Blut – Der Fluss des Lebens - Reinhard Friedl - E-Book

Blut – Der Fluss des Lebens E-Book

Reinhard Friedl

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Beschreibung

Longlist zum Besten Wissenschaftsbuch des Jahres 2024
Die Flüssigkeit, die uns am Leben hält: unser Blut - vom Autor des Longsellers "Der Takt des Lebens"


Blut ist das rote Organ, das lautlos und geschmeidig in allen anderen Organen fließt, sie ausfüllt, ihnen Leben verleiht und sie verbindet. Es ist uraltes Merkmal weiblicher Fruchtbarkeit. Schiller sprach von der »Weisheit, welche Blut befiehlt« und hob es auf eine Stufe mit dem Bewusstsein. Es hat die Farbe der Liebe, wird verwendet für Kriegsbemalung und entlang der dünnen Membran zwischen Biologie und Mythologie zirkuliert es auch heute noch. Im Blut ist unser Anfang und unser Ende. Wir können mit Transfusionen Leben retten. Bei schweren Traumata verlässt es den Körper unwiederbringlich, und wir sterben. Wenn Blut fließt, blutet immer auch die Seele. Wird die Ursache eines Traumas nicht erkannt, schmerzen diese Wunden für immer. Blut ist eine zeitlose Währung und immergrünes Megageschäft. Blut ist flüssige Information: 70 Prozent aller Diagnosen werden anhand der Ergebnisse von Blutentnahmen gestellt. Der Herzchirurg und Autor des Longsellers »Der Takt des Lebens« Dr. Reinhard Friedl entführt uns in seinem neuesten Werk in die faszinierende Welt des Blutes und erzählt von seiner Entstehung, wozu wir es brauchen, wie es unsere Kultur und Geschichten seit Jahrhunderten prägt und warum es zu einem der größten Wirtschaftsfaktoren der Welt gehört.

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Seitenzahl: 434

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Buch

Blut ist das rote Organ, das lautlos und geschmeidig in allen anderen Organen fließt, sie ausfüllt, ihnen Leben verleiht und sie verbindet. Es ist uraltes Merkmal weiblicher Fruchtbarkeit. Schiller sprach von der »Weisheit, welche das Blut befiehlt« und hob es auf eine Stufe mit dem Bewusstsein. Es hat die Farbe der Liebe, wird verwendet für Kriegsbemalung, und entlang der dünnen Membran zwischen Biologie und Mythologie zirkuliert es auch heute noch. Im Blut ist unser Anfang und unser Ende. Wir können mit Transfusionen Leben retten. Bei schweren Traumata verlässt es den Körper unwiederbringlich, und wir sterben.

Wenn Blut fließt, blutet immer auch die Seele. Wird die Ursache eines Traumas nicht erkannt, schmerzen diese Wunden für immer. Blut ist eine zeitlose Währung und immergrünes Megageschäft. Blut ist flüssige Information: 70 Prozent aller Diagnosen werden anhand der Ergebnisse von Blutentnahmen gestellt. Der Herzchirurg und Autor des Longsellers »Der Takt des Lebens« Dr. Reinhard Friedl entführt uns in seinem neuesten Werk in die faszinierende Welt des Blutes und erzählt von seiner Entstehung, wozu wir es brauchen, wie es unsere Kultur und Geschichten seit Jahrhunderten prägt und warum es zu einem der größten Wirtschaftsfaktoren der Welt gehört.

Die Autor*innen

Unser Herzschlag ist sein Beruf: Priv. Doz. Dr. med. Reinhard Friedl ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Er hielt schon viele tausend Herzen in den Händen. Er hat frühgeborene Babys operiert und bei hochbetagten Patienten Herzklappen repariert, er hat Kunstherz-Turbinen implantiert und Messerstichverletzungen am Herzen genäht. Blut war der tägliche Begleiter des Herzchirurgen, Intensivmediziners und Notarztes. Sein Fließen verbindet jede einzelne Zelle unseres Körpers mit dem Herzen. Eingehend setzt er sich mit den Ergebnissen der aktuellen Neuro- und Psychokardiologie auseinander, die immer mehr Geheimnisse der komplexen Verbindung zwischen Herz, Blut, Gehirn und Seele zutage fördern.

Shirley Michaela Seul hat als freie Autorin und Co-Autorin bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht.

Außerdem von Dr. Reinhard Friedl im Programm

»Der Takt des Lebens« (zusammen mit Shirley Michaela Seul)

»In deinem Herzen wohnt das Glück« (illustriert von Maria Over)

Dr. Reinhard Friedl

mit Shirley Michaela Seul

Blut

Der Fluss des Lebens

Wie Körper und Geist, Wirtschaft und Kultur mit unserem roten Organ verwoben sind

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Originalausgabe September 2023

Copyright © 2023: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Eckard Schuster

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

SB ∙ CF

ISBN 978-3-641-29883-8V002

www.goldmann-verlag.de

Für meine Mutter Helene Friedl

Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Verletzung

Blutbad

Blutspur

Blut muss fließen

In Fleisch und Blut

Die goldene Stunde

Kleine Wunden

Blutopfer

Die Blutbank

Rotes Gold

Blutschande

Sind wir ein Blut?

Wenn die Seele blutet

Kriegsbemalung

Die Chirurgie der Seele

Blut- und Leberwurst

Blutvergiftung

Teil 2: Leben

Die Quelle

Der hydraulische Widder

Überleben

Blut und Liebe

Der Nabel der Welt

Was ist Leben?

Der Kreis schließt sich

Danksagung

Quellen

Teil 1: Verletzung

Doch diese Weisheit, welche Blut befiehlt,

Ich hasse sie in meiner tiefsten Seele.

Friedrich Schiller

BlutBad

Es gibt Anblicke, die lassen selbst einem hartgesottenen Herzchirurgen das Blut in den Adern gefrieren: Dicht unterhalb der linken Brustwarze meines Patienten stak das helle Griffstück eines Fischmessers. Vermutlich eine Imitation von Perlmutt und in etwa sieben Zentimeter lang. Die Klinge war tief im Körper des Patienten Richtung Herz verschwunden. So weit war dieser Anblick für eine Messerstichverletzung noch erträglich. Auch der hellblaue Pullover, mittlerweile schwarz gefärbt und steif von geronnenem Blut, schockte mich nicht. Blut in allen Gerinnungsfaktoren ist sozusagen mein tägliches Brot. Es war das lautlose Tick-Tick, Tick-Tick, Tick-Tick, mit dem der Messergriff den Herzschlag im Inneren des Leibes außen sichtbar machte, das mir durch Mark und Bein ging. Kein Vibrieren oder Zittern, sondern eine feine und doch klar abgesetzte Bewegung. Als ob das Pendel einer Lebensuhr, das sonst unsichtbar in diesem Patienten schlug, plötzlich sichtbar würde. Ich schätzte die Herzfrequenz auf 120, und dass ich sie erfassen konnte, ohne den Puls des Patienten zu fühlen, ohne EKG, ohne dass ich den Brustkorb eröffnet hatte, ließ mich schaudern. Es kam mir vor, als sende mir dieses schwerstverletzte Herz geheime Morsezeichen, als funke es: Ich habe nicht mehr viel Zeit, mein Herzblut verlässt mich.

Kurz nach der Halbzeitpause hatte mein Telefon geklingelt. An der Nummer hatte ich die Zentrale der Klinik erkannt. O nein, dachte ich spontan, bitte nicht jetzt! Als Herzchirurg hatte ich dieses Wochenende an unserem Klinikum Dienst und bereits in der vorangegangenen Nacht operiert. Ich hatte heute auf eine Pause gehofft.

Mein Blick folgte dem blonden Schopf meines kleinen Sohnes, der an diesem diesigen Frühherbstnachmittag im gelben Fußballtrikot übers Spielfeld sauste. Die kurze Hose war ihm noch etwas zu groß, endete unterhalb seiner Knie und behinderte ihn fast mehr als der gegnerische Verteidiger, den er gerade mit einem gewagten Haken auszuspielen versuchte. Ich war sein größter Fan und konnte meinen Blick nicht abwenden. Was ich nun aber musste, als ich den Notruf aus der Klinik annahm.

»Guten Tag, Dr. Friedl, ich verbinde Sie mit dem Schockraum.«

Schockraum, in diesem Wort rauscht reines Adrenalin. Es ist der Ort, an dem man um ein Leben kämpft, sein eigenes oder das eines anderen, je nachdem, auf welcher Seite des Skalpells man sich befindet, am Handgriff oder unter der Klinge. Ein Ort, an dem das Leben buchstäblich auf Messers Schneide steht. Und so war es auch jetzt. Ein Kollege informierte mich: »Wir kriegen eine Messerstichverletzung rein. Laut Notarzt steckt das Messer noch im Brustkorb. Sie kommen bodengebunden mit dem Notarztwagen von irgendwo aus der Pampa. Zu viel Nebel zum Fliegen heute. Der Patient ist im schweren hämorrhagischen Schock1, der Notarzt hofft, dass sie es zu uns schaffen!«

»Bin unterwegs«, sagte ich. »Falls der Patient lebend ankommt, bringt ihn bitte sofort in den Herz-OP.«

Für eine umfassende Diagnostik mit Computertomographie im Schockraum ist bei solchen Patienten keine Zeit. Sie brauchen Behandlung, nicht Untersuchung, sonst verbluten sie. Sie benötigen einen Chirurgen, der das tödliche Ausbluten stoppt. In diesem Fall mich und mein Team.

»Ruft auch die Kardiotechniker an«, fügte ich sicherheitshalber hinzu, »falls wir die Herz-Lungen-Maschine einsetzen müssen.«

Schlagartig hatte sich meine Welt verändert. Alle Pläne für diesen Tag existierten nicht mehr. Kurz winkte ich meinem Sohn, aber er sah mich im Spieleifer nicht. Ich bat den Vater seines Kumpels, ihn später mit nach Hause zu nehmen, und fuhr in die Klinik. Auf dem Weg rekapitulierte ich meine Erinnerungen zu Messerstichverletzungen. Solche Traumata sind in Deutschland nicht alltäglich, anders als in Südafrika oder in New York. Doch ich hatte schon einige davon unter dem Skalpell und Erfahrung mit derartigen lebensbedrohlichen Verletzungen. Die Mechanismen und die Komplexität der Verletzungen sind jedes Mal anders, unvorhersehbar und können eine große Herausforderung sein.

Adrenalin

Etwa zeitgleich mit dem Patienten traf ich in der Klinik ein. Der junge, dunkelhaarige Mann war noch bei Bewusstsein. Während er auf den OP-Tisch gehoben wurde, redete er ohne Unterlass: »Es tut mir so leid, es tut mir so leid, es tut mir so leid«, wiederholte er ein ums andere Mal. Was meinte er damit? Was tat ihm leid? Gab es ein zweites Opfer? Wo? Tot? Viele Fragen, keine Antworten. Er redete, als ginge es um etwas sehr Wichtiges. Und damit hatte er recht. Er redete um sein Leben, das mit jedem Blutstropfen aus ihm heraussickerte – oder auch – strömte. Wie viel es war, wusste ich im Augenblick noch nicht.

Sein Gesicht war leichenblass, sein Körper weiß marmoriert wie eine Statue. Die Lippen blau, der ganze Mann, den ich auf Mitte zwanzig schätzte, schweißgebadet. Er klapperte entsetzlich mit den Zähnen, und immer wieder schüttelte ihn kalter Schauer. Blut transportiert nicht nur Sauerstoff, sondern verteilt auch die Lebenswärme. Zusammen mit dem Blut verließ sie seinen Körper, der erste Schritt einer tödlichen Abwärtsspirale. Ist die Körpertemperatur zu niedrig, beginnt die Muskulatur mit Wärmeproduktion durch ein unkontrollierbares Muskelzittern. Gut informierte Selbstmörder setzen sich deshalb in die warme Badewanne, bevor sie sich die Pulsadern aufschneiden. Ein Selbstmord durch einen Messerstich ins eigene Herz ist eher die Ausnahme, das bringen auch die verzweifeltsten Menschen dann doch nicht fertig.

Keine Frage, dieser Patient hatte großes Glück gehabt, es bis zu uns in die Klinik geschafft zu haben. Doch wie lange würde sein Glück währen? Wie viel Blut floss noch in seinen Adern? Zwischen vier und sechs Liter sind es normalerweise in einem erwachsenen menschlichen Körper. Wenn wir die Hälfte davon verlieren, befinden wir uns, je nach Konstitution und Umständen, in Todesnähe, oft schon vorher.

Das Leben dieses Patienten floss nur noch als kümmerliches Rinnsal. Noch schlug das Herz in rasendem Tempo, noch atmete er, flach und hastig. Und er redete ohne Unterlass, als verhandle er mit dem Tod. In der Klinik in den USA, wo ich einen Teil meines Studiums verbracht hatte, wurden Schwerstverletzte wie er als »Talk and Die« bezeichnet, die reden, bis sie sterben. Ein Arzt darf sich davon nicht täuschen lassen. Dieses Reden ist keineswegs ein gutes Zeichen, im Sinne von »nicht so schlimm, er redet ja noch«. Für Traumaspezialisten und Notärzte, die dieses Zeichen zu deuten wissen, ist es ein Warnsignal für den unmittelbar bevorstehenden Absturz der Körpersysteme. Im Stadium des fortgeschrittenen Schocks spüren Verblutende, meistens Opfer von schweren Unfällen und Gewaltverbrechen, dass das Leben aus ihnen weicht. Jeder Tropfen des Schockhormons Adrenalin, den sie noch irgendwo zur Verfügung haben, wird ausgeschüttet. Seine Aufgabe ist es, mit dem noch vorhandenen Blutrest bis zuletzt einen minimalen zentralen Notkreislauf für Herz und Gehirn aufrechtzuerhalten, auf Kosten der Durchblutung aller anderen Organe. Adrenalin sorgt dafür, dass deren Blutzufuhr durch Engstellung der Blutgefäße minimiert wird. Im Extremfall werden sie gar nicht mehr durchblutet und stellen in der Folge sukzessive ihre Funktion ein. Unser größtes Organ, die Haut, trifft es zuerst: Sie erkaltet und wird weiß wie Schnee, der Schweiß zu Eiswasser. Der Notkreislauf ins Gehirn sorgt dafür, dass wir bis zum Ende denken können. Solange wir bewusst sind, haben wir noch einen Rest Autonomie, den Glauben an unsere Handlungsfähigkeit. Verblutende reden einem inneren Antrieb folgend immer weiter, denn solange sie reden, haben sie nicht aufgegeben. Ihre Lippen formen flüsternd Worte, sie hören ihre Stimme, und das gibt ihnen die Gewissheit, nicht tot zu sein – »noch« nicht tot, müsste man eigentlich sagen.

Auf einmal schaute mich der Patient mit weit geöffneten Augen an. »Werde ich sterben?«, fragte er.

»Wir tun alles, was wir können.«

»Ich heiße Hamid.«

»Ich bin Dr. Friedl«, sagte ich.

Er nickte schwach und suchte meine Hand. Ich hielt seine eiskalte schweißnasse Hand für einen Moment, drückte sie sachte. »Wir schaffen das.«

Und das meinte ich auch so. Denn wenn man glaubt, es sei sinnlos und zu spät, sollte man auch nicht mehr operieren. In traumatischen Notfallsituationen, wenn der Fluss des Lebens versiegen will, ist Ehrlichkeit Menschlichkeit. Man kann einem Menschen in seiner letzten Minute auch die Hand halten und bei ihm sein, anstatt in blindem Aktionismus vor einer solchen Anteilnahme wegzulaufen.

Die Anästhesistin spritzte Narkosemittel und wechselte die Sauerstoffmaske auf dem leichenblassen Gesicht gegen eine Beatmungsmaske. Mir zur Seite stand ein überaus erfahrenes Notfallteam, das den Patienten bisher »geschaukelt« hatte, wie wir im OP-Jargon sagen. Es hatte Organfunktionen und Vitalparameter halbwegs stabil gehalten. Den Kommandostand der Anästhesistin am Kopfende des Patienten säumten Kabel und Monitore und das Beatmungsgerät mit seinen Schläuchen und Digitalanzeigen. Auf einer Ablage sammelte sich eine ganze Batterie von kleinen Spritzen. Von Zeit zu Zeit griff sie sich eine und applizierte vorsichtig einen halben Milliliter dieser oder jener Substanz. Anästhesisten können, wie Zauberer, einen Patienten schlafen lassen, den Schmerz nehmen, das Herz ein bisschen schneller schlagen lassen oder auch langsamer, den Druck ein bisschen heben oder senken und auch etwas mehr Urin fließen lassen. Doch was dieser Patient jetzt vor allem brauchte, war Blut, viel Blut, denn er war dabei, vor unseren Augen zu verbluten.

Bodycheck

Blut ist Leben, sagt man. Doch das stimmt nicht ganz. Wenn es unwiederbringlich aus uns herausfließt, ist es auch Tod. Um das zu verhindern, hingen über Hamid zahlreiche rote Beutel mit Blutkonserven, die mithilfe eines elektrischen Druckinfusionssystems in den Patienten gepumpt wurden. Da wir die benötigte Blutgruppe noch nicht kannten, waren Konserven mit Null Rhesus negativ, die wir für Trauma-Opfer vorrätig hatten, aus dem Blutkühlschrank geholt und erwärmt worden. Blutgruppe Null Rhesus negativ als Universalspenderblut geht zur Not immer. Es ist aber selten und entsprechend wertvoll. Gerade mal sieben Prozent der Weltbevölkerung haben diese Blutgruppe. Deshalb wird jedem Patienten bevorzugt seine tatsächliche Blutgruppe transfundiert, und die wird in der Blutbank bestimmt. »Die Röhrchen für die Kreuzprobe sind unterwegs«, teilte uns die Anästhesiepflegerin mit. Sie hatte die Blutzentrale angesichts der absoluten Dringlichkeit bereits benachrichtigt.

»Wo ist der andere?«, fragte der Kardiotechniker, der vorsorglich die Herz-Lungen-Maschine einsatzbereit machte.

Keiner antwortete.

»Hat er sich denn nicht gewehrt?«, fragte die OP-Schwester, die, wie die meisten anderen, wohl davon ausging, dass unser Patient das Opfer war. Er hätte aber auch Angreifer sein können.

»Keine weiteren Verletzungen nach dem Bodycheck«, meldete die Anästhesistin.

Bei einem Traumapatienten interessiert nicht nur das Offensichtliche, sondern auch das, was man auf Anhieb nicht sieht. Es könnte zusätzlich ein Bein gebrochen sein, oder es könnte Hämatome am Bauch geben, die auf eine stumpfe Gewalteinwirkung schließen lassen. Hamid zeigte keine weiteren Begleitverletzungen, die auf einen Kampf hindeuteten, zum Beispiel Abwehrverletzungen an den Händen oder Prellmarken am Körper. Das war seltsam und ist eher typisch für Messerstichverletzte, die aus dem Hinterhalt in den Rücken attackiert werden. Nun war unser Patient offensichtlich von vorne verletzt worden, und diese Opfer wehren sich meistens. Was war hier geschehen?

Ich versuchte mir vorzustellen, wo genau die Spitze der Klinge saß, welche Verletzung wir nach der Eröffnung des Brustkorbs sehen würden. Jede Verletzung erzählt eine Geschichte, wenn auch nicht die ganze Wahrheit. Man kann den Körper lesen wie ein Buch. Wenn Frauen zustechen, halten sie das Messer oft so, dass der kleine Finger die Klinge berührt, sie stechen eher von oben, während Männer meistens den Daumen an der Klinge haben und die Stichrichtung nach oben weist. Messerstiche von vorne treffen meistens die rechte Herzkammer. Sie liegt anatomisch hinter dem Brustbein, und in ihr ist der Blutdruck weniger hoch als in der linken Herzkammer. Stiche in die rechte Herzkammer kann man deshalb unter Umständen länger überleben, weil das Ausbluten langsamer verläuft. Erfolgt der Stich von der linken Seite und wird dabei die linke Herzkammer eröffnet, dann sterben die Betroffenen oft sofort. Bei unserem Patienten stak das Messer halb seitlich und horizontal, da war alles möglich. In meinem Kopf rekonstruierte ich die Anatomie in seinem Inneren und folgte der Klinge des Messers zum Herzen. Was wäre der günstigste Fall und der Worst Case – verblutet im Operationssaal, unter meinen Händen, vor meinen Augen. Ein Albtraum!

Blut muss fließen

Herzchirurgen sind genau genommen Blutchirurgen. Sie können Blut nicht nähen, aber sie sind dafür zuständig, dass es im Herzen die richtigen Impulse erhält und durch seine Vorhöfe und Kammern, durch die Klappen und Blutgefäße in den richtigen Bahnen fließt. Mit der richtigen Geschwindigkeit und dem richtigen Druck. Ganz wichtig ist natürlich auch die richtige Richtung. Gerade bei Herzerkrankungen fließt es oft in die falsche Richtung. Dann implantieren Herzchirurgen neue Herzklappen als Rückflussventile, verschließen falsche Öffnungen zwischen den Herzhöhlen, legen Umleitungen als Bypässe oder setzen gleich künstliche Blutgefäße ein. Manchmal kommt es mir so vor, als hätten Herzchirurgen mehr mit Blut zu tun als mit dem Herzen selbst.

Arterien

Mit jedem Herzschlag verlässt das Blut hellrot und sauerstoffreich die kraftvolle linke Herzkammer, eingebettet in eine Pulswelle, die Sie zum Beispiel an Ihrem Handgelenk oder an Ihren Halsarterien ertasten können. Über die große Körperschlagader, die Aorta, fließt es durch ein sich immer feiner verzweigendes Netz von Arterien und Arteriolen zu den allerfeinsten Haargefäßen des Menschen, den Kapillaren. Sie sind 0,5 bis 1 Millimeter lang und so dünn, dass die etwas größeren roten Blutkörperchen nur noch hindurchpassen, wenn sie sich strikt hintereinander anordnen wie die Kamele einer Karawane, die durch die engen Tore einer Stadt marschieren müssen und dabei noch die Köpfe einziehen. Der Durchmesser einer Kapillare beträgt 2 bis 5 Mikrometer, der eines roten Blutkörperchens (Erythrozyt) 7 bis 8 Mikrometer. Während das Blut mit hoher Geschwindigkeit aus dem Herzen sprudelt (1,5 Meter/Sekunde, oder anders ausgedrückt: über 5 Kilometer/Stunde), fließt es hier fünfmal langsamer (0,3 Meter/Sekunde) an den Zellen vorbei, denn in den Kapillaren wird das Leben umgesetzt. Was nun folgt, benötigt Zeit. Es kommt zu einer direkten Berührung zwischen der einzelnen Körperzelle und dem Blut. Hier finden der »Handel« und die Kommunikation statt, Nahrungs- und Stoffwechselprodukte werden ausgetauscht, Wärme abgegeben, Nachrichten durch Hormone und Neurotransmitter übermittelt, und – ganz wichtig – die roten Blutkörperchen, die Erythrozyten, geben den lebenswichtigen Sauerstoff für die Atmung der Zelle ab.

Durchblutung ist die Voraussetzung für alle zellulären und molekularen Prozesse, damit unsere Leber entgiftet, der Darm verdaut, das Herz schlägt und das Gehirn denkt. Über die großen Arterien wird Blut angeliefert. Es sind Handelswege wie Wasserstraßen, Autobahnen oder Bahnstrecken, auf denen Güter und Nachrichten über weite Strecken zum Konsumenten transportiert werden. Dieser Transport wird als Makrozirkulation bezeichnet. Über die Ladentheke gehen diese Produkte in die Kapillaren. Sie sind die engen kleinen Gassen zwischen den Regalen des Supermarkts, die verschlungenen Pfade der Märkte, wo die Zellen anwesend sind und ihren permanenten Bedarf an Sauerstoff decken, sich aussuchen, was sie sonst noch brauchen, Neuigkeiten austauschen und im Gegenzug etwas abgeben, zum Beispiel das Kohlendioxid oder Energie, die eine sehr wichtige Währung im Körper ist. Das ist die Mikrozirkulation. Wie Sie sich vorstellen können, hat eine intakte Mikrozirkulation gravierende Auswirkungen auf Ihre Gesundheit, genau wie das Mikroklima in Ihrem Wohnviertel, Ihrer Straße oder in Ihrem Schlafzimmer.13 Ihre Bedeutung wurde über Jahrzehnte nicht erkannt. Die meisten Ärzte und Kreislaufforscher haben ihr Augenmerk auf die großen Arterien gelegt, auf das, was man mit den vorhandenen bildgebenden Verfahren in der Durchleuchtung sehen konnte. Aktuell ist die Erforschung der Mikrozirkulation eines der Topthemen der Herz-Kreislauf-Forschung.14

Venen

Ist das Blut seine Fracht losgeworden, ändert es seine Farbe von hellrot zu dunkelrot, weil es weniger Sauerstoff an Bord hat. Nun ist es venöses Blut geworden, pulsiert nicht mehr und kehrt im trägen Strom der nun umgekehrt immer größer werdenden Venen zurück zum rechten Herzen und weiter in die Lunge, wo das Kohlendioxid ausgeatmet wird. Es nimmt auch Nachrichten der Zelle an den Organismus mit und bringt den Müll raus, Stoffwechselendprodukte, die von den Zellen nicht mehr benötigt und zum »Recycling« in die Leber mitgenommen werden. Wenn der Körper sie gar nicht mehr verwerten kann, auch zu den Ausscheidungsorganen Darm und Nieren.

Wenn Sie auf die feinen blauen Venen an der Oberfläche Ihrer Haut blicken, können Sie erahnen, dass da lautlos etwas in Ihnen fließt. Und dieses Fließen ist gewaltig! 30 Billionen rote Blutkörperchen, also die Träger von Sauerstoff und Kohlendioxid, reisen täglich 20 000 Kilometer durch Ihren Körper. Das entspricht der Entfernung von Norddeutschland nach Tokio und wieder zurück. Auch der neueste Airbus schafft so eine gewaltige Distanz nicht an einem Tag. Blut fließt in einem Netzwerk aus Arterien, Venen und Kapillaren, das in unserem Körper an die 100 000 Kilometer lang ist. Zweimal der Umfang der Erde und noch ein halbes Mal weiter! Wir alle sind durchtränkt von Blut wie ein Schwamm, es gibt keinen Mikrometer in unserem Körper, der nicht durchblutet ist.

Kreislauf

Dass das Blut im Kreis fließt und dorthin zurückkehrt, wo es seinen Ausgang genommen hat, nämlich zum Herzen, hat der englische Arzt William Harvey im beginnenden 17. Jahrhundert in vielen Tierversuchen und basierend auf mathematischen Überlegungen herausgefunden. Nur ein winziges Stückchen fehlte Harvey, um seinen Beweis perfekt zu machen: die Verbindung zwischen arteriellem und venösem Blut! Die winzige Strecke, an der Ersteres in Letzteres übergeht. Die Kapillaren. Sie waren zu winzig, als dass er sie mit bloßem Auge hätte sehen können, und ein Mikroskop hatte er nicht. Die Welt der Mikrozirkulation, in der das Leben umgesetzt wird, blieb ihm verborgen. Erst vier Jahre nach seinem Tod wurden sie entdeckt, in den Eingeweiden eines Frosches.

Es ist das Wesen jeder Forschung und Expedition, neue Wege zu gehen, die noch niemand gegangen ist, neue Verbindungen zu suchen. Verbindungen, von denen man weiß, sie sind da, auch wenn sie noch niemand nachgewiesen hat. Diesen Weg ging auch Harvey als glänzender Wissenschaftler und Begründer der auf Empirie und systematischer Methodik basierenden modernen biomedizinischen Forschung.15

Er glaubte an eine primäre, lebendige (vitale) Eigenbewegung des Blutes, welches der Herzkontraktion weitere Impulse hinzufüge, seinen Strom mit jeder Kontraktion rhythmisch überforme und es neu belebe (vitalisiere) und vor Fäulnis bewahre. Und in der Tat ist die Beladung des Blutes in der Lunge mit frischem Sauerstoff eine Belebung. In den winzigen Lungenbläschen überschreitet Sauerstoff die feine Grenze von der Außenwelt in unser Inneres und färbt das vorbeigleitende dunkle Venenblut wieder in strahlendes Hellrot. Harvey war nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch ein großer Philosoph und Anhänger von Aristoteles. Daher betrachtete er seine sensationelle, die Medizin für immer verändernde Entdeckung nicht isoliert und reduktionistisch, sondern stellte sie in einen großen Zusammenhang. Für ihn ahmte der Kreislauf des Blutes wie auch der des Wassers die Kreisbewegung der Planeten am Himmel nach. Das Herz die Sonne im Mikrokosmos Mensch und die Sonne das Herz der Welt.16

Mit seiner Entdeckung machte er sich allerdings wenig Freunde. Viele Mediziner waren skeptisch, denn er widersprach dem seit über tausend Jahren bestehenden Kreislaufparadigma des berühmten antiken Arztes Galen(us) von Pergamon, das bis dahin niemand zu bezweifeln gewagt hatte. Nach jenem brannte im Herzen eine Flamme, der Brennstoff in Form von Nahrung und Blut zugeführt und deren Rauch über die Lunge ausgeatmet wurde. Es floss nicht im Kreis, sondern schwappte eher wie die Tide des Meeres, wie Ebbe und Flut, hin und her. Es war die offizielle Schulmedizin, die damals wie heute als etwas Absolutes angesehen wird. Das Ende von Galens Lehren machte vielen Gelehrten Angst. Sie sahen die Grundlagen ihrer Medizin und ihrer Therapien einstürzen wie ein Kartenhaus, und so wurden Harvey und jene, die ihm folgten, sogar verspottet als circulatores, Anhänger des Kreislaufs. Ein perfides Wortspiel, denn als circulatores wurden damals auch herumreisende, ihre Runden drehende Marktschreier und Hausierer bezeichnet.17 Doch Autoritäten fochten Harvey nicht an, und er blieb bei seinem Standpunkt, wenngleich er vorsichtig sein musste. In jener Zeit konnte man rasch auf dem Scheiterhaufen landen. Heute würde man sagen, er war ein Querdenker, und was es heißen kann, wenn eine kollektiv geschürte Angst nur noch eine Sicht auf Naturphänomene erlaubt und alle anders Denkenden verunglimpft, mundtot macht oder ihre Meinungen verschweigt, sahen wir während der COVID-19-Pandemie.

Erstarrtes Wissen

Sein Zeitgenosse, der französische Forscher, Mathematiker und Philosoph René Descartes, war ein »Opinion Leader«, eine meinungsbildende Persönlichkeit. Er war einer der Ersten, die Harveys neue Lehre vom Kreislauf akzeptierten, und wurde ein prominenter Fürsprecher. Und das hatte einen Grund: Ihn faszinierte die beginnende industrielle Revolution mit Dampfmaschinen, Mühlen, Uhren, Zahnrädern und Antriebsriemen. Seine Naturphilosophie folgte streng den Gesetzen der Mechanik. Den Menschen begriff er als eine Art biologische Maschine, die nach seiner Ansicht konstruiert war wie eine Uhr, deren Antrieb aufgezogen wurde und abläuft. Nicht nur das Herz war seiner Auffassung nach mechanisch. Er sah Lungen als Blasebalge und Nieren als Filtersysteme. Mit der Entdeckung der Naturgesetze durch Kopernikus, Galileo, Kepler und Newton zählte für ihn und zeitgenössische Gelehrte nur noch, was man messen und wiegen konnte. Er trennte den Geist vom Körper und vertrat die Ansicht, dass beide unabhängig voneinander existierende Dinge seien, die miteinander in Wechselwirkung treten. Diese Philosophie wird als cartesianischer Dualismus bezeichnet, und das daraus resultierende Mensch-Maschinen-Paradigma ist bis heute unter vielen Ärzten und Wissenschaftlern vorherrschend.

Harveys Entdeckung vom Kreislauf war Wasser auf die Mühlen von Descartes’ mechanistischer Menschenschau. Für ihn war die Sache glasklar. Wenn Blut im Kreis fließt, muss es von einer Pumpe angetrieben werden, und welche könnte das sein, außer dem Herzen? Harveys Kreislaufentdeckung half eine Weltsicht zu zementieren, in der Daten und Fakten berechtigterweise alten Aberglauben und allerlei Hokuspokus ersetzten. Es war der Beginn der modernen Naturwissenschaften. Harveys zutiefst vitalistische Interpretationen von der Sonne im Herzen, von der Eigenbewegung und Lebendigkeit des Blutes passten da natürlich nicht hinein. Deshalb wurde die neue Lehre von Descartes und seinen Nachfolgern kurzerhand ihrer kosmischen Verbindungen beschnitten, die Idee einer primär lebendigen Physiologie ad acta gelegt und das Herz auf die Funktion einer Druck-Antriebspumpe skelettiert. Mit anderen Worten: Er hat Harveys Einsichten passend gemacht, zurechtgezimmert für sein System. Harvey war davon wenig begeistert, aber Descartes’ Ansichten setzten sich durch. Sehr treffend brachte es der deutsche Physiologe Alfred Wilhelm Volkmann 1850 in seinem Lehrbuch über Hämodynamik zu Papier. Demnach sei das Herz eine pumpende Maschine und habe genügend Kraft, die Masse des Blutes durch das gesamte Gefäßsystem zu treiben.18 Diese »felsenfeste Ansicht«19 hat sich bis heute gehalten.

Und so oder so ähnlich steht es auch heute noch in vielen Lehrbüchern. Auf der Basis des Blutes und der Natur seiner Bewegung wird die Welt seither unterteilt in Vitalisten wie Harvey und Aristoteles, welche die komplexe Ästhetik selbstorganisierender lebendiger Systeme in globale und geistig-philosophische Zusammenhänge stellen, und die Cartesianer, die das Materielle vom Seelischen dualistisch trennen und die Phänomene der Existenz, gerade auch von Herz und Kreislauf, deterministisch mit den Augen des Biochemikers und Mechanikers betrachten.

Doch niemand hat die Wahrheit gepachtet, und Wissen ist keine Konstante, sondern es oszilliert. Wissenschaft ist nicht die Verwaltung von Wahrheit, auch nicht die Verwahrung, sondern die Suche danach. Aktuell bewegt sich das Pendel der Herz-Kreislauf-Forschung wieder in die andere Richtung. Angesichts einer wahren Flut neuer Forschungsergebnisse über die subtile und intelligent abgestimmte, selbstorganisierende Physiologie von Blutfluss, Herz und Kreislauf wird das Pumpenparadigma des Herzens von Ärzten und Wissenschaftlern neuerdings hinterfragt.20 Eine spannende wissenschaftliche Debatte ist darüber entstanden, ob das Herz tatsächlich nur eine Pumpe ist oder ob das nicht eine sehr simplifizierende, nur augenscheinlich richtige Beschreibung der Ursache-Wirkungs-Beziehung von Herz und Blutbewegung ist. Wir wissen heute: Das Herz alleine kann aus rein physikalischen und physiologischen Gründen nicht täglich sechs bis zehn Tonnen Blut durch unser Blutgefäßsystem befördern. Möglicherweise ist es genau andersherum? Das Blut treibt das Herz an! … Solange es noch vorhanden ist.

In Fleisch und Blut

Ich durchschnitt die Haut des Patienten Hamid vom Hals bis ans Ende des Brustbeins und blickte auf weißes Bindegewebe und gelbes Fett. In jedem anderen Patienten würde es nun bluten, aber bei Hamid fehlte der Blutdruck, der dazu notwendig war. Im schweren Schock werden Haut und Unterhautgewebe nicht mehr durchblutet, die Kapillaren stellen sich so eng, dass nicht mal mehr ein Blutkörperchen hindurchpasst. Eine Notfallstrategie der Natur, wobei der Kreislauf kleiner und kleiner wird, zuletzt sind nur noch Herz und Hirn am Netz. Prüfend blickte die Narkoseärztin über das grüne Tuch und schüttelte dann den Kopf. »Leichen bluten nicht«, fasste sie die Situation zusammen, während sie eine Blutkonserve nach der anderen anhängte, um ebendiesen Übergang in das Stadium post mortem (nach dem Tod) abzuwenden. Mit einem weiteren Schnitt durchtrennte ich die kräftige Muskulatur, bis das Messer in meiner Hand am Knochen des Brustbeins kratzte. Ich griff nach der elektrischen Säge und durchtrennte das Brustbein in voller Länge. An den Schnittflächen wurde Knochenmark sichtbar. Während Knochen außen hart sind, sind sie innen weich wie ein Schwamm. In ihnen wohnen die Stammzellen, die wahrscheinlich gerade verzweifelt versuchten, rote Blutkörperchen, Gerinnungsfaktoren und weiße Blutkörperchen für die Immunabwehr zu produzieren. Ich setzte den metallenen Thoraxsperrer zwischen die Brustbeinhälften und drehte ihn auf. Wie der Vorhang bei einem Theaterstück öffnete sich die Brust des Patienten.

Nach und nach wurden die Protagonisten unter den grellen Lichtern des Operationssaales sichtbar. In der Tiefe des Bühnenraumes ahnte man schon das Pulsieren des Herzens, noch ganz eingehüllt im Perikard, dem Herzbeutel. Wie bei jeder Herzoperation wurde das Herz teilweise verdeckt durch die Thymusdrüse, umgangssprachlich auch Bries. Hier gehen bestimmte Zellen des Immunsystems, spezialisierte weiße Blutkörperchen, sogenannte T-Lymphozyten, in die Schule und lernen, körperfremde Zellen anhand bestimmter Oberflächenmerkmale (Antigene) zu erkennen und anzugreifen. Gegen eine Messerattacke konnten sie zwar nichts ausrichten, gegen die Bakterien und Viren, die sich an der Klinge befanden, jedoch schon. In der Kindheit des Menschen ist die Thymusdrüse von großer Wichtigkeit für die Ausbildung des Immunsystems, beim Erwachsenen hat sie keine Bedeutung mehr und besteht größtenteils aus Fett. Um zum Herzen zu gelangen, mussten wir sie mit dem elektrischen Messer kurzerhand entfernen. Der Herzbeutel war mit dunklem Blut gefüllt und wölbte sich mir entgegen.

»Bereit?«, fragte ich in die Runde und schaute mein Team an.

Alle nickten. »Wir haben auch schon Gerinnungsfaktoren aufgetaut … für später«, hörte ich die Stimme der Anästhesistin. Es ergibt keinen Sinn, Gerinnung in jemanden hineinzuschütten, wenn sie am Herzen wieder herausläuft. Aber ja, wenn alles überstanden wäre, würden wir sie brauchen. Doch würde der Patient, dieser junge Mann, so lange durchhalten?

Da stand noch einer im Saal oder besser am Bühnenrand? Er nickte auch, ja, bereit. Allen Herz- und Traumachirurgen ist er wohlbekannt, und doch wird er in kaum einem Lehrbuch erwähnt. Er ist uralt und zeitlos. Als festes Mitglied des Ensembles jeder Notfalloperation explizit genannt wird er zum ersten Mal in einem Lehrbuch für Traumachirurgie aus dem Jahre 2005 mit dem Titel: Top Knife. The Art and Craft of Trauma Surgery, zu Deutsch: die Kunst und das Handwerk der Traumachirurgie.21 Die Autoren wählten den Titel Top Knife in Analogie zu der Elite-Jagdflugschule der United States Navy und vergleichen die Ausbildung zu einem Traumachirurgen mit der von Kampfpiloten bei der US Navy. Top Knife beginnt mit folgenden Worten: »Früher oder später wirst du im OP stehen mit einem Patienten, der massiv blutet und schnell unter deinen Händen stirbt … und nur so nebenbei: Hast du den anorektischen Typen bemerkt? Mit schwarzem Mantel und Schlapphut steht er in einer Ecke und hält seine große Sense. Geduldig wartet er, dass du einen Fehler machst. Er ist integraler Bestandteil jeder Notfall-Operation.«

Ja, ich hatte Gevatter Tod bemerkt, er hatte den ersten Zug im Spiel um das Leben des Opfers gemacht. Nun waren wir an der Reihe. Beide hatten wir schon viele Partien gespielt, und ich wusste, er war ein harter Gegner, aber nicht unbesiegbar. Ich musste nur kaltblütig genug sein.

Mord und Totschlag

Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Mord und Totschlag, ein Hauen und ein Stechen, erst mit Fäusten und Keulen, dann mit Stichwaffen, auch hölzernen Pfeilen und Speeren und mit Beginn der Bronzezeit mit Messern aus Metall. Diese wurden nicht nur zum Töten von Tieren verwendet, sondern auch gegen Artgenossen, ein endloser Strom von Opfern, der niemals versiegt. Stichverletzungen zählen zu den ältesten Wunden der Menschheit, und lange Zeit hatten Ärzte kein gutes Rezept dagegen. Beschäftigt hat es sie von Anfang an. Selbst der bedeutendste Arzt der Antike, Galen(us) von Pergamon, begann seine Karriere als Wundarzt bei den Gladiatoren in Rom, die sich zur Belustigung des Volkes gegenseitig abschlachteten. Vielleicht brachten ihn auch das Herausfließen von Gehirnflüssigkeit aus zerborstenen Schädeln, das Einnässen der Kämpfer vor Angst und aus Schmerz, das Auslaufen der Eingeweide, aufgeschlitzte Gedärme und das Versickern des letzten Tropfens Speichel und der letzten Träne im Sand der Arena zu der Einsicht, dass der Mensch aus vielerlei Flüssigkeiten besteht – und vielleicht bildete diese die Grundlage seiner Säftelehre? Sie galt für 1500 Jahre als medizinisches Nonplusultra, bevor sie sich als in mancherlei Hinsicht falsch herausstellte.

Mit wissenschaftlicher Akribie beschrieb Galen auch die Stichwunden des Herzens: »Wenn eine Wunde die Herzkammer durchsticht, sterben sie sofort und viel Blut strömt aus ihnen heraus. Besonders, wenn die linke Herzkammer eröffnet wurde; wenn das Messer dagegen die Herzkammer nicht eröffnete, sondern in der Muskulatur stecken blieb, überleben einige von ihnen.«22 Im Falle blutiger Herzverletzungen hatte er recht. Es kommt immer auf die Schwere und Lokalisation der Herzverletzung an, und nicht alle sind sofort tödlich.

Jahrhunderte später sah dies der Arzt des französischen Königs Henri IV., Barthélémy Cabrol, bestätigt. Er fand bei Autopsien (inneren Leichenschauen) zweier Verstorbener Herznarben, die von Stichverletzungen herrührten. Wie er als Augenzeuge wusste, war die Todesursache jedoch nicht Erstechen, sondern Erhängen. Grund: Diebstahl beziehungsweise Herstellen von Falschgeld.23

Ehrenhafter, aber mit weniger Glück starb Henry Thomas, ein Seemann an Bord des britischen Segelschiffes »HMS Foudroyant« im Jahre 1778. Er rutschte auf einer Planke aus und fiel in die Stahlklinge seines Bajonetts. Er zog es selbst heraus und meldete sich tapfer zum Wachdienst. Neun Stunden später war er tot. Es gab damals wenig, was man für das aufgespießte Herz tun konnte. Durch die Jahrhunderte hindurch galt es als undenkbar, ein Herz zu berühren oder es gar zu operieren. Das Herz und das Blut, mit dem es gefüllt ist, galten als der Sitz der Seele, eine heilige Dimension. Das Alpha und das Omega des Lebens, das sich bewegt und mit allen anderen Organen kommuniziert durch den unablässigen Strom des Blutes. Doch während man über die Jahrtausende mit Blut recht robust umging – immerhin galt der Aderlass über lange Zeit als Heilverfahren der ersten Wahl bei allen möglichen Erkrankungen, und der Blutzoll war eine beliebte Bezahlart –, glaubte man vom Herzen, es sei überaus empfindlich. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war das Herz also tabu. Zu einer Zeit, in der es für andere chirurgische Fächer schon längst Lehrbücher gab: für Skelett und Muskulatur, Auge, Ohr, Niere, Reproduktionsorgane und Eingeweide. Sogar ein Gehirntumor war schon entfernt worden.24

Woran lag das? Sicherlich hatte es auch praktische Gründe, denn die Natur schützt das Herz. Im Vergleich zu den Organen im Bauch oder den Muskeln unserer Arme und Beine ist es ummantelt vom Brustkorb, und der ist aus harten Knochen geflochten, nämlich Rippen und Brustbein. Letzteres war mit einfachen Instrumenten der Länge nach kaum zu spalten, und so war der naheliegende Zugang von der Seite und zwischen den Rippen hindurch. Um auf diesem Wege ans Herz zu gelangen, musste der Operateur vorbei an der Lunge, und das ist nicht einfach. Denn sobald er das umgebende Lungenfell eröffnet, fallen jene in sich zusammen wie ein schlecht aufgehender Hefeteig. In unserem Brustkorb, innerhalb des Lungenfells, der Pleura, herrscht nämlich Unterdruck. Sonst würde die Luft, wenn wir einatmen, nicht in sie hineinströmen. Wird der Lungenraum auf einer Seite eröffnet, so kann der Mensch auf dieser Seite nicht mehr atmen, er hat Atemnot und muss mit dem verbleibenden Lungenflügel auf der anderen Seite zurechtkommen. Der Sauerstoffgehalt des Blutes nimmt ab, und es wird tintenblau.