch kaum fassen, dass es vorhin fast so weit gewesen wär

aber er hat ihn nicht reingesteckt, hat sich nur an dir gerieben

dich gefragt, ob’s dir auch gutgeht, dann hat es ihn geschüttelt, er ist runter von dir und hat sich weggedreht, sich zusammengerollt, sein breiter, starker Männerrücken glänzte auf dem weißen Baumwolllaken

du wolltest die Wölbung seiner Wirbelsäule mit den Fingern nachfahren

die Feuchtigkeit hinten aus seinem Nacken schlecken und ihn schmecken, dich um seine Brust schlingen und probieren, ob sich deine Hände auf der andern Seite treffen

ihn dazu bringen, dass er ihn doch reinsteckt, statt dass er so rücksichtsvoll ist und sich dir nicht aufdrängt, denn du bist längst bereit dafür

vor allem aber, Mrs. Walker, brauchst du Antwort auf die eine Frage

darf eine Ehefrau ihren Mann von sich aus anfassen oder muss sie warten, bis er sie anfasst, um dann gehorsam zu reagieren?

du musst die Young Ladies’ Society befragen – Merty weiß das bestimmt

eins liegt aber auf der Hand: Barry ist ein echter Gentleman, ganz anders als manche Jungs hier in der Gegend, die ihr Ding nicht in der Hose und die Finger nicht von den intimen Stellen der Mädchen lassen können

Merty hat’s schon vor Jahren zum ersten Mal gemacht, mit einem Diplomaten aus Amerika, der sie nach der Messe vor der Kathedrale angesprochen und ihr einen echten amerikanischen Dollar gegeben hat

sie hat noch einige Dollars auf die Art verdient, du musstest Schweigen geloben, und Drusilla hat’s mit Maxie gemacht, ihrem Freund, der älter ist als sie, Candaisy hat es fast gemacht, aber nicht richtig

Barry hat dich immer nur zum Spaß geknufft und geneckt, und beim Tanzen wart ihr euch körperlich ganz nah, aber auf die Art lästig geworden ist er nie, nicht mal Zungenküsse gab’s

sogar Hubert hat nach sieben Monaten Werben mal richtig Hand angelegt, und der war ein Streber mit Brille und hat gestottert

armer Hubert, geheult hat er, als du ihn abserviert hast, am Strand, wo alle Welt ihn sehn konnte, aber das hat dich auch geärgert und war dir peinlich, darum hast du das Softeis, das er eben erst für dich gekauft hatte, in den Sand fallen lassen und bist weggegangen, ohne dich zu verabschieden

du bist ganz Barrys Meinung, wenn er sagt, Hubert sei James Stewart, aber er sei Rock Hudson

kein Vergleich, stimmt’s?

die Schaukel steht still, und du gleitest, ja, du gleitest wie ein Schwan auf dem See mit deinen nackten Füßen über den Holzboden

durchquerst den Flur, erklimmst die Treppe, weichst mit den bloßen Füßen den Stellen aus, wo sie knarzt

da ist er, schläft mit dem Gesicht zur Tür, du schleichst dich rein und setzt dich im Schneidersitz auf die harten Dielen, in deinem neuen Erwachsenennachthemd, kurz und kokett, mit Rüschen, die das Dekolleté einer verheirateten Frau zur Geltung bringen

mit beiden Händen umfasst du deine Brüste, ganz straff und angenehm schwer, wie zwei prall gefüllte Wasserballons, und du fragst dich, wann er sie wohl berühren wird

du willst, dass er spürt, wie drall sie sind, denn jetzt, mit sechzehn, haben sie noch kein bisschen Spannung verloren, was sie laut Mommy (dieser Miesmacherin) schon sehr bald tun werden, denn du hast zu viel Gewicht darin, und eh du dichs versiehst, hängen und schaukeln sie schon, statt zu hüpfen

sie sagt, das kann morgen passieren oder nächste Woche

wie es sich wohl anfühlt, wenn er sie von hinten umfasst?

er soll sich besser mal beeilen

sein Mund steht leicht offen

du willst ihn schließen, damit ihm kein Insekt reinfliegt

fast streichelst du ihm die Wange, aber was, wenn er aufwacht und dich fragt, was du da machst?

sein linkes Augenlid zuckt, das heißt, er träumt von dem, was seine Gedanken am allermeisten beherrscht, jetzt, wo er frisch verheiratet ist

jawohl, von dir träumt er, Lady

auf Zehenspitzen umrundest du das Bett und schlüpfst neben ihn, gibst dabei acht, dass du ihn nicht berührst

du schließt die Augen und überträgst in seinen Hinterkopf, wovon du heute Nacht zu träumen gedenkst

du machst Telepathie mit ihm, bringst ihn dazu, zu träumen, was du träumst

Zauberkräfte hast du

… ein echtes reetgedecktes Cottage in den Yorkshire Dales, mit wohlgenährten Kühen, die ringsum auf den grünen Hügeln muhen, nicht solchen dürren Rindern wie die von hier

dein Mann in Hemdsärmeln, Krawatte und Hosenträgern raucht draußen im Garten in der Sonne sein Pfeifchen, sitzt auf einem gestreiften Liegestuhl und löst das Kreuzworträtsel in der Times

im Obstgarten spielen eure Kinder zwischen Apfel- und Birnbäumen Verstecken, während Lassie, der Hund

fröhlich bellend um sie herumtollt und

du bist in der Küche, ziehst dir die Lippen nach, um dich hübsch zu machen, eine saubere, rot-weiß gestreifte Schürze über dem knallengen schwarzen Bleistiftrock

und an den Füßen hochhackige Pumps, mit denen du so sexy läufst wie Marilyn Monroe, obwohl du gerade Scones bäckst, die nur drauf warten, mit echter Clotted Cream aus Devonshire bestrichen zu werden und der Marmelade, die du eben erst aus frischen Zwetschgen zubereitet hast und

dazu servierst du echt englischen Tee in dem Porzellan, mit dem der Tisch auf der mosaikgepflasterten Terrasse gleich am Rasen bereits gedeckt ist

und einen Steingarten habt ihr und Blumenrabatten und Rotkehlchen, ja, rotbrüstige Rotkehlchen, die in den Bäumen zwitschern

und irgendwo jenseits der Täler und Hügel, in weiter … weiter … Ferne … lassen sich jetzt der Mangrovenkuckuck und der hübsche gelbe Pirol auf deinem Fensterbrett nieder

der Gabelschwanz-Königstyrann umschwirrt die Rosen

der Kolibri umschwirrt die orangefarbenen Tulpen, und da, da, gleich da drüben, fliegt ein Braunsichler mitten in den englischen Himmel hinein

du siehst einen Leguan über den Rasen huschen, ein Gecko flitzt die rosarote Küchentapete hinauf, und vom Garten lugt ein Krokodil in die Küche rein, und