Einhorn Legende - Gerdi M. Büttner - E-Book

Einhorn Legende E-Book

Gerdi M. Büttner

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Beschreibung

Die 17-jährige Lena erbt überraschend das Gestüt ihrer Patentante Anne, die bei einem Reitunfall starb. Aber sie hat keine Ahnung von Pferden und weiß nicht, ob sie dem Erbe gerecht werden kann. Lukas Forster bietet ihr seine Hilfe an. Er ist der Tierarzt des Gestüts und verwaltet es seit dem Tod seiner Lebensgefährtin Anne. Trotz anfänglicher Zweifel geht Lena auf sein Angebot ein, unter seiner Leitung alles Notwendige und Wissenswerte über die Führung eines Gestüts zu erlernen. Sie vertraut dem charismatischen Mann trotz der mysteriösen Aura, die ihn zu umgeben scheint. Nach einiger Zeit geschehen immer mehr seltsame Dinge. Lukas Sohn Julian trifft auf dem Gestüt ein und bringt Lena in große Verwirrung. Im Stall wird ein schneeweißes Fohlen geboren, das zu ihr spricht. Schließlich offenbart Lukas, dass die Zeit gekommen sei, in der die Einhörner auf die Welt zurückkehren, um den Kampf gegen Dämonen aufzunehmen. Denn die Dämonen nehmen immer mehr Einfluss auf die Menschheit, um sie anzutreiben Kriege zu führen und sich selbst und die Welt zu zerstören. Lena, Julian und Lukas sind dazu ausersehen, gemeinsam mit den Einhörnern, in den Kampf gegen die Dämonen zu ziehen. Dieser Kampf soll in einer Nebenwelt stattfinden, in die sie reisen müssen. Dort lernen sie fremde Kreaturen kennen, die ihnen helfen wollen. Denn der Kampf gegen die Dämonen kann ihnen den Sieg oder die Vernichtung bringen.

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Seitenzahl: 357

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Die Erbschaft

Kapitel 2: Gestüt Baldomar

Kapitel 3: Familiengeschichten

Kapitel 4: Julian

Kapitel 5: Offenbarungen

Kapitel 6: Lukas' Geheimnis

Kapitel 7: Kassiopeia

Kapitel 8: Das Land hinter der Mauer

Kapitel 9: Julians Aufgabe

Kapitel 10: Elfenland

Kapitel 11: Marius

Kapitel 12: Die Zusammenkunft

Kapitel 13: Eine neue Chance für Lukas

Kapitel 14: Vor dem Entscheidungskampf

Kapitel 15: In Lebensgefahr

Kapitel 16: Alles auf Anfang

Kapitel 1: Die Erbschaft

„...vererbe ich meinem Patenkind und Mündel Annalena Siebert mein komplettes Vermögen, sowie mein Gestüt Baldomar, unter der Bedingung, dass sie eine gründliche Ausbildung zur Pferdewirtin dort absolviert. Der Gestütsleiter und Tierarzt Dr. Lukas Forster wird solange die Geschäfte leiten, bis Annalena diese übernehmen kann. Außerdem bestimme ich.“

Was der Notar noch weiter vorlas hörte Lena nur noch verschwommen. Das Blut rauschte so laut in ihren Ohren, dass sie dachte ihr Kopf zerplatze. Zum Glück hielt dieser Zustand nicht lange an, so dass sie sich wieder auf die Worte des Notars konzentrieren konnte. Er war bereits am Ende der Verlesung angelangt und belehrte sie darüber, dass sie eine Bedenkzeit von vier Wochen darüber habe, ob sie das Erbe annehmen oder ablehnen wollte.

Nachdem sich der Notar verabschiedet hatte sank sie auf ihren Stuhl zurück, um über das nachzudenken, was sie gehört hatte. Sie war in dem Gedanken angereist, dass ihre verstorbene Tante ihr wohl ein paar Stücke ihres Schmuckes vererbt hatte. Annalena Beyer war die ältere Schwester ihrer Mutter und Lenas Patin. Es war ihr Wunsch gewesen, dass ihr Patenkind ihren Vornamen erhielt. Von ihren Eltern wurde sie immer nur Lena genannt.

Zuletzt hatte Lena ihre etwas egozentrische Patin vor mehr als vier Jahren gesehen. Bei der Beerdigung ihrer Eltern, die bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren. Ihre Tante hatte ihr damals angeboten zu ihr zu ziehen, was sie jedoch nach kurzem Bedenken abgeschlagen hatte. Da ihre Eltern oft für längere Zeit geschäftlich unterwegs waren, hatten sie ihr einziges Kind in einem exklusiven Internat untergebracht.

Für Lena war es zur zweiten Heimat geworden, deshalb wollte sie dort bis zu ihrem Schulabschluss bleiben.

Sie hatte damals jedoch zugestimmt die Ferien bei ihrer Tante zu verbringen. Als sie das letzte Mal dort war, war sie ein Kind von zehn Jahren gewesen und Tante Anne, so wollte sie genannt werden, hatte einen kleinen Reiterhof besessen.

Aus dem Reiterhof war dann ein Gestüt geworden. Ihre Tante hatte das umliegende Gelände aufgekauft und daraus große Koppeln für ihre Pferde gemacht. Soweit sich Lena erinnerte züchtete sie zwei Pferderassen, die verschiedener nicht sein konnten. Zum einen kohlschwarze Friesen mit langen gewellten Mähnen und Schweifen und üppigem Behang an den Fesseln. Die Pferde der anderen Rasse waren hingegen schneeweiß, hatten aber ebenso eine lange Mähne, Schweife und Behänge. Ihre Tante hatte ihr erklärt das sei ein früherer Farbschlag der Friesen, der eigentlich nicht mehr gezüchtet wurde. Da ihr aber diese schneeweißen Tiere so gut gefielen, hatte sie nach langem Suchen einige Exemplare auf einem Pferdemarkt entdeckt und sofort gekauft. Seither züchtete sie neben den schwarzen auch weiße Friesen. Als einziges Gestüt auf der Welt, wie sie Lena stolz erzählt hat. Einige Fohlen dieser Rasse trugen sternförmige Wirbel auf der Stirn und hatten leicht silbrig schimmernde Augen. Sie waren Tante Annes ganzer Stolz gewesen, aber warum hatte sie Lena nicht verraten.

Bei diesem Ferienaufenthalt hatte Lena ihre Liebe zu Pferden entdeckt, besonders nachdem sie bei der Geburt eines Fohlens dabei sein durfte. Der kleine schwarze Hengst hatte ebenfalls einen sternförmigen Wirbel auf der Stirn getragen und im Licht der Stallbeleuchtung hatten seine Augen golden gefunkelt, als er Lena angeblickt hatte. Tante Anne war damals schier aus dem Häuschen gewesen, nachdem sie den kleinen mit Stroh trockengerieben und den Stern entdeckt hatte.

„Lanzelot! Mein Hoffnungsträger“, hatte sie bewegt gesagt und sich die Tränen aus den Augen gewischt.

„Endlich bist du da.“

Kurz bevor die Ferien zu Ende gingen hatte Lena nochmals einen Spaziergang über das weitläufige Gelände gemacht. Es reichte bis zu einer Bucht, die versteckt zwischen hohen Felsen lag. Diese Felsen erstreckten sich bis ins Meer und schirmten den Strand ab. Dieser war nur über steile, unregelmäßige Steinstufen erreichbar, die irgendwann vor langer Zeit in die schroffe Felswand gehauen worden waren.

Warum Lena damals den beschwerlichen Weg zur Bucht hinunter gemacht hatte wusste sie später nicht mehr zu sagen. Es war als zöge sie etwas dahin. Barfuß, im seichten Wasser stehend, hatte sie aufs Meer geblickt, als sie plötzlich ein leises Wimmern vernahm. Es kam von den groben Steinen, die dicht an der Felswand aus dem Wasser ragten. Langsam war sie darauf zugegangen und plötzlich den Kopf eines braunen Hundes entdeckt der, als er sie sah, lauter jaulte.

Eilig war sie auf ihn zugelaufen. Er schien verletzt, denn er konnte nicht aus eigener Kraft aufstehen. Bernsteinfarbene Augen hatten sie bittend angeschaut und sie hatte keine Sekunde gezögert, dem Hund aus dem Wasser zu helfen. Er war größer als sie zuerst vermutet hatte und ziemlich schwer. Es hatte sie viel Kraft gekostet, ihn bis an den Strand zu ziehen. Dort hatte sie entsetzt festgestellt, dass seine Beine in einer Angelschnur verheddert waren, die sich tief in die Haut geschnitten und böse Wunden verursacht hatten.

Mühsam hatte sie die dünne Schnur entknotet, da sie natürlich kein Werkzeug zum Zerschneiden dabeihatte. Währenddessen hatte ihr der Hund voller Dankbarkeit ununterbrochen die Hände abgeleckt, was die Prozedur noch mehr in die Länge gezogen hatte. Sie konnte es jedoch nicht übers Herz bringen ihn daran zu hindern.

Dann hatte sie gehört wie jemand ihren Namen rief und sich erleichtert gemeldet. Ihre Tante hatte sie bereits vermisst und einen Stallburschen ausgeschickt, nach ihr zu schauen. Mit dessen Hilfe konnte Lena den Hund die Treppen hochschaffen und bis zum Gestüt bringen, wo er vom zufällig anwesenden Tierarzt untersucht und verarztet worden war.

Es hatte sich herausgestellt, dass der Hund eine trächtige Hündin war. Vermutlich wäre sie eine Bulldogge, hatte der alte Tierarzt gemeint und gefragt, ob er sie mitnehmen und im Tierheim abgeben sollte. Nach nur kurzem Überlegen hatte Anne sich jedoch entschlossen die Hündin bei sich aufzunehmen. Sie beauftragte den Tierarzt den Hund im Tierheim zu melden, und dass er bei ihr abgeholt werden konnte, falls sich der Besitzer fand. Weil sie die Farbe von Weinbrand hatte, bekam die Hündin den Namen Brandy.

Was wohl aus Brandy geworden war, überlegte Lena wehmütig. Falls sie bei Anne geblieben war, hatte sie kein Frauchen mehr. Der Gedanke machte sie seltsam traurig. Sie selbst hatte gar nicht richtig um ihre Tante getrauert, kam ihr dabei in den Sinn. Die Nachricht von Annes Tod hatte sie zwar schockiert, doch hatte sie es unterdrückt um sie zu trauern und sich stattdessen um ihr bevorstehendes Abitur gekümmert.

„Soll ich dich zum Gestüt mitnehmen, damit du dir dein Erbe anschauen kannst?“

Eine tiefe Stimme riss sie aus ihren Gedanken und sie fuhr erschrocken herum. Neben ihr stand ein hochgewachsener schlanker Mann mit dunklen Haaren. Er sah gut aus, fand Lena, sie schätzte ihn auf etwa fünfundvierzig Jahre.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte er mit einem kleinen Lächeln.

„Ich bin der Gestütsleiter von Baldomar und gleichzeitig auch der Tierarzt. Mein Name ist Lukas Forster.“

„Ich weiß nicht so recht“, antwortete sie verlegen. „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Tante Anne mir ihr Gestüt vermachte und weiß gar nicht, was ich tun soll.“

Unsicher sah sie zu ihm hoch. Doch er meinte in beruhigendem Ton:

„Na, dann schau dir doch erst einmal alles in Ruhe an, zum Entscheiden hast du ja noch vier Wochen Zeit. Hast du schon ein Zimmer für die Nacht? Du kannst auch gerne im Haus deiner Tante wohnen.“

Nach kurzem Nachdenken entschied sich Lena mit zum Gestüt zu fahren. Wo sie jetzt schon einmal hier war, konnte sie sich auch alles gleich anschauen. Und falls sie sich entschied die Nacht im Haus ihrer Tante zu verbringen, so konnte sie ihr gebuchtes Hotelzimmer absagen.

Die Fahrt von der Stadt bis zum Gestüt dauerte länger als es ihr in Erinnerung war, erst nach etwa einer halben Stunde sah sie es in der Ferne auftauchen. Es wirkte noch größer auf sie als damals. Vielleicht hatte Tante Anne noch mehr Land dazu gekauft um darauf Koppeln einzurichten. Wie viele Pferde wohl inzwischen in den Ställen und auf den Weiden standen? Bei dem Gedanken überlief sie eine Gänsehaut und sie fragte sich unwillkürlich, ob sie überhaupt in der Lage wäre ein Gestüt zu übernehmen. Mit ihren siebzehn Jahren hatte sie gerade ihr Abitur gemacht und wusste noch nicht einmal welchen Beruf sie ergreifen wollte. Von der Pferdezucht hatte sie nicht die geringste Ahnung. Und auch nicht von dem was sonst so alles an Arbeit auf einem Gestüt anfiel, allein was an Büroarbeit und Papierkram darin stecken musste, war für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Da reichte ihr recht guter Abschluss in BWL sicher nicht aus.

Auch was das Wohlergehen und die Gesundheit der Pferde angeht, besaß sie keine Ahnung. Sie hatte bei ihrem letzten Aufenthalt zwar manchmal bei der Fütterung geholfen und einmal ein Pferd geputzt und gestriegelt. Diese Erfahrung reichte jedoch nicht einmal für ein eigenes Pony aus, geschweige denn um ein Gestüt zu führen.

Doch dann fiel ihr ein was der Notar vorgelesen hatte: Das auf dem Gestüt sehr viele Menschen arbeiteten. Angefangen bei Pferdepflegern und Stallburschen über Bereiter und Pferdetrainer bis zu Büroangestellten. Es gab sogar eine Kantine mit dem dazugehörigen Küchenpersonal, das für das leibliche Wohl von Angestellten und Arbeitern sorgte. Und natürlich Dr. Forster, der Tierarzt, den ihre Tante eingestellt hatte, und der ja seit ihrem Tod das Gestüt leitete.

Lena warf einen schnellen Blick zu ihm hin, sie war sehr gespannt diesen Mann genauer kennen zu lernen. Wenn sie es richtig verstanden hatte, würde er im Falle ihrer Ablehnung das Gestüt übernehmen. Er machte zwar einen sehr netten Eindruck auf sie, doch konnte sie ihm wirklich trauen? Vielleicht wollte er nur versuchen ihr auszureden das Erbe anzutreten. Schließlich ging es um sehr viel Geld und das hatte schon die übelsten Charakterzüge bei Menschen hervorgebracht. Zudem wusste Dr. Forster zweifellos auch, dass sie niemanden hatte der ihr beistehen würde. Nach dem Tod ihrer Eltern wurde ihre Tante zu ihrem Vormund ernannt. Aber die war nun ebenfalls tot. Ich bin vollkommen allein auf der Welt, wurde ihr zum ersten Mal bewusst. Der Gedanke erzeugte ein sehr mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend.

Andererseits, überlegte sie, war ihre Tante eine sehr lebenserfahrene Frau gewesen, die sich von niemandem etwas hatte vormachen lassen. Wenn sie diesem Tierarzt ihr Gestüt anvertraut hatte, dann konnte sie sich bestimmt darauf verlassen, dass er dieses Vertrauen wert war. Dennoch blieb ein kleiner Zweifel bestehen, weshalb sich Lena vornahm das Tun dieses Mannes im Auge zu behalten.

Sie würde ja sicher auch die geforderte Lehrzeit auf dem Gestüt unter der Anleitung von Dr. Forster machen. Somit sah sie ihn bestimmt täglich und konnte ihn besser kennen lernen.

Zumindest was die Zucht, Gesundheit und Haltung der Pferde betraf, war er ihrer Meinung nach, der ideale Ansprechpartner. Das nötige Interesse brachte sie mit und mit seiner Hilfe würde sie sich in Theorie und Praxis der Pferdezucht einarbeiten. Schließlich hatte ihre Tante, als sie das Gestüt gründete, auch nicht allzu viel über dessen Leitung gewusst und dennoch im Laufe der Jahre diesen riesigen Betrieb daraus gemacht. Wenn es stimmte, dass sie sehr viel mit Anne gemein hatte, wie ihre Mutter ihr oft gesagt hatte, dann packte sie es auch deren Nachfolge anzutreten.

Während sie darüber nachgrübelte kamen sie dem Gestüt immer näher und sie staunte immer mehr, wie imposant es war. Sie bogen auf die Straße ein, die sie an Koppeln und Reitplätzen entlang bis zum Wohnhaus führte, das der Mittelpunkt des Gestüts war. Es war ein älteres Haus von überschaubarer Größe, dass ihre Tante damals einem alten Ehepaar, samt dem dazugehörenden Bauernhof, abgekauft und nach ihrem Geschmack hatte herrichten lassen. Seither waren nur notwendige Reparaturen gemacht worden und es hatte einen neuen Anstrich erhalten. Ansonsten befand sich alles, einschließlich der Möbel, noch im Originalzustand. Ihre Tante hatte das Haus geliebt und es sorgsam gehütet wie einen Schatz.

Vor dem weiß gestrichenen Holzzaun, der das Haus komplett umschloss, hielt Dr. Forster das Auto an.

Ein seltsames Gefühl stieg in Lena hoch, dass sie nicht deuten konnte. Fast erwartete sie ihre Tante komme aus der Tür auf sie zu gelaufen, so wie sie es getan hatte als sie das letzte Mal hier angekommen war. Doch diesmal blieb die Tür geschlossen. Ein jäher Anflug von Traurigkeit überkam Lena als ihr bewusst wurde, dass sie die fröhlichen Augen ihrer Tante nie mehr auf sich gerichtet sehen würde. Sie schluckte den Kloss hinunter der in ihre Kehle stieg, holte tief Luft. Dann stieg sie aus und ging auf das Gartentor zu. Sie ahnte alles in dem Haus würde sie schmerzlich an ihre Tante erinnern.

Bisher hatte sie gemeint, dass es ihr ganz gut gelungen war, die Trauer über den Tod ihrer letzten nahen Verwandten zu unterdrücken. Als sie die Nachricht vor einigen Wochen erhielt war nach dem ersten Schock eine seltsame Leere in ihr gewesen. Sie hatte sich geweigert überhaupt darüber nachzudenken, damit sie das Gefühl von Verlassenheit und Verlust nicht schon wieder aus der Bahn wirft. Noch hatte sie den Tod ihrer Eltern nicht wirklich verarbeitet, in ihrem Herzen und Kopf war kein Platz für einen weiteren Menschen, der sie einfach verlassen hatte. So hatte sie ihre Gefühle verdrängt, indem sie sich einzig auf ihre Prüfungen konzentriert hatte. Selbst bei Annes Beerdigung war sie nicht gewesen, weil sie schon Tage zuvor von einer starken Übelkeit ins Bett gezwungen worden war. Sie hatte es kaum bis zum Telefon geschafft, um ihr Kommen abzusagen.

Das Klingeln eines Handys riss sie aus ihren Gedanken, irritiert sah sie sich um. Es war das Handy Dr. Forsters, der sich knapp meldete und kurz darauf „Ok, ich komme“ sagte. Er steckte das Handy in die Jackentasche und wandte sich mit entschuldigendem Blick an Lena.

„Tut mir leid, ich werde im Stall gebraucht. Eine Stute benötigt meine Hilfe, ihr Fohlen liegt falsch und sie kann es nicht alleine zur Welt bringen.“

Er schaute grinsend an sich herunter und meinte mit einem schiefen Lächeln:

„Kein gutes Outfit um damit auf dem Stallboden zu liegen, fürchte ich. Ich muss mich schnell umziehen. Tut mir leid, dass ich dich alleine lassen muss, aber du kannst ja schon mal ins Haus gehen. Sicher kennst du dich noch aus, es wurde darin in den letzten Jahren nichts verändert. Die Tür ist offen.“

Lena nickte:

„Keine Sorge, ich werde mich zurechtfinden. Gehen sie nur, damit der Stute und ihrem Fohlen schnell geholfen wird.“

Sie lächelte kurz, dann fuhr sie fort.

„Würden Sie mir später die Stute und ihr Fohlen zeigen? Ich habe schon lange kein neugeborenes Fohlen mehr gesehen. Das letzte Mal vor etwa vier Jahren, da kam ein rabenschwarzer Hengst zur Welt und ich war dabei. Es war einer der berührendsten Momente meines Lebens.“

Sie schaute über die weiten Koppeln, dann sah sie den Tierarzt wieder an.

„Ich erinnere mich noch an seinen Namen, Tante Anne nannte ihn Lanzelot. Sie schien damals sehr berührt von dem Fohlen und meinte, er sei ihr Hoffnungsträger. Was sie damit meinte weiß ich nicht, ich vergaß sie danach zu fragen. Ich würde mich freuen Lanzelot wiederzusehen, sicher ist aus ihm ein prächtiger Hengst geworden.“

Lukas Foster sah sie verwundert an und sie meinte, er sei unter seiner von der Sonne gebräunten Haut blass geworden. Doch dann meinte er in beiläufigem Ton:

„Zurzeit ist Lanzelot leider nicht hier auf dem Gestüt, wir wissen noch nicht wann er wiederherkommt.“

Als er sah wie Neugier in Lenas Augen aufflammte, sagte er betont ruhig:

„Er ist ein begehrter Deckhengst geworden und befindet sich auf einer Samenstation. Aber du musst dir keine Sorgen machen, es geht ihm prächtig. Und später werde ich dich in den Stall führen, das neue Fohlen zu begrüßen. Aber jetzt muss ich mich sputen, sonst kommt es am Ende noch zu unnötigen Komplikationen.“

Er entfernte sich in Richtung eines weiteren Hauses, das in nicht allzu weiter Entfernung stand. Vermutlich wohnte er dort. Lena schaute ihm nach und überlegte, ob das Haus bei ihrem letzten Besuch schon da war. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, was sie jedoch nicht verwunderte, da sich seit damals einiges auf dem Gestüt verändert hatte.

Mit einem unbewussten Seufzer öffnete sie das Gartentor und ging auf die Haustür zu. Wie angekündigt war sie nicht verschlossen und Lena betrat das Haus ihrer Tante mit gemischten Gefühlen.

Kapitel 2: Gestüt Baldomar

Lena fuhr erschrocken hoch, als sie ein heller Klingelton aus dem Schlaf riss. Verstört schaute sie um sich, bevor ihr einfiel, wo sie sich befand. Sie stand hastig auf und eilte durch den Gang zur Türe, um sie zu öffnen. Dr. Forster stand davor und lächelte sie an. Er trug jetzt einen Arbeitsanzug, der ihm ebenso gutstand wie der modische Anzug, den er zuvor getragen hatte. Zum ersten Mal sah Lena ihn genauer an, um festzustellen, dass er für sein Alter sehr gut aussah. Sie war zwar nicht sehr gut im Schätzen, hielt ihn aber für etwa so alt, wie ihr Vater jetzt wäre, wenn er noch leben würde.

„Hast du geschlafen? Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe“, sagte er mit einem Lächeln und fuhr fort:

„Nach dem aufregenden Vormittag ist es kein Wunder, dass du müde warst. Ich wollte dir eigentlich das Gestüt zeigen und ein bisschen was dazu erzählen. Wir können es aber gerne auf morgen verschieben, wenn du dich nicht gut fühlst.“

„Nein, nein, es geht schon wieder“, beeilte sie sich zu sagen. „Ich war tatsächlich etwas müde, aber nun bin ich wieder fit. Und ich bin schon ganz neugierig.“

Sie schaute an sich hinunter.

„Ich habe mir etwas Bequemes angezogen, ist das in Ordnung? In Jeans fühle ich mich wohler als in Rock und Bluse. Die habe ich mir extra für den Notarbesuch gekauft.“

Er lachte freundlich und antwortete:

„Für das Gestüt sind Jeans und T-Shirt das Beste. Nur solltest du nicht in Sandalen herumlaufen, das ist in den Stallungen zu gefährlich. Ein geschlossener Schuh ist besser.“

Das sah Lena ein und lief zurück, um in ihre Sneakers zu schlüpfen. Dann war sie bereit sich ihre Erbschaft näher anzusehen. Neben Dr. Forster ging sie auf die Stallungen zu. Er führte sie zu einem großen hellen Stallgebäude mit geräumigen Boxen. Es befanden sich nur wenige Pferde in der riesigen Anlage. Auf Lenas Frage sagte der Tierarzt, dass die meisten Pferde während des Tages auf den Koppeln seien.

„Nur wenn eine Stute fohlt oder ein Pferd krank ist, muss es auch tagsüber im Stall bleiben. Nachts kommen alle Pferde rein, obwohl sie lieber draußen bleiben würden. Doch das ist zu gefährlich, denn vor einiger Zeit wurden uns einige trächtige Stuten gestohlen.“

„Gestohlen? Das ist ja schrecklich. Wie konnten die denn herausgebracht werden? Ich dachte, hier sei alles so gut gesichert.“

„Das ist es jetzt auch“, meinte er etwas kläglich.

„Seit alle Tiere nachts im Stall sind und wir außerdem einen Wachdienst haben, der stündlich alles kontrolliert, ist nichts mehr vorgekommen. Auf welchem Weg man die Stuten weggeschafft hat haben wir leider nie nachvollziehen können. Wir haben damals alles von Spürhunden absuchen lassen, doch die verloren alle die Spur an der alten Mauer, die das Gelände an den Klippen sichert. Man hätte fast glauben können die Pferde seien über die Mauer gesprungen. Doch dahinter geht es steil bergab zum Strand. Da springt kein Pferd darüber und wenn doch hätte man unten seinen zerschmetterten Körper gefunden. Das war natürlich nicht der Fall. Schließlich mussten wir einsehen, dass die Pferde nicht auf natürliche Weise verschwunden sein konnten.“

„Äh, und was heißt - nicht auf natürliche Weise? Hat sie jemand weggezaubert?“

Lena konnte sich ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen. Doch der Tierarzt schaute sie voller Ernst an als er antwortete „Ja, so müssen wir es wohl annehmen. Zumindest, solange es keine andere Erklärung für ihr Verschwinden gibt. Deshalb ist es auch sinnlos weiter darüber zu diskutieren.“

Es klang endgültig, deshalb sagte Lena nichts mehr. Auch, weil ihr nichts dazu einfiel. Er ging an ihr vorbei bis zur nächsten Box und öffnete die Tür. Mit einer Handbewegung lud er sie ein die Box zu betreten, dann folgte er ihr. Eine weiße Stute sah ihnen neugierig entgegen, vor ihr im Stroh lag ein kleines dunkelbraunes Fohlen und schlief. Der Anblick des neugeborenen Wesens war so anrührend, dass Lena die gestohlenen Pferde vergaß und vor dem Fohlen in die Hocke ging. Ganz sachte strich ihre Hand über das weiche Fell. Das Fohlen rührte sich nicht, doch die Stute schob ihren Kopf zwischen ihrem Kind und Lenas Hand. Sie schaute in die dunklen Augen und strich über die samtweichen Nüstern.

„Keine Angst, ich tu deinem Fohlen nichts“, sagte sie leise. „Es ist wunderschön.“

Zur Antwort stieß die Stute ein leises Schnauben aus, dann stupste sie ihr Kind leicht an. Es hob den Kopf und rappelte sich dann auf seine staksigen Beine, um ans Euter seiner Mutter zu gelangen. Während es trank beschnupperte die Stute es zärtlich. Doktor Forster beantwortete Lena ausführlich alle Fragen die sie ihm stellte. Langsam gingen sie dabei die Stallgasse entlang, blieben an allen Boxen stehen, in denen sich ein Pferd befand. Der Tierarzt kannte jedes Tier mit Namen, seine Geschichte und weshalb es im Stall stehen musste. Nachdem sie alles gesehen hatten, fragte er Lena, ob sie Lust hätte auch die anderen Tiere zu sehen, die auf dem Gestüt heimisch waren. Sie stimmte neugierig zu und er führte sie durch eine Tür in einen weiteren Stallbereich. Dieser war in Art von Offenställen teilweise überdacht, neben den Boxen gab es noch Auslaufflächen für die Tiere.

Unter der Überdachung befanden sich auch noch etliche kleine oder größere eingezäunte Abschnitte, die wohl für Tiere waren, die besondere Ansprüche an ihre Haltung stellten.

„Das hier ist sozusagen unser Zoo“ erläuterte der Tierarzt mit leichtem Grinsen. „Vom Hausschwein bis zum Lama ist hier alles vertreten.“

„Wo kommen denn all die Tiere her?“ wollte Lena wissen. Sie beugte sich über eine halbhohe Mauer, um zu sehen, welches Tier sich dahinter befand. Es waren Meerschweinchen und Kaninchen, die sofort neugierig näherkamen. Einige Meerschweinchen begannen zu quieken, während sich die Kaninchen vorsichtig etwas weiter hinten hielten.

Doktor Forster seufzte leise bevor er antwortete:

„Tja, das Gestüt ist weithin dafür bekannt, dass es auch ausgesetzte oder verletzt aufgefundene Tiere aufnimmt. Anne... äh, Frau Beyer, hatte damit schon angefangen kurz nachdem sie das Gelände gekauft hatte. Damals fand sie in einem zerfallenen Stall ein paar Ziegen, die wohl zurück- und ihrem Schicksal überlassen wurden. Einige der Ziegen waren schon tot und skelettiert, die anderen haben vermutlich die Reste des mit Stroh gedeckten Daches gefressen, das heruntergebrochen war und sich so mehr schlecht als recht vorm Verhungern gerettet. Ziegen können sehr robust sein und fressen, auch wenn sie nicht hungern, so ziemlich alles, was sie finden. Später fragten dann hin und wieder einige der Einwohner des Dorfes nach, ob sie ihre Tiere hierlassen könnten. Viele der Leute verlassen den Ort, weil sie von der Landwirtschaft nicht mehr leben können und ziehen in die Stadt. Damit deren Kühe, oder Schafe, nicht im Schlachthaus enden, entschloss sich deine Tante sie aufzunehmen. Ihre Tierliebe sprach sich schnell herum, sogar bis in die Stadt. Immer wieder wurden Tiere abgegeben oder einfach vorm Tor ausgesetzt. So kamen wir zu unserem Zoo, hier dürfen alle Tiere bleiben bis sie eines natürlichen Todes sterben.“

Lena war beeindruckt und musste sich eingestehen, dass sie nur sehr wenig über die Frau wusste, die ihre Patin war.

„Seltsam“, sagte sie nach kurzem Nachdenken „Aber als ich vor vier Jahren zuletzt hier war, habe ich von dem Stall nichts gesehen.“

„Das kann gut sein, denn damals gab es dieses Stallgebäude noch nicht, die Tiere waren etwas entfernt auf einem alten Bauernhof untergebracht und wurden dort von zwei älteren Männern betreut“, gab ihr Doktor Forster zur Antwort.

Dann führte er sie weiter durch die Stallung und erzählte ihr, was es Wissenswertes über die jeweiligen Tiere gab. Er kannte auch hier fast jedes beim Namen und seine Geschichte. Lena war beeindruckt über sein umfangreiches Wissen und auch von seiner einfühlsamen Art. Für ihn schien jedes Lebewesen den gleichen Wert zu besitzen. Ob es sich um ein Kaninchen handelte, das völlig verwahrlost ausgesetzt wurde, oder um eines der edlen Pferde, die ein Vermögen wert waren.

Da ihr Menschen wie er bisher nur sehr selten begegnet waren, konnte Lena nichts anderes als Bewunderung für ihn zu empfinden. Immer wieder ertappte sie sich selbst dabei wie sie ihn beobachtete, wenn er gerade wegsah. Er war auch noch ausgesprochen attraktiv, kam sie nicht umhin festzustellen. Bis auf eine feine Narbe, die von seiner Wange bis zum Haaransatz verlief, war er nahezu perfekt. Groß, schlank, muskulös mit schwarzen Haaren und dunklen Augen kam er ihr direkt etwas fremdländisch vor. Doch er sprach mit keinerlei Akzent und drückte sich gewandt aus. Seine Bewegungen waren geschmeidig und erinnerten sie an ein Raubtier.

Himmel, Lena, du bist doch kein Mädchen, das sich Hals über Kopf in den erstbesten gutaussehenden Mann verliebt, rügte sie sich insgeheim selbst. Bisher hatte sie sich nie sonderlich für Jungs interessiert. Und schon gar nicht für einen Mann, der ihr Vater hätte sein können.

„Hast du Hunger?“ unterbrach er ihre Gedanken, worüber sie froh war. „Wollen wir zur Kantine gehen? Dort können wir etwas essen und trinken. Tut mir leid, ich habe gar nicht daran gedacht, dass du noch nichts gegessen hast.“

Tatsächlich war ihr das bisher selbst nicht aufgefallen und sie merkte erst jetzt, dass sie etwas zu essen vertragen könnte, also stimmte sie zu. Die Kantine befand sich nicht weit entfernt, es war ein flacher Bau, an dem nichts besonders schien. Dieser Eindruck änderte sich jedoch sofort, als sie durch die Tür traten. Von innen erinnerte nichts an die zweckmäßige Nüchternheit, die Kantinen im Allgemeinen ausstrahlten.

Eher hatte man plötzlich den Eindruck in einer gemütlichen Wirtschaft zu sein. Das Mobiliar aus hellem Holz erschien Lena modern, aber irgendwie zeitlos. Der gemütliche Eindruck wurde durch viele Accessoires hervorgerufen, die liebevoll dekoriert waren. Große Fenster an einer Seite ließen viel Helligkeit herein und gaben den Blick auf die herrliche Ostsee-Landschaft frei, die sich hinter dem Gestüt erstreckte.

Sie setzten sich an eines der Fenster und Lena genoss den Ausblick auf das Meer, das in der Sonne glitzerte.

„Hier fühlt man sich wie im Urlaub“ sagte sie lächelnd.

„Das war der Lieblingsplatz deiner Tante“, gab Doktor Forster zur Antwort. „Hier saß sie sehr oft und schaute hinaus auf das Meer.“

„Gerade dachte ich bei mir wie schön doch dieser Anblick ist. Scheint so, als ob ich auch das von ihr geerbt habe. Seltsam, nicht wahr? Schade, dass ich nicht öfter hier bei ihr war. Sie hat mich öfter eingeladen, doch ich konnte mich nie dazu entschließen. Das Internat, in dem ich lebte, ist sehr weit von hier entfernt. Und ich war noch ein Kind. Obwohl mir Tante Anne anbot mich abholen und auch wieder hinbringen zu lassen, war ich überfordert. Selbst diesmal hat mich die stundenlange Zugfahrt hierher und das mehrmalige Umsteigen belastet.“

Sie hielt inne bevor sie leise hinzufügte:

„Und jetzt ist es leider zu spät.“

Lena schluckte bei dem Gedanken und kämpfte mit den Tränen, die ihr in die Augen stiegen. Wie gerne würde sie ihre Tante noch einmal sehen, noch einmal von ihr in den Arm genommen werden. Nie hätte sie gedacht, dass sie so plötzlich sterben könnte. Sie war doch noch gar nicht alt gewesen.

Dr. Forster sah sie mitleidig an und wollte ihr etwas Tröstliches sagen. Doch die Bedienung kam an den Tisch und begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln. Für Lena kam sie gerade recht, um sie von ihren traurigen Gedanken zu befreien. Die junge Frau legte ihnen die Speisekarten vor und fragte, was sie trinken wollten. Während des anschließenden Essens gelang es Lena sich wieder zu fangen.

Danach begann sie den Tierarzt erneut auszufragen. Sie wollte möglichst viel über das Gestüt, die Pferde und die anderen Tiere, die hier lebten, erfahren. Doktor Forster schien über ihr Interesse erfreut. Er beantwortete ihr sehr anschaulich und detailliert alles, was sie wissen wollte. Dazwischen fügte er sehr amüsant seine diversen Erlebnisse als Tierarzt ein, so dass Lena gar nicht mehr dazu kam, traurige Gedanken zu entwickeln. Das Lachen tat ihr gut und auch der Tierarzt lachte oft mit ihr über seine eigenen Geschichten. Er bot ihr schließlich an, ihn zu duzen und stellte sich als Lukas vor.

„Wir sind hier alle wie eine große Familie, da sagt keiner zum anderen Sie“, meinte er mit einem Grinsen.

Lena wäre sehr gerne noch länger mit ihm hier sitzen geblieben, doch es wurde Zeit für sie zu überlegen, wo sie übernachten sollte. Eigentlich hatte sie die Absicht gehabt, ihr gebuchtes Hotelzimmer zu beziehen, aber dann müsste sie jemand in die Stadt zurückfahren.

„Wieso willst du in einem Hotel übernachten?“ fragte Lukas sie irritiert, als sie ihn darauf ansprach.

„Du hast doch hier das Haus deiner Tante zur Verfügung. Es ist alles vorhanden, was du benötigst, alle Betten sind frisch bezogen. Es ist alles noch genauso, wie es war, als Anne noch lebte.“ „Ich weiß nicht so recht“, gab sie zur Antwort.

„Es kommt mir nicht richtig vor, alles einzunehmen, was noch vor kurzem meiner Tante gehörte. Vor allem, weil ich ja gar nicht weiß, ob es ihr überhaupt recht wäre, dass ich einfach so alles an mich reiße. Zudem weiß ich noch nicht einmal genau, woran sie so plötzlich gestorben ist. Nur, dass sie einen Unfall hier auf dem Gestüt hatte. Passierte er im Haus?“

Bei dem Gedanken fröstelte es sie und sie rieb sich unbewusst über die Arme.

Doch Lukas' Worte beruhigten sie diesbezüglich:

„Nein, nicht im Haus, sie hatte einen Unfall beim Ausreiten. Ihr Pferd scheute vermutlich vor irgendetwas und warf sie ab. Sie stieg zwar wieder auf und ritt bis zu der Stallung zurück, dort wurde sie jedoch plötzlich bewusstlos. Ich merkte sofort, dass ich nichts für sie tun konnte, deshalb rief ich einen Krankenwagen und den Notarzt. Der hat nicht lange gefackelt und sie sofort in ein Krankenhaus eingeliefert. Dort wurde ein Schädelbruch und eine Gehirnblutung diagnostiziert, an der sie leider zwei Tage später verstarb.“

„Wie schrecklich“, murmelte Lena ergriffen. „Ausgerechnet ein Pferd ist für ihren Tod verantwortlich. Dabei hat sie ihre Pferde so geliebt...“

Lukas sah sie ausdruckslos an, dann meinte er langsam:

„Nun ja, natürlich haben wir auch die Polizei informiert, wie es bei einem Unfall Vorschrift ist. Die haben den Weg abgesucht, den Anne üblicherweise lang geritten ist. Dabei haben sie verdächtige Spuren gefunden, die sie sich allerdings nicht erklären konnten. Es sah aus als hätte etwas praktisch aus dem Nichts das Pferd angefallen. Im Sand auf dem Weg gab es Spuren wie von einem Tier und das Pferd hatte tiefe Kratzspuren an der linken Halsseite.“

„Spuren von einem Tier?" wiederholte sie und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Du bist doch als Tierarzt sicher mit Tierspuren vertraut. Konntest du nicht feststellen, von welchem Tier sie stammten?“

In ihrem Blick lag Skepsis, deshalb erwiderte Lukas mit hilflosem Schulterzucken:

„Es war kein Tier das ich kenne und folglich auch keines, das hier lebt. Am ehesten erinnerte mich die Spur an irgendetwas Urzeitliches, ein großer Vogel oder so was. Denn außer an der Stelle des Überfalls gab es nirgendwo diese Spuren, es sah aus, als wäre der Vogel angeflogen gekommen und hätte sich am Hals des Pferdes festgekrallt. Das hat sich vermutlich aufgebäumt und ihn abgeschüttelt, so dass er auf dem Boden landete und einen Abdruck hinterließ. Warte mal, ich habe an der Unfallstelle mit dem Handy einige Fotos gemacht...“

Er griff in die Tasche seiner Arbeitsweste und zog das Handy heraus.

Lena sah gespannt auf das Display, auf dem ein Abdruck von einem Fuß mit drei langen Zehen vorne und zwei hinten zu sehen war. Die Zehen schienen mit langen Krallen bewehrt. Daneben hatte Lukas ein Lineal gelegt. So konnte man sehen, dass der Fuß zirka 25 cm lang war.

Leider konnte uns deine Tante nichts mehr sagen, da sie direkt vor dem Stall bewusstlos aus dem Sattel rutschte. Einer der Stallarbeiter konnte sie gerade noch auffangen sonst wäre sie nochmals mit dem Kopf aufgeschlagen...“

Lukas sah besorgt, dass Lena immer blasser wurde, deshalb nahm er sie behutsam am Arm und führte sie auf die Tür zu. „Komm, ich bringe dich heim, sonst fällst du mir auch noch um. Ruh dich erst mal richtig aus und morgen werden wir dann weitersehen. Soll ich dir noch eine der Hausangestellten schicken, die dir behilflich ist oder kommst du zurecht?“

Bevor sie ablehnen konnte, sprach er schnell weiter:

„Ach, ich schicke dir einfach jemanden.“

Von der Kantine bis zum Haus ihrer Tante war es nicht weit. Als sie davor standen öffnete Lukas das Tor und führte sie zur Haustür. Lena erschrak, als neben ihr ein zweifaches „Wuff“ ertönte. Doch Lukas beruhigte sie schnell.

„Das sind Brandy und Chris, die Hunde deiner Tante. Sie sind tagsüber meist mit den Hunden der Angestellten im Hundebereich. Abends werden sie dann hierhergebracht. Sie schlafen im Haus, wie sie es gewohnt sind. Falls sie dich stören, nehme ich sie mit zu mir.“

„Brandy? Erkennst du mich noch?“

Lena gab Lukas keine Antwort, sondern ging zu den beiden Hunden, die ihnen über den Gartenzaun entgegenschauten, sie waren sichtlich froh jemanden zu sehen. Lukas sprach die Beiden an:

„Wartet noch ein bisschen, gleich lass ich euch raus.“

Er kraulte ihnen die Köpfe als sie jaulend am Gartenzaun hochhüpften, dann wandte er sich fragend an Lena:

„Du kennst Brandy? Das daneben ist ihr Sohn Chris, den Anne aus Brandys Wurf behalten hat.“

„Ich habe Brandy damals am Strand aus dem Wasser gezogen“, erklärte sie, während sie der Hündin den Kopf streichelte.

„Sie scheint mich wiederzuerkennen.“

„Hunde vergessen niemanden, schon gar nicht, wenn man sie gerettet hat“ gab er zur Antwort.

Dann meinte er mit bekümmertem Tonfall:

„Die Beiden warten noch immer, dass ihr Frauchen aus dem Krankenhaus zurückkehrt. Ich wollte sie zu mir nehmen, aber sie laufen immer wieder hierher. Ich lasse sie abends ins Haus, dann legen sie sich ins Wohnzimmer und warten auf Anne.“

Er seufzte. „Leider kann ich ihnen nicht begreiflich machen, dass sie nicht mehr kommt.“

„Ich nehme sie gerne mit ins Haus, dann fühle ich mich nicht so alleine darin. Vielleicht akzeptieren sie mich ja mit der Zeit als neues Frauchen...“

Lukas zog eine Augenbraue hoch und fragte:

„Dann kannst du dir also vorstellen das Erbe deiner Tante anzunehmen?“

Er öffnete das Gartentor und ließ die Hunde heraus, dann schloss er die Haustür auf und ließ Lena eintreten. Die Hunde rannten an ihnen vorbei und verschwanden im Wohnzimmer. Lena folgte ihnen lachend. Sie setzte sich in einen Sessel und hörte Lukas zu, der kurz telefonierte.

„Gleich kommt jemand rüber“, sagte er und setzte sich ihr gegenüber. „Und nein, du störst Katja nicht in ihrer Freizeit, sie hat heute sozusagen Bereitschaftsdienst. Das hat Anne schon lange so gehalten und bisher haben wir alles so beibehalten. Er lächelte als er sah, wie Lena den Mund wieder zuklappte, hatte er doch schon geahnt, dass sie protestieren wollte.

Erklärend meinte er:

„Da deine Tante alleine lebte, hat sie sich mit einem Stab von Menschen umgeben, die ihr behilflich waren. Wenn du willst, kannst du es ihre Art von Snobismus nennen. Die Leute wurden von ihr gut dafür bezahlt, dass sie praktisch rund um die Uhr für sie da waren. Wie gesagt haben wir alles erst einmal so belassen, es liegt dann in deiner Hand, ob du es beibehältst oder nicht. Ah, da kommt Katja schon...“

Eine Frau im mittleren Alter kam ins Wohnzimmer und Lukas übernahm die kurze Vorstellung. Dann verabschiedete er sich von Lena und meinte, dass er ihr am nächsten Tag alles weitere in seinem Büro erklären würde. Dann wünschte er ihr noch einen guten Aufenthalt bevor er endgültig ging.

Katja stellte sich kurz bei Lena vor, dann fragte sie freundlich: „Was kann ich denn für Sie tun?“

Lena war es etwas peinlich, dass Katja sie siezte, wusste aber nicht ob sie ihr anbieten sollte sie zu duzen. Also beließ sie es erst einmal dabei, sie würden morgen deswegen Lukas fragen. „Es wäre schön, wenn Sie mich mit der Wohnung meiner Tante etwas vertraut machen würden“, gab sie zur Antwort. „Es ist schon vier Jahre her, seit ich das letzte Mal hier war. Seither hat es hier einige Veränderungen gegeben, weshalb ich mich nicht mehr so genau auskenne. Ich nehme an, es gibt noch das Gästezimmer. Dort würde ich gerne die Nacht verbringen.“

„Das zeige ich Ihnen gerne, obwohl sie auch das Schlafzimmer Ihrer Tante haben können. Es ist dort alles hergerichtet...“

„Nein, danke“, wehrte Lena schnell ab. „Der heutige Tag hat mich etwas erschöpft. Tante Annes Schlafzimmer zu nutzen kommt mir, zumindest im Moment, nicht richtig vor. Sie wäre dort noch überall präsent für mich. Das Gästezimmer ist mir lieber.“

„Gerne, wie Sie möchten, kommen Sie, ich führe Sie hin.“

Sie ging Lena voran und die beiden Hunde beeilten sich, ihnen hinterherzulaufen.

Das Gästezimmer befand sich im Gang um die Ecke, jetzt erinnerte sich Lena wieder als sie hinter Katja durch die Tür trat. Sie schaute sich kurz um und sah, dass es noch genauso aussah wie vor vier Jahren. Das fand sie irgendwie beruhigend.

Katja unterbrach ihre Gedanken, als sie kurz erklärte, wo sich was befand. Das großzügig ausgestattete Bad war Lena noch gut in Erinnerung, die große Wanne lud zu einem entspannenden Bad ein. Das schien auch Katja zu denken, sie fragte, ob sie gleich Wasser einlaufen lassen sollte. Ohne eine Antwort abzuwarten, betätigte sie bereits die Armatur.

Auf einem Wandregal standen mehrere Flakons mit duftenden Badezusätzen. Während die Wanne sich füllte, zeigte Katja Lena noch das Ankleidezimmer und den Kühlschrank, der mit verschiedenen Getränken bestens bestückt war. Bevor sie ging fragte sie, ob sie noch etwas für Lena tun könne und zeigte ihr am Telefon, das auf dem Tischchen neben dem Bett stand, den Knopf mit dem sie sie erreichen konnte. Sie wünschte ihr noch eine gute Nacht, dann verließ sie den Raum. Kurz darauf klappte die Haustür hinter ihr zu.

Seufzend wandte sich Lena den Hunden zu, die sie erwartungsvoll anschauten.

„Ich lege mich jetzt kurz in die Wanne und dann machen wir drei uns einen gemütlichen Abend, ja.“

Die Beiden wedelten mit den Schwänzen, wobei Lena bemerkte, dass Chris nur noch einen Schwanzstummel hatte. Sie würde Lukas morgen fragen, weshalb das so war, nahm sie sich vor, dann machte sie sich für ihr Bad zurecht. Unter den Flacons suchte sie einen aus, in dem sich Lavendel befand und gab einen großzügigen Schuss ins Wasser. Dann ließ sie sich in das angenehm temperierte Wasser gleiten. Mit einem wohligen Seufzer schloss sie die Augen.

Später machte sie es sich vor dem Fernseher gemütlich, der im Wohnzimmer stand. Die Hunde lagen auf dem Teppich vor ihren Füßen und dösten. Aus dem Kühlschrank hatte Lena sich eine Flasche Saft genommen, von dem sie hin und wieder nippte, während sie versuchte der Quizsendung zu folgen, die sie sonst gerne sah. Heute gelang es ihr jedoch nur schwer sich auf die Fragen zu konzentrieren, immer wieder drifteten ihre Gedanken ab.

Noch immer war sie unschlüssig ob sie es sich zutraute, das Gestüt zu übernehmen. Es schien ihr unmöglich, dass sie dieser Aufgabe gewachsen war. Das Einzige, was sie mit Pferden verband war, dass sie diese edlen Tiere mochte und bewunderte. Doch das reichte bei weitem nicht aus um ein Gestüt zu führen. Andererseits würde sie eine richtige Lehre zum Pferdewirt machen, bevor sie alles übernahm. Lukas hatte versprochen, dass er ihr dabei zur Seite stehen würde. Nun gut, er war der Leiter hier und kannte sich mit allem aus, was sie sich aneignen musste. Aber er war auch ein vielbeschäftigter Tierarzt. Bei weit über zweihundert Pferden und den vielen anderen Tieren, die hier zu Hause waren, gab es für ihn sicher mehr als genug zu tun. Da konnte sie ihn doch nicht ständig mit ihren Fragen belästigen. Als die Quizsendung zu Ende war machte sie den Fernseher aus. Sie war müde von den vielen Eindrücken des Tages. Sie ließ die Hunde kurz in den Garten, damit sie ihr Geschäft erledigen konnten. Falls sie wirklich hierbleiben würde, konnte das natürlich nicht auf Dauer so sein, doch heute ging es einmal. Es war seltsam still und auch sehr dunkel, was sie von der Stadt her so gar nicht gewohnt war. Es kam ihr direkt etwas unheimlich vor, als sie in der Ferne ein Tier, vermutlich einen Nachtvogel, schreien hörte. Fröstelnd rieb sie sich die Oberarme und rief nach den Hunden. Brandy und Chris trabten hinter ihr her durch den Gang und kamen ganz selbstverständlich mit in das Gästezimmer, wo sie es sich sogleich auf ihren Hundebetten gemütlich machten. Die hatte Lena aus dem Wohnzimmer mitgenommen, weil sie gehofft hatte, die Hunde würden dann bei ihr im Zimmer schlafen.

Es dauerte nicht lange dann drangen die leisen Schnarch Geräusche der Beiden in Lenas Ohren, was sie sehr angenehm empfand. Es vertrieb sofort das Gefühl ganz allein im Haus zu sein. Mit einem beruhigten Seufzer kuschelte sie sich in die dünne Sommerdecke und schloss die Augen.

Doch der Schlaf wollte nicht kommen, immer wieder ertappte sie sich selbst dabei wie sie grübelte. Die ungewohnte Dunkelheit im Zimmer trug auch nicht dazu bei sie zu beruhigen. Dabei hatte sie den Rollladen gar nicht heruntergelassen, in der Hoffnung, dass es dadurch etwas heller im Zimmer sei. Wo war der Mond? überlegte sie und starrte zum Fenster. Wenigstens eine kleine Mondsichel musste doch zu sehen sein.

Tatsächlich erschien wenig später ein halber Mond am oberen Fensterteil und wanderte im Zeitlupentempo weiter ins Sichtfeld. Er war wohl auf der anderen Hausseite aufgegangen vermutete sie. Bisher hatte sie sich noch nie dafür interessiert, wie seine Bahn verlief. Oder war er hinter einer Wolke versteckt gewesen. Bei genauerem Hinsehen sah sie jetzt auch ein paar Sterne funkeln. Nur als winzige glitzernde Punkte, doch das reichte ihr schon aus, sich wohler zu fühlen. Plötzlich konnte sie die Augen nicht mehr aufhalten und schlief endlich ein.

Kapitel 3: Familiengeschichten

Sie wachte erschrocken auf, als sie eine leichte Berührung am Arm spürte. Ein sanfter Schein erhellte den Platz neben ihrem Bett und sie spürte eine Präsenz neben sich. Verwirrt setzte sie sich auf und starrte in das milchige Licht. Es sah aus wie eine Rauchwolke, in deren Inneren etwas waberte.

Seltsamerweise verspürte Lena keine Angst, ihre Nase konnte keinen Rauchgeruch feststellen, also handelte es sich nicht um ein Feuer. Ein Blick auf die Hunde zeigte ihr, dass die nichts bemerkten, sie schliefen tief und fest. Brandy zuckte mit den Beinen, auch ihre Lefzen zuckten, vermutlich lief sie im Traum einem Tier hinterher.

Ich träume ebenfalls, kam es Lena in den Sinn, ganz sicher ist es ein Traum. Sie wollte sich schon wieder hinlegen, als sich die Rauchwolke neben ihr veränderte und die Gestalt einer Frau annahm.