Das Geheimnis des Hexers - Gerdi. M. Büttner - E-Book

Das Geheimnis des Hexers E-Book

Gerdi M. Büttner

4,8

Beschreibung

Rothenburg, anno 1767. Der verwaiste 18-jährige Knecht Simon verlässt heimlich Burg Hohenstein und macht sich auf den Weg nach Aschaffenburg, um seine große Liebe Nelia, die Tochter des Freiherrn zu Kilchenstein, aus dem Kloster zu befreien. Kaum dort angekommen droht sein Plan bereits zu scheitern. In seiner Notlage lernt er den Arzt Adrian kennen, der wegen seiner unkonventionellen Behandlungsmethoden auch "Der Hexer" genannt wird. Adrian bietet ihm seine Hilfe an. Unterdessen sucht Simons Vormund, der Freiherr zu Kilchenstein, verzweifelt nach seinem Mündel. Denn der ahnungslose Simon ist in Wahrheit der rechtmäßige Erbe von Burg Hohenstein. An seinem 21. Geburtstag soll er sein Erbe antreten. Hunold zu Kilchenstein will Burg und Ländereien schon lange in seinen Besitz bringen. Aber ohne Simon geht sein Plan nicht auf. Mit Adrians Hilfe entschlüsselt Simon das Rätsel seiner Herkunft und kommt auch dem Vorhaben seines Vormundes auf die Schliche. Doch der will so kurz vor dem Ziel nicht aufgeben und verstrickt Adrian und Simon in ein Lügen- und Intrigenspiel, dass den Hexer fast das Leben kostet…

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 504

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
13
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Das Geheimnis des Hexers

Prolog

Kapitel 01: Intrigen

Kapitel 02: Der Talisman

Kapitel 03: Nelia

Kapitel 04: Auf dem Weg nach Aschaffenburg

Kapitel 05: Ein unfreiwilliges Bad im Main

Kapitel 06: Adrian, der Hexer

Kapitel 07:  Das Angebot des Hexers

Kapitel 08: Im Kloster

Kapitel 09: Adrians Geheimnis

Kapitel 10: Schloss Wolffhardt

Kapitel 11: Aussprache zwischen Vater und Sohn

Kapitel 12: Friedrich soll hängen

Kapitel 13: Die Obduktion

Kapitel 14: Besuch vom Freiherrn

Kapitel 15: Ausflug nach Rothenburg

Kapitel 16: Gespräch mit Herzog Albrecht

Kapitel 17: Heirat und Kerker

Kapitel 18: Der Prozess

Kapitel 19: Schwere Beschuldigung

Kapitel 20: Eine komplizierte Operation

Kapitel 21: Die Falle

Kapitel 22: Ein perfider Plan

Kapitel 23: In tödlicher Gefahr

Kapitel 24: Hexenzauber

Kapitel 25: Hilferuf aus der Vergangenheit

Impressum

Das Geheimnis des Hexers

Trilogie / Teil 1

Prolog

Die schlanke, dunkel gekleidete Gestalt schlich durch den unbeleuchteten Gang und fand auf Anhieb die Tür des Arbeitszimmers. Bevor sie den Schlüssel ins Schloss schob lauschte sie nochmals nach oben. Aus den Schlafgemächern der Hausherrin waren zwar leise aber deutlich streitende Stimmen zu vernehmen. Das war gut, solange der Freiherr von Kilchenstein sich mit seiner schwerkranken Frau stritt, bestand keine Gefahr von ihm überrascht zu werden. Das Personal lag schon lange in den Betten, auch von dieser Seite drohte keine Entdeckung.

Das gut geölte Schloss gab nur ein leises Klicken von sich, als sich der Schlüssel drehte. Die offensichtlich weibliche Gestalt schlüpfte durch den entstehenden Spalt ins Zimmer und schloss die Tür geräuschlos hinter sich. Ein makelloser, von keiner Wolke getrübter Vollmond blickte durch die Butzenscheiben des hohen Fensters und tauchte den Raum in silbrige Helligkeit. Das milchige Licht reichte für die Zwecke der Frau aus. Sie schien sich bestens im Zimmer auszukennen.

Mit zielstrebigen Schritten ging sie auf den wertvollen, dunkel gebeizten Schreibtisch zu und öffnete mit einem zweiten, kleineren Schlüssel ein verborgenes Fach. Schmale Hände holten eine, aus feinem Kalbsleder gefertigte Mappe heraus auf deren Vorderseite das Familienwappen der Familie zu Hohenberger eingeprägt war. Die Frau durchblätterte rasch die darin enthaltenen Dokumente und legte vier davon auf die polierte Schreibtisch­platte. Die restlichen ordnete sie wieder fein säuberlich in die Mappe und legte diese an ihren Platz zurück. Dann schnappte das Schloss des Geheimfaches zu.

Die Gestalt rollte die Dokumente zu einer lockeren Rolle zusammen und streifte ein Band darüber. Dann verschwanden die Papiere in den üppigen Falten ihres weiten Rockes. Die Frau lief leichtfüßig zur Tür und öffnete sie einen Spalt, lauschte in den dunklen Flur. Noch immer ertönten die Stimmen aus dem oberen Stockwerk.

Zufrieden lächelnd glitt sie aus dem Zimmer, schloss sorgfältig hinter sich ab und verschwand dann ungesehen in der Finsternis des langen Burgganges.

Kapitel 01: Intrigen

„Nun beeil dich, Simon. Deine Mutter verlangt nach dir. Wasche dir die Hände und das Gesicht und ziehe dir deine neue Samtjacke an.“ Edda, die Zofe blickte ungeduldig auf ihren kleinen Schützling herab. Sie war im Gegensatz zu sonst heute sehr nervös und fahrig. In ihrem Gesicht spiegelte sich mühsam unterdrückte Traurigkeit wieder.

Der fünfjährige Simon konnte nicht begreifen, was an diesem Tag los war. Die Hausdiener und Mägde tuschelten schon den ganzen Morgen. Ihre Gesichter waren ebenfalls unge­wohnt ernst. Wenn er einem der Bediensteten begegnete, so trafen ihn bedauernde Blicke oder ihm wurde mitleidig übers Haar gestreichelt. Aber er wusste nicht wieso sich alle so komisch benahmen.

Edda griff nach einer weichen Bürste und fuhr ihm damit über die dunklen Locken. Nach einem letzten kritischen Blick schien sie zufrieden mit seinem Äußeren. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn die breite Marmortreppe hinauf. Dort oben lagen die Gemächer sei­ner Mutter und dahinter die seines Stiefvaters. In diese durfte er nie hinein, sein strenger Stiefvater erlaubte nicht einmal seinen eigenen Kindern, ihn dort aufzusuchen.

Aber Simon hielt sich sowieso viel lieber in den hellen, freundlichen Räumen seiner Mutter auf. Nur schade fand er, dass sie in letzter Zeit nur noch im Bett lag. Früher war es viel lustiger gewesen, als sie noch gemeinsam mit ihm in den Zimmern Verstecken oder andere aufregende Spiele gespielt hatte. Das war aber schon so lange her, dass er manchmal Mühe hatte, sich daran zu erinnern.

In der letzten Zeit war seine Mutter nicht mehr in der Lage gewesen, ihr Bett zu verlassen. Das konnte sie aber nicht davon abhalten, sich weiterhin intensiv um ihr einziges Kind zu kümmern. Sie las Simon viele spannende Geschichten vor und vor einiger Zeit hatte sie sogar damit begonnen, ihm lesen und schreiben beizubringen. Als er bemerkte, wieviel Freude ihr seine Fortschritte machten, hatte er seinen Eifer verdoppelt. Er war gespannt, was sie wohl zu dem Bild sagen würde, dass er heute für sie gemalt hatte. Mit noch etwas ungelenken Buch­staben hatte er  für meine liebste Frau Mama darunter geschrieben. Als er nun hinter Edda das Schlafgemach betrat, hielt er das Bild hinter seinem Rücken versteckt. Es sollte eine Überraschung werden.

Die Mutter lag schmal und mit wächsernem Gesicht in den dicken Kissen. Sie schien zu schlafen, öffnete aber mühsam die Augen als Edda leise die Türe schloss. Eine Weile starrte sie ausdruckslos auf ihren Sohn und die Zofe. Dann glitt Erkennen über ihre verhärmten Züge und sie versuchte vergeblich, sich aufzusetzen.

„Wartet, Frau Gräfin. Ich werde Euch behilflich sein.“ Edda ließ Simons Hand los und eilte zum Bett. Mit behutsamen, geübten Griffen half sie der Todkranken sich aufzu­set­zen. Fürsorglich bettete sie ihre Herrin in die frisch aufgeschüttelten Kissen zurück.

Die Gräfin zu Kilchenstein war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Innerhalb eines Jahres hatte eine heimtückische Krankheit aus der einstmals schönen Frau ein körperliches Wrack gemacht. Sie war erst sechsundzwanzig Jahre alt, sah aber aus wie eine Greisin. Nur ein Funkeln ihrer tiefblauen Augen ließ noch erahnen, welch lebenslustige Person sie einst gewesen war.

Auf dem Kopf trug die Kranke ein spitzenbesetztes Häubchen. Es verbarg gnädig ihren fast kahlen Schädel. In der letzten Zeit ihrer Krankheit waren ihr die Haare gleich büschel­weise ausge­fallen.

Edda, die treue Seele hatte ihre Herrin lange Zeit vergeblich beschworen, einen anderen Doktor zu Rate zu ziehen. Aber die Gräfin vertraute zu lange dem Leibarzt ihres Mannes, obwohl die resolute Zofe ihn immer als einen geldgierigen Scharlatan bezeichnete. Irgendwann war die offensichtliche Unfähigkeit des Mannes Edda zu bunt geworden und sie hatte eigenmäch­tig einen jungen, fähigen Heiler auf Burg Hohenberg bestellt. Doch dieser konnte nur noch die wahrscheinliche Ursache der heimtückischen Krankheit aufklären. Er vermutete eine seit lan­gem andauernde, schleichende Vergiftung durch Arsen. Um Freija von Kil­chensteins Leben zu retten, war es viel zu spät. Der junge Doktor ver­ordnete ihr Kräutertropfen, die den schnellen Verfall ihres Körpers zwar nicht aufhalten konnten, die Kranke aber we­nigsten weitgehend schmerzfrei hielten ohne sie zu betäuben.

Die junge Gräfin musste nun endgültig einsehen, dass sie zum arglosen Opfer ihres zweiten Mannes geworden war. Hunold zu Kilchenstein hatte es offensichtlich nur auf die Burg und die dazugehörenden Lände­reien abgesehen, als er kurz nach der schmählichen Hinrichtung des Grafen zu Hohenberger um die Hand von dessen Frau angehalten hatte. Dabei war sich Freija sicher gewesen, der langjährige Freund ihres Mannes hätte sie geheiratet, damit sie und ihr Sohn gut versorgt waren. Sozusagen um der alten Freundschaft Willen, die ihn jahrelang mit der Familie verband. Und natürlich hatte sie gehofft, Hunold irgendwann lieben zu können. Nicht so, wie sie ihren Mann geliebt hatte, aber vielleicht doch ein wenig.

Inzwischen konnte sie sich mit dem Gedanken abfinden, bald zu sterben. Ihre einzige Sorge galt nur noch ih­rem Sohn Simon, dem Erben von Burg Hohenberg und des Titels ihres verstorbenen Mannes. Sie wusste, Simon war nach ihrem Tod der Einzige, der noch zwischen Hunold und der Burg stand. Starb auch der Junge, ging aller Besitz an den Freiherrn. Aber wie sollte sie es bewerkstelligen, wenigstens den kleinen Knaben vor den heimtückischen Absichten seines Stiefvaters zu retten? Gemeinsam mit Edda, der sie blind vertraute, hatte sie in schlaflosen Nächten ei­nen eher dürftigen Plan ausgeheckt. Ob er gelingen würde, konnte erst die Zukunft zeigen. Freija zu Kilchenstein würde es nicht mehr erleben können.

„Hallo, mein kleiner Liebling. Da bist du ja endlich. Ich habe dich sehnsüchtig erwartet“, begrüßte sie ihren kleinen Sohn jetzt mit leisen Worten. Sie versuchte mit letzter Kraft, ihre Schwäche vor ihm zu verbergen. Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass ihre Stimme vor Anstrengung zitterte. Mit einer matten Handbewegung winkte sie ihn zu sich heran. Er kam unbefangen näher und kletterte zu ihr aufs Bett, so wie er es immer tat. Mit seinen kleinen Händen umfasste er ihren Kopf und drückte ihr einen feuchten Kuss auf die Wange.

„Was ist mit Euch, Frau Mama?“ fragte Simon als er die dicken Tränen sah, die sie nicht mehr unterdrücken konnte. „Habe ich etwas falsch gemacht?“ Bekümmert und ernst blickte er seine Mutter an. Er hat die gleichen Augen wie sein Vater, dachte sie zärtlich und traurig zugleich. Sicher wird er einmal sein Ebenbild werden.

Währenddessen saß  Hunold zu Kilchenstein gedankenverloren in dem schweren Ledersessel, der Zierde seines Arbeitszimmers. Vor nicht allzu langer Zeit war das noch das Arbeitszimmer seines besten Freundes Roland zu Hohenberger gewesen. Gerade mal drei Jahre war es her, seit Roland wegen eines heimtückischen Mordanschlages auf den Her­zog Albrecht von Rothenburg hingerichtet wurde.

Er hatte der völlig verzweifelten Freija nach dem tragischen und ehrlosen Tod ihres Mannes zuerst seinen Beistand und nach Beendigung des Trauerjahres die Ehe angeboten. Nach einigem Zögern war sie seiner Bitte nachgekommen und seine Frau geworden. Er brachte zwei Kindern aus seiner ersten Ehe mit. Den siebenjährigen Falkmar und die drei Jahr alte Kornelia. Seine erste Frau war nur wenige Wochen vor Rolands Hinrichtung bei der Geburt ihrer Tochter gestorben.

Während Simon von dem ungestümen Falk kaum beachtete wurde, fürchtete er sich vor dem großen Stiefbruder ein wenig. Hingegen hing er schon vom ersten Augenblick mit abgöttischer Liebe an der kleinen Kornelia, die er liebevoll Nelia nannte.

Hunold hätte eigentlich mit dieser Ehe zufrieden sein können. Er bekam die Frau, die er schon lange heimlich begehrt hatte, und für seine Kinder eine liebevolle Mutter. Und ihm oblag fortan die Treuhänderschaft über das gesamte Vermögen der zu Hohenbergers. Doch das war es nicht, was er wollte. Nein, er wollte das große Vermögen und die blühenden Ländereien ganz und gar besitzen.

Genau aus diesem Grund hatte er begonnen, seine zweite Frau langsam zu vergiftet. Obwohl er die schöne Freija seinem Freund schon immer heimlich geneidet hatte, liebte er sie nicht. Und schon bald war ihm klargeworden, er würde nie imstande sein, ihr Roland zu ersetzen. Im Ehebett erfüllte sie zwar ihre Pflicht, war aber nicht mit dem Herzen dabei. Zudem stand sie schon bald seinen unlauteren Plänen im Wege.

Hunold war schnell bewusst geworden, dass Freija, sollte sie je seinen Verrat aufdecken,  dafür sorgen würde, dass er gehenkt wurde. Sie war für eine Frau eine sehr eigenständige Person und hatte schon viel zu viel aufgedeckt, was er eigentlich vor ihr zu verheimlichen versuchte. Deshalb, hatte er beschlossen, musste sie möglichst bald sterben. Bevor sie ihm noch gefährlicher werden konnte. Und war sie erst tot, so würde er sich auch noch des rechtlichen Erbens von Burg und Vermögen entledigen. Der kleine Simon war ebenfalls schon so gut wie tot.

Skrupel kannte Hunold keine, weder Freija,  und schon gar nicht Simon gegenüber. Der kleine Junge wurde seinem Vater von Tag zu Tag ähnlicher und erinnerte Hunold dadurch ständig an die Schuld, die er auf sich geladen hatte, damals... 

…in einer mondlosen, stürmischen Nacht im Oktober des Jahres 1752. Herzog Albrecht von Rothenburg ritt mit zwei seiner Getreuen zügig durch den strömenden Regen um möglichst noch vor Beginn des Sturmes in der behaglichen Sicherheit seines Schlosses zu sein. Der Wind wurde zunehmend stärker und trieb ihnen lose Blätter und kleine dürre Aststücke entgegen. Zum Schutz gegen die allgegenwärtige Kälte und Nässe hatten die drei Männer ihre Kragen hochgeschlagen und die Hüte tief ins Gesicht gedrückt.

Plötzlich sprangen fünf vermummte Gestalten aus den Büschen und stellten sich den Reitern in den Weg. Deren Pferde stiegen vor Schreck in die Höhe, ein Mann konnte sich nicht mehr im Sattel halten und wurde abgeworfen. Die anderen beiden konnten nur mit Mühe ihre Pferde wieder in die Gewalt bekommen. Das dauerte wertvolle Sekunden, die von den Wegelagerern kalt genutzt wurden. Eine Pistole bellte auf und der Herzog sank in die Schulter getroffen vom Pferd. Der dritte Reiter sah sich unvermittelt einem, auf ihn gerichteten Gewehr gegenüber und hob resigniert die Arme.

Alles ging blitzschnell. Die Halunken erleichterten ihre Opfer um sämtliche Barschaft und Schmuck und verschwanden dann genauso schnell in den Büschen wie sie aufgetaucht waren. Die beiden Begleiter des Herzogs verzichteten auf eine vergebliche Verfolgungsjagd und kümmerten sich stattdessen um ihren verletzten Herrn.

Die Verwundung des Herzogs schien zwar nicht lebensbedrohlich, doch die Wunde blutete stark und bedurfte dringend der ärztlichen Versorgung. Mit vereinten Kräften hoben die Männer ihren Herrn auf sein Pferd. Sie stützten ihn von beiden Seiten und ritten langsam an. Da sah einer von ihnen etwas matt auf dem Boden blinken. Er stieg nochmals vom Pferd und hob den Gegenstand auf. Es war eine große Silberplatte mit einem aufgeprägten Wappen, die an einer zerrissenen Kette hing. Es war viel zu dunkel um das Wappen erkennen zu können, deshalb steckte der Mann seinen Fund in die Tasche seines Umhanges. Später, so beschloss er, wenn sie den Herzog in Sicherheit gebracht hatten, war immer noch genug Zeit das Fundstück zu betrachten.

Endlich erreichten sie das Schloss und trugen den inzwischen bewusstlosen Herzog in sein Schlafgemach. Sein Leibarzt wurde verständigt und ein paar Diener und Dienst­mägde wurden geweckt um bei der Behandlung ihres Herrn behilflich zu sein. Als alle geschäftig hin und her rannten und den Verwundeten versorgten, zogen sich die beiden erschöpften Begleiter zurück. Sie machten es sich in einem Zimmer bequem, dass den Freunden des Herzogs vorbehalten war.

Erst jetzt fiel dem jungen Vasallen sein Fund wieder ein. Er zog die Platte aus seiner Tasche und begutachtete sie neugierig. Auch der andere starrte gespannt auf das Wappen. Es zeigte ein silbernes Feld auf dem ein Mann mit drei Kleeblättern in den Händen zu sehen war. Darüber befand sich ein Helm in dem ebenfalls ein Mann inmitten zweier mächtiger Büffelhörner abgebildet war.

„Das Wappen kommt mir bekannt vor“, sinnierte der Finder, „Aber ich komme nicht darauf, wem es gehört.“

In diesem Moment öffnete sich die Türe und Hunold zu Kilchenstein betrat den Raum. Er warf einen kurzen Blick auf das Wappen und riss erstaunt die Augen auf. „Das gehört meinem Freund Roland zu Hohenberger. Woher habt Ihr es?“

Die Männer erklärten es ihm. Danach sahen sich alle drei entsetzt an. Der Graf zu Hohenberger sollte den Herzog überfallen und beraubt haben? Roland war doch neben Hunold der beste Freund des Herzogs. Albrecht, Roland und Hunold wurden stets als Dreigespann bezeichnet, schon seit vielen Jahren verband sie eine innige Freundschaft.

„Das kann nicht sein“, versicherte Hunold jetzt auch im Brustton der Überzeugung. „Für Roland lege ich meine Hand ins Feuer. Nie und nimmer war er an dem Überfall beteiligt. Was ist denn überhaupt geraubt worden?“

Die Begleiter des Herzogs drucksten eine Weile herum, dann meinte einer. „Euch, als dem Freund des Herzogs kann ich es ja sagen. Wir hatten die Pachtgelder des ganzen Jahres dabei. Es war eine beachtliche Summe...“

„Trotzdem“, ereiferte sich Hunold. „Selbst wenn Roland dringend Geld braucht, er würde niemals seinen Freund verletzen und berauben.“

Trotz dieser Versicherung ritten noch in der Nacht ein paar schwer bewaffnete Männer zur Burg Hohenberg. Der völlig perplexe Roland wurde aus dem Bett gerissen und mitgeschleift. Man warf ihn in das Verlies das sich in den Kellern des herzoglichen Schlosses befand und ließ ihn dann allein. Am Morgen würde er befragt werden, sagte man ihm knapp, bevor sich die Ker­kertüre vor seiner Nase schloss.

Die ganze Nacht grübelte Roland vergeblich darüber nach, weshalb er eingekerkert worden war. Er kam zu keinem Ergebnis und hoffte, sein Freund der Herzog würde am Morgen das Missverständnis aufklären.

Doch statt Albrecht erschien am Morgen dessen Stellvertreter, der auch gleichzeitig der Richter des Herzogtums war. Roland kannte ihn zwar, war ihm aber nicht besonders zugetan, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Immerhin erfuhr er nun endlich, weshalb er so rüde aus seinem Haus geschleppt worden war.

Er beteuerte seine Unschuld und verlangte, ans Krankenbett des Freundes geführt zu werden. Das wurde ihm jedoch untersagt, da der Herzog von einem starken Wundfieber befallen war, das durch eine Verunreinigung der Wunde hervor­gerufen wurde.

Roland war verzweifelt. Wie sollte er seine Unschuld beweisen? Der Herzog lag in tiefer Bewusstlosigkeit und Rolands Frau Freija wurde nicht als Zeugin vernommen, eben weil sie seine Frau war und somit als befangen galt. Ansonsten hatte ihn niemand gesehen, da er just an jenem Abend sämtlichen Dienstboten freigegeben hatte damit sie die Hochzeit eines Knechtes und einer Magd im Dorfkrug feiern konnten.

Der Richter hörte sich seine Beteuerungen mit unbewegtem Gesicht an und sagte dann nur, die Verhandlung des Falles würde in drei Tagen stattfinden. Er empfahl Roland zu beten, dass der Herzog nicht sterben würde. Außerdem riet er ihm, er solle überlegen, ob er nicht die Namen seiner Komplizen nennen wolle, die an dem Überfall beteiligt waren. Dann fiel die Türe zu und Roland war wieder allein. Allein mit seiner Verwirrung und seiner wachsenden Angst.

Der Richter hatte ihm angedroht, falls der Herzog starb, drohe ihm der Strick. Aber sollte er die Namen seiner Komplizen nennen, käme vielleicht heraus, dass einer von ihnen auf den Herzog geschossen habe, das würde Roland zumindest das Leben retten.

Gestehe einfach irgendetwas, ging es Roland durch den Kopf. Aber was sollte er gestehen und wen sollte er als seine Komplizen nennen? Er war doch unschuldig.

Am nächsten Morgen erschien der Richter erneut um ihn zu befragen. Aber Roland schwieg.

Der Richter schüttelte, empört über so viel Sturheit den Kopf und zeigte ihm die Kette, die als Beweis seiner Schuld diente. Rolands Augen wurden groß vor Erstaunen, genau diese Kette mit dem Familienwappen war ihm vor einigen Tagen unter mysteriösen Umständen abhandengekommen. Natürlich sagte er das dem Richter, machte sich aber keine große Hoff­nung, dass ihm geglaubt wurde. Langsam dämmerte ihm, dass er einer infamen Intrige aufgesessen war. Doch was war der Grund und wer der Initiator? Es fiel ihm keiner ein. Und Feinde hatte er keine. Zumindest hatte er das bisher gedacht...

„Dem Herzog geht es schlechter“, berichtete ihm der Richter mit kalter Stimme. „Er wird also - falls er es überhaupt tun würde - morgen nicht für Euch sprechen können. Gesteht endlich Eure Schuld, vielleicht bewahrt Euch das vor dem Strick.“ Er verließ mit gemessenen Schritten den ungastlichen, stinkenden Kerker.

Am nächsten Tag wurde Roland abgeholt und in die große Halle geführt, in der allgemein die Ge­richts­­verhandlungen abgehalten wurden. Man hatte ihm zuvor Gelegenheit gegeben, sich zu säubern und zu rasieren. Aber der penetrante Gestank der Zelle haftete noch immer in seinen Kleidern.

Er blickte sich in dem vollbesetzten Saal um und erkannte seine Frau an der Seite seines Freundes Hunold, die beide in der ersten Reihe hinter der Absperrung saßen. Freija presste ein Taschentuch vor ihren Mund und in ihren Augen standen Tränen als sie ihren Mann ansah. Hunold blickte grimmig drein.

Es wurde Roland verwehrt, zu seiner Frau zu gehen um ihr Trost zu spenden. So konnte er ihr nur beruhigend zunicken. Aber er besaß selbst kaum noch Zuversicht. Er ahnte, es müsste schon ein Wunder geschehen, sollte er aus dieser Verschwörung  mit heiler Haut herauskommen.

Die Verhandlung verlief wie erwartet. Man glaubte ihm nicht und da er keine Komplizen nannte wurde ihm die alleinige Schuld aufgebürdet. Wie er schon vorausgesehen hatte, lautete das Urteil: Tod durch den Strang. Doch man gewährte ihm noch eine Woche Aufschub. Sollte in dieser Zeit der Herzog genesen und für ihn sprechen, so würde er eine neue Verhandlung bekommen. Ansonsten wäre der kommende Donnerstag der letzte Tag seines Lebens. Die Verhandlung wurde geschlossen und die Zuschauer verließen langsam und leise tuschelnd den Gerichtssaal. Nur Hunold und Freija blieben zurück.

Jetzt wurde Roland endlich gestattet, zu den beiden zu treten. Freija warf sich verzweifelt schluchzend in seine Arme. Dabei ignorierte sie den Gestank, der aus seinen Kleidern stieg. Er hielt sie fest umklammert und flüsterte ihr tröstende Worte zu. Doch insgeheim war ihm selbst zum Heulen zumute. Hunold stand mit versteinertem Gesicht daneben. Seine grauen Augen blickten grüblerisch auf den Freund.

Schließlich trennte man sie wieder und Roland wurde zurück in die Kerkerzelle geführt. Er sah noch, als er sich ein letztes Mal umblickte, wie Hunold Freija aus dem Gerichtssaal führte. Die Art, wie er besitzergreifend seinen Arm um ihre schmalen Schultern legte, versetzte Roland einen Stich. Und tief in seinem Inneren wusste er plötzlich, dass Hunold der Initiator dieses Dramas war, das ihn das Leben kosten würde.

Schon am nächsten Tag bestätigte sich sein Verdacht auf grausame Weise. Die Kerkertüre öffnete sich und Hunold trat ein. Roland erhob sich aus dem modrigen Stroh und blickte dem Mann entgegen, den er seit ihren gemeinsamen Kindertagen für seinen Freund gehalten hatte. Er konnte nicht zu ihm hin, denn nach seiner Verurteilung war er - zur Verschärfung der Strafe - an der Wand angekettet worden. Die Ketten um seine Arm- und Fußgelenke ließen ihm nur einen kleinen Spielraum.

Hunold ließ sein wahres Gesicht erkennen, sobald der Wächter die Türe hinter ihm ge­schlos­sen hatte. Kalt blickte er seinen Freund an. Doch es war Roland, der zuerst sprach.

„Du warst es!“ behauptete er rau. „Du brauchst dringend Geld, nicht ich. Und du wusstest Bescheid, dass Albrecht mit dem Pachtzins auf dem Weg zu seinem Schloss war. Außerdem hattest du stets ungehinderten Zugang zu meinem Haus und konntest die Kette an dich bringen. Und du wusstest, dass meine Bediensteten an jenem Abend nicht im Haus weilten. Das Ganze war von langer Hand geplant. Warum, Hunold? Was habe ich dir getan?“

Sein Gegenüber zuckte unbehaglich die Schulter. Die Kälte wich für einen Moment aus seinem Blick und machte leisem Schuldbewusstsein Platz. Dann straffte er die Schultern und erwiderte barsch. „Du selbst hast mir nichts getan. Und es tut mir auch leid, dass du wegen dieser Sache sterben musst. Aber wie du selbst sagtest; ich brauche dringend Geld. Mehr Geld als den Pachtzins, den ich ergattert habe. Und du bist der einzige, der mir dazu verhelfen kann.“

Roland fragte nicht, wieso der Freund Geld benötigte. Er kannte dessen Spielsucht zur Genüge. Hunold hatte es fertiggebracht, innerhalb weniger Jahre den gesamten Besitz seines riesigen Erbes am Spieltisch zu verlieren. Heute besaß er nur noch sein ehemaliges Gesindehaus. Eine dürftige Behausung für den verwöhnten Freiherrn zu Kilchenstein.

Lange war Roland ihm mit Geldzuschüssen behilflich gewesen. Doch irgendwann musste er einsehen, dass er so dem Freund nicht helfen konnte. Fortan verweigerte er ihm finan­zielle Hilfe und stand ihm nur noch mit Rat und Tat bei. Doch so wie es aussah, würde er jetzt dafür büßen müssen.

„Wie stellst du dir das vor?“ fragte er und versuchte seine Stimme nicht ängstlich klingen zu lassen. Hunold musste einen fix und fertig ausgearbeiteten Plan haben, um an das be­gehrte Vermögen zu kommen. Er war ein kluger Kopf, der sicher nichts dem Zufall überließ. „Der größte Teil meines Vermögens besteht aus Land. Und dafür gibt es bereits einen Erben, wie du weißt. Ich habe längst ein Testament gemacht. Simon wird einmal alles bekommen.“

„Aber nur, falls er alt genug wird, sein Erbe anzutreten. Und das werde ich zu verhindern wissen. Du wirst nicht lange alleine in der Hölle schmoren, Roland. Dein Sohn wird dir bald Gesellschaft leisten.“

„Was hast du mit ihm vor, du Schwein?“ Roland brüllte es heraus und warf sich nach vorne. Aber die Ketten hielten ihn zurück. In ohnmächtiger Angst riss er an den eisernen Fesseln. „Wage es nicht, einem Mitglied meiner Familie ein Leid zuzufügen. Sie haben dir nie etwas getan. Warst du nicht immer ein gerngesehener Gast in meinem Haus? Wie kannst du unsere Freundschaft nur so verraten?“

Hunold seufzte tief auf, ehe er erklärte. „Um unsere Freundschaft tut es mir ehrlich leid. Wir waren immer ein tolles Gespann und haben viel zusammen erlebt. Aber du musst verstehen, ich habe keine andere Wahl. Ich brauche dringend Geld, mir steht das Wasser bis zum Hals... Aber ich habe genug geredet. Ich bin gekommen, damit du dein Testament zu meinen Gunsten änderst. Den Text habe ich schon aufgesetzt, du musst nur noch unterschreiben.“

Roland funkelte ihn wütend an. „Niemals! Du wirst niemals meine Unterschrift bekommen. Ohne notarielle Beglaubigung ist sie sowieso nicht wert.“

„Oh, daran habe ich schon gedacht. Der Richter wird mir die Echtheit des Testaments bestätigen. Er ist mir einen kleinen Gefallen schuldig. Und seine Beglaubigung wird niemand anzweifeln. Also mach schon. Unterschreibe, dann lasse ich dich in den letzten Tage, die dir noch bleiben in Ruhe. Tust du es nicht..., nun du kennst die Folterkammer unseres gemeinsamen Freundes. Die Utensilien sind zwar schon etwas eingerostet aber für meine Zwecke werden sie noch taugen.“

„Das wagst du nicht“, stieß Roland entsetzt hervor. Das Foltern von Gefangenen war zwar schon lange verboten aber er wusste, dass sich hier unten in den Verliesen noch eine alte Folterkammer befand. Der Herzog hing an solch makabren Zeugnissen früherer Grausamkeiten und hatte Roland und Hunold einmal stolz die Folterkammer mit ihren vielen schrecklichen Gerätschaften gezeigt.

Als Roland jetzt daran dachte, wurde ihm mulmig zumute. Allein der Gedanke an die entsetzlichen Folterwerkzeuge ließ ihn erschauern. War sein Freund wirklich dazu fähig? So grausam konnte er doch nicht sein.

Aber ein Blick in die Augen seines Gegenübers lehrte ihn ein Besseres. Doch, Hunold würde ihn foltern lassen, falls er das Testament nicht unterschrieb. Aber das konnte er nicht tun. Das Leben seiner Familie stand auf dem Spiel. Unterschrieb er, würde er gleichzeitig das Todesurteil für sein Kind und viel­leicht auch für seine Frau unterschreiben. Dieses Wissen gab den Ausschlag. Er schüttelte den Kopf.

„Tu mit mir, was du willst, ich werde nicht unterschreiben. Ich kann einfach nicht...“ Resigniert ließ er den Kopf sinken.

Hunold biss sich, wütend auf sich selbst auf die Zunge. Warum nur hatte er seine wahren Pläne verraten? Er hätte sich doch denken können, dass Roland niemals seine Familie im Stich ließ. Aber nun war es zu spät. Jetzt konnte er die Unterschrift nur noch durch Folter erpressen. Insgeheim schreckte er vor dieser letzten Konsequenz zurück. Soweit wollte er es eigentlich nicht kommen lassen. Doch es gab keine Alternative, er brauchte Rolands Vermögen wirklich dringend. Deshalb klopfte er jetzt entschlossen an die Kerkertüre. Der Wächter öffnete sofort, er hatte neben der Türe gewartet. Hunold gab ihm ein Zeichen und der bullige Wärter griff nach dem kurzen Knüppel, der an seinem Gürtel hing. Er zog Roland das Holz kurzerhand über den Schädel und der sank stöhnend ins Stroh. Er war zwar nicht ohnmächtig, aber zu benommen, um Gegenwehr zu leisten. Kaum registrierte er, wie seine Fesseln von der Wand gelöst und er aus dem Keller geschleift wurde.

Hunold trat schnell einen Schritt zur Seite, als der Scherge sein Opfer an ihm vorüber zerrte. Sein Blick streifte über die zusammengesunkene Gestalt des Mannes, der ihn gestern noch für seinen Freund gehalten hatte. Scham durchfuhr wie ein Stich seine Brust und Ekel vor sich selbst überkam ihn. Aber es war längst zu spät, anders zu entscheiden. Die Mühlsteine seiner Intrigen hatten bereits zu mahlen begonnen und Roland würde zwischen ihnen zermalmt werden.

Schnell wandte er sich ab und eilte der Treppe entgegen, die nach oben führte. Hinter ihm wurde die Türe zur Folterkammer geöffnet und kurz darauf fiel sie schwer ins Schloss. Hunold rannte jetzt fast die Treppe hinauf. Er wollte möglichst schnell viel Abstand zwischen sich und den schrecklichen Raum bringen.

Roland hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Die Torturen, denen er ausgesetzt war, schie­nen endlos gewesen zu sein. In sich empfand er nur noch Schmerz und Verzweiflung. Er wusste nicht mehr genau, was der brutale Scherge im Einzelnen mit ihm angestellt hatte, irgendwann hatte sein Gehirn einfach abgeschaltet.

Erst vor etwa einer halben Stunde war er wieder in seinem Kerker erwacht. Seither kämpfte er vergeblich gegen den allgegenwärtigen Schmerz an. Er wagte nicht, sich seine Wunden anzusehen aber er spürte, es waren sehr viele. Der Folterknecht hatte ihm seine Kleider wieder übergestreift. Der Stoff klebte an den Wunden fest und riss sie auf, sobald er sich bewegte. Seine Gedanken trieben träge durch sein Gehirn und er musste sich ge­walt­sam zusammenreißen, damit er nachdenken konnte.

Kaum registrierte er, wie die Kerkertüre erneut geöffnet wurde. Er schrak erst auf, als Hunolds Schatten über ihn fiel. Der ehemalige Freund, der plötzlich zu seinem Todfeind geworden war kauerte sich vor ihn und starrte ihn bekümmert an. „Warum hast du zugelassen, dass es so weit kommen musste?“ fragte er halb mitleidig, halb vorwurfsvoll.

„Warum hast du zugelassen, dass man mir das antat?“ fragte Roland leise zurück. Er sprach langsam und stockend, kämpfte gegen die Schmerzwellen an, die durch seinen gemarterten Körper krochen. Seine, von der erlittenen Pein getrübten Augen waren unverwandt in die Hunolds gerichtet. Schließlich senkte der schuldbewusst den Blick. Doch dann meinte er trotzig. „Es ist deine eigene Schuld. Ich brauche deine Unterschrift. Solange du sie mir verweigerst, werde ich dich foltern lassen. Sei klug und unterschreibe..., jetzt sofort. Du ersparst dir dadurch noch mehr Qualen.“

Roland meinte, in seinem Inneren gefrören seine Eingeweide zu Eis. Er glaubte nicht, noch mehr Schmerz ertragen zu können. Doch dann kam der Gedanke an seine Familie zurück. Seine Freija, die er so sehr liebte und sein kleiner Sohn, sein ganzer Stolz. Nein, er durfte nicht zulassen, dass ihnen ein Leid geschah. Lieber würde er unter der Folter sterben. Er schüttelte stur den Kopf. „Nein, ich werde nicht unterschreiben. Niemals...“

Hunold ließ ihn erneut abführen.

Noch zwei Tage bis zu seiner Hinrichtung. Roland sehnte die Stunde herbei, die ihm endlich Frieden bringen würde. Sein Körper fühlte sich wie eine einzige schmerzende Wunde an, sogar das Atmen bereitete ihm Schmerzen.

Hunold hatte sein Ziel noch immer nicht erreicht und langsam bezweifelte er, es jemals zu erreichen. Sein schöner Plan drohte wie eine Seifenblase zu zerplatzen. Auch der Herzog war nicht, wie geplant gestorben, ja er befand sich sogar schon wieder auf dem Wege der Besserung. Zum Glück war er jedoch immer noch zu schwach, sich um die Geschehnisse an seinem Hof zu kümmern. Bis er vollends genesen war, würde Roland tot sein.

„Roland, höre mir zu.“ Heute musste Hunold seinen letzten Trumpf ausspielen, wollte er doch noch sein Ziel erreichen. Noch einen Tag Folter würde der Gefangene nicht mehr aushalten. Er rüttelte Roland an der Schulter und der öffnete mühsam die Augen und schaute zu seinen Peiniger hoch.

„Ich habe es mir überlegt, ich werde dich nicht mehr foltern lassen. Aber du musst unterschreiben. Nein..., schüttele nicht sofort wieder den Kopf. Hör mich an. Wirst du unterschreiben, wenn ich dir hoch und heilig verspreche, deiner Familie kein Leid anzutun?“

Roland überlegte lange. Dann winkte er matt ab. „Was... ist dein... Versprechen  noch wert? Du hast mich... belogen und betrogen... Ich kann dir... keinen Glauben mehr... schenken.“

„Doch es ist mein Ernst. Ich schwöre dir bei unserer einstigen Freundschaft, ich werde deine Familie beschützen. Ich habe meinen Plan und auch das Dokument geändert. Hier lies den geänderten Wortlaut.“ Er hielt ihm das Schreiben dicht vor die Augen und wartete geduldig, bis Roland gelesen hatte. Dann fuhr er in drängendem Tonfall fort.

„Ich habe die Absicht, Freija nach deinem Tod zu heiraten und werde deinem Sohn fortan ein guter Vater sein. Mit diesem Dokument hier machst du mich zum Vormund Simons und zum Treuhänder über sein Erbe. Es gilt nur bis zu seiner Volljährigkeit. Danach gilt dein ursprüngliches Testament. Allerdings habe ich mir erlaubt, meine Apanage etwas großzügiger auszulegen. Wie du weißt, bin ich dringend auf das Geld angewiesen. Solltest du jedoch nicht unterschreiben, so wird deine kleine Familie den Tag deiner Hinrichtung nicht lange überleben. Dann werde ich mir deine Güter eben auf anderem Wege aneignen.“

Schließlich unterschrieb Roland das Dokument. Nach reiflichem Nachdenken schien es ihm der einzige Weg, seine Familie zu retten. Er musste Hunold einfach vertrauen, denn er selbst konnte nichts mehr zum Schutz seiner Lieben unternehmen. Mit zitternden Fingern setzt er seine Unterschrift auf das Schriftstück. Dann ließ er resigniert die Feder fallen. Hunold schnappte sich schnell das wertvolle Dokument und verstaute es sorgsam in seiner Brusttasche.

Er trat ein paar Schritte zurück und blickte mit unbewegtem Gesicht auf den zusammengekauerten Gefangenen. „Tut mir leid, mein Freund. Aber dein Martyrium ist noch nicht zu Ende. Morgen Abend kommt dich deine Frau besuchen. Sie hat darauf bestanden, dich noch einmal zu sehen. Aber ich muss unbedingt verhindern, dass du ihr von unserer kleinen Abmachung erzählst. Also werde ich Vorsorge treffen müssen, damit du nicht mehr reden kannst...“

Er klopfte an die Türe und als der Wärter kam befahl er ihm knapp. „Schneide ihm die Zunge heraus.“

Als Freija am nächsten Abend in den Kerker geführt wurde, erkannte sie Roland kaum wieder. Was war mit ihrem einstmals stattlichen, wohlgestalteten Mann geschehen?

„Roland!“ rief sie entsetzt aus und kniete sich neben seine verkrümmt daliegende Gestalt. Er stöhnte leise, als sie sanft seine Wange berührte und drückte sein Gesicht ins Stroh. Ihr war, als wolle er nicht, dass sie ihn so sah.

Freija zog ihn sachte an der Schulter herum, er hatte nicht die Kraft, sich ihr zu widersetzen. Mit einem klagenden Laut fiel er auf den Rücken. Sein Gesicht glühte vor Fieber und aus seinen Mundwinkeln sickerte blutiger Speichel. Seine Augen waren fest geschlossen. Freija schlug vor Entsetzen die Hände vors Gesicht. Dann drehte sie sich zu Hunold um, der sie begleitete.

„Was ist mit ihm geschehen? Er ist ja gar nicht ansprechbar. Mein Gott, was haben die mit ihm gemacht?“ schrie sie hysterisch.

Hunold zuckte nichtssagend die Schultern und blickte scheinbar betroffen auf den halbtoten Mann zu seinen Füßen. „Ich weiß es nicht Freija. Ich durfte ebenfalls nicht zu ihm. Vielleicht ist er krank geworden, das soll im Gefängnis öfter vorkommen habe ich gehört.“

Er kauerte sich vor Roland und tat, als wäre er vor Mitleid und Schock über den Anblick des Freundes erschüttern. In Wirklichkeit wollte er sich nur davon überzeugen, ob der Gefolterte sich tatsächlich nicht mehr verständlich machen konnte. Aber von Roland drohte ihm keine Gefahr mehr, er rührte sich kaum.

Nach einiger Zeit führte Hunold die weinende Freija wieder aus der Zelle. Als sie ihren Mann zum letzten Mal küssen wollte, hatte Roland wie in Panik den Kopf abgedreht. Nun, als die beiden vertrauten Gestalten die Zelle verließen, blickte er ihnen aus trüben, vor Schmerz verschleierten Augen hinterher. Aber er sah nur Freija, prägte sich den letzten Anblick der geliebten Frau ins Gedächtnis. Mit ihrem Bild vor Augen würde er morgen unter den Galgen treten. Er fürchtete sich nicht mehr vor dem Tod sondern sehnte den Augenblick verzweifelt herbei, der ihn endlich von seinen Qualen erlöste.

Er konnte nur noch hoffen und beten, dass Hunold sich an die Abmachung halten, und seine Familie verschonen würde.

Kapitel 02: Der Talisman

Simon überreichte seiner Mutter feierlich das Bild, das er gemalt hatte. Sie lächelte gerührt und Tränen stahlen sich erneut in ihre Augen. Sie durfte nicht daran denken, dass sie bald nicht mehr für ihren Sohn da sein konnte. Aber sie musste tun, was in ihren beschränkten Möglichkeiten stand, das wenigstens er am Leben blieb.

„Oh, ich danke dir mein Schatz“, flüsterte sie mit brüchiger Stimme. Dann nahm sie sich zusammen. Sie wollte den Kleinen nicht ebenfalls traurig stimmen. „Das ist ein wunderschönes Bild. Und was du mir geschrieben hast, macht mich sehr glücklich. Aber schau mal, ich habe auch ein Geschenk für dich.“

Sie beugte sich zu der geschlossenen Schublade ihres Nachtisches und wollte sie öffnen. Doch sie konnte die Kraft nicht mehr aufbringen, die Lade zu öffnen. Edda eilte herbei um ihr behilflich zu sein. Sie holte einen länglichen Gegenstand hervor, der in ein buntes Tuch eingeschlagen war. Simon schaute mit großen Augen erwartungsvoll auf die schmalen Hände seiner Mutter, die nun das Geschenk enthüllten.

Zum Vorschein kam ein Stofftier. Ein brauner Hund mit langen Schlappohren und einem lustigen Stummelschwanz. Er war aus weichem Samtstoff genäht und trug eine rote Schleife um den Hals. Simon klatschte vor Freude in die Hände und streckte die Arme nach dem Hund aus. Seine Mutter legte ihm das Stofftier hinein.

„Dieser Hund soll dein Talisman sein, Simon. Er wird dich immer an mich erinnern und dich beschützen, wenn ich einmal nicht mehr bei dir bin. Gib ihn niemals her. Versprichst du mir das?“

„Natürlich Mama. Ich werde ihn niemals hergeben, er ist ja so schön und so weich. Darf ich ihn mit in mein Bett nehmen? Dann kann er mich auch nachts beschützen. Aber sagt, was ist ein Talmann?“

Die Kranke lächelte und verkniff sich energisch die Tränen, die ihr erneut in die Augen traten. „Das Wort heißt Talisman, Simon. Ein Talisman ist ein Gegenstand, der seinen Besitzer beschützt. Deshalb sollst du ihn auch immer bei dir tragen. Denn er kann dich nur beschützen, wenn er in deiner Nähe ist. Und er braucht einen Namen. Einen wunder­schönen, geheimnisvollen Namen, den nur du kennst. Überlege dir in Ruhe, wie du ihn nennen willst.“

„Au ja, das werde ich. Aber darf ich noch nicht einmal Euch den Namen verraten? Ihr habt mir den Talisman doch geschenkt.“

„Doch, mir darfst du ihn verraten. Aber jetzt geh in dein Zimmer und nimm den Hund mit. Später wird dich Edda noch einmal zu mir bringen. Vielleicht hast du ja dann schon einen Namen für den Hund gefunden.“

Etwas später kam Edda leise ins Zimmer zurück und weckte ihre Herrin sachte auf. „Frau Gräfin, die Herren sind jetzt hier. Soll ich sie heraufbitten?“

Freija von Kilchenstein setzte sich mit Eddas Hilfe im Bett auf. Die Zofe stützte ihren Rücken durch ein paar zusätzliche Kissen, deckte die Sterbende sorgfältig zu und öffnete dann das Fenster um den Krankengeruch hinaus zu lassen. Danach verließ sie leise das Zimmer um die Besucher heraufzubringen.

Kurze Zeit darauf kamen der Bürgermeister, der von seiner Verwundung wieder genesene Herzog von Rothenburg, sowie der Gemeindepfarrer zur Türe herein. Höflich zogen die Männer ihre Hüte und verneigten sich vor der Kranken. Alle drei kannten sie die Gräfin schon seit deren Kindheit und konnten kaum die Betroffenheit über ihren schlechten Gesundheitszustand und ihr ausgezehrtes Äußeres verbergen.

„Edda, würdest du meinen Gemahl ebenfalls zu uns bitten. Was ich zu sagen habe, betrifft ihn gleichermaßen.“

Als die kleine Versammlung schließlich komplett war, begann Freija ohne Umschweife mit ihrer kurzen Ansprache. Sie sprach mit leiser kraftloser Stimme und musste sich öfter unterbrechen um neue Kräfte zu sammeln. Aber was sie zu sagen hatte, war ihr so wich­tig, dass sie ihre letzten Reserven mobilisierte.

„Wie jeder hier weiß, war es mein größtes Anliegen, meinen ersten Mann, Graf von Hohenberger von den schlimmen Lügen reinzuwaschen, die ihn das Leben gekostet haben. Leider muss ich einsehen, dass es mir wohl nicht mehr gelingen wird, dieses mir so wichtige Ziel zu erreichen. Zwar habe ich einiges herausgefunden, kann aber den end­gültigen Beweis über den wahren Täter nicht mehr erbringen. Doch ich habe allen Grund zur Annahme, dass mein kleiner Sohn in Gefahr ist. Um ihm das Leben zu retten habe ich alles aufgeschrieben, was ich über die Umstände weiß, die zum Tode meines ersten Mannes geführt haben. Edda wird jetzt jedem der anwesenden Herren einen versiegelten Umschlag überreichen. Ich versichere, jeder Brief enthält den gleichen Text.

Sollte meinem Sohn Simon vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag, - dem Tag an dem er sein rechtmäßiges Erbe antritt – irgendetwas passieren, so bitte ich die Herren, ihren jeweiligen Umschlag zu öffnen. Das gilt auch dann, wenn Simon an einer Krankheit sterben, oder einen Unfall erleiden sollte. Nur wenn er bei bester Gesundheit sein Erbe antritt, so sollen die Geister der Vergangenheit für immer ruhen.“

Nachdem die Männer sich verabschiedet und das Haus verlassen hatten, bat Freija mit matter Stimme ihre Zofe, Simon nochmals zu ihr zu bringen. Sie fühlte, es ging mit ihr zu Ende. Die voran­gegan­gene kurze Ansprache hatte ihr die letzte Kraft abverlangt. Nun, da sie ihren Tod unwider­ruflich nahen fühlte, war es ihr einziger Wunsch, den geliebten Sohn noch einmal zu sehen.

Der kleine Junge trat an ihr Bett, seinen Stoffhund fest unter den Arm geklemmt. So, als fühle er den nahenden Abschied, schaute er seine Mutter beklommen an. Sie versuchte, munter zu klingen, was ihr jedoch nicht mehr gelang. „Na, mein kleiner Schatz, hast du einen Namen für deinen Hund gefunden?“

„Ja. Er heißt kleiner Prinz. Gefällt dir der Name?“

Freija wurde noch blasser, als sie ohnehin schon war. Kleiner Prinz. Das war das Kosewort, das Roland immer für seinen kleinen Sohn verwandte. Aber woher konnte Simon das wissen? Als er den Namen zum letzten Mal hörte, war er kaum zwei Jahre alt gewesen. Seither hatte ihn niemand mehr so genannt.

„Wer hat dir diesen Namen gesagt?“ fragte sie und konnte ihre Bestürzung kaum verbergen. Simon blickte ihr ernst ins Gesicht. „Da war ein sehr netter Mann in meinem Zimmer. Er hat mich auf den Schoß genommen und mich so genannt. Dann hat er gesagt, ich solle meinen Talisman so nennen. Dann sagte er noch, er würde Euch jetzt zu sich holen. Und ich soll nicht traurig sein, wenn Ihr mit ihm geht. Denn ihr würden mich nun beide vom Himmel aus beschützen.“

Freijas Kräfte verließen sie nun rapide. Sie besaß kaum noch die Kraft, sich auf ihren Sohn zu konzentrieren. Unbeirrt erzählte er weiter mit seiner hellen Kinderstimme. „Ich habe dem Mann versprochen, ich wäre nicht traurig. Aber wisst Ihr Mama..., ich glaube, das war gelogen. Und dann ist der Mann einfach mit mir gekommen. Seht da...“ Er deutete auf das Fußende des Bettes und Freija folgte mit den Augen seinem kleinen Finger.

Und da stand er und schaute lächelnd auf sie herab. Roland, so wie sie ihn gekannt und geliebt hatte. Ein stolzer, schöner Mann mit langen, dunklen Haaren. Seine nussbraunen Augen blickten warmherzig auf sie und seinen Sohn. Dann streckte er ihr die Hände ent­gegen und in seinem Blick lag eine stumme Aufforderung.

Sie konnte nicht mehr hören, was Simon ihr noch sagte. Ihre Zeit auf Erden war unwiderruflich zu Ende. Wie ein durchsichtiger Schatten verließ ihr Geist ihren Körper und folgte dem geliebten Mann in die Ewigkeit.

Nach der Beerdigung seiner zweiten Frau saß Hunold zu Kilchenstein in seinem Arbeitszimmer und starrte wütend an die Wand. Es war zum Verzweifeln. Sein ganzer schöner Plan löste sich in Nichts auf. Er war seinem Ziel, das Erbe Rolands an sich zu reißen, keinen Schritt näher gekommen. Im Gegenteil, nach den Enthüllungen seiner Frau auf dem Sterbebett war er dem Galgen gefährlich nahe gekommen. Er dankte allen Göttern, dass Freija nicht mehr in der Lage gewesen war, noch mehr Einzelheiten aufzudecken.

Natürlich hatte er sofort den versiegelten Brief geöffnet, nachdem er allein war. Was er darin las, machte ihm unmissverständlich klar, dass er seinen bisherigen Plan nicht mehr weiterverfolgen konnte. Simon musste am Leben bleiben, ansonsten war auch sein eigenes Leben verwirkt. Freija hatte ihn in ihrem Brief indirekt schwer belastet. Zwar waren ihre Beweise dürftig, wie sie zugegeben hatte. Und sie hatte nicht offen seinen Namen erwähnt. Aber ihre niedergeschriebenen Mutmaßungen würden dem Herzog sicher aus­reichen, den Fall erneut aufzurollen. Und Hunold war sich  sicher, dass er dann nicht ungeschoren davonkommen würde.

Schon von Anfang an war alles schiefgegangen. Der Herzog war wie durch ein Wunder genesen und hatte sich entsetzt über die Hinrichtung seines guten Freundes gezeigt. Keine Sekunde glaubte er die Anschuldigungen, die Roland vorgeworfen worden waren. Sein Stellvertreter, der Richter musste lange Zeit um sein Amt und seinen Hals bangen. Erst als er zum x-ten Male versicherte, nur im guten Glauben gehandelt zu haben, hatte der Herzog Gnade walten lassen.

Hunold war zum Glück nie in Verdacht geraten, an der Verschwörung beteiligt gewesen zu sein. Zumindest was die Nachforschungen des Herzogs betraf. Freija hingegen konnte er nach einiger Zeit nicht mehr hinters Licht führen. Aber als sie die bittere Wahrheit in ihrem ganzen Ausmaß erkannte, war sie durch das Arsen, das er ihr täglich heimlich in ihren Tee schüttete, schon ans Bett gefesselt. Wäre ihr noch mehr Zeit geblieben, so hätte sie sicher niemand daran hindern können ihn offen zu beschuldigen. Aber letztendlich konnte sie nur ihren allgemeinen Verdacht darlegen. Zu wenig, ihn hundertprozentig an den Galgen zu bringen.

Für ihn bedeutete die Botschaft des versiegelten Briefes jedoch, er wäre fortan gezwungen für seinen Stiefsohn zu sorgen. Nicht nur das, er musste unbedingt dafür sorgen, dass dem verhassten Balg auch wirklich nichts geschah. Wenigstens konnte er als Treuhänder des Knaben weiterhin über dessen Reichtümer verfügen. Wenn auch nur in beschränktem Maße. Ein schwacher Trost, wenn er bedachte, dass alles schon bald sein Eigentum sein könnte.

„Verdammt, verdammt, verdammt!“ wütete er und schlug zornig auf die Lehne des Ledersessels ein. Dabei hatte er den Plan so schön eingefädelt.

Natürlich gab es noch das alte, offizielle Testament, das Simon als alleinigen Erben bestimmte. Das Dokument, das er Roland zu unterschreiben gezwungen hatte, hätte ihn, Hunold erst dann zum alleinigen Erben gemacht, wenn Simon - wie eigentlich geplant – etwas zugestoßen wäre. Denn er hatte selbstverständlich nie die Absicht gehabt, den Knaben bis zu seiner Volljährigkeit am Leben zu lassen. Nach Freijas Tod wollte er Simon einen tragischen Unfall erleiden lassen. Aber Freija war ihm auf die Schliche gekommen. Wie ihr das gelungen war, würde wohl auf ewig ein Rätsel bleiben. Zum Glück hatte sie ihr Geheimnis mit ins Grab genommen.

Schon gleich nach Rolands Hinrichtung hatten die Dinge begonnen, anders zu laufen als er sie geplant hatte. Freija hatte darauf bestanden, den Leichnam ihres Mannes ausgehändigt zu bekommen. Eigentlich hätte er, wie alle ehrlos Hingerichteten in einem anonymen Grab vor den Toren der Stadt verscharrt werden müssen. Und Hunold sah sich auch noch gezwungen, ihr bei der Durchsetzung ihres Willens behilflich zu sein. Denn schließ­lich wollte er schnell ihr Vertrauen gewinnen.

Anders als andere Frauen ihres Standes hatte es sich die Gräfin außerdem nicht nehmen lassen, den Leichnam ihres Mannes eigenhändig zu waschen und für die Beerdigung herzu­rich­ten. Dabei konnten ihr die schrecklichen Folterwunden, die seinen Körper übersäten natürlich nicht entgehen. Ja, sie entdeckte sogar, dass ihm mit einem glühenden Messer die Zunge herausgeschnitten worden war. Nachdem sie sich von ihrem Entsetzen über die Entdeckung erholt hatte, recherchierte Freija kaltblütig. Die Folterungen und das Herausschneiden der Zunge deuteten darauf hin, dass ihr Mann zu irgendetwas gezwungen, und an­schließend auf grausame Weise am Reden gehindert worden war.

Damit ihr Verdacht letzten Endes nicht doch auf ihn fiel, hatte Hunold sich nach außen hin sehr bemüht, ihr bei der Aufklärung des Verbrechens behilflich zu sein. Heimlich war er hingegen schwer beschäftigt gewesen, alle Indizien, die auf ihn deuten konnten zu beseitigen. So hatte er als erstes den Wärter umgebracht, der ihm als Folterknecht gedient hatte.

Das Blatt schien sich erst zum Guten zu wenden, als Freija schließlich einwilligte, ihn zu heiraten. Er bekam Zugang zu Rolands Vermögen und konnte endlich die dringendsten, seiner Spielschulden begleichen. Natürlich schnüffelte er auch heimlich in den Unterlagen herum, die den Reichtum und die Besitztümer der Grafen zu Hohenberger deklarierten. Er war beeindruckt. Im Gegensatz zu ihm selbst, war es Roland scheinbar mühelos gelungen, sein ererbtes Vermögen nicht nur zu bewahren sondern durch umsichtiges Handeln auch noch zu vermehren. Die Dokumente und Besitzurkunden lagen allesamt säuberlich in einem ledergebundenen Ordner im Arbeitszimmer verstaut.

Hunold hatte das erpresste Dokument erst einmal dazu gelegt und die Mappe dann wieder an ihren Platz im Geheimfach des Schreibtisches zurückgelegt. Er wusste von diesem Fach weil Roland vor ihm, seinem Freund keine Geheim­nisse hatte.

Jetzt, im Moment überlegte Hunold, ob er die Unterlagen nochmals durchsehen sollte. Vielleicht war Roland beim Verfassen seines Testamentes ja ein Fehler unterlaufen, den er zu seinen Gunsten auslegen konnte. Aber dann verwarf er den Gedanken wieder. Er wusste nur zu gut, dass das nicht der Fall war. Er hatte alle Unterlagen schon mehrfach überprüft. Nein, er konnte nichts anderes tun als das Eintreffen des Mannes abzuwarten, der angeblich so hervorragend Dokumente fälschte. Vielleicht konnte der ihm helfen, das Problem, Simon noch über Jahre durchfüttern zu müssen, lösen.

„Verdammter Balg!“ knirschte er erbittert und schlug erneut auf die Sessellehne. „Ver­dammte­ Freija. Magst du in der Hölle schmoren.“

Für Simon endeten mit dem Tod seiner Mutter die guten Zeiten. Leider hatte sie in ihrer Schwäche nur sein Leben retten können und weder ihr, noch Edda war in den Sinn gekommen, dass sein Status nicht weiter fortbestehen würde. Hunold nutzte das Versäumnis gnadenlos aus, was zur Folge hatte, dass Simon nicht mehr so behandelt wurde, wie er es bisher stets gewohnt war.

Sein Stiefvater beach­tete ihn kaum, was dem Jungen jedoch nur recht war. Er hatte schon immer Angst vor dem großen, finster blickenden Mann gehabt. Schlimmer war für ihn, dass er sein schönes Kinderzimmer räumen musste. Stattdessen bekam er eine winzige, dürftig eingerichtete Kammer im Dachgeschoß, wo auch das Gesinde wohnte. Noch nicht einmal seine Kleidung durfte er mitnehmen. Er bekam alte, abgetragene Sachen von Falk. Alle seine Spielsachen bekamen seine Stiefgeschwister. Nur seinen Stoffhund nahm Simon heimlich mit. Er versteckte den Talisman vorsorglich unter dem Strohsack, der anstelle einer Matratze in seiner Bettstatt lag.

Auch sein Essen fiel nicht mehr so reichhaltig und vielseitig aus wie früher. Er musste mit den Knechten und Mägden im Gesindehaus essen. Wenigstens die Bediensteten waren nett und freundlich zu ihm. Aber sie hatten nur wenig Zeit, sich um ihn zu kümmern. Deshalb bekam er immer öfter kleine Aufgaben zugeteilt, damit er nicht nur herumstand und traurig schaute. So durfte er mit den Mägden die Hühner füttern und die Eier einsammeln. Schon bald konnte er diese Arbeit alleine ausführen und war sehr stolz darauf.

Edda hatte über Simons Verbannung aus seinem Elternhaus heftig protestiert. Aber Hunold hatte ihr nur kalt geantwortet, falls es ihr nicht passe, so könne sie ja gehen. Nach reiflichem Überlegen blieb Edda, so konnte sie wenigstens noch ein wenig für das Wohl ihres Schützlings sorgen. Abends, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig war, besuchte sie Simon in seinem Zimmer und tröstete ihn in seiner Einsamkeit. Manchmal, wenn er besonders traurig war, nahm sie ihn heimlich mit in ihr eigenes Zimmer. Er durfte dann in ihrem Bett schlafen und sie erzählte ihm Geschichten. Und sie unterrichtete ihn heimlich weiterhin im Lesen und Schreiben, so wie es seine Mutter begonnen hatte.

Mehr als sieben Jahre vergingen und aus Simon wurde ein großer, kräftiger Junge. Längst hatte er vergessen, wer er in Wirklichkeit war. Hunold zu Kilchenstein hatte allen Dienst­boten strengstens verboten, dem Jungen seine wahre Herkunft zu verraten. Edda, die treue Seele, hatte sich als einzige gegen das Verbot aufgelehnt, dafür wurde sie gnadenlos aus ihren Diensten entlassen. Ihr Schicksal zeigte den restlichen Bediensteten, wie ernst es ihrem Herrn war. Keiner wagte fortan, sich über seine Anord­nungen hinwegzusetzen.

Seit Eddas Rauswurf war Simon ganz auf sich alleine gestellt. Zwar vertrug er sich mit den restlichen Bediensteten, in deren Mitte er lebte und mit denen er tagtäglich arbeitete. Aber sie waren ihm gegenüber merkwürdig distanziert und befangen. Er bemühte sich verzweifelt, das zu ändern, blieb aber erfolglos. Schließlich resignierte er und gab sich selbst die Schuld, dass niemand mit ihm zu tun haben wollte.

Er war fast dreizehn Jahre alt und seit einem Jahr diente er als persönlicher Bursche dem jungen Falk zu Kilchenstein. Er betreute dessen Pferd und war angehalten, jeden Befehl seines jungen Herrn zu befolgen. Das war eine keineswegs leichte Aufgabe, denn Falk konnte man kaum etwas recht machen. Und er schikanierte seinen Knappen, als den er Simon bezeichnete, mit wahrer Wonne.

Aber auch Falk wusste nicht, dass Simon der wahre Erbe von Burg Hohenberg war. Hunold enthielt seinem Sohn dieses Wissen bewusst vor, denn Falk war ein Schwätzer und Wichtigtuer, der kein Geheimnis für sich behalten konnte.

Für Hunold war es eine Genugtuung, Simon in Unwissenheit über seine Herkunft zu halten. Es gefiel ihm, den Jungen zum Diener seines Sohnes zu machen. Zu seinem Ärger überragte der jüngere Simon Falk um etliche Zentimeter und war auch viel kräftiger. Und mit wachsender Missbilligung registrierte Hunold, dass Simon seinem Vater immer ähnlicher wurde.

Noch immer hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, doch noch an die Erbschaft seines Ziehsohnes zu kommen. Und obwohl er Simon hart arbeiten ließ und ihn gerne mit abfälligen Worten demütigte, passte er sorgfältig auf, dass es dem Jungen körperlich gut ging. Denn nach wie vor musste er die Enthüllung seiner Taten befürchten, sollte Simon durch einen Unfall oder eine Krankheit sterben.

Zu Anfang trug der Freiherr sich mit dem Gedanken, einfach die versiegelten Briefe der anderen Männer stehlen zu lassen. Aber das erwies sich als unmöglich, außerdem hätte der Diebstahl sofort den Verdacht auf ihn fallen lassen.

Immer wenn Hunold zu Kilchenstein seinem Stiefsohn begegnete, kochte der Hass in ihm hoch. Er verfluchte das unverschämte Glück des Jungen. Wäre es nach ihm gegangen, so würden seine Gebeine längst zwischen denen seiner Eltern vermodern. Alles, aber auch alles war schiefgegangen. Sein schöner Plan, auf den er so stolz gewesen war, hatte sich aufgelöst wie eine platzende Seifenblase.

Als der Fälscher, den er bestellt hatte, kurz nach Freijas Tod auf Burg Hohenberg eingetroffen war, konnte Hunold die Dokumente, die er ein klein wenig verändern lassen wollte, plötzlich nicht mehr auffinden. Die Mappe hatte zwar an ihrem Platz im Geheimfach gelegen, aber die für ihn so wertvollen Unterlagen waren verschwunden. Irgendjemand musste sie herausgenommen haben. Dabei war das eigentlich gar nicht möglich. Er selbst trug die Schlüssel zu Arbeitszimmer und Geheimfach immer an einer dünnen Kette um seinen Hals. Niemals, noch nicht einmal während seines wöchentlichen Bades nahm er sie ab. Aber es war auch nicht in das Arbeitszimmer eingebrochen worden. Das wäre ihm aufgefallen.

Erst nach einigen Tagen heftigen Grübelns war es Hunold gelungen, sich zusammenzureimen, wie es einem Dieb gelungen sein konnte, an die Schlüssel zu gelangen. Um seine kör­perlichen Bedürfnisse zu befriedigen, hatte er schon seit längerem mehrmals wöchentlich ein Bordell aufgesucht. Nach seiner Hochzeit war er Freija schnell überdrüssig geworden, da er gespürt hatte, wie sehr sie Roland vermisste, wenn sie mit ihm schlief. Das hatte ihn so sehr verärgert, dass er es bald unterließ und seine Befriedigung lieber wieder im Bordell suchte.

Eine neue Hure, die er sich gekauft hatte war ganz versessen gewesen, ihn vor dem Beischlaf zu entkleiden. Er hatte es gerne zugelassen. Später erinnerte er sich daran, dass sie ihm auch die Kette abgenommen und auf einem Schrank abgelegt hatte. Ganz sicher hatte sie einen Komplizen gehabt, der von den Schlüsseln einen Wachsabdruck machte, während Hunold sich mit der Dirne vergnügte. Als er die Frau später zur Rede stellen wollte wer ihr Auftraggeber war, war sie nicht mehr dagewesen und niemand konnte sich an sie erinnern.

Jedenfalls, so kombinierte er, mussten die Dokumente noch auf Burg Hohenberg sein. Er war sich sicher, dass Freija die Papiere hatte stehlen lassen. Da sie jedoch schon sehr krank war, konnte sie die Dokumente eigentlich nur in einem geheimen Versteck innerhalb der Burg deponiert haben. Die Frage war jedoch: wo? Sie konnten überall sein. Vielleicht sogar eingemauert in einer Wand. Freijas Bedienstete waren ihrer Herrin treu ergeben gewesen. Derjenige, der die Papiere für sie versteckt hatte, würde den Ort niemals freiwillig verraten. Und da Hunold nicht wusste, wer von den Dienern es gewesen war, konnte er das Versteck auch nicht aus dem Mann oder der Frau heraus­pressen. Irgendwann fiel ihm ein, dass es wahrscheinlich Edda gewesen war, die engste Vertraute Freijas. Aber er hatte die Frau dummerweise schon lange entlassen und wusste noch nicht einmal, wo sie seither lebte.

So suchte er nun schon seit Jahren vergeblich nach dem geheimen Ort. Denn er war sich fast sicher, spätestens an Simons einundzwanzigstem Geburtstag würden die Dokumente auf geheimnisvolle Weise wieder auftauchen. Doch bis dahin war es für ihn endgültig zu spät, das Testa­ment zu seinen Gunsten zu manipulieren.

„Nun mach schon Simon. Du wirst es doch fertigbringen, mir ein Rudel Rehe vor die Flinte zu jagen. Da hätte ich genauso gut den lahmen Hannes mitnehmen können. Der wäre sicher noch schneller als du.“

Simon kam keuchend hinter ihm zum Stehen. Falk hat gut reden, dachte er mürrisch. Er reitet seit einer Stunde über Stock und Stein und lässt mich hinterherlaufen wie einen Jagdhund. Als wenn es nicht genug Pferde im Stall gäbe, die sowieso bewegt werden müssen. Laut sagte er nur. „Ich kann hier weit und breit keine Rehe ausmachen. Wahrscheinlich habt Ihr sie alle schon abgeknallt.“

Er wusste zwar, wie der junge Schnösel es hasste, wenn er ihm gegenüber nicht den nöti­gen Respekt zeigte, aber er war es langsam leid, sich von dem arroganten Kerl schikanieren zu lassen. Viel lieber wäre er zu seiner ehemaligen Beschäftigung in den Ställen und auf den Feldern zurückgekehrt. Aber der Freiherr zu Kilchenstein hatte darauf bestanden, dass er fortan für seinen Sohn den Laufburschen spielte.

Falk schaute missbilligend zu ihm herunter, verkniff sich aber eine Antwort. Wenn er mit Simon alleine war, wagte er es meist nicht, ihn allzu sehr zu provozieren. Obwohl er fast drei Jahre jünger war wie sein junger Herr, war Simon größer und vermutlich auch stärker als der verweichlichte Falk. Zudem besaß er ein aufbrausendes Temperament und ging einem kleinen Kräftemessen nicht aus dem Wege. Nur wenn sein Vater in der Nähe war, traute Falk sich, Simon herum zu kommandieren.

„Da vorne, im Feld stehen ein paar Rehe“, lenkte er jetzt ein und stellte sich in den Steig­bügeln auf um besser sehen zu können. „Pirsch du dich von hinten an sie heran, dann kannst du sie mir direkt vor die Mündung scheuchen.“

Simon trabte leise seufzend in die angegebene Richtung. Er hasste es, als Treiber zu fungieren. Die Tiere taten im Leid. Wenn Falk seine Beute wenigstens mitnehmen würde. Aber er knallte das Wild meist nur ab und ließ es dann liegen. Ja er kümmerte sich noch nicht einmal darum, ob das getroffene Tier auch wirklich tot war sondern überließ es Simon, ihm den Gnadenstoß zu versetzen.

Vielleicht kann ich die Rehe verjagen, dachte er und trat absichtlich auf dürre Äste. Außerdem schnaufte er laut und hustete ab und zu. Seine List schien aufzugehen, aus dem hohen Gras erhoben sich schmale Rehköpfe und witterten misstrauisch in seine Richtung.

Da kam auch schon Falk von der anderen Seite auf seinem Braunen angeprescht und scheuchte die Rehe endgültig auf. Sie liefen von ihm weg, genau auf Simon zu. Er sah, wie sein Herr das Pferd anhielt und die Flinte anlegte. Abwehrend wedelte er mit den Händen in der Luft, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Da ertönte schon ein lauter Knall und Simon spürte einen harten Schlag gegen die rechte Schulter. Er taumelte zurück und blickte verwundert an sich herunter. In seiner Weste war plötzlich ein kleines, kreisrundes Loch aus dem es warm und rot sickerte. Im gleichen Moment als er das Blut sah, fühlte er auch den Schmerz.

Er hat auf mich geschossen, erkannte er fassungslos. Falk hat auf ein Reh gezielt und stattdessen mich getroffen. Langsam ließ er sich ins hohe Gras sinken.

„Simon! Was tust du da? Treibe die Biester wieder in meine Richtung.“ Falk gab seinem Braunen die Sporen und preschte wütend auf ihn zu. „Hast du keine Augen im Kopf. Die Rehe laufen doch direkt an dir vorbei.“ Jetzt war er bei ihm und blickte wütend auf ihn herab. „Was machst du da..., oh Gott, du blutest ja.“

Er sprang aus dem Sattel und kniete sich neben Simon ins Gras. „Aber..., aber das gibt es doch gar nicht. Ich habe doch auf das Reh gezielt.“

„Schnell, holt Hilfe. Ich glaube, ich verblute.“ Simon presste seine Hand auf die Wunde aus der nun ein wahrer Blutstrom sickerte. Das Blut lief zwischen seinen Fingern hindurch und tränkte die wattierte Weste.

Das ließ sich Falk nicht zweimal sagen. „Halte durch, Simon!“ rief er erregt und schwang sich aufs Pferd zurück. „Ich reite so schnell ich kann.“ Er trat dem Tier in die Weichen, so dass es mit einem mächtigen Satz davon stob. Bald war er in der Ferne verschwunden.

Simon ließ sich auf die Seite fallen und presste nun beide Hände auf die Wunde, als könne er dadurch den Blutstrom eindämmen. Ihm war auf einmal furchtbar schlecht und er übergab sich. Kurz darauf hüllte ihn eine gnädige Ohnmacht ein.

Falk ritt wie der Teufel zur Burg zurück. Im Hof brachte er das Pferd zum Stehen und sprang aus dem Sattel. „Vater, Vater, kommt schnell. Es ist etwas mit Simon passiert. Er verblutet.“

Hunold glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, als er die vor Angst schrille Stimme seines Sohnes vernahm. Mit polternden Schritten rannte er ihm entgegen und packte den völlig verstörten Jungen an der Schulter. „Was sagst du da? Was ist geschehen? Führe mich sofort zu ihm.“

Er eilte schon in Richtung Stall und zog seinen Sohn mit sich. Während ein Stallbursche mit fliegenden Fingern ein Pferd sattelte, berichtete Falk seinem Vater kleinlaut, was geschehen war. „Ich schwöre, es war nicht meine Schuld“, beteuerte er. „Simon ist mir genau in die Schussbahn gelaufen.“

„Das klären wir später. Jetzt zeige mir erst den Weg zu ihm.“ Hunold war einer Panik nahe. Wenn Simon starb war er erledigt. Hinter seinem Sohn galoppierte er den Weg entlang und überlegte fieberhaft, was er tun sollte, falls der verhasste Stiefsohn tot wäre. Als sie am Unglücksort ankamen, war er fast krank vor Sorge um sich selbst.

Er kniete neben Simon nieder und fühlte an dessen Hals nach dem Puls. Gott sei Dank, der Junge lebte noch. Vorsichtig drehte er ihn auf den Rücken und nahm ihm die Hände von der Wunde. Sie blutete nicht mehr allzu stark, aber Simon war sehr blass und außerdem bewusstlos. Hunold überlegte kurz, dann befahl er Falk, der neben ihm stand und ängstlich guckte. „Steh nicht so dumm herum. Reite in die Stadt und hole den Doktor. Er soll sofort auf die Burg kommen, ich bringe den Jungen derweil dorthin.“

Ohne noch weiter auf seinen Sohn zu achten zog er seine Jacke aus und legte sie ins Gras. Dann bettete er den Bewusstlosen darauf und verknotete die Ärmel so vor dessen Brust, dass der Knoten wie ein Druckverband auf die Wunde wirkte. Hunold hoffte, die Maßnahme möge ausreichen, die Blutung endgültig zu stoppen. Nun begann der schwierige Teil. Er musste irgendwie mit seinem Stiefsohn in den Armen auf sein Pferd kommen. Aber das war unmöglich. Simon war seiner Größe entsprechend schwer und durch die Ohnmacht nicht in der Lage, mitzuhelfen.

Schließlich gelang es Hunold irgendwie, den Jungen aufs Pferd zu hieven und dann hinter ihm aufzusitzen. Wie ein liebevoller Vater legte er seine Arme um ihn und ritt eilig mit ihm zur Burg zurück.

Kapitel 03: Nelia

Der Arzt traf kurz nach den beiden auf der Burg ein, geführt von Falk der aufgeregt vor ihm her eilte. Hunold hatte Simon inzwischen im großen Wohnzimmer auf das Bärenfell gebettet, das vor dem Kamin lag. Der Junge war noch immer bewusstlos. In seinem wächsernen Gesicht zuckte ein Muskel, das einzige Zeichen, dass noch Leben in ihm war.

Der alte Arzt drängte den Freiherrn respektlos zur Seite und kniete sich schnaufend neben dem Jungen nieder. Mit sachkundigen Griffen untersuchte er die Wunde und den Allge­meinzustand seines Patienten. Dabei schüttelte er bedenklich den ergrauten Kopf.

„Was ist mit ihm? Wird er durchkommen?“ Hunold meinte, vor Angst selbst ohnmächtig zu werden.

Falk, der noch immer unsicher in der Türe stand, schaute seinen Vater ver­wundert an. Warum nur machte er sich plötzlich wegen dieses Burschen so verrückt? Es handelte sich doch nur um einen der vielen Bediensteten. Es kam öfter einmal vor, dass ein Knecht oder eine Magd einen Unfall erlitt. Bisher hatte das den Burgherrn kaum gekümmert. Schon gar nicht war es ihm jemals eingefallen, einen Verletzten höchstpersönlich in sein Haus zu tragen. Oder gar die teuren Dienste eines Doktors zu bezahlen.

„Er hat viel Blut verloren. Aber die Verletzung ist nicht unbedingt lebensgefährlich. Die Lunge wurde zum Glück nicht verletzt. Wenn es mir gelingt, die Kugel zu entfernen, so wird er wahrscheinlich wieder vollkommen gesund. Vorausgesetzt natürlich, er bekommt keinen Wundbrand.“ Der Doktor erhob sich schwerfällig und blickte sich im Zimmer um.

„Hier kann ich nicht operieren. Ich brauche einen großen Tisch und heißes Wasser. Und saubere Tücher.“

„Die Küche wird gehen. Der Tisch ist so groß, da kann man einen Ochsen darauf zer­legen. Wasser und Tücher gibt es dort ebenfalls zur Genüge. Falk, komm her und hilf mir tragen. Steh nicht herum, wie ein dummer Hornochse.“

Hunold war schon in die Hocke gegangen und fasste Simon vorsichtig unter den Schultern. Mit einer herrischen Kopfbewe­gung befahl er seinem Sohn die Füße zu packen. Dann trugen sie den schlaffen Körper in die Küche und legten ihn auf den sauber geschrubbten Tisch. Die Küchenmägde wurden hinausgeschickt, nur Martha, die alte Köchin blieb um für heißes Wasser und saubere Tücher zu sorgen.

Der Doktor beorderte Hunold an den Kopf und Falk an die Füße Simons. Sie sollten den Jungen festhalten, damit er sich nicht bewegen konnte. Wie nötig diese Vorsichtsmaßnahme war, zeigte sich bald. Mit einem Skalpell aus seiner Arzttasche schnitt der Doktor erst das Wams und dann das Hemd des Verwundeten auf. Danach ließ er sich von der Köchin starken Branntwein bringen. Damit reinigte er zuerst sein Skalpell und goss dann eine beträchtliche Menge über die Wunde.

Der brennende Schmerz ließ Simon sofort aus seiner Ohnmacht erwachen. Mit einem lauten Schrei wollte er auffahren, wurde aber von Hunolds kräftigen Händen eisern niedergehalten. Sein Schrei verebbte zu einem Wimmern und er sah sich verwirrt um.

„Hier mein Junge, du wirst es brauchen“, brummte der alte Arzt mitleidig und hielt ihm die Flasche an die Lippen. Mit der anderen Hand stützte er fürsorglich Simons Kopf, damit der sich nicht an dem scharfen Schnaps verschluckte.

Simon keuchte und wollte den Weinbrand verweigern. Zwar gab es bei den Mahlzeiten  öfter Bier oder Apfelwein, aber etwas Schärferes hatte er noch niemals getrunken. Doch der Doktor gab nicht nach und flößte ihm eine gewaltige Portion in kleinen Schlucken ein. Dabei redete er ihm unaufhörlich gut zu.