Blutgier - Gerdi M. Büttner - E-Book

Blutgier E-Book

Gerdi M. Büttner

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Beschreibung

Blutgier ist der 2. Teil der fünfteiligen Vampirsaga Blutsfreunde Nicolas beschließt nach über dreihundert Jahren in seine Heimat zurück zu kehren. Er möchte endlich Wladimir Krolov, den uralten Vampir wiedersehen, der ihn einst zu einem Wesen der Nacht gemacht hat. Daniel begleitet den Freund. Unterwegs schließt sich ihnen auch noch der unerfahrene Jungvampir Darius an. Doch die Wiedersehensfreude wird durch eine Mordserie getrübt, welche die Menschen der Stadt in Angst und Schrecken versetzt. Schnell finden die Freunde heraus, dass ein bösartiger Blutsauger für die Morde verantwortlich ist. Nicolas und seine Freunde sehen sich gezwungen, auf die Suche nach ihrem blutrünstigen Artgenossen zu gehen, der sie ebenfalls in Gefahr bringt. Schnell werden sie in aufregende Abenteuer verstrickt. Leseprobe unter www.gerdi-m-buettner.de PS: Wenn sie wissen möchten wie die Freundschaft zwischen dem Vampir Nicolas und dem jungen Daniel begann, kann ich Ihnen Teil 1 der Vampirsaga "Blutsfreunde" als Hardcover anbieten. Auf Wunsch auch gerne signiert und mit persönlicher Widmung versehen.

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Inhaltsverzeichnis

Blutgier

Kapitel 1: Was zuvor geschah?

Kapitel 2: Reisefieber

Kapitel 3: Begegnung mit einem fremden Vampir

Kapitel 4: Wegelagerer

Kapitel 5: Alte Geschichten

Kapitel 6: Vampiralarm

Kapitel 7: Erinnerungen

Kapitel 8: Gräueltaten

Kapitel 9: Entlarvt

Kapitel 10: Der Vampirjäger

Kapitel 11: Unter Verdacht

Kapitel 12: Der Pakt

Kapitel 13: Endlich eine Spur

Kapitel 14: Gefangen

Kapitel 15: Im Folterkeller

Kapitel 16: Qualvolle Stunden

Kapitel 17: Wladimir klärt auf

Kapitel 18: Kampfstrategie

Kapitel 19: Das Höhlenkloster

Kapitel 20: Wer kämpft mit dem Vampir?

Kapitel 21: Der Kampf

Kapitel 22: Retter in der Not

Kapitel 23: Dimitris Rettung

Kapitel 24: Ein gutes Ende

Epilog

Impressum

Blutgier

 Teil 2 der Vampirsaga Blutsfreunde

Kapitel 1: Was zuvor geschah?

Der alte Vampir erwachte, weil ihn plötzlich unsäglicher Blutdurst quälte. Alles in ihm trieb ihn zu den menschlichen Wesen, die diese Gier in ihm auslösten. Doch war er so schwach, dass es ihm kaum gelingen wollte, sich zu erheben. Schwerfällig stemmte er sich in die Höhe, witterte dabei wie ein alter Wolf in die Nacht. Die Gier tobte in ihm. Ein untrügliches Zeichen, dass sich Menschen in seiner Nähe aufhielten. Sie kamen seinem Versteck sogar näher, jetzt konnte er schon ihre flüsternden Stimmen ausmachen. 

Er vergaß seine Schwäche und seine Finger krallten sich in die brandge­schwärzten Steine, die ihn von allen Seiten umgaben. Er schob sie so lautlos wie möglich zur Seite und richtete sich langsam auf. An­ge­spannt horchte er in die Dunkelheit. Deutlich unterschied er zwei Stimmen, eine männliche und eine weibliche. Ein Liebespaar, das ein verschwiegenes Plätzchen suchte, wurde ihm klar. Er grinste verzerrt.

Sein Blutdurst raubte ihm fast den letzten Rest Verstand, den er noch besaß, und seine Muskeln strafften sich. Sie bewegten seinen mageren, ausgezehrten Körper fast wie von selbst.

Ohne sich seiner Nacktheit zu schämen oder sich dessen überhaupt bewusst zu werden, pirschte er sich lautlos an das Paar heran. Die beiden merkten nichts von dem nahenden Unheil, sie waren ganz in ihr Liebesspiel vertieft. Sie fühlten sich in der alten Brandruine vollkommen sicher und unbeobachtet.

Wie der Teufel in Person schoss der Vampir jetzt auf sie zu, packte den jungen Mann und riß ihn vom Körper seiner Geliebten. Ehe der Unglückliche wusste wie ihm geschah, hing er in den Fängen des Blutsaugers. Hastig biss ihm der Vampir die Kehle durch und saugte gierig das ausströmende Blut in sich hinein. Währenddessen hielt er die junge Frau in seinem unnachgiebigen Griff. Sie besaß keine Chance, die Flucht zu ergreifen. Vor Entsetzen unfähig sich zu rühren, musste sie hilflos mit ansehen, wie ihr Liebster ausgesaugt wurde.

Achtlos ließ der Vampir die Leiche des jungen Mannes zu Boden fallen. Immer noch voller Gier zog er das Mädchen an sich heran. Ihn interessierte weder ihre zarte Schönheit, noch rührte ihn ihre Angst. Er wollte ihr Blut, ihr Leben. Mit der gleichen gnadenlosen Härte, mit der er den jungen Mann getötet hatte, verbiss er sich in ihre Kehle und saugte sie bis auf den letzten Tropfen aus. Ihren schlaffen Körper ließ er ungerührt auf den ihres Freundes fallen.

Er spürte, wie mit dem Blut endlich das Leben in seinen Körper zurückkehrte. Oh, wie lange hatte er darauf warten müssen. Träge, wie eine satte Raubkatze dehnte er seine nackten Glieder. Sein zuvor unterernährter Körper war wie durch Zauberei aufgeblüht, besaß nun wieder fast seine normalen Proportionen. Und seine Augen, die eben noch stumpf und grau geblickt hatten, glänzten jetzt in einem überraschend intensiven Blau. Aus dem ausgezehrten Ungeheuer war ein gutaussehender mittelgroßer Mann von etwa fünfunddreißig Jahren geworden. Nur das wirre, verfilzte Haar, das ihm bis auf die Schultern hing, minderte seine männliche Schönheit. Diese Tatsache war ihm jedoch völlig gleichgültig.

Früher, als er noch ein normales Vampirleben geführt hatte, war er stets mit penibler Eitelkeit um sein Aussehen besorgt gewesen. Doch das war lange vorbei, nicht mehr wichtig.

Er blickte an sich herunter und bemerkte erst jetzt seine Blöße. Sinnend starrte er auf die Leiche seines ersten Opfers. Mit lässiger Leichtigkeit hob er den Körper der Frau hoch, so als wöge er nichts, und warf ihn wie ein Lumpen­bündel zur Seite. Behutsam zog er den Leichnam des Mannes aus, um sich dessen Kleider danach selbst anzuziehen. Sie passten nicht perfekt, aber sie würden ihre Dienste tun, bis er ein Opfer mit seiner Kleidergröße gefunden hatte.

Ohne noch einmal auf die Leichen zurückzublicken, verließ der Vampir die abgebrannte Ruine, die einmal sein Heim gewesen war. Er wusste nicht, wie lange er unter den verkohlten Steinen gelegen hatte. Ganz sicher waren einige Jahre oder sogar Jahrzehnte seit jener grauenhaften Nacht vergangen, in der ihn der Pöbel gestellt, getötet und seinem grausamen Schicksal überlassen hatte.

Hass flammte bei der Erinnerung an die entsetzlichen Qualen in ihm auf. Tödlicher verzehrender Hass auf die Menschen, die ihm das angetan hatten. Er setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm nahe der Ruine und starrte gedankenverloren auf die entfernten Lichter des kleinen Dorfes. Einst war er ein beliebter und gerngesehener Gast in den Hütten der Dörfler gewesen. Er hatte den Bewohnern Arbeit auf seinen Ländereien gegeben und sie stets großzügig dafür entlohnt. Alle kannten und achteten ihn, den Großgrund­besitzer Alexej Petrokow. Dass er ein Vampir war und schon seit hunderten von Jahren hier wohnte, ahnte bis zu jenen schlimmen Tagen niemand.

Niemand aus dem Dorf musste ihn je fürchten, nie wäre er auf die Idee gekom­men, den Leuten ein Leid zuzufügen. Für seine blutigen Mahlzeiten suchte er sich stets Mitglieder der zahlreichen Verbrecherhorden, die in der Umgebung ihr Unwesen trieben. Immer war er darum bemüht gewesen, die Dörfler zu schützen und sie hatten diesen Schutz  auch gerne und wie selbstverständlich in Anspruch genommen.

Im Dorf hatte es nur ein menschliches Wesen gegeben, das wusste, was er wirklich war, die alte Fedja Boborska, eine Hexe. Bei den Dorfbewohnern galt sie als Kräuterweib, ihre Heilkünste waren hochgeschätzt. Brauchte einer der Bauern ein paar Heilkräuter, um sein krankes Vieh zu kurieren, so ging er zu Fedja. Auch wenn seine Manneskraft nachließ, oder ihn ein Zipperlein plagte, so hatte die alte Frau stets ein Mittelchen dagegen.

Auch die Frauen nahmen gerne ihre Hilfe in Anspruch, sei es als Hebamme oder wenn ein Kind erkrankte, oder aber um eine unge­wollte Schwangerschaft zu verhindern. Fedja hatte für fast alle großen und kleinen Wehwehchen einen Heiltrank oder ein paar Kräuter parat. Doch sie hütete sorgsam ihr Geheimnis. Den übrigen Dorfbewohnern zu sagen, dass sie eine Hexe war, hätte bedeutet das Schicksal herauszufordern. Es wäre unter Umständen sogar ihr Todesurteil gewesen. Die abergläubischen Menschen hätten sie trotz ihrer Heilkünste zumindest aus ihrer Mitte verjagt, ihr vielleicht sogar noch Schlimmeres angetan.

Sowohl der Vampir als auch die Hexe wussten um das Geheimnis des Anderen, doch sie tolerierten einander und behielten ihr Wissen für sich. Bis zu dem Tag, an dem die Seuche ausbrach.

Zuerst befiel es die Kinder. Sie bekamen hohes Fieber und verfielen innerhalb weniger Tage. Dann steckten sich auch die Alten an. Vereinzelt traf es danach ein paar der übrigen Dorfbewohner. Doch sie blieben am Leben, während die Kinder und Greise starben. Fedjas Hexenkünste reichten nicht aus um die Krankheit einzudämmen. Trotz ihrer Tränke und Zauberformeln starben die Kinder.

In ihrer Hilflosigkeit und Trauer beschuldigten die Dorfbewohner bald Fedja, ihre Kinder umgebracht zu haben. Sie rotteten sich zusammen und stürmten die kleine Hütte der Hexe, um sie ihr über dem Kopf anzuzünden.

In ihrer Angst entlarvte und denunzierte die Alte den Vampir. Sie behauptete, er wäre es, der des Nachts den Kindern das Blut aussauge. Tatsächlich wiesen alle Erkrankten Zeichen von Blutarmut auf, ihre Gesichter waren durchschei­nend und blass, die Schleimhäute bläulich verfärbt. Zudem trugen alle Kranke seltsame Male am Körper, die man mit einiger Phantasie als Bisswunden deuten konnte.

In ihrer Verzweiflung glaubten die Leute den Anschuldigungen der Hexe. Und nachdem sein vampirischer Bann gebrochen war, kam Alexej allen plötzlich verdächtig und unheimlich vor.

Die ersten Rufe nach Vergeltung wurden laut. Bald hatten sich die Menschen gegenseitig so aufgestachelt, dass sie beschlossen, das Gutshaus gemeinsam zu stürmen und den Blutsauger für seine Untaten zu bestrafen.

Alexej war ahnungslos und wurde kurz nach seinem Erwachen am Abend von dem wütenden Mob überrascht. Seine enormen Vampirkräfte reichten nicht aus, der Überzahl aufgewiegelter Bauern Widerstand zu leisten. Zudem wollte er keinen von ihnen verletzten. Deshalb ergab er sich notgedrungen in sein Schicksal und wurde überwältigt.

Er war sich sicher, dass sie ihm nicht wirklich etwas antun konnten. Keinem Menschen war es je gelungen, einen Vampir zu töten. Deshalb hielt sich seine Angst in Grenzen. Er fürchtete zwar die Schmerzen, aber nicht den Tod. Sicher, so nahm er an, würden sie ihn erschlagen, erschießen oder auch erhängen. Und ihm danach eventuell einen Pfahl durchs Herz stoßen. Das war gewiss schmerzhaft, aber er würde es schon irgendwie durchstehen.

Nicht einmal die Hexe wusste, dass er am nächsten Abend dennoch unversehrt erwachen würde. Danach würde er einfach für einige Zeit die Gegend verlassen. Und in einigen Wochen, wenn Gras über die Geschichte gewachsen war, würde er zurückkommen und erneut seinen Bann über die Dorfbewohner legen. Solch eine Geschichte konnte jedem Vampir einmal passieren. Es war zwar unangenehm, aber nicht wirklich dramatisch. So dachte er wenigstens.

Doch es kam ganz anders. Der wütende Mob schleifte ihn in die Kellerge­wölbe unter seinem Haus. Dort ent­haup­teten sie ihn mit einer Axt. Fast sein gesamtes wertvolles Vampirblut floss aus seinem Körper und versickerte im festgestampften Lehmboden. Das alleine wäre schon schlimm genug gewesen, um den enormen Blutverlust auszugleichen, hätte er Wochen benötigt. Doch zu allem Übel übergossen sie seinen Körper mit Petroleum und zündeten ihn an. Er verbrannte bis zur Unkenntlichkeit.

Das alte Gutshaus geriet ebenfalls in Brand, stürzte schließlich in sich zusammen und begrub seine Überreste unter sich. Außer etwas Asche blieb nichts von Alexej Petrokow übrig. Nur ein Funke seines unsterblichen Geistes blieb erhalten, gefangen in der Asche seiner Gebeine.

Unendlich viele Jahre vergingen und ganz langsam regenerierte sich der Körper des Vampirs wieder. Während des Tages hatte er Ruhe vor den grausamen Schmerzen und der lodernden Blutgier, die er nicht befriedigen konnte. Doch des Nachts litt er entsetzliche Qualen. Er war kein Geist, aber er konnte auch kein Vampir sein. Sein Blutdurst peinigte ihn, er war jedoch nicht in der Lage, ihn zu stillen.

Jahrzehnte gingen ins Land und sein Vampirkörper formte sich unendlich langsam zu seiner ursprünglichen Gestalt zurück. Doch er war eine Mumie, vertrocknet und ohne Kraft. Nur Blut, viel Blut konnte ihn aus diesem Schreckensdasein erlösen. Doch er war zu schwach, auf Nahrungssuche zu gehen.

Sein Verstand war jedoch klar. Und er sagte ihm, wenn er kein Blut bekam, würde er in tiefen Schlaf verfallen. Und sehr lange, vielleicht nie mehr erwachen. Das Einzige, was ihn noch wach hielt, war sein Hass auf die Menschen, die ihm das angetan hatten.

Doch dann hatte das Schicksal ihm unvermutet Rettung in Gestalt dieses verliebten Paares geschickt. Mit ihrem Blut konnte er sich endlich und vollständig regenerieren. Und nun würde er Rache üben. Rache an den Dorfbewohnern, die ihn zu diesen schreck­lichen Qualen verurteilt hatten.

Dass nach all den Jahren, die seither vergangen waren, kaum noch einer der Übeltäter lebte, wusste er nicht. Er wollte nur Vergeltung. Vergessen war der uralte Vampirkodex, der ihm verbot, Blut und Leben von Unschuldigen zu nehmen.

Mit irrem Glanz in seinen Augen erhob er sich nun von dem Baumstamm und strebte zielstrebig auf das Dorf zu. Er war wieder da und heute Nacht würde er reiche Beute schlagen. Keiner der Dorfbewohner sollte Gnade erfahren.

Kapitel 2: Reisefieber

Als Daniel den sehnsüchtigen Blick in Nicolas‘ Augen wahrnahm, dachte er unwillkürlich an Marys Worte zurück. Vor über hundert Jahren hatte ihm die alte Haus­hälterin der Mühle erklärt, was dieser Blick bedeutete. „Es zieht ihn fort“, hatte sie prophezeit und Recht behalten. Nicolas war in die Ferne gezo­gen, um zu neuen Abenteuern aufzubrechen. Und jetzt schien es ihn wieder gepackt zu haben. So, wie er aus dem Fenster starrte, in eine Ferne, die nur er sehen konnte, erahnte Daniel, was in dem Freund vorging.

Wie um seine Vermutung zu bestätigen, drehte sich Nicolas entschlossen zu ihm um. „Ich möchte gerne Wladimir besuchen“, erklärte er direkt, wie es seine Art war. „Es würde mich freuen, wenn du mich begleitest.“ Fragend hob er eine helle Augenbraue.

„Wladimir? Deinen Vampirvater? Wie lange hast du ihn schon nicht mehr gesehen?“

Nicolas seufzte betrübt. „Das ist schon so lange her, dass ich es selbst nicht mehr genau weiß. So um die dreihundert Jahre. Höchste Zeit, es endlich zu tun. Was hältst du von meinem Vorschlag?“

Daniel gefiel der Gedanke. Nicolas hatte ihm schon so viel von dem uralten Vampir erzählt, der ihn geschaffen hatte. Er war sehr neugierig auf diesen Mann. Deshalb stimmte er sofort zu.

„Ich würde Wladimir gerne persönlich kennenlernen, ebenso wie das Land, in dem du geboren wurdest. Ich habe schon einige Bücher darüber gelesen. Es muss riesig sein, und voller Gegensätze, sowohl was seine Bewohner als auch seine Landschaften angeht. Mich wundert, dass du nicht schon eher den Wunsch verspürtest, es einmal wiederzusehen.“

Nicolas zuckte die Schultern und ging unruhig vor dem Fenster auf und ab, dann setzte er sich in seinen Lieblingssessel am Kamin. Wohlig streckte er seine langen Beine in Richtung der lodernden Holzscheite aus. Obwohl er, wie jeder Vampir, nicht wirklich frieren konnte, liebte er die Wärme des Kamin­feuers auf seinem Körper. Ernst sah er Daniel an.

„Es stimmt, es ist ein wunderschönes Land. Und so groß, dass man Jahre darin umherreisen kann und dennoch immer wieder Neues entdeckt. Selbst die Menschen sind dort so unterschiedlich, dass sie nicht einmal eine gemeinsame Rasse oder Sprache verbindet. Und es gibt dort alle Erdformen, die du dir vorstellen kannst. Gebirge, Wüsten, Urwälder und endlose Grasflächen. Das Klima variiert von eisiger Kälte bis zu sengender Hitze.“

Er schwieg einen Moment und starrte in die züngelnden Flammen. Dann hob er den Kopf und seine hellen Augen blickten kühl. „Aber wie du weißt, habe ich auch viele ungute Erinnerungen an meine Heimat. Und die hinderten mich bislang daran, dorthin zurückzukehren.“

„Aber das ist doch schon so lange her! Über vierhundert Jahre.“ Daniel konnte Nicolas‘ Ängste nicht nachvollziehen. Der alte Vampir zeigte normalerweise vor kaum etwas Furcht.

Jetzt lachte Nicolas, als er den verdutzten Blick seines Zöglings sah. „Du hast ja Recht, es ist dumm von mir. Aber jeder besitzt wohl irgendwo eine schwache Stelle. Und meine ist halt einmal meine Kindheit und Jugend. Selbst über vierhundert Jahre konnten das Geschehene nicht aus meinem Gehirn löschen. Doch nun ist es ist an der Zeit, mich endlich meinen Ängsten und Erinnerungen zu stellen.“

Daniel wusste natürlich über Nicolas‘ unglückliches menschliches Leben Bescheid. Er war in einem Bordell groß geworden. Seine Mutter starb bei seiner Geburt. Er hatte nie Liebe erfahren und schon als kleiner Junge für seinen Lebensunterhalt arbeiten müssen. Dann hatte ihn die Inhaberin des Bordells Männern, die auf Jungen standen, angeboten. Als er sich dagegen wehrte, hatte sie ihn kurzerhand an einen reichen Grundbesitzer verkauft. Bei ihm musste Nicolas jahrelang Gewalt, Demütigung und Vergewaltigung ertragen, bis es ihm gelang, seinen Peiniger zu überwältigen und zu fliehen. Aber auch nach der Flucht erging es ihm nicht viel besser. Denn nun stand er ohne Unterkunft und Essen da. Um nicht zu verhungern tat er das einzige, was er je gelernt hatte: er bot seinen Körper Männern an. Bis ihm ein Freier eines Tages ein Messer in den Leib stieß, statt ihn zu bezahlen. Wladimir hatte den Sterbenden gefunden und ihn mit seinem heilkräftigen Vampirblut gerettet. Von da an blieb Nicolas bei dem Vampir, seinem ersten wahren Freund.

„In letzter Zeit drängt es mich, Wladimir wieder­zusehen. Ich denke sehr oft an ihn. Manchmal ist mir fast, als ob er nach mir ruft.“

Nicolas Worte ließen Daniel aus der kurzen Gedankenreise zurückkehren. Erstaunt fragte er: „Ist ihm das möglich? Versucht er dich über diese weite Entfernung hinweg zu erreichen?“

Obwohl er mit seinen über hundert Jahren - von denen er fast fünfundsiebzig Jahre ein Vampir war - kein Neuling mehr war, hatte er keine rechte Ahnung, ob so etwas funktionieren konnte. Zwar wusste er, dass sich Vampire über einige Entfernung hinweg miteinander in Verbindung setzen konnten, das hatte er schon selbst ausprobiert. Aber Russland war sehr weit weg und Nicolas hatte mit Wladimir schon seit sehr langer Zeit keinen Kontakt mehr gepflegt.

Nicolas wiegte den Kopf. „Normalerweise ist es nicht möglich. Zumindest nicht unter Vampiren, die nur befreundet sind. Wie du selbst weißt,  ist es mir oder dir unmöglich, Henry in Paris per Gedankenkraft zu erreichen. Das klappt nur über relativ kurze Entfernungen. Doch Wladimir und ich sind durch unser Blut verbunden, so wie ich mit dir durch Blut verbunden bin. Diese Bluts­bande ermöglichen es uns - zumindest in Gefahrensituationen - selbst über riesige Entfernungen hinweg miteinander in Verbindung zu treten. Denke nur daran, wie ich dir nach Irland gefolgt bin, nur auf deinen telepathischen Hilferuf hin. Aber um deine Frage zu beantworten. Nein, ich habe keinen Ruf von Wladimir empfangen. Vielleicht denke ich nur so oft an ihn, weil die Zeit für ein Wiedersehen gekommen ist.“

„Wann willst du denn abreisen? fragte Daniel neugierig. „Zuvor gibt es noch einiges zu regeln, was das Gestüt anbelangt. Bis nach Kiew werden wir sicher längere Zeit unterwegs sein. Derweil sollte auf der Burg und in der Mühle alles seinen geregelten Gang gehen.“

„Das läuft auch ohne uns prima. Da mache ich mir keine Gedanken. Schließlich verreisen wir nicht zum ersten mal. Und sowohl dein als auch mein Besitz ist bei unseren Verwaltern in besten Händen.“

Das war auch Daniels Meinung. Trotzdem wandte er ein: „Wir werden sehr lange Zeit unterwegs sein. Ohne Vorbereitung geht das nicht. Wie stellst du dir unsere Reise überhaupt vor? Nehmen wir Pferde oder die Kutsche? Hast du dir schon die Route überlegt?“

„Du machst dir wie immer zu viele Gedanken, mein Freund“, meinte Nicolas leichthin.  „Sicher werden wir längere Zeit unterwegs sein, viele Monate oder gar ein Jahr. Aber was ist schon Zeit für uns? Wir haben doch alle Zeit der Welt. Ich habe mir gedacht, wir unternehmen eine mystische Reise auf den Spuren unserer geheimnisvollen Herkunft. Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien. Transsylvanien ist doch angeblich die Urheimat von uns Vampiren. Vielleicht treffen wir ja auf einen unserer Urahnen.“

Er sagte das in spöttischem Tonfall. Nicolas hatte nie an die Märchen und Legenden geglaubt, die über Vampire erzählt wurden. Allerdings hatte er auch keine plausible Erklärung für das, was sie waren.

„Wir sind eine verrückte Laune der Natur“ pflegte er immer zu sagen, wenn sie darüber spekulierten.

„Wir werden über Rumänien und die Ukraine weiterreisen bis nach Kiew.“, spann Nicolas den Faden weiter.  „Ich denke mir, Wladimir ist noch immer dort zu Hause. Er liebt diese Stadt und hat sich nie für lange aus ihr entfernt. Vielleicht bewohnt er sogar noch sein altes Haus in der Unterstadt. Er ist ein sehr bodenständiger Vampir.“

„Wie ist es mit der Sprache? Kannst du nach all der Zeit überhaupt noch russisch?“ fragte Daniel zweifelnd. Nicolas lächelte milde und sprach dann fließend ein paar Sätze die für Daniels Ohren unglaublich hart klangen.

 „War das russisch? Das klingt ja entsetzlich. Und diese Aussprache. Das lerne ich nie“, klagte er.

„Ach was, das lernst du schon. Es war übrigens slawisch, nicht russisch. In der Ukraine herrscht die slawische Sprache vor. Daneben spricht man auch noch russisch und mongolisch. Ich werde dir die Sprachen unterwegs beibringen. Bis wir in Kiew sind sprichst du die Landessprachen fast perfekt“, versprach Nicolas lachend. „Ich erinnere mich noch gut daran, dass du dich, was die französische Sprache betraf, zuerst genauso angestellt hast. Nur klang die dir damals zu weich. Und jetzt sprichst du französisch wie ein Franzose. Hab also keine Sorge, dein Vampirgedächtnis macht es dir leicht, jede Sprache zu erlernen. Da habe ich gar keine Bedenken.“

Tatsächlich brauchten sie nicht lange, bis sie reisefertig waren. Da sie zu Pferd unterwegs sein würden, nahmen sie nicht viel Gepäck mit. Sie brauchten kaum etwas. Die Tage würden sie in irgendeinem sicheren Versteck verschlafen. Weder Jahreszeit noch Wetter waren dabei maßgebend. Um ihre täglichen Blutmahlzeiten mussten sie sich ebenfalls keine Gedanken machen. Verbrecherhorden, die harmlosen Reisenden auflauerten, gab es in jedem Land.

Nur für ihre Pferde mussten sie gut sorgen. Damit die Tiere die lange Reise gut bewältigten, benötigten sie kräftiges Futter. Aber das war kein Problem, Heu und Hafer gab es überall zu kaufen.

Um Burg und Gestüt musste sich Daniel während seiner Abwesenheit nicht sorgen. Er hatte vollstes Vertrauen zu seinem Verwalter und den Bediensteten.

Bei ihnen waren seine wertvollen Zuchttiere in besten Händen. Dennoch trennte er sich nur ungern so lange von ihnen.

Seine geliebten Bullmastiffs mussten ebenso zu Hause bleiben wie Devil, sein schwarzer Hengst. Aus Erfahrung wusste er, dass Hunde auf weiten Reisen nur hinderlich waren. Auf das Pferd verzichtete er nur ungern, er wollte jedoch nicht riskieren, dass dem wertvollen Zuchthengst unterwegs etwas zustieß.

Auf einer so langen Reise konnte es schnell vorkommen, dass ein Pferd lahmte oder krank wurde und ausgetauscht werden musste. Auch Nicolas verzichtete darauf, seine Lieblingsstute mitzunehmen. Stattdessen suchten sie sich unter den Pferden des Gestüts drei kräftige, ausdauernde Tiere aus.

Daniel entschied sich für den etwas widerspenstigen rotbraunen Wallach Sammy und Nicolas suchte sich die schwarzweiß gescheckte Stute Blue Eye aus, die ihren Namen ihrem hellblauen rechten Auge verdankte. Das dritte Tier, ein etwas behäbiger, aber sehr kräftiger brauner Wallach diente ihnen als Packpferd und trug ihre Habseligkeiten.

Am nächsten Abend begann die Reise. Die ersten Nächte ritten sie zielstrebig und zügig voran. In Dover buchten sie ihre Passage über die Meerenge. Das schaukelnde Schiff erinnerte Daniel an die Seekrankheit, die ihn während seiner menschlichen Zeit gequält hatte. Der schreckliche Zustand, der einem Vampir nichts anhaben konnte, war ihm noch immer unvergessen. Deshalb war er froh, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte.

Frankreich und Deutschland durchquerten sie ebenso zügig, da sie diese Länder von früheren Reisen bestens kannten. Erst in Jugoslawien verlang­samten sie ihr Reisetempo. Wie gewöhnliche Reisende bestaunten sie die Sehenswürdigkeiten des Landes. Dabei beschränkten sie sich keineswegs darauf, Schlösser und sonstigen berühmten Bauwerke nur von außen zu besichtigen. Ihre vampirischen Fähigkeiten ermöglichten ihnen, auch nachts ins Innere von Museen oder Kirchen zu kommen. Sie benötigten nicht einmal ihre überlegene Körperkraft dazu, sondern suchten meist einfach den zuständigen Wächter auf. Für ein großzügiges Trinkgeld waren diese Männer gerne bereit, eine nächtliche Sonderführung zu veranstalten. Und falls sich ein Wächter einmal nicht kooperativ zeigte, so brachten sie ihn mit ihren hypno­tischen Fähigkeiten dazu, ihnen Einlass zu gewähren.

Daniel war vor allem von der unberührten Natur Jugoslawiens begeistert. Die Krka-Fälle faszinierten ihn ebenso wie die tiefen Gewässer der Plitwitzer Seen. Er konnte sich nicht satt sehen an den in leuchtenden Grün- und Blautönen schimmernden Seen. Mit Nicolas zusammen erkundete er die großen und kleinen Höhlen. Doch allzu lange konnten sie sich in den menschenleeren Landschaften nicht aufhalten. Da sie auf Blut angewiesen waren, mussten sie sich bald in bewohnte Gegenden zurückbegeben.

Normalerweise gingen Daniel und Nicolas bei der Jagd getrennte Wege. Doch auf Reisen fanden sie es zweckmäßiger, gemeinsam zu jagen. Zudem mussten sie kaum einmal nach Beute Ausschau halten, denn die auf wohlhabende Rei­sende hoffenden Wegelagerer lauerten meist ihnen auf. Sie mussten dann nur zugreifen.

Gemächlich ritten sie auf der Straße, die nach Skopje führte. Von dort aus wollten sie nach Sofia in Bulgarien weiterreisen. Ein leuchtender Vollmond verzauberte die herrliche Frühsommernacht. Die laue Luft duftete nach blü­hen­den Büschen und den würzigen Kräutern, die unter den Pferdehufen zer­stampft wurden. Lautlos schwirrte eine große Eule über ihre Köpfe und be­äugte sie neugierig, ehe sie sich auf einem Ast niederließ.

Sie waren beide satt, vor kurzem war ihnen eine ganze Horde Wegelagerer begegnet. Innerhalb von Minuten hatten sie die Kerle überrumpelt. Keiner der sechs Männer hatte diese Begegnung überlebt. Ihre Leichen ruhten jetzt unter Erde und Felsstücken begraben im nahen Wald.

Die ersten Häuser der Stadt waren gerade in der Ferne auszumachen, als Nicolas abrupt seine Stute anhielt und  in die Nacht lauschte. Auch Daniel hatte etwas gehört, aber nicht sonderlich auf den Laut geachtet. Jetzt konzentrierte er sich und konnte ein leises, erstickt klingendes Weinen ausmachen. Nicolas trieb sein Pferd schon querfeldein, in die Richtung, aus der das Wimmern erklang. Nach ungefähr hundert Metern stieg er aus dem Sattel und eilte auf die Türe einer kleinen, halb zerfallenen Waldhütte zu. Daniel folgte ihm. Nun war das Weinen deutlich zu hören. Die Tür der Hütte hing schief in den Angeln und fiel polternd nach innen, als Nicolas ihr einen Stoß verpasste. Das Weinen verstummte abrupt, nur noch unterdrückte, angst­volle Atemzüge drangen an ihre empfindlichen Ohren.

Sie konnten die Angst riechen, die von der schmalen Mädchengestalt auf dem schmutzigen Stroh ausging. Außerdem roch es in der elenden Hütte nach Blut und sexueller Gewalt.

Die undurchdringliche Finsternis stellte für die Vampire keine Schwierigkeit dar. Sie erkannten jede Einzelheit. Ein Mädchen, das im Stroh kauerte und dessen schmale Hände an einen Pfahl gebunden waren. Entsetzt schaute das Kind zu ihnen hoch. Sie wagte kaum zu atmen vor Angst. ver­schmutztes, zerrissenes Kleid bedeckte kaum noch ihren schmächtigen Körper. Sie war geschlagen worden, geschlagen und missbraucht.

Nicolas stieß ein tiefes Grollen aus, als seine Sinne erfassten, was hier gesche­hen war. Schnell kniete er sich neben das Kind und befreite es von den Fesseln. Dabei sprach er beruhigend auf sie ein. Sein vampirischer Zauber wirkte zuverlässig, das Mädchen wurde sofort ruhiger. Nach kurzer Zeit schlief es tief und fest.

Daniel trat näher heran und blickte wie Nicolas auf das schlafende Mädchen. Ihren feinen Sinnen entging die schwere Verletzung der Kleinen nicht. Sie drohte zu verbluten. Nicolas schaute zu Daniel hoch. Sein Gesicht war eine grimmige Maske des Zorns.

„Diese Bestie!“ stieß er grollend hervor.

„Wie kann ein Mann nur so etwas Widerwärtiges tun?“ Daniel war ebenso entsetzt. „Was hat ein Kerl davon, wenn er so etwas tut? Sie ist doch noch so klein. Wie alt wird sie sein? Doch höchstens elf oder zwölf Jahre.“

„Gerade das stellt für Männer wie diesen Schänder ja den Reiz dar. Sie er­götzen sich an der Angst und den Qualen ihrer Opfer. Und da Kinder sich nicht wehren können, fühlen sie sich ihnen gegenüber besonders stark.“ Er hielt kurz inne und starrte sinnend zu ihm hoch. „Was sollen wir mit ihr machen, Daniel?“

Daniel war irritiert. Wieso fragte Nicolas ihn, was zu tun war? Er wusste doch genauso gut  wie er, dass er das Mädchen durch eine kleine Gabe seines Blutes heilen konnte.

„Was meinst du? Rette sie durch ein Schlückchen deines Blutes.“

„Und was passiert dann mit ihr? Sie wird diesen schrecklichen Vorfall nie in ihrem Leben vergessen können. Sie wird nie mehr Vertrauen zu einem Mann haben, vielleicht nie heiraten.“ Er schaute erneut voller Mitleid auf das Kind. Vielleicht wäre es das Beste für sie, ich würde sie töten.“

Entgeistert starrte Daniel den Freund an. War das sein Ernst? Wo blieb die Achtung des alten Vampirs vor dem Leben? Entschieden schüttelte er den Kopf. „Nein, das kannst du nicht tun. Sie ist doch noch so jung. Sie hat noch ihr ganzes Leben vor sich und wird gewiss darüber hinwegkommen, irgendwie. Die Zeit heilt alle Wunden. Das hast du selbst mir immer gepredigt.“

„Dann habe ich gelogen“, sagte Nicolas und schaute ihn jetzt so ernst an, dass Daniel erschrak. „Manche Dinge kann man nie vergessen. Noch nicht einmal wenn man vierhundertfünfzig Jahre alt wird...“

Natürlich wusste Daniel dass sein Freund von den Schrecken seiner eigenen Kindheit sprach. Von den unzähligen Vergewaltigungen, die er hatte ertragen müssen. Ein Stück weit konnte er Nicolas sogar verstehen. Dennoch konnte er nicht zulassen, dass der Freund das Mädchen tötete um ihr die schlimme Erin­nerung zu ersparen.

„Nicolas“, begann er sanft, „sie wird darüber hinwegkommen. Das Leben hält noch so viel für sie bereit. Gib ihr die Chance, es zu leben. Ich weiß, wir können das Geschehene nicht aus ihrem Gedächtnis löschen. Aber ich weiß auch, dass es möglich ist, ihren Geist ein wenig zu verwirren. Gib ihr von deinem Blut. Heile ihren Körper und versetze sie in Trance. Sicher ist es das Beste für sie, wenn sie einige Tage schläft. Wenn sie körperlich unversehrt und ohne Schmerzen aufwacht, meint sie vielleicht, alles sei ein böser Traum gewesen.“

Nicolas dachte über die eindringlichen Worte nach. Dann nickte er zögernd. „Vielleicht hast du ja Recht, Daniel. Ich reagiere manchmal etwas emotional in Situationen wie dieser. Natürlich habe ich nicht das Recht, ihr das Leben zu nehmen.“

Entschlossen biss er sich ins Handgelenk und hielt es an den Mund des Mädchens. Er schüttelte sie leicht, so dass sie erwachte. Sie kam nicht ganz zu sich, befolgte aber willenlos, was der Vampir sie wortlos hieß. Gehorsam trank sie das heilende Vampirblut.

Nicolas ließ sie zurück ins Stroh sinken und hielt sie fest, als sie von den Krämpfen geschüttelt wurde, die das Blut in ihr auslöste. Sie dauerten nicht lange an. Langsam, wie durch Zauberei verschwanden die Wunden vom Körper des Mädchens. Ob die verletzten Organe in ihrem Unterleib jedoch jemals normal funktionieren, sie jemals Kinder haben konnte, stand nicht in der Macht des Vampirs. Doch sie würde leben und litt keine Schmerzen mehr.

Die Kleider des Mädchens waren nicht mehr zu gebrauchen. Daniel riß einen großen Fetzen Stoff heraus und ging, um ihn an einem nahen Bach anzu­feuchten. Damit wusch er Blut und Schmutz von der Kleinen. Nicolas hüllte sie anschließend in seinen Umhang und nahm sie vor sich aufs Pferd. Sie schlief nun wieder tief und fest.

Langsam und schweigsam ritten sie auf die ersten Hütten zu. Ihr Vampir­instinkt sagte ihnen, wo das Kind hingehörte. Doch was sollten sie der Familie sagen, wenn sie ihnen ihre nackte schlafende Tochter übergaben? Der Zufall kam ihnen zu Hilfe. Hinter der Hütte, in der das Mädchen zu Hause war flatterte Wäsche auf der Leine. Darunter befanden sich auch  zwei Mäd­chenkleider. Sie hängten eines davon ab und zogen es dem Kind über. Dann klopften sie an die Türe.

Nicolas sprach zu den verstörten Eltern und erklärte ihnen, sie hätten die Kleine bewusstlos im Wald gefunden. Während er redete umnebelte er den Verstand der besorgten Leute. So kam ihnen alles logisch vor, was der Fremde ihnen erzählte. Sie nickten eifrig zu seinen Ausführungen, bedankten sich über­glücklich und brachten dann ihre schlafende Tochter ins Bett.

Daniel war erleichtert, dass die schlimme Geschichte für das Mädchen doch noch einen guten Ausgang gefunden hatte. Sie würde darüber hinwegkom­men, daran glaubte er fest. Er blickte zu Nicolas hinüber.

 „Was wirst du tun?“ fragte er knapp, doch er kannte die Antwort bereits. Nicolas schaute ihn ernst an und unbeugsame Härte stand in seinen eisblauen Augen.

„Ich werde den Kerl suchen und ihn töten!“ antwortete er leise und fügte grimmig hinzu: „Er wird sich wünschen, nie geboren worden zu sein.“

Diesmal versuchte Daniel gar nicht erst, seinen Freund zu beeinflussen. Zum einen würde sich Nicolas nicht umstimmen lassen. Zum anderen fand auch er, dass der Kinderschänder den Tod verdiente.

Mit sicherem Instinkt fanden sie die Hütte des Mannes. Sie lag weit abseits von den übrigen Häusern am Waldrand. Ohne viel Federlesens trat Nicolas die Türe ein und zog den schlaftrunkenen Mann aus seinem Bett, schleifte den sich verzweifelt Wehrenden unbarmherzig hinter sich her. Kurz darauf ver­schwand er mit ihm hinter dichten Büschen.

Daniel verzichtete darauf, ihnen zu folgen. Der Kerl gehörte Nicolas. Er würde ihn für seine Greueltat bitter büßen lassen. So fürsorglich Nicolas zu Menschen, die ihm etwas bedeuteten war, so gnadenlos und grausam konnte er zu Verbrechern sein. Daniel war froh, nicht in der Haut dieses Mannes zu stecken. Als wimmernde Töne an sein Ohr drangen, drehte er sich um und ging in das Innere der Hütte zurück, um zu warten.

Kapitel 3: Begegnung mit einem fremden Vampir

Sie ritten bereits seit einigen Nächten durch Bulgariens Landschaften. Seit dem Vorfall mit dem Mädchen gab sich Nicolas ungewohnt schweigsam und in sich gekehrt. Das Schicksal des Kindes beschäftigte ihn noch immer. 

Eine Zeitlang ließ Daniel ihn gewähren. Seit er Nicolas kannte, plagten den alten Vampir immer wieder einmal depressive Phasen. Er nannte es mit leiser Selbstironie seine russische Seele. Die melancholischen Anwandlungen schwan­­den meist nach ein, zwei schweigsamen Nächten, danach war Nicolas wieder ganz der Alte. Doch dieses Mal dauerte diese Phase besonders lange an und Daniel fand, nun war es genug.

„Bist du schon einmal hier gewesen?“ durchbrach seine Frage das endlose Schweigen.

Nicolas drehte ihm langsam das Gesicht zu. Sein Blick schien aus den Weiten längst vergangener Zeiten zurückzukehren. Er atmete tief durch, so als müsse er seine Gedanken sammeln, dann antwortete er abwesend: „Hier, in diesem Teil des Landes war ich noch nicht. Aber ich denke, wir müssten Sofia bald erreichen.“

Er warf Daniel einen schuldbewussten Blick zu. „Ich war wohl in den letzten Nächten wenig unterhaltsam gewesen? Sei mir bitte nicht böse deswegen. Aber diese schreckliche Geschichte hat mich mehr belastet, als ich mir selbst eingestehen wollte.“ Ein schwerer Seufzer entrang sich seiner Kehle. „Ich hoffe, dem Mädchen geht es gut.“

„Sie wird darüber hinwegkommen“, brummte Daniel zuversichtlich. „Du hast für sie getan, was du konntest. Sie ist körperlich wieder gesund und wird keine klare Erinnerung an das Geschehene haben. Und von dem Kerl droht ihr auch keine Gefahr mehr.“

„Nein, dafür habe ich gesorgt. Aber als ich sein Blut trank, schaute ich in seine Gedanken. Ich wollte wissen, was einen erwachsenen Mann dazu treibt, sich an einem wehrlosen Kind zu vergehen. Doch da schlug mir so viel Wahn­sinn entgegen, dass es mir davor graute, noch weiter vorzudringen. Das will bei einem uralten Vampir wie mir schon etwas heißen. Ich dachte immer, ich kenne alle Variationen der Abartigkeit. Die Kleine war nicht das erste Opfer dieses Kerls. Er ist erst vor kurzem in diese Gegend gekommen, weil er wegen ähnlicher Taten aus seinem Dorf fliehen musste.“

 Abermals seufzte er, doch jetzt klang es zufrieden. „Wie ich schon sagte, er wird nie mehr einem Kind wehtun.“

Sie hielten die Pferde an einem kleinen Bach an, um sie trinken zu lassen. Das Packpferd war in dieser Nacht ein paarmal gestolpert und Daniel hob jetzt nacheinander seine Hufe an, um sie zu kontrollieren. Wie er vermutete, war eines der Eisen locker. Sie mussten einen Schmied aufsuchen, wenn sie nicht riskieren wollten, dass das Pferd zu lahmen begann.

„Noch etwa eine Stunde, dann haben wir das nächste Dorf erreicht“, behaup­tete Nicolas und starrte in die Ferne. Daniel bewunderte einmal mehr seine Begabung, Menschenansammlungen über Kilometer hinweg zu orten. Diese Fähigkeit beherrschte er selbst nicht halb so gut. Genauso wie das mühelose Lesen seiner Gedanken, das ihm der alte Vampir jetzt demonstrierte. Nicolas beantwortete seine gedachten Fragen, als wären es ausgesprochene Worte.

„Das kommt alles mit den Jahren, Daniel. Im Verlauf unseres langen Lebens werden wir immer stärker. Unsere Sinne verfeinern sich, je älter wir werden. Denk doch mal an deine Anfänge als Vampir, wie schwer es dir damals ge­fallen ist, in die Gedanken der Menschen zu dringen. Und nun bereitet es dir längst keinerlei Schwierigkeiten mehr.“

Trotz der aufmunternden Worte bezweifelte Daniel stark, dass er diese vam­pirischen Talente jemals so gut beherrschen würde wie sein Vampirvater. Zwar gelang es ihm ebenfalls, in Nicolas‘ Gedanken zu lesen, aber er musste sich dabei stark konzentrieren und wenn es dem alten Vampir gefiel, seinen Geist zu verschließen, konnte er gar nicht darin eindringen. Ich werde nie so gut wie er, dachte er mürrisch.

„Doch, das wirst du, ganz bestimmt!“ meinte Nicolas geistesabwesend und schaute verdutzt, als Daniel lauthals lachte.

„Manchmal denke ich, mein Kopf ist wie ein aufgeschlagenes Buch für dich. Das frustriert mich schon ein bisschen. Denn dann komme ich mir nackt und bloß vor.“

Als er Nicolas‘ irritierten Blick auffing beeilte er sich hinzuzufügen: „Meist genieße ich es aber durchaus, nicht alles aussprechen zu müssen, was ich dir mitteilen möchte. Es ist großartig, einen Freund wie dich zu haben.“ Und das meinte er sehr ernst.

Tatsächlich erreichten sie das Dorf nach einer knappen Stunde. Doch zu dieser nächtlichen Stunde würde sich der Schmied sicher nicht erweichen lassen, das Pferd zu beschlagen. Sie waren wohl oder übel gezwungen, den Rest der Nacht hier zu verbringen.

Sie stellten das Packpferd im Stall der Schmiede unter und steuerten auf die einzige Herberge des Ortes zu. Sie war durch ein verblichenes Holzschild gekennzeichnet, das an einer rostigen Kette über dem Eingang baumelte. Bei jedem Windstoß quietschte es erbärmlich.

Auf ihr Klopfen öffnete ein mürrischer, verschlafener Wirt. Seine Miene wurde schnell freundlicher, als sie ihm ein paar Geldstücke in die von Gicht gekrümmten Finger drückten. Dienernd eilte der beleibte Mann vor ihnen die Treppe ins Dachgeschoß hinauf. Mit einer großartigen Geste öffnete er die Türe einer winzigen Stube.

„Leider habe ich nur noch diese eine Kammer frei. Just heute Abend stand eine Kutsche voller Reisender vor der Türe. Sie haben alle anderen Zimmer belegt.“

Besagte Kammer war nicht gerade sauber und die beiden Betten machten keinen sehr vertrauenerweckenden Eindruck. Sicher wimmelten sie von Ungeziefer. Doch das störte die Vampire nicht, weder Wanzen noch Flöhe wagten sich an einen Vampirkörper heran. Und auch der muffige Gestank, der davon zeugte, dass hier lange nicht gelüftet worden war, würde sie in ihrem Todesschlaf nicht stören. So nahmen sie das Zimmer.

Daniel beauftragte den Wirt damit, am Morgen den Schmied aufzusuchen und ihm den Auftrag zu geben, das Pferd neu zu beschlagen. Sie würden es aber erst am Abend abholen.

„Und weckt uns bitte nicht, guter Mann“, fügte Nicolas hinzu, wobei er dem Wirt zwingend in die Augen blickte. „Wir sind lange unterwegs gewesen und sehr müde. Sicher werden wir bis zum Abend schlafen.“ Nachdem ein weite­res Geldstück den Besitzer gewechselt hatte, verschwand der Wirt dienernd rückwärts durch die Tür.

Mit spitzen Fingern zupfte Daniel die verschlissene Decke vom Bett und ver­hängte damit das winzige Fenster. Durch die kleine Öffnung, die mit einer rissigen Ziegenhaut bespannt war, würde zwar kaum genug Licht ins Zimmer dringen um ihnen zu schaden. Aber sicher war sicher. Zwar vermutete Nico­las, die Sache mit dem Tageslicht würde wahrscheinlich überbewertet, doch sie wollten es beide nicht unbedingt ausprobieren.

Bis zum Morgengrauen blieb nicht mehr viel Zeit. Nicolas breitete angewidert seinen Umhang über das schmuddelige Laken auf seinem Bett und legte sich vorsichtig nieder. Wider Erwarten brach die Bettstatt nicht unter seinem langen, schweren Körper zusammen. Allerdings ragten seine Füße ein ganzes Stück über den Rand hinaus. Daniel, der nur um wenige Zentimeter kleiner war, als sein Freund, erging es nicht viel besser. Doch während des Tages waren sie nur zwei Leichen. Keine noch so unbequeme Unterlage konnte ihnen Beschwerden bereiten.

Am nächsten Abend beratschlagten sie, ob sie weiterreiten oder noch eine Nacht hierbleiben sollten. Sie waren zuvor durch menschenleeres Gebiet geritten und hatten seit zwei Nächten keine Nahrung gefunden. Eine dritte Nacht ohne Blut konnte ihnen gefährlich werden. Falls es in der Nähe keine Wegelagerer gab, die sie töten konnten, würden sie sich mit Blutspenden der Dorfbe­wohner zufrieden geben müssen.

Natürlich durften sie keinen der unschuldigen Dörfler töten. Das verbot ihnen ihr vampirischer Ehrenkodex. Nur Mörder und Schwerverbrecher zählten zu ihren Nahrungslieferanten. Einzige Ausnahmen bildeten Sterbende oder aber Menschen, die gewillt waren, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen. Gab es keines dieser potentiellen Opfer, so mussten sie sich mit dem wenigen Blut begnügen, das sie einem Menschen aussaugen konnten, ohne dabei sein Leben zu gefährden.

Die Wahrscheinlichkeit, hier, in dieser dünnbesiedelten Gegend auf eine Ver­brecherhorde zu stoßen war gering. Deshalb beschlossen sie, sich zu trennen und jeder für sich allein zu jagen.

Nicolas bestieg sein Pferd und ritt in die Nacht davon, während Daniel sich zu Fuß ins Dorf begab. Ziellos streifte er durch den Ort. Eine Straße gab es nicht, die Behausungen, meist Holzhütten mit angebauten Schuppen und Ställen, lagen weit voneinander entfernt und waren durch schmale Trampelpfade miteinander verbunden.

Angestrengt lauschte er in das Innere der Hütten, um ein eventuelles Opfer zu orten. Ein Todkranker wäre ihm am liebsten gewesen, alles in ihm schrie nach dem Akt des Tötens. Schon der bloße Gedanke daran ließ seine Reißzähne anwachsen. Er fuhr sich mit der Zunge über die todbringenden Waffen und spürte den Geschmack seines eigenen Blutes im Mund. Das verstärkte seine Gier noch mehr. Die Herzschläge der Hüttenbewohner drangen überlaut in seine sensiblen Ohren. Und da plötzlich war, was er suchte, der stolpernde Herzschlag eines Schwerkranken. Eile war geboten. Das unregelmäßige Schlagen wurde schwächer, drohte jeden Moment auszusetzen. Tot nützte ihm dieser Mensch nichts mehr. Er brauchte lebendiges Blut, um sich zu ernähren. Eilig steuerte er auf die Hütte zu, in der sich der Kranke befand. Noch wäh­rend er die ausgetretenen Holzstufen mit einem mächtigen Satz überwand, legte er seinen Bann über die übrigen Bewohner der Hütte und versetzte sie so in Schlaf.

Die Türe war nicht abgeschlossen, leise trat er ein. Das Innere der Hütte bestand nur aus einem einzigen Raum. Auf einer einfachen Strohmatratze lag der Sterbende, umringt von seinen schlafenden Angehörigen. Der alte Mann war schon in Agonie verfallen und bemerkte den Vampir nicht. Röchelnd kämpfte er seinen letzten, aussichtslosen Kampf.

In Daniel war nichts Menschliches, als er jetzt zu dem Alten trat. Er war jetzt nur noch der gierige Vampir, der nach dem Blut seines Opfers lechzte. Ohne zu zögern kniete er sich neben das Lager und zog den ausgemergelten Körper in seine Arme. Als er seine Lippen öffnete, schimmerten riesige Fangzähne im schummerigen Kerzenlicht auf. Der Alte hing schlaff in seinem Griff, sein Kopf war nach hinten gefallen. Nur noch schwach pulsierte die Schlagader unter der faltigen Haut.

Weder der Todesschweiß, der den Körper des Sterbenden bedeckte, noch der Geruch der Krankheit störten den Vampir. Zielsicher grub er seine Zähne in die Halsvene des alten Mannes und begann genüsslich zu saugen. Erst als er alles Leben aus seinem Opfer getrunken hatte, ließ er von ihm ab. Er blickte in das reglose Antlitz des Toten. Langsam bildeten sich seine Fangzähne zurück und seine dunklen Augen bekamen ihren menschlichen Ausdruck zurück.

Er beugte sich nochmals über den Hals seines Opfers und fuhr sacht mit der Zunge über die aufgeworfenen Wunden. Sie zogen sich wie durch Zauberei zusammen und verschwanden dann ganz.

Langsam ließ Daniel den Leichnam zurück auf das Lager gleiten und stand auf. Er musterte die schlafenden Angehörigen flüchtig und verließ dann leise die Hütte. Auf den Stufen verharrte er und nahm seinen Bann von der Familie. Im Weggehen hörte er das leise Schluchzen einer Frau, als sie den Tod des Großvaters bemerkte.

Sein gröbster Hunger war gestillt, dennoch hätte er nichts gegen eine zweite Blutmahlzeit einzuwenden gehabt. Suchend lauschte er in die Nacht. Doch nur gesunder Herzschlag war zu vernehmen.

Langsam schlenderte er weiter, hielt sich in Richtung der kleinen Bauernhöfe, die an einem gerodeten Hang des bewaldeten Berges angesiedelt waren. Obwohl es noch nicht sehr spät war, befand sich keine Menschenseele auf dem Dorfplatz, den er jetzt überquerte. Der ganze Ort wirkte wie ausge­storben. Nur ab und zu bewegte sich ein Vorhang und sekundenlang starrten ihn ängstliche Augen an. Er hätte schwören können, dass manche der heimlichen Beobachter schnell das Zeichen des Kreuzes machten als sie ihn sahen. Ein leichter Schauer lief ihm über den Rücken. Ahnten diese Leute, was er war? Das konnte doch nicht sein. Nur äußerst selten hatte ihn je ein Mensch als Vampir entlarvt. Warum gerade diese einfachen Bauern?

Kopfschüttelnd ging er weiter. Da hörte er das leise Geräusch einer sich öffnenden Türe und blickte in die Richtung. Eine klobige Hand erschien im Türspalt und winkte ihn heran. Er folgte dem Wink und stand gleich darauf vor einem älteren Mann, der hastig auf ihn einflüsterte.

Daniel hatte einige Schwierigkeiten, den Alten zu verstehen. Zwar war ihm die Landessprache nicht mehr ganz fremd, wie versprochen hatte ihm Nicolas unterwegs einen Schnellkurs erteilt. Doch die Bewohner der kleinen Dörfer sprachen oft einen so grauenhaften Dialekt, dass er kaum ein Wort verstand. So war es auch bei diesem Mann. Dass er aus fast zahnlosem Mund nuschelte, er­schwerte das Verständnis noch mehr.

Daniel enträtselte jedoch mühelos aus den Gesten, dass ihn der Alte vor etwas warnen wollte. Er verstand bloß nicht wovor oder vor wem. Jetzt deutete der Bauer auf den Mond, der in voller Pracht am wolkenlosen Himmel stand und bekreuzigte sich mehrmals. Dann, als der Fremde immer noch nicht begriff, zeigte der Mann auf sein lückenhaftes Gebiss und deutete mit gekrümmten Zeigefingern lange Reißzähne an.

Daniel hätte beinahe laut gelacht, als ihm endlich dämmerte, wovor der Alte ihn warnte. Aber er bezähmte seine aufkeimende Heiterkeit und forschte, neugierig geworden, intensiver im Gehirn seines Gegenübers. Und darin sah er, dass er richtig lag. Der alte Mann warnte ihn tatsächlich vor einem Art­genossen, der hier sein Unwesen trieb.

Sollte es in diesem Dorf wirklich einen einheimischen Vampir geben? Noch dazu einen, der den Menschen als solcher bekannt war und von ihnen ge­fürchtet wurde? Das war unglaublich. Dieser mysteriösen Sache wollte er sofort auf den Grund gehen.

Schnell bedankte er sich bei dem Mann für dessen Warnung und eilte davon. Hinter sich hörte er die Tür zuschlagen. Sinnend glitt sein Blick über die weitverzweigten Hütten. Wo hielt sich dieser Vampir auf, den alle zu fürchten schienen? Und warum fürchteten sie ihn? Fragen über Fragen. Hoffentlich kommt Nicolas bald von der Jagd zurück, dachte er. Im Gegensatz zu ihm, der noch nie einem fremden Vampir begegnet war, wusste sein Freund sicher über den Umgang mit Artgenossen Bescheid.

Nicolas ließ nicht lange auf sich warten. Er stieß vor der Herberge auf Daniel und der berichtete ihm sogleich von dem fremden Blutsauger.

„Wir werden ihn suchen“, erklärte Nicolas spontan. „Wenn er tatsächlich in der Nähe ist, so orten wir irgendwann seine Aura. Bisher habe ich allerdings noch nichts wahrgenommen.“

Daniel sattelte eilig sein Pferd und sie ritten aus dem Dorf. Nicolas steuerte zuerst den kleinen Dorffriedhof an, der weit außerhalb der Ansiedlung lag. „Warum ist der Friedhof so weit vom Dorf entfernt?“ fragte Daniel. „Meinst du wirklich, er haust dort?“ Bei dem Gedanken zog er unbehaglich die Schul­tern hoch. Das war doch kein passender Aufenthaltsort für einen Vampir.

„Ich habe so eine Ahnung, dass wir ihn dort finden. Die Menschen hier sind sehr abergläubisch. Sie befürchten, von den Geistern ihrer eigenen Ver­storbenen heimgesucht zu werden. Deshalb begraben sie ihre Toten in sicherer Entfernung vom Dorf. Und deshalb werden wir vermutlich auch den Vampir hier finden. Sicher stammt er aus der Gegend und ist mit diesem ganzen Aberglauben aufgewachsen. Er weiß vielleicht nicht einmal, dass es Vampire wie uns gibt. Mach dich auf eine Überraschung gefasst.“

„Aber er wird uns doch nicht angreifen, oder...?“ Daniel konnte seine leichte Sorge nicht verhehlen. Doch Nicolas winkte unbekümmert ab.

„Wohl kaum, eher ist es möglich, dass er sich vor uns fürchtet und zu fliehen versucht. Da..., spürst du es auch? Er ist hier irgendwo in der Nähe.“

Auch Daniel spürte die unbekannte Vibration, die ganz anders als die von Nicolas war. Der fremde Vampir musste ihre Anwesenheit ebenfalls fühlen. Würde er sich zeigen?

Vorerst sah es nicht danach aus. Sie stiegen vor der niedrigen Friedhofsmauer aus den Sätteln, banden die Pferde an und gingen langsam durch das Tor. Der Friedhof war überraschend groß, vermutlich lagen hier auch die Toten der Nachbardörfer begraben. Zwischen vielen einfachen Grabstätten, die durch gewöhnliche Holzkreuze oder auch nur durch Totenbretter gekennzeichnet waren, befanden sich einige wenige Grüfte, die allesamt Anzeichen von Ver­fall trugen. Sicher stammten sie von adeligen Familien, die es hier schon lange nicht mehr gab. In diesen alten Grabstätten war seit Jahren niemand mehr beigesetzt worden.

 Nicolas steuerte zielstrebig die erste Gruft an und spähte durch das rostige Gitter. Dann ging er weiter zur nächsten. Doch erst die dritte zeigte Anzeichen, dass sie mehr barg als alte Särge mit morschen Knochen darin. Das uralte, rostige Schloss war aufgebrochen, das Gitter nur angelehnt. Doch die Gruft war leer, jedenfalls auf den ersten Blick.

Ihren scharfen Augen entgingen jedoch nicht die schwachen Schleifspuren an einem der Sarkophage. Und die fremde Vibration war hier deutlich zu spüren. Ohne Zögern packte Nicolas den zentnerschweren Steindeckel und schob ihn ohne sichtliche Anstrengung zur Seite. Darunter lag ein dunkel gekleideter Körper. Schreckensstarre Augen blickten zu ihnen auf. Schnell sagte Nicolas ein paar beruhigende Worte und der fremde Vampir entspannte sich etwas. Unsicher erhob er sich und stieg aus seinem engen Gefängnis.

Daniel musste sich bemühen, ihn nicht gar zu sehr anzustarren. Aber der Fremde sah wirklich ungewöhnlich aus. Seine Kleidung starrte vor Schmutz und strömte einen unangenehmen Modergeruch aus. Außerdem war sie so zerschlissen und fadenscheinig, dass an manchen Stellen die Haut durchschim­merte. Daniel hätte nicht einmal seinen Hunden zugemutet, auf solchen Fetzen zu lagern. Was war das nur für ein Vampir, der so wenig auf sein Äußeres achtete?

Er kannte bisher nur zwei Artgenossen. Nicolas und Henry, den versnobten Pariser Vampir. Doch er wusste, wenn es ein Markenzeichen für Vampire gäbe, so wäre es ihre perfekte Kleidung und ihr gepflegtes Äußeres. Er selbst und auch Nicolas besaßen eine äußerst umfassende Garderobe, sozusagen für jeden Anlass die passende Bekleidung. Das meiste, was ihr Packpferd zu tragen hatte, waren  Kleidungsstücke und Schuhwerk. Und wenn er gar an Henry dachte, so war der sicher der eitelste Untote, den es gab. Er machte jede, noch so auffällige Modeentwicklung begeistert mit. So verschieden sie auch sonst waren, eines hatten alle Vampire gemeinsam: Sie sahen  stets verführerisch und wie aus dem Ei gepellt aus.

Deshalb konnte er gar nicht glauben, dass dieses schmutzige Subjekt in der ärmlichen Bekleidung tatsächlich ein Vampir sein sollte. Nicolas schienen ähnliche Gedanken zu beherrschen, auch er musterte den Fremden mit ungläubigem Blick. Doch er hatte sich schnell wieder in der Gewalt und stellte sein gewohnt freundliches Gesicht zur Schau. Er reichte dem anderen die Hand. Dabei stellte er sich und Daniel vor. Zögernd blickte der Fremde auf die dargebotene Hand. Fast schüchtern ergriff er sie und murmelte ebenfalls einen Namen.

„Darius.“

Sie verließen die Gruft, nahmen Darius in ihre Mitte und führten ihn zu einem alten Kastanienbaum, der den Mittelpunkt des Friedhofes bildete. Um den mächtigen Stamm herum war eine Holzbank errichtet worden. Darauf ließen sie sich nieder.

Darius schaute noch immer unglücklich. Die beiden so selbstbewusst auftre­tenden fremden Vampire waren ihm ganz offensichtlich nicht geheuer. Ver­haltene Angst stand in seinem Blick.

Nicolas legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm und sprach ihn erneut an. „Du brauchst dich nicht vor uns zu fürchten. Wir werden dir nichts tun. Wohnst du hier auf dem Friedhof?“

Darius nickte zurückhaltend. „Schon seit ungefähr drei Jahren, solange ich ein Vampir bin. Wo kommt ihr her? Ich habe bisher keinen von unserer Art getroffen. Ich dachte, ich wäre der einzige.“

Sie erklärten ihm ausführlich, woher sie kamen und was ihr Ziel war. Lang­sam verlor Darius seine Scheu vor ihnen. Er wurde wissbegierig.

„Wir können uns also tatsächlich woanders hinbegeben, müssen nicht für ewig in der Umgebung bleiben, in der wir geschaffen wurden?“

Er bemerkte die irritierten Blicke und beeilte sich, zu erklären. „Ich muss euch schrecklich dumm und ungebildet vorkommen. Aber bisher habe ich keinen anderen Vampir getroffen, der mir etwas beibringen konnte. Ich musste mich die ganzen Jahre alleine durchschlagen. Das ist oft nicht einfach gewesen.“

„Aber was ist mit dem Vampir, der dich geschaffen hat? Wo ist er? Es wäre seine Pflicht gewesen, dich ins Vampirdasein einzuführen“, warf jetzt Daniel erregt ein. Für ihn war es unmöglich zu glauben, dass ein Vampir seinen Zögling verließ, ohne ihm zuvor all das beizubringen, was er selbst wusste. So war es bei Nicolas und ihm gewesen. Der alte Vampir hatte ihn äußerst gewissenhaft ausgebildet. Diese Ausbildung war sehr umfassend und langwierig gewesen. Sie hatte zum Ziel gehabt, aus ihm einen Vampir zu machen, der sich jederzeit und überall behaupten konnte.

Darius seufzte schwer, dann gab er eine unglaublich klingende Erklärung: „Dimitri, so hieß der Vampir, der mich geschaffen hatte, wurde leider kurz nach meiner Umwandlung von Vampirjägern umgebracht. Ich konnte nur mit Mühe entfliehen und verstecke mich seitdem hier auf dem Friedhof.“

„Getötet?“ fragte Nicolas ungläubig. „Das kann doch nicht sein. Keinem Menschen gelingt es, einen Vampir zu töten. Bist du sicher, dass er tatsächlich tot ist?“

Darius nickte unglücklich. „Jedenfalls habe ich ihn seit jener Zeit nicht mehr gesehen und auch nicht mehr gespürt. Er muss also tot sein. Ich glaube nicht, dass es ihm gelang zu entfliehen. Denn dann wäre er bestimmt zu mir zurück­gekehrt. Er hätte mich nie aus freien Stücken im Stich gelassen.“

Bei diesen Worten traten ihm Tränen in die Augen, die er schnell wegwischte. Verschmierte Spuren bedeckten sein schmutziges Gesicht und ließen ihn noch mehr wie einen verwahrlosten Gassenjungen aussehen. Plötzlich tat er Daniel unendlich leid. Auch Nicolas räusperte sich verstohlen. Dann fragte er: „Möchtest du uns deine Geschichte erzählen, Darius? Wir würden sie gerne hören.“

Das wollte Darius sehr gerne und voller Eifer begann er zu berichten: „Ich traf auf Dimit­ri als ich ungefähr zehn Jahre alt war. Meine Eltern habe ich nie gekannt, zumindest habe ich keine bewusste Erinnerung an sie. Sie haben mich wohl ausgesetzt, als ich vier oder fünf war. Vielleicht sind sie auch gestorben, ich weiß es nicht. Jedenfalls lebte ich bei verschiedenen Familien des Dorfes, doch nie für lange. Immer wieder wurde ich fortgeschickt, weitergereicht. Die Leute hier sind meist arm, sie können ein Waisenkind nicht lange durch­füttern. Dann traf ich Dimitri und er nahm mich bei sich auf. Er besitzt ein Haus abseits des Dorfes. Keine schäbige Hütte wie die meisten hier, sondern ein Haus, aus Stein gebaut.

Die ersten Jahre fiel mir gar nicht auf, dass er anders war als gewöhnliche Menschen. Als ich älter wurde, klärte er mich dann auf. Ich wurde sein Freund und Gefährte. Irgendwann erwachte in mir der Wunsch, auch ein Vampir zu werden und endlich vor drei Jahren erfüllte sich dieser Wunsch.

Ich war erst wenige Nächte ein Vampir, als das Unheil über uns hereinbrach. Da kamen ein paar Männer ins Dorf, die es sich, wie sie behaupteten, zur Aufgabe gemacht haben, die Welt von Vampiren zu befreien. Sie hetzten die Dorfbewohner auf, die sich zuvor nie bedroht gefühlt hatten. Und plötzlich kam Dimitri allen verdächtig vor. Obwohl er nie einem der Leute ein Haar gekrümmt hatte, fürchteten sie sich plötzlich vor ihm. Von meiner Umwand­lung ahnten sie - Gott sei Dank - nichts. Sie wollten mich sogar aus Dimitris Klauen befreien. Als sie sein Haus stürmten, flohen wir. Sie verfolgten uns mit Hunden. Wir trennten uns im Morgengrauen, suchten weit auseinander gelegene Schlafplätze auf. Eines Tages fanden sie Dimitri durch Zufall. Sie zerrten ihn ins Tageslicht, trieben einen Pflock in sein Herz und übergossen ihn mit Weihwasser. Das hat mir zumindest einige Nächte später ein Dorfbewohner erzählt, den ich zufällig traf und ausfragte. Doch Dimitris Körper löste sich nicht auf, wie sie es sich erhofft hatten. Da hat der Anführer dieser Vampirjäger befohlen, ihn in einen Blei-Sarg zu legen, der mit Gold überzogen war. Sie haben ihn mitsamt diesem Sarg auf ein Fuhrwerk geladen. Dann haben sie ihn mitgenommen. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.

Ich musste mich irgendwie allein durchschlagen. In den wenigen Nächten, die mir mit Dimitri vergönnt waren, hat er mir natürlich einiges beigebracht. Aber es war nicht genug. Ich wäre am Anfang fast verhungert, weil ich nicht wusste, wie man alleine jagt. Ich konnte meine Opfer nicht mit dem vampirischen Bann belegen und fing nur ab und zu mal einen Verbrecher. Wohl auch mehr durch Zufall oder mit Hilfe meiner überlegenen Kraft. Die meisten entkamen mir. Hier in unserem Dorf gibt es sowieso keine wirklich bösen Menschen. Und weit außerhalb zu jagen traute ich mich einfach nicht.

So ging ich daran, meine Nahrung in den umliegenden Dörfern zu suchen. Ich weiß, das ist verboten, aber was sollte ich tun? Ich hungerte, so lange ich konnte und suchte mir möglichst Alte oder Kranke aus, um mein Gewissen zu entlasten. Aber bald war ich im Umkreis als Blutsauger bekannt und gefürchtet. Zu meinem Glück haben die Leute sehr große Angst vor mir. Sonst hätten sie mich bestimmt schon während des Tages aus meiner Gruft gezogen. Da die Sache mit dem Holzpflock bei Dimitri nicht gewirkt hat, wagten sie nicht, es bei mir ebenfalls auszu­pro­bieren. Sie haben Angst vor meiner Rache.“

Er lachte bitter auf. „Dabei weiß ich nicht, wer mehr Angst hat: Sie vor mir - oder ich vor ihnen.“

Erneut seufzte er schwer und blickte sie mit verlorenem Gesichtsausdruck an. „So habe ich mir das Leben als Vampir ganz gewiss nicht vorgestellt. Aber leider sehe ich mich nicht in der Lage, es zu ändern.“

Nicolas räusperte sich erneut, dann sah er Daniel kurz und prüfend an. Sie einigten sich stillschweigend und der alte Vampir schaute Darius fest in die Augen.

„Was hältst du davon, dich uns eine Zeitlang anzuschließen? Wir können dir alles beibringen, was dich Dimitri nicht mehr lehren konnte. Allerdings musst du bereit sein, von hier wegzugehen. Denn wir reisen morgen weiter.“

Auffordernd ruhten seine hellen Augen auf Darius‘ Gesicht, warteten auf eine Entscheidung. Der junge Vampir brauchte nicht lange zu überlegen. Natürlich wollte er mitkommen. Zum ersten Mal glomm Hoffnung in seinen braunen Augen auf.

Als das geklärt war, kam Nicolas sofort auf das Wesentliche zu sprechen. Er wollte gleich morgen Abend ein Pferd für Darius kaufen. Und dann brauchte der junge Vampir dringend ein Bad und ordentliche Kleidung.

Das mit dem Bad war kein Problem, in der Nähe des Friedhofes befand sich ein kleiner Weiher, in dem sich Darius waschen konnte. Doch stellte es sehr wohl ein Problem dar, ihm auf die Schnelle etwas Passendes zum Anziehen zu besorgen. Weder Daniels noch Nicolas‘ Garderobe würden dem Jungvampir passen. Zwar war er nicht gerade klein, erreichte aber lange nicht ihre unge­wöhnliche Größe. Guter Rat war teuer, denn so konnten sie Darius auf keinen Fall mitnehmen. Schließlich kam Daniel doch noch eine gute Idee.

„Wir können zwei Fliegen mit einer Klatsche schlagen“, meinte er begeistert. „Nämlich, indem wir ins Dorf gehen und einen Teil von unserer Kleidung von einer Schneiderin umändern lassen. Das dürfte keine große Sache sein, schließlich muss nur die Arm- und Beinlänge gekürzt werden. Und Darius kann dabei gleich lernen, wie man den Willen der Menschen beeinflusst.“

Sofort setzten sie ihren Plan in die Tat um. Darius kannte im Dorf eine Frau, die besonders gut nähen konnte und führte sie zu deren Hütte. Zuvor hatten die Vampire ein paar ihrer Kleidungsstücke ausgesucht die ihrem neuen Gefährten einigermaßen passen würden.

Darius war aufgeregt wie ein Kind und etwas unsicher, ob ihr Plan klappen würde. Doch als die alte Frau ohne zu murren an die Türe kam und sie einließ, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt, war er erleichtert. Kurz darauf saß die Alte im Nachtgewand und mit einer bauschigen Schlafhaube auf dem Kopf da und nähte, als gälte es einen Preis zu erringen. Schon nach einer Stunde waren mehrere Hosen und Jacken auf Darius‘ Größe verkürzt. Nicolas legte der fleißigen alten Frau einen angemessenen Betrag auf den Tisch und schickte sie wieder ins Bett. Sicher würde sie am nächsten Morgen rätseln, woher das Geld kam und wer der großzügige Spender war.

Sie gingen gemeinsam den Weg zum Friedhof zurück. Darius zog seine alten Fetzen aus und wusch sich im Teich den Schmutz ab. Auch seine Haare vergaß er nicht. Dann zog er einen Teil seiner neuen Kleider an und sah jetzt plötzlich wie ein richtiger Vampir aus. Daniel und Nicolas registrierten es mit Wohlgefallen.

Viel Zeit zum Plaudern blieb ihnen nicht mehr, der Morgen nahte unauf­halt­sam. Zum letzten Mal zog sich der junge Vampir in den ungemütlichen Sarkophag zurück um zu schlafen. Daniel und Nicolas schlenderten in die Herberge zurück um sich ebenfalls auf ihren Todesschlaf vorzubereiten.

Kapitel 4: Wegelagerer

Darius war nicht mehr wiederzuerkennen, als sie sich am nächsten Abend zur Weiterreise bereitmachten. Er bewunderte das Pferd, das Nicolas dem Huf­schmied abgekauft hatte. Seit seiner gewaltsamen Trennung von Dimitri hatte er kein Pferd mehr besessen. Eigentlich hatte er seither gar nichts mehr beses­sen. Das erklärte auch den grauenhaften Zustand seiner Kleidung. Gleich nach seinem Erwachen am Abend verbrannte er die Lumpen.

Einige der Bewohner starrten ihnen vom Dorfplatz aus nach, als sie zu dritt aus dem Ort ritten. Dabei bekreuzigten sie sich, oder machten das Zeichen ge­gen den bösen Blick. Drei besonders Mutige liefen ihnen mit drohend erhobe­nen Kreuzen, die aus den zusammengebundenen Zweigen von Ebereschen gefertigt waren, hinterher. Daniel konnte über so viel Aberglauben nur den Kopf schütteln. Nichts von den Ritualen hätte den braven Dörflern etwas ge­nützt, wären die Vampire tatsächlich auf ihr Blut aus gewesen. Darius glaubte anscheinend fest an die Wirkung dieser Geisterbeschwörung. Er grub seinem Pferd die Fersen in die Weichen und stob, so schnell es ihn trug, davon. In si­che­rer Entfernung hielt er an und wartete auf seine neuen Gefährten.

„Er muss wirklich noch sehr viel lernen“, murmelte Nicolas und verdrehte theatralisch die Augen. „Aber so sind sie, die Vampire aus Transsylvanien. Voller Aberglaube, genau wie die Bewohner der Dörfer. Na ja, es ist ja auch kein Wunder, die meisten stammen ja von hier und wurden mit diesen Geschichten groß. Sie haben es sozusagen mit der Muttermilch eingesogen.“

„Wie ist es in deiner Heimat? Sind die Menschen dort auch so abergläubisch?“ woll­te Daniel wissen. Nicolas nickte. „Früher war es so. Und ich denke nicht, dass sich daran viel geändert hat.“

„Und die Vampire?“

„Allzu viele kenne ich nicht. Eigentlich nur zwei. Cyrill, einen uralten Vampir, der ursprünglich aus Griechenland kommt. Und Wladimir. Die beiden haben mir all das über unsere Art beigebracht, was ich dich ebenfalls lehrte.“

Sie erreichten den verängstigten Darius, der ihnen verwirrt entgegenstarrte. Es wunderte ihn sehr, dass der Fluch der Dorfbewohner keine Wirkung bei seinen neuen Freunden zeigte. Er wagte jedoch nicht, sie zu fragen. Es würde wohl noch einige Nächte dauern, bis er voll und ganz Zutrauen zu seinen künftigen Weggefährten gefasst hatte.

Daniel und Nicolas waren übereingekommen, dass hauptsächlich Nicolas die Unterweisung des Jungvampirs übernehmen würde. Er eignete sich bestens dafür, da er über die größere Erfahrung und über die notwendige Geduld verfügte. Jetzt nahm er Darius sogleich unter seine Fittiche, um ihm die erste Lektion zu erteilen.

Daniel führte das Packpferd am Zügel und ritt in kurzem Abstand hinter den beiden her. Er grübelte über das eines Vampirs unwürdige Dasein nach, das Darius bislang hatte führen müssen. Und vor allem beschäftigte ihn Dimitris ungewisses Schicksal. Er glaubte genauso wenig wie Nicolas, dass der alte Vampir tot war. Darius‘ Erzählung von dem mit Gold überzogenen Blei-Sarg kam ihm in den Sinn und ließen ihn erschauern. Wenn Dimitri tatsächlich in solch einem Sarg gefangen war, wäre das für ihn schlimmer als der Tod.

Sein Blick heftete sich auf Darius‘ und Nicolas‘ Rücken. Wie unterschiedlich sie doch waren. Und dennoch war da etwas Gleiches, das sie miteinander teilten. Sie bewegten sich in der gleichen geschmeidigen, ja raubtierhaften Art, die wohl allen Vampiren eigen war.

Der junge Vampir hatte sich, jetzt da er sauber und adrett gekleidet war, zum perfekten Geschöpf der Nacht gemausert. Er war etwas über mittelgroß und schlank. Seine nackenlangen Haare glänzten nun, gewaschen und gekämmt, in sattem Dunkelbraun. Die feinen Gesichtszüge schienen jungenhaft weich. Ohne all den Dreck sah er wie ein hübscher, junger Mann von höchstens zwanzig Jahren aus. Das war für einen Vampir ein ziemlich jugendliches Alter. Daniel nahm sich vor, ihn bei Gelegenheit zu fragen, warum er in solch jungen Jahren zum Vampir wurde.

Darius lauschte konzentriert den Ausführungen seines neuen Lehrmeisters und kam Daniel dabei ganz wie ein gelehriger und wissensdurstiger Schüler vor. Nicolas überragte seinen Schützling um mehr als Haupteslänge. Doch es war nicht nur seine Größe, die ihn aus jeder Menge hervorhob. Und auch nicht sein ungewöhnlich gutes Aussehen, mit dem er, wie Daniel wusste, nicht nur Frauen betörte. Es war vor allem seine charismatische Ausstrahlung, die jeden Betrachter in seinen Bann zog.

Seine Überlegungen kamen jäh zum Stillstand, als ein bestens vertrautes Gefühl urplötzlich seine Sinne überfiel: Blutdurst. Auch seine beiden Gefährten hatten, ebenso wie er selbst, abrupt ihre Pferde gezügelt und witter­ten wie Wölfe in die nächtliche Stille.

Die Herzschläge mehrerer Menschen sandten ihr Echo in die sensiblen Vampirohren. Und nun, da sie sich darauf konzentrierten, war auch das Flüstern ihrer Stimmen zu hören. Hinter dichten Büschen lauerten Wegelagerer, die sich durch einen gemeinen Überfall aus dem Hinterhalt eine fette Beute erhofften. Dass sie soeben selbst zur Beute erkoren wurden, ahnten sie nicht.