Blutvertrag - Dean Koontz - E-Book

Blutvertrag E-Book

Dean Koontz

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Beschreibung

Stell dir vor, du stehst einem Killer im Weg ...

Das harmlose Vorhaben, sich in der Kneipe eines Freundes ein Feierabendbier zu genehmigen, wird für Timothy Carrier zum Albtraum: Ein nervös wirkender Mann steckt ihm einen Umschlag zu mit den Worten: »Zehntausend. Der Rest folgt, wenn sie erledigt ist.« Ehe Tim das Missverständnis aufklären kann, erscheint der »richtige« Auftragskiller. Tim bleibt nur wenig Zeit, um sich und die todgeweihte Frau zu retten ...

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Seitenzahl: 445

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Die amerikanische Originalausgabe
THE GOOD GUY
erschien 2007 bei Bantam Books, a division of Random House, Inc., New York
Im Rahmen einer Auktion zugunsten vonCanine Companions for Independence, einer Organisation, die Begleithunde für Menschen mit Behinderungen bereitstellt, hat Linda Paquette aus Pasadena (Kalifornien) die zweifelhafte Ehre ersteigert, dass eine Person in diesem Buch ihren Namen trägt.
Vollständige Ausgabe 05/2010Copyright © 2007 by Dean Koontz Copyright © 2010 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Satz: C. Schaber, Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-07738-9V002
www.heyne.dewww.penguinrandomhouse.de

DAS BUCH

Timothy Carrier ist ein ruhiger Mann, einer, der sich in die hinterste Ecke seiner Stammkneipe zurückzieht und die übrigen Gäste beobachtet. Bei dem Fremden, der zielsicher auf ihn zusteuert und sich neben ihn an die Bar setzt, hat Tim sofort ein ungutes Gefühl. Fast gegen seinen Willen lässt er sich in ein Gespräch verwickeln – und danach ist nichts mehr, wie es einmal war: Ehe Tim weiß, wie ihm geschieht, hält er einen braunen Umschlag in Händen – und der Mann ist spurlos verschwunden. Als Tim den Umschlag öffnet, findet er ein Bündel Hundertdollarscheine und das Foto einer attraktiven Frau in seinem Alter. Der Name der Frau, Linda Paquette, ist auf der Rückseite des Fotos notiert. Offenbar wurde Tim verwechselt – mit einem Auftragskiller, der im selben Moment die Kneipe betritt. Tim bleibt keine Zeit zum Nachdenken. Verzweifelt versucht er, den Killer davon zu überzeugen, dass er es sich anders überlegt habe. Das Foto des Opfers entfernt er aus dem Umschlag und übergibt das Geld dem Mann, der scheinbar ungerührt die Bar verlässt.

Eigentlich könnte jetzt alles wieder in Ordnung sein. Doch Tim folgt dem Auftragsmörder bis zur Tür und entdeckt, dass er in ein Polizeiauto steigt. Da wird ihm schlagartig klar, dass es an ihm liegt, Linda zu warnen. Das Ausmaß der Gefahr, in die er sich selbst begibt, vermag er allerdings nicht zu erahnen. Denn der Mörder macht nun Jagd auf ihn und Linda …

»Dean Koontz ist ein Meister unserer dunkelsten Träume.« The Times

DER AUTOR

Dean Koontz wurde 1945 in Pennsylvania geboren und lebt heute mit seiner Frau in Kalifornien. Seine zahlreichen Romane – Thriller und Horrorromane – wurden in 38 Sprachen übersetzt und sämtlich zu internationalen Bestsellern. Weltweit wurden bislang 400 Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft.

LIEFERBARE TITEL

Die Anbetung – Bote der Nacht – Chase – Frankenstein / Das Gesicht – Frankenstein / Die Kreatur – Der Geblendete – Geschöpfe der Nacht – Im Bann der Dunkelheit – Irrsinn – Kalt – Mitternacht – Schattennacht – Seelenlos – Stimmen der Angst – Todesdämmerung – Todesregen – Todeszeit – Trauma – Tür ins Dunkel – Urangst – Das Versteck – Der Wächter – Die zweite Haut – Zwielicht

Inhaltsverzeichnis

DAS BUCHDER AUTORLIEFERBARE TITELWidmungInschriftERSTER TEIL - Zur falschen Zeit am rechten Ort
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17
ZWEITER TEIL - Zur rechten Zeit am falschen Ort
Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51
DRITTER TEIL - Zur falschen Zeit am falschen Ort
Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58Kapitel 59Kapitel 60Kapitel 61Kapitel 62Kapitel 63Kapitel 64Kapitel 65Kapitel 66Kapitel 67
Copyright

Für Mike und Mary Lou Delaney –für eure Freundlichkeit, eure Freundschaftund für all das Lachen – selbst wenn ihr oftnicht wisst, weshalb wir über euch lachen.Mit euch. Wir lachen mit euch.Wir mögen euch unheimlich gern!

Ich will Ihnen ein großes Geheimnisverraten, mein Lieber.Warten Sie nicht auf das Jüngste Gericht,es findet täglich statt.

ALBERT CAMUS · DER FALL

ERSTER TEIL

Zur falschen Zeit am rechten Ort

1

Wenn eine Eintagsfliege über einen Tümpel gleitet, hinterlässt sie nur eine kurze Spur im Wasser, fein wie Spinnweben. Indem sie so tief fliegt, entgeht sie Vögeln und Fledermäusen, die im Flug jagen.

Mit seinen ein Meter neunzig, einem Gewicht von fünfundneunzig Kilogramm, großen Händen und noch größeren Füßen konnte sich Timothy Carrier nicht in so geringer Höhe bewegen wie eine übers Wasser gleitende Eintagsfliege, aber er versuchte sein Bestes.

Mit schweren Arbeitsstiefeln und einem John-Wayne-Gang, der ihm angeboren war und den er nicht ändern konnte, betrat er dennoch unauffällig die Lamplighter Tavern und gelangte bis ans andere Ende des Raums, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Keiner der drei Männer in der Nähe der Tür, an der kurzen Seite der L-förmigen Theke, würdigte ihn eines Blickes. Ebenso wenig die Pärchen, die in zwei der Nischen lümmelten.

Als er sich auf dem letzten Hocker dort niederließ, wo es jenseits des letzten Deckenstrahlers, der das dunkle Mahagoni der Theke zum Glänzen brachte, schummerig war, seufzte er erleichtert. Von der Eingangstür aus gesehen, war er nun der kleinste Kerl im Raum.

Betrachtete man das vordere Ende der Kneipe als Führerstand einer Lokomotive, so war dies der letzte Wagen. Wer sich hier an einem ruhigen Montagabend niederließ, war wahrscheinlich einer von der stillen Sorte.

Liam Rooney, der Wirt und heute Abend der einzige Mann hinter der Theke, zapfte ein Bier und stellte es Tim hin.

»Irgendwann wirst du hier mal mit ’ner Verabredung aufkreuzen«, sagte Rooney, »dann trifft mich vor Schreck der Schlag.«

»Wieso sollte ich in diese Bruchbude wohl eine Frau mitschleppen? «

»Kennst du denn noch was anderes als diese Bruchbude? «

»Da gibt’s auch noch den Donut-Schuppen, wo ich gern hingehe.«

»Na, klar. Nachdem ihr beide ein Dutzend Donuts verputzt habt, fährst du mit ihr zu einem von den großen, teuren Restaurants in Newport Beach, wo ihr euch auf den Bordstein hockt und zuschaut, wie die Pagen mit den ganzen schicken Schlitten rumrangieren.«

Tim nippte an seinem Bier, während Rooney über die ohnehin saubere Theke wischte. »Du hast Glück, dass du so jemanden wie Michelle gefunden hast«, sagte Tim schließlich. »So was stellen sie heute nicht mehr her.«

»Michelle ist dreißig, genauso alt wie wir beide. Wenn man so was heute nicht mehr herstellt, wo ist sie dann wohl hergekommen?«

»Ist mir ein Rätsel.«

»Um gewinnen zu können, muss man erst mal mitspielen«, sagte Rooney.

»Tu ich doch.«

»Alleine mit dem Basketball in den Park zu trotten, um am Korb Zielübungen zu machen, ist kein Spiel.«

»Mach dir um mich bloß keine Sorgen. Die Frauen rennen mir regelrecht die Bude ein.«

»Schon möglich«, sagte Rooney, »aber sie kommen zu zweit und wollen dir von Jesus erzählen.«

»Da ist doch nichts dagegen zu sagen. Die machen sich eben Sorgen um meine Seele. Sag mal, hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein ganz schön sarkastisches Arschloch bist?«

»Du. Mindestens tausendmal. Ich krieg es nie über, das zu hören. Übrigens, vorhin war ein Typ hier, vierzig Jahre alt, nie verheiratet gewesen, und jetzt hat man ihm die Eier abgeschnitten.«

»Wer hat ihm die Eier abgeschnitten?«

»Irgendwelche Ärzte.«

»Krieg doch mal raus, wie die heißen«, sagte Tim. »Bei einem von denen will ich nämlich nicht zufällig landen.«

»Der Typ hatte Krebs. Die Sache ist nur die – jetzt kann er keine Kinder mehr bekommen.«

»Was ist so toll daran, Kinder zu bekommen, wenn die Welt so ist, wie sie ist?«

Rooney sah aus wie ein selbst ernannter Karatekämpfer, der zwar noch kein einziges Mal beim Training gewesen war, aber trotzdem versucht hatte, mit seinem Schädel eine Menge Betonklötze zu zertrümmern. In seinen blauen Augen glomm jedoch ein warmes Licht, und ein gutes Herz hatte er auch.

»Darum geht es ja gerade«, sagte er. »Eine Frau, Kinder, einen Ort, an dem man sich festhalten kann, während der Rest der Welt vor die Hunde geht.«

»Methusalem ist neunhundert Jahre alt geworden und hat bis zum Ende Kinder gezeugt.«

»Das ist aber schon ’ne Weile her.«

»Ändert nichts an den Fakten.«

»Das heißt, du willst was tun? – Mit der Familiengründung warten, bis du so an die sechshundert bist?«

»Du und Michelle, ihr habt ja auch noch keine Kinder.«

»Wir arbeiten daran.« Rooney beugte sich vor und stützte die verschränkten Arme auf die Theke, sodass er auf Augenhöhe mit Tim war. »Und was hast du heute eigentlich getan, Türsteher?«

Tim runzelte die Stirn. »Nenn mich nicht so.«

»Also, was hast du heute getan?«

»Das Übliche. Irgendeine Mauer gebaut.«

»Und was wirst du morgen tun?«

»Irgendeine andere Mauer bauen.«

»Für wen?«

»Für den, der mich bezahlt.«

»Ich arbeite siebzig Stunden pro Woche in dieser Bude, manchmal auch länger, aber nicht für die Gäste.«

»Das merken deine Gäste auch«, versicherte ihm Tim.

»Und wer ist jetzt das sarkastische Arschloch?«

»Den Meistertitel hast noch immer du, aber ich profiliere mich gerade als Herausforderer.«

»Ich arbeite für Michelle und für die Kinder, die wir bekommen werden. Man braucht einfach jemand, für den man arbeitet, abgesehen von dem, der einen bezahlt. Man braucht jemand Besonderen, mit dem man etwas aufbauen und eine Zukunft teilen kann.«

»Liam, du hast wirklich wunderschöne Augen.«

»Ich und Michelle – wir machen uns Sorgen um dich, Alter.«

Tim spitzte die Lippen.

»Alleinsein tut keinem gut«, sagte Rooney.

Tim machte Kussgeräusche.

Rooney beugte sich vor, bis ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. »Willst du etwa mit mir knutschen?«

»Na ja, wo ich dir offenbar so wichtig bin …«

»Ich pflanze gleich meinen Hintern auf die Theke. Den kannst du gerne knutschen.«

»Nein danke. Dafür sind meine Lippen mir dann doch zu schade.«

»Weißt du, was dein Problem ist, Türsteher?«

»Fängst du schon wieder an.«

»Autophobie.«

»Quatsch. Ich hab doch keine Angst vor Autos!«

»Du hast Angst vor dir selbst. Nein, das stimmt auch nicht ganz. Du hast Angst vor deinem Potenzial.«

»Und du würdest einen prima Highschool-Psychologen abgeben«, sagte Tim. »Ich dachte, hier gibt’s kostenlose Salzbrezeln. Wo sind meine Brezeln?«

»Auf die hat ein Besoffener gereihert. Ich war gerade dabei, sie abzuwischen.«

»Okay. Wenn sie durchgeweicht sind, will ich doch lieber keine.«

Rooney holte aus dem Regal hinter der Theke eine Schale Salzbrezeln und stellte sie neben Tims Bier. »Michelle hat übrigens eine Cousine namens Shaydra. Die ist echt süß.«

»Was ist denn das für ein Name? Heißt heutzutage niemand mehr Mary?«

»Ich werde dafür sorgen, dass du und Shaydra mal zusammen ausgeht.«

»Sinnlos. Morgen lasse ich mir die Eier abschneiden.«

»Leg sie in ein leeres Gurkenglas und bring sie zur Verabredung mit. Das ist ein toller Aufhänger, um ins Gespräch zu kommen.« Damit kehrte Rooney zum anderen Ende der Theke zurück, wo die drei lebhaften Gäste dafür sorgten, dass seine noch ungeborenen Kinder später ihre Studiengebühren bezahlen konnten.

Einige Minuten lang versuchte Tim, sich einzureden, dass Bier und Salzbrezeln alles waren, was er brauchte. Das klappte ganz gut, weil er sich dabei Shaydra als strohdummen Trampel mit zusammengewachsenen Augenbrauen und zu einem Zopf geflochtenen Nasenhaaren vorstellte.

Wie üblich wirkte die Kneipe beruhigend auf ihn. Eigentlich brauchte er nicht einmal das Bier, damit sich alles, was ihm den Tag über auf die Nerven gegangen war, in Wohlgefallen auflöste. Es war irgendwie der Raum selbst, der das vermochte, obwohl Tim nicht recht begriff, was der Grund für diese Wirkung war.

Die Luft roch nach schalem und frischem Bier, nach der Salzlake in dem großen Glas Würstchen, das auf der Theke stand, nach Möbelwachs und Shuffleboard-Pulver. Aus der kleinen Küche kam das Aroma von auf dem Grill schmorenden Frikadellen und von Zwiebelringen, die in heißem Öl vor sich hin brutzelten.

Das warme Bad angenehmer Düfte, die beleuchtete Budweiser-Uhr und das Halbdunkel, in dem Tim saß, das Murmeln der Pärchen an den Tischen hinter ihm und die unsterbliche Stimme von Patsy Cline aus der Jukebox waren ihm so vertraut, dass sein eigenes Zuhause ihm vergleichsweise wie fremdes Territorium erschien, wenn er heimkam.

Vielleicht wirkte die Kneipe so tröstlich auf ihn, weil sie zwar nichts Dauerhaftes, aber doch wenigstens etwas einigermaßen Beständiges darstellte. In einer sich unablässig verändernden Welt widersetzte sie sich selbst der kleinsten Veränderung.

Hier erwarteten Tim keine Überraschungen, und er wollte auch keine erleben. Neue Erfahrungen wurden überschätzt. Von einem Bus überfahren zu werden, wäre auch eine neue Erfahrung.

Er zog das Vertraute, Gewohnte vor. Er lief nicht Gefahr, von einem Berg abzustürzen, weil er niemals einen bestiegen hätte.

Manche Leute meinten, ihm fehle es an Abenteuerlust. Tim fand es sinnlos, ihnen klarzumachen, dass kühne Expeditionen durch exotische Länder und über fremde Meere den Streifzügen von Krabbelkindern entsprachen, verglichen mit den Abenteuern, die einen in den zwanzig Zentimetern zwischen dem linken und dem rechten Ohr erwarteten.

Hätte er eine entsprechende Bemerkung gemacht, hätte man ihn für einen Narren gehalten. Schließlich war er nur ein Handwerker, ein Maurermeister. Von so jemandem erwartete man, dass er nicht zu viel nachdachte.

Ohnehin vermieden es die meisten Leute inzwischen nachzudenken, vor allem über die Zukunft. Sie verließen sich lieber auf den Trost blinder Überzeugungen als auf klarsichtige Gedanken.

Andere bezichtigten Tim, altmodisch zu sein. Dieses Vergehens bekannte er sich gerne schuldig.

Die Vergangenheit war reich an vertrauter Schönheit, sodass ein Blick zurück sich immer lohnte. Tim war ein hoffnungsvoller Mensch, aber nicht vermessen genug, um anzunehmen, dass sich auch in der unbekannten Zukunft Schönheit verbarg.

Ein interessanter Bursche betrat die Kneipe. Er war groß, wenn auch nicht so groß wie Tim, kräftig, aber nicht furchterregend.

Was ihn interessant machte, war weniger sein Aussehen als sein Verhalten. Er kam herein wie ein gehetztes Tier. Zuerst wandte er sich zur Tür um und spähte hinter sich, bis sie sich geschlossen hatte, dann ließ er den Blick argwöhnisch durch den Raum schweifen, als misstraute er dem Eindruck, dass er hier Zuflucht finden konnte.

Als der Neuankömmling näher kam und sich an die Theke setzte, starrte Tim auf sein Pilsglas, als handelte es sich um einen mysteriöses Gefäß, über dessen tiefgründigen Inhalt er nachgrübelte. Indem er diese andächtige Haltung einnahm, statt gekränkte Einsamkeit zur Schau zu stellen, ließ er Fremden die Option offen, ihn anzusprechen, ohne es herauszufordern.

Falls die ersten Worte, die der andere von sich gab, darauf hinwiesen, dass es sich um einen Fanatiker, einen politischen Spinner oder irgendeinen Dummkopf handelte, konnte Tim aus seiner verträumten Pose zu bitterem Schweigen und dem Ausdruck mühsam gebändigter Aggression übergehen. Nur wenige Leute versuchten öfter als zweimal, das Eis zu brechen, wenn die einzige Reaktion in eisiger Kälte bestand.

Wenn Tim am Altar der Theke saß, war es ihm zwar lieber, sich ruhiger Kontemplation zu widmen, aber er hatte auch nichts gegen Konversation von der richtigen Sorte. Das hieß, sie musste ungewöhnlich sein.

Brachte man selbst ein Gespräch in Gang, so war es womöglich schwierig zu beenden. Machte jedoch der Nachbar zuerst den Mund auf und ließ erkennen, wer er war, dann konnte man ihn problemlos zum Schweigen bringen, indem man ihn einfach links liegen ließ.

Weiter um das Wohlergehen seiner noch nicht geborenen Kinder bemüht, trat Rooney auf den Plan. »Was darf’s sein?«

Der Fremde legte einen dicken, braunen Umschlag auf die Theke und ließ seine linke Hand darauf ruhen. »Vielleicht … ein Bier.«

Rooney wartete mit gehobenen Augenbrauen.

»Ja. Genau. Ein Bier«, sagte der neue Gast.

»Vom Fass habe ich Budweiser, Miller Lite und Heineken.«

»Aha. Tja … also … ich würde sagen … ein Heineken.«

Die Stimme war so dünn und straff wie eine Telefonleitung, und die Worte kamen heraus wie Vögel, die in diskretem Abstand zueinander darauf hockten. Dabei schwang ein Ton mit, bei dem es sich um Bestürzung handeln mochte.

Als Rooney das Bier brachte, hatte der Fremde bereits Geld auf die Theke gelegt. »Stimmt so«, sagte er.

Ein zweites Glas kam offenbar nicht infrage.

Während Rooney wegging, umschloss der Fremde das Bierglas mit der Rechten. Er nahm keinen einzigen Schluck.

Tim war ein Nuckelbaby. Mit diesem Titel verspottete ihn Rooney jedenfalls gern, weil er es schaffte, während eines ganzen, langen Abends gerade mal zwei Glas Bier zu konsumieren. Manchmal bestellte er sich ein paar Eiswürfel dazu, wenn das Gebräu zu warm geworden war.

Selbst wenn man kein Gewohnheitstrinker war, wollte man den ersten Schluck doch genießen, solange das Bier frisch gezapft und ordentlich kühl war.

Wie ein auf sein Ziel fixierter Scharfschütze betrachtete Tim sein eigenes Glas, doch wie ein guter Scharfschütze verfügte auch er über ein ausgezeichnetes peripheres Sehvermögen. Deshalb konnte er sehen, dass der Fremde sein Glas immer noch nicht gehoben hatte.

Offenbar war es dieser Kerl nicht gewohnt, in Kneipen zu gehen, und hier wollte er an diesem Abend und zu dieser Stunde schon gar nicht sein.

Endlich sagte er: »Ich bin zu früh dran.«

Tim war sich nicht sicher, ob das eine Unterhaltung war, die er führen wollte.

»Wahrscheinlich«, fuhr der Fremde fort, »will jeder früh dran sein, um die Lage zu peilen.«

Tim hatte ein schlechtes Gefühl. Nicht, dass er den Eindruck hatte, sich vor dem Kerl da hüten zu müssen, weil er gefährlich war, aber lästig konnte er vielleicht schon werden.

»Ich bin mal mit meinem Hund aus einem Flugzeug gesprungen«, sagte der Fremde.

Allerdings kam ein denkwürdiges Kneipengespräch am ehesten dann zustande, wenn man das Glück hatte, einem Exzentriker zu begegnen.

Tims Stimmung hob sich. Er wandte sich dem Fallschirmspringer zu und fragte: »Wie hieß er denn?«

»Wer?«

»Der Hund.«

»Larry.«

»Komischer Name für einen Hund.«

»Ich hab ihn nach meinem Bruder benannt.«

»Und was hat Ihr Bruder dazu gesagt?«

»Mein Bruder ist tot.«

»Das tut mir leid«, sagte Tim.

»Ist schon lange her.«

»Mochte Larry Fallschirmspringen?«

»Er ist nie gesprungen. Er starb, als er sechzehn war.«

»Ich meinte den Hund.«

»Ach so. Ja, dem hat es offenbar gefallen. Ich hab es nur erwähnt, weil mir gerade genauso flau im Magen ist wie damals vor dem Sprung.«

»Sie hatten einen ziemlich üblen Tag, was?«

Der Fremde runzelte die Stirn. »Meinen Sie?«

Tim nickte. »Ein übler Tag.«

Mit weiterhin gerunzelter Stirn fragte der Fallschirmspringer: »Sie sind es doch, oder?«

Die Kunst des Wortgeplänkels in einer Kneipe war nicht damit vergleichbar, auf dem Klavier Mozart zu spielen. Es läuft eher wie bei einer Jamsession. Die Rhythmen ergeben sich instinktiv.

»Sie sind es, ja?«, wiederholte der Fremde.

»Wer soll ich denn sonst sein?«, entgegnete Tim.

»Sie sehen so … normal aus.«

»Ich gebe mir alle Mühe«, versicherte Tim.

Der Fallschirmspringer starrte ihn einen Moment lang aufmerksam an, senkte dann jedoch gleich wieder den Blick. »Ich kann mir nicht vorstellen, jemand wie Sie zu sein.«

»Ein Zuckerschlecken ist es nicht«, sagte Tim in ernsterem Ton und runzelte ebenfalls die Stirn, weil er das ziemlich ehrlich gemeint hatte.

Endlich hob der Fremde sein Glas. Während er es zum Mund führte, schwappte Bier auf die Theke; dann schüttete er die Hälfte in sich hinein.

»Außerdem ist das nur so eine Phase«, sagte Tim mehr zu sich selbst als zu seinem Gesprächspartner.

Irgendwann würde der Kerl seinen Fehler erkennen, woraufhin Tim so tun würde, als hätte er sich ebenfalls geirrt. Inzwischen konnte er sich ja ein wenig amüsieren.

Der Mann schob den braunen Umschlag über die Theke. »Das ist die Hälfte. Zehntausend. Der Rest folgt, wenn sie erledigt ist.«

Sobald er seinen Satz beendet hatte, drehte er sich auf seinem Barhocker um, stand auf und ging auf die Tür zu.

Tim wollte den Mann schon zurückrufen, als ihm die schaurige Bedeutung der elf Worte klar wurde: Das ist die Hälfte. Der Rest folgt, wenn sie erledigt ist.

Zuerst erstickte Verblüffung seine Stimme und dann ein für ihn untypisches Angstgefühl.

Der Fallschirmspringer hatte es offenbar eilig, die Kneipe zu verlassen. Er durchquerte rasch den Raum, trat durch die Tür und verschwand in der Nacht.

»He, warten Sie mal«, sagte Tim zu leise und zu spät. »Warten Sie.«

Wenn man durch die Tage gleitet und dabei nur eine Spur hinterlässt, die so fein ist wie Spinnweben, dann ist man es nicht gewohnt, laut zu rufen oder hinter Fremden herzulaufen, die einen Mord im Sinn haben.

Als Tim klar wurde, dass er nicht umhinkam, die Verfolgung aufzunehmen, erhob er sich von seinem Hocker, aber da war der richtige Zeitpunkt bereits verstrichen. Der Fremde schon zu weit weg.

Tim setzte sich wieder hin und trank sein Bier in einem langen Zug aus.

An den Wänden des Glases blieb Schaum haften. Bisher war ihm dieses flüchtige Muster nie besonders geheimnisvoll erschienen. Nun studierte er es, als sei es von großer Bedeutung.

Verwirrt warf er einen Blick auf den braunen Umschlag, der so unheilvoll aussah wie eine Rohrbombe.

Je einen Teller mit Cheeseburger und Fritten in den Händen, bediente Liam Rooney eines der jungen Paare an den Tischen. Weil montags nicht viel los war, kam an diesem Tag keine Kellnerin.

Tim hob die Hand, um Rooney ein Zeichen zu geben. Der Wirt nahm es nicht wahr und ging zu dem Durchgang in der Theke zurück, der sich am anderen Ende des Raums befand.

Der Umschlag besaß noch immer eine unheilvolle Bedeutung, aber Tim zweifelte inzwischen bereits daran, dass er das, was sich zwischen ihm und dem Fremden abgespielt hatte, richtig verstanden hatte. Ein Kerl mit einem fallschirmspringenden Hund namens Larry zahlte doch bestimmt nicht dafür, jemanden umbringen zu lassen. Das Ganze war ein Missverständnis.

Der Rest folgt, wenn sie erledigt ist. Das konnte eine Menge bedeuten. Es ließ nicht zwangsläufig darauf schließen, dass die betreffende Person tot sein sollte.

Im Vertrauen darauf, dass die Welt rasch wieder ins Lot käme, bog Tim die Messingklammer auf, die den Umschlag verschloss, öffnete die Klappe und griff hinein. Er zog ein dickes Bündel mit einem Gummiband zusammengehaltener Hundertdollarscheine heraus.

Vielleicht war das Geld ja gar nicht schmierig, aber es fühlte sich so an. Er schob es sofort wieder in den Umschlag zurück.

Neben dem Bargeld fand er ein dreizehn mal achtzehn Zentimeter großes Foto, das aussah wie der Abzug einer Passbildaufnahme. Es stellte eine Frau Ende zwanzig dar. Attraktiv.

Auf der Rückseite des Fotos stand in Druckschrift ein Name: LINDA PAQUETTE. Darunter war eine Adresse in Laguna Beach angegeben.

Obwohl Tim gerade erst sein Bier ausgetrunken hatte, fühlte sich sein Mund salzig-trocken und zitronensauer an. Sein Herz schlug langsam, aber ungewöhnlich heftig. In seinen Ohren dröhnte es.

Ohne vernünftigen Grund fühlte er sich schuldig, während er das Foto betrachtete. Als wäre er irgendwie daran beteiligt gewesen, den Tod dieser Frau zu planen. Er legte das Bild weg und schob auch den Umschlag beiseite.

Ein weiterer Mann betrat die Kneipe. Er war fast so groß wie Tim und hatte wie dieser kurz geschorenes, braunes Haar.

Rooney kam mit einem frischen Bier und sagte zu Tim: »Wenn du in dem Tempo weitertrinkst, zähle ich dich nicht mehr zu den Möbelstücken. Dann bist du ein echter Gast.«

Das hartnäckige Gefühl, in einem Traum gefangen zu sein, verlangsamte Tims Denkvermögen. Eigentlich wollte er Rooney erzählen, was gerade geschehen war, aber seine Zunge fühlte sich zu schwer an.

Der Neuankömmling kam näher und setzte sich auf den Hocker, auf dem auch der Fallschirmspringer gesessen hatte. Wie vorher blieb ein Hocker zwischen ihm und Tim frei. »Ein Budweiser«, sagte er zu Rooney.

Während der Wirt zum Zapfhahn trottete, starrte der Fremde erst auf den braunen Umschlag, dann sah er Tim ins Gesicht. Er hatte braune Augen, genau wie Tim.

»Sie sind früh dran«, sagte der Killer.

2

Das Leben kann sich wie eine Tür in ihren Angeln innerhalb eines winzigen Zeitraums in eine andere Richtung drehen. Jede einzelne Minute hat das Potenzial zu einer entscheidenden Veränderung, und jedes Ticken der Uhr kann die Stimme des Schicksals sein, die ein Versprechen oder eine Warnung flüstert.

Als der Killer sagte: »Sie sind früh dran«, bemerkte Tim Carrier, dass die Budweiser-Uhr fünf Minuten vor der vollen Stunde anzeigte, weshalb er eine begründete Vermutung anstellte: »Sie aber auch.«

Die Angeln hatten sich bewegt. Die Tür stand offen und konnte nie wieder geschlossen werden.

»Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich Sie anheuern will«, sagte Tim.

Rooney brachte dem Killer sein Bier und kümmerte sich dann um eine Bestellung, die ihm vom anderen Ende der Theke zugerufen wurde.

Ein von der Mahagonioberfläche reflektierter Lichtschein verlieh dem Inhalt des Glases einen rötlichen Schimmer.

Der Fremde fuhr sich mit der Zunge über die aufgesprungenen Lippen und trank. Er hatte einen ordentlichen Durst.

Während er das Glas abstellte, sagte er freundlich: »Sie können mich nicht anheuern. Ich nehme keine Befehle entgegen. «

Tim überlegte, ob er behaupten sollte, er müsse die Toilette aufsuchen. Von dort aus konnte er mit seinem Handy die Polizei rufen.

Dagegen sprach, dass der Fremde sein Verschwinden als Aufforderung interpretieren konnte, den braunen Umschlag einzustecken und zu gehen.

Den Umschlag mit auf die Toilette zu nehmen, wäre keine gute Idee gewesen. Dann hätte der Killer womöglich angenommen, Tim wolle die Übergabe an einem verschwiegeneren Ort vornehmen, und wäre ihm gefolgt.

»Man kann mich nicht anheuern, und ich gehe auch mit nichts hausieren«, sagte der Killer. »Sie verkaufen mir etwas, nicht umgekehrt.«

»Ach ja? Was verkaufe ich Ihnen denn?«

»Ein Konzept. Das Konzept, dass Ihre Welt sich grundlegend verwandeln wird … durch eine einzige Veränderung.«

Tim musste an das Gesicht der Frau auf dem Foto denken.

Seine Wahlmöglichkeiten waren ihm unklar. Er brauchte Zeit zum Nachdenken, deshalb sagte er: »Der Verkäufer setzt den Preis fest. Und Sie haben den Preis bestimmt – zwanzigtausend.«

»Das ist nicht der Preis. Es ist ein Beitrag.«

Dieses Gespräch ergab nicht weniger Sinn als ein typisches Kneipengeplänkel, weshalb Tim problemlos seinen Rhythmus fand. »Aber für meinen Beitrag erhalte ich Ihre … Dienste.«

»Nein. Ich habe keine Dienste zu verkaufen. Sie erhalten meine Gnade.«

»Ihre Gnade.«

»Ganz recht. Sobald ich das Konzept akzeptiere, das Sie verkaufen, wird Ihre Welt durch meine Gnade grundlegend verändert.«

Wenn man ihre durchaus gewöhnliche Farbe in Betracht zog, wirkten die braunen Augen des Killers dennoch durchdringender, als sie hätten sein sollen.

Als er sich an die Theke gesetzt hatte, da war sein Gesicht hart erschienen, doch das war ein trügerischer erster Eindruck gewesen. Ein Grübchen schmückte sein rundes Kinn. Glatte, rosafarbene Wangen. Keine Lachfältchen. Keinerlei Furchen auf der Stirn.

Sein leichtes Lächeln war so verschmitzt, als würde er sich an sein Lieblingsmärchen aus der Kindheit erinnern, in dem es um Feen und Kobolde ging. Offenbar handelte es sich um seinen normalen Gesichtsausdruck, der allerdings den Eindruck vermittelte, er sei ständig halb abwesend.

»Dies ist keine geschäftliche Transaktion«, sagte der lächelnde Fremde. »Sie haben um etwas ersucht, und ich bin die Antwort auf Ihre Bitte.«

Das Vokabular, mit dem der Killer seine Arbeit umschrieb, war womöglich der Vorsicht geschuldet. Schließlich vermied er durch diese Technik, sich mit verdächtigen Aussagen selbst ans Messer zu liefern. Dass er seine geschraubten Verharmlosungen jedoch mit einem konstanten Lächeln von sich gab, wirkte beunruhigend, wenn nicht gar unheimlich.

Als Tim den braunen Umschlag öffnete, sagte der Killer warnend: »Nicht hier!«

»Nur mit der Ruhe.« Tim holte das Foto aus dem Umschlag, faltete es zusammen und steckte es in seine Brusttasche. »Ich habe mich anders entschieden.«

»Das tut mir leid. Ich hatte auf Sie gezählt.«

Tim schob den Umschlag vor den leeren Hocker, der zwischen ihnen beiden stand. »Die Hälfte von dem, was wir vereinbart haben«, sagte er. »Fürs Nichtstun. Betrachten Sie es als Nichttötungsgebühr.«

»Man würde Sie nie damit in Verbindung bringen«, sagte der Killer.

»Ich weiß. Sie machen Ihre Sache immer gut, da bin ich sicher. Sie sind der Beste. Aber ich will es einfach nicht mehr.«

Lächelnd schüttelte der Killer den Kopf. »Doch, Sie wollen es.«

»Nicht mehr.«

»Sie haben es einmal gewollt. Man geht nicht so weit, so etwas erst zu wollen und dann plötzlich nicht mehr. So funktioniert die menschliche Psyche einfach nicht.«

»Ich habe Zweifel bekommen«, sagte Tim.

»Bei einer solchen Sache kommen die Zweifel immer erst, nachdem man bekommen hat, was man wollte. Dann erlaubt man sich ein paar Gewissensbisse, damit man sich besser fühlt. Man hat bekommen, was man wollte, ist mit sich zufrieden, und nach einem Jahr ist es bloß noch eine traurige Angelegenheit, die nun mal passiert ist.«

So verstörend der intensive Blick der braunen Augen auf ihn auch wirkte, Tim wagte nicht, den Kopf abzuwenden. Wenn er sich dem direkten Kontakt entzog, schöpfte der Killer womöglich Verdacht.

Ein Grund, wieso diese Augen so fesselnd waren, wurde ihm nun klar. Die Pupillen waren stark erweitert. Der schwarze Punkt im Zentrum jeder Iris schien genauso groß zu sein wie der farbige Ring darum herum.

Die Beleuchtung hier am Ende der Theke war zwar schummrig, aber dunkel war es nicht. Dennoch waren die Pupillen des Killers so erweitert, als wäre es völlig finster gewesen.

Der Hunger in seinen Augen, diese Gier nach Licht, besaß die Anziehungskraft eines schwarzen Lochs im Weltraum, eines kollabierten Sterns.

Vielleicht waren die Pupillen von Blinden ständig so erweitert. Der Killer aber war nicht blind, jedenfalls nicht für Licht. Für etwas anderes hingegen womöglich schon.

»Nehmen Sie das Geld«, sagte Tim.

Wieder das Lächeln. »Es ist die Hälfte des Geldes.«

»Fürs Nichtstun.«

»Ach, etwas habe ich schon geleistet.«

Tim runzelte die Stirn. »Was denn?«

»Ich habe Ihnen gezeigt, was Sie sind.«

»Ach ja? Und was bin ich?«

»Ein Mann mit der Seele eines Mörders, aber mit dem Herzen eines Feiglings.«

Der Killer griff nach dem Umschlag, stand auf und ging davon.

Nachdem Tim sich erfolgreich für den Mann mit einem Hund namens Larry ausgegeben und damit der Frau auf dem Foto vorläufig das Leben gerettet hatte, hätte er eigentlich erleichtert sein sollen. Schließlich hätte der Killer gewalttätig reagieren können, wenn er gemerkt hätte, dass er hinters Licht geführt wurde. Von Erleichterung war jedoch keine Rede. Stattdessen hatte Tim einen Kloß im Hals, und sein Herz schien anzuschwellen, bis es die Lunge bedrängte und ihm den Atem nahm.

Ein kurzer Schwindel überkam ihn, und er fühlte sich, als würde er sich auf seinem Barhocker langsam im Kreis drehen. Wenn das so weiterging, würde ihm bald übel.

Er begriff, dass er deshalb keine Erleichterung verspürte, weil die Sache noch nicht beendet war. Um seine Zukunft vorherzusehen, brauchte er nicht aus dem Kaffeesatz zu lesen. Dass sie tragisch werden würde, war unverkennbar.

In seinem Beruf musste Tim nur einen kurzen Blick auf eine Mauer werfen, um das Muster zu benennen, nach dem die Steine aufgeschichtet waren: Läuferverband, Blockverband, Gotischer Verband, Quaderverband, Flämischer Verband … Das Muster des Weges, der vor ihm lag, hieß Chaos. Er konnte nicht wissen, wohin er ihn führte.

Der Killer ging leichten Schrittes, wie es nur jemand konnte, der nicht von Gewissensbissen geplagt wurde. Im nächsten Augenblick trat er in die Nacht hinaus.

Tim eilte zur Tür, zog sie vorsichtig einen Spalt breit auf und spähte hinaus.

Am Lenkrad eines weißen Pkws, der schräg zum Bordstein parkte, saß der lächelnde Mann, halb verborgen von der Windschutzscheibe, in der sich das blaue Neonschild der Kneipe spiegelte. Er blätterte das Bündel Hundertdollarscheine durch.

Tim zog sein Handy aus der Brusttasche.

Der Killer ließ das Fenster der Fahrertür herunter. Er hängte einen Gegenstand an die Scheibe und ließ sie wieder hochfahren, um ihn zu fixieren.

Ohne den Blick auf sein Handy zu richten, tastete Tim mit dem Daumen nach den Ziffern des Polizeinotrufs. Neun. Eins.

Der zwischen dem Fensterrahmen und der Scheibe eingeklemmte Gegenstand war ein rotes Blinklicht, das zu blitzen begann, als sich der Wagen rückwärts vom Bordstein entfernte.

»Ein Cop«, flüsterte Tim und stockte mit dem Daumen auf der Eins.

Während der Wagen davonfuhr, wagte Tim, aus der Tür zu treten und das Nummernschild am Heck des rasch entschwindenden Fahrzeugs zu lesen.

Der Beton unter seinen Füßen schien nicht mehr Oberflächenspannung zu besitzen als das Wasser eines Tümpels. Wenn eine Eintagsfliege über eine solche Wasserfläche gleitet, um Vögeln und Fledermäusen zu entgehen, dann wird sie manchmal von einem hungrigen Barsch geschnappt, der aus der Tiefe aufsteigt.

3

Im goldenen Schein der Drachenlampe sicherte ein einfaches Eisengeländer die Betonstufen. Der Beton war mit einem Überzug versehen worden, als er noch feucht war, weshalb manche Kanten unregelmäßig und manche Stufen so rissig waren wie das Krakelee einer Keramikvase.

Wie so viele Dinge im Leben verzieh auch Beton nicht den kleinsten Fehler.

Über die vier rechteckigen Flächen der Lampe wand sich der Kupferdrache vor leuchtend bunten Glasscheiben. Sein Körper glänzte noch, doch an den Kanten bildete sich bereits Grünspan.

Vom rötlichen Licht übergossen, sah auch die Fliegengittertür aus Aluminium wie Kupfer aus. Die Tür dahinter stand offen und gab den Blick in eine Küche frei, aus der es intensiv nach Zimt und starkem Kaffee duftete.

Michelle Rooney saß am Tisch. Sie hob den Kopf, als Tim eintrat. »Du bist so leise, dass ich nur gespürt hab, dass du gekommen bist.«

Behutsam zog er die Gittertür hinter sich zu. »Ich kann mir fast vorstellen, was du damit meinst.«

»Die Nacht draußen ist still geworden, so wie der Dschungel still wird, wenn ein Mensch hindurchgeht.«

»Irgendwelche Krokodile hab ich allerdings nicht gesehen«, sagte er. Dann fiel ihm der Mann ein, dem er die zehntausend Dollar gegeben hatte.

Er setzte sich gegenüber von Michelle an den blassblauen Resopaltisch und betrachtete die Zeichnung, an der sie arbeitete. Aus seiner Perspektive stand sie auf dem Kopf.

Aus der Jukebox in der Kneipe unten erklang die gedämpfte, aber dennoch wunderschöne Stimme von Martina McBride.

Als Tim auf der Zeichnung ein Panorama aus Baumsilhouetten erkannte, fragte er: »Was wird das denn?«

»Eine Tischlampe. Bronze und Buntglas.«

»Eines Tages wirst du noch berühmt, Michelle.«

»Wenn ich das dächte, würde ich sofort aufhören.«

Er warf einen Blick auf ihre linke Hand, die mit der Innenseite nach oben auf der Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank lag.

»Willst du eine Tasse?«, fragte sie und zeigte auf die Kaffeemaschine neben dem Herd. »Er ist frisch.«

»Das Zeug sieht so schwarz aus, als hätte man es aus einem Tintenfisch gepresst.«

»Wer will schon schlafen, wenn man wach sein kann?«

Tim goss sich einen Becher Kaffee ein und setzte sich damit wieder an den Tisch.

Wie viele andere Stühle kam ihm auch dieser wie ein Spielzeugmöbel vor. Michelle war klein, weshalb derselbe Stuhl mit ihr darauf groß aussah, aber Tim fühlte sich wie ein Kind, das Kaffeeklatsch spielt.

Allerdings hatte dieser Eindruck weniger mit den Stühlen als mit Michelle zu tun. Ohne es zu merken, schaffte sie es manchmal, dass er sich vorkam wie ein verlegener kleiner Junge.

Sie führte den Bleistift mit der rechten Hand. Die Zeichenunterlage hielt sie dabei mit dem Stumpf ihres linken Unterarms fest.

»In zehn Minuten«, sagte sie und deutete mit dem Kinn auf den Backofen, »ist der Rührkuchen fertig.«

»So gut er auch riecht, ich kann nicht bleiben.«

»Tu bloß nicht so, als hättest du was vor!«

Ein Schatten tanzte über den Tisch. Tim hob den Blick. Ein gelber Schmetterling flatterte unter den silbernen Hufen der Bronzegazellen, aus denen Michelle einen kleinen Leuchter mit Glühbirnen gestaltet hatte.

»Der ist heute Nachmittag hier hereingeflogen«, sagte sie. »Eine Weile habe ich die Tür offen gelassen und sogar versucht, ihn hinauszuscheuchen, aber offenbar fühlt er sich hier zu Hause.«

»Das wundert mich nicht.«

Unter der Bleistiftspitze bildete sich flüsternd ein weiterer Ast.

»Wie hast du es eigentlich mit dem Zeug die Treppe heraufgeschafft? «, fragte Michelle.

»Was für Zeug?«

»Das, was dich so belastet.«

Der Tisch war so blau wie ein fahler Himmel, hinter dem sich geheimnisvoll der Schatten des Schmetterlings bewegte.

»Ich werde jetzt eine Weile nicht mehr vorbeikommen«, sagte Tim.

»Wie bitte?«

»Ein paar Wochen, vielleicht einen Monat lang.«

»Ich verstehe nicht ganz.«

»Es gibt da etwas, um das ich mich kümmern muss.«

Der Schmetterling fand einen Sitzplatz und klappte die Flügel zusammen. Dadurch verschwand der Schatten so plötzlich wie die Flamme einer ausgelöschten Kerze, als wäre er deren zitterndes Spiegelbild gewesen.

»Etwas …«, wiederholte Michelle. Der übers Papier gleitende Bleistift verstummte.

Als Tim den Blick vom Tisch hob und Michelle ansah, merkte er, dass sie ihn anstarrte. Ihre Augen hatten beide genau dasselbe Blau und wirkten gleichermaßen überzeugend.

»Wenn ein Mann auftaucht, mein Aussehen beschreibt und einen Namen hören will, sagt einfach, dass ihr keine Ahnung habt, wer ich bin.«

»Was für ein Mann?«

»Irgendeiner. Egal, wer. Liam wird sagen: ›Der große Kerl auf dem letzten Barhocker? Hab ich vorher noch nie gesehen. Ziemlicher Klugscheißer. War mir unsympathisch.‹«

»Also weiß Liam, worum es geht?«

Tim zuckte die Achseln. Er hatte Liam nicht mehr erzählt, als er Michelle erzählen wollte. »Eigentlich nicht. Es geht um eine Frau, das ist alles.«

»Und falls dieser Typ tatsächlich unten in der Kneipe auftaucht, weshalb sollte er dann auch noch hier heraufkommen? «

»Vielleicht tut er das ja gar nicht. Aber er ist wahrscheinlich ziemlich gründlich. Außerdem könntest du ja unten in der Kneipe sein, wenn er kommt.«

Ihr linkes Auge – das künstliche, blinde – schien ihn stärker zu durchdringen als das rechte, als wäre es von einem kraftvollen Zauber besessen.

»Es geht nicht um eine Frau«, sagte sie.

»Doch, ehrlich.«

»Jedenfalls nicht so, wie du es angedeutet hast. Du steckst in der Patsche.«

»So schlimm ist es nicht. Nur peinlich.«

»Nein. Du würdest dich nie in eine peinliche Lage bringen. Jemanden, den du gut kennst, übrigens auch nicht.«

Tim schaute sich nach dem Schmetterling um und sah ihn auf der Kette hocken, an der die Lampe aufgehängt war. Langsam dehnte er seine Flügel in der warmen Luft, die von den leuchtenden Glühbirnen aufstieg.

»Du hast kein Recht«, fuhr sie fort, »das alleine durchzustehen, egal, was es ist.«

»Du misst der Sache zu viel Bedeutung bei«, beruhigte er sie. »Es ist nur eine peinliche persönliche Angelegenheit. Ich werde schon damit fertig.«

Sie saßen im Schweigen des ruhenden Bleistifts. Aus der Jukebox in der Kneipe unten kam keine Musik, und auch die Nacht hinter dem Fliegengitter war totenstill.

Schließlich fragte Michelle: »Sag mal, hast du dich jetzt zum Lepidopterologen entwickelt?«

»Ich weiß nicht mal, was das ist.«

»Ein Schmetterlingskundler. Versuch doch mal, mich anzusehen. «

Tim senkte den Blick.

»Ich arbeite an einer Lampe für dich«, sagte Michelle.

Er betrachtete die Zeichnung mit den stilisierten Bäumen.

»Nicht die da. Eine andere. Sie ist schon in der Produktion. «

»Wie sieht sie aus?«

»Ende des Monats ist sie fertig. Dann wirst du sie schon sehen.«

»Na gut.«

»Komm wieder und schau sie dir dann an.«

»Das tue ich. Ich komme wieder, um sie mir zu holen.«

»Ja, hol sie dir«, sagte Michelle und streckte den Stumpf ihres linken Arms nach ihm aus.

Tim hatte das Gefühl, sie würde ihn mit unsichtbaren Fingern festhalten, und dann gab sie ihm auch noch einen Kuss auf den Handrücken.

»Danke für Liam«, sagte sie leise.

»Den hat dir das Schicksal geschenkt, nicht ich.«

»Danke für Liam«, wiederholte sie beharrlich.

Tim küsste sie auf den Scheitel ihres gesenkten Kopfes. »Ich wünschte, ich hätte eine Schwester, die genauso ist wie du. Aber was die Patsche angeht, in der ich angeblich stecke, da irrst du dich.«

»Keine Lügen«, sagte sie. »Ausweichen darfst du, wenn es sein muss, aber lügen darfst du nicht. Du bist kein Lügner, und ich bin kein Dummkopf.«

Sie hob den Kopf und sah ihm in die Augen.

»Na gut«, sagte er.

»Meinst du nicht, dass ich merke, wenn du echte Probleme hast?«

»Doch«, gab er zu, »das merkst du bestimmt.«

»Jetzt ist der Rührkuchen sicher gleich fertig.«

Sein Blick fiel wieder auf die Prothese, die neben dem Kühlschrank lag. Die Handfläche zeigte nach oben, die Finger waren entspannt. »Ich hole ihn für dich aus dem Ofen«, sagte er.

»Ach, das schaffe ich schon. Wenn ich backe, lege ich die Hand nie an. Ich könnte nämlich nicht spüren, wenn sie verschmoren würde.«

Sie streifte Topfhandschuhe über ihre gesunde Hand und den Stumpf, nahm den Kuchen heraus und stürzte ihn zum Abkühlen auf ein Gitter.

Als Michelle die Handschuhe abgestreift und sich zu Tim umgedreht hatte, stand dieser bereits an der Tür.

»Ich freue mich auf die Lampe«, sagte er.

Weil ihre Tränendrüsen nicht geschädigt worden waren, glänzten sowohl ihr lebendiges wie ihr totes Auge.

Tim trat auf den Treppenabsatz, aber bevor er das Fliegengitter hinter sich zufallen ließ, sagte Michelle: »Es sind Löwen.«

»Was?«

»Die Lampe. Es sind Löwen.«

»Die sehen bestimmt toll aus.«

»Wenn du die Sache richtig anpackst, bekommst du ein Gefühl für ihr großes Herz und ihren Mut.«

Er schloss die Tür. Während er die Stufen hinunterging, schien er auf dem Beton keinerlei Geräusch zu machen.

Der auf der Straße herrschende Verkehr war sicher nicht lautlos, doch Tim blieb taub für seinen Chor. Scheinwerfer näherten sich, und Rücklichter entschwanden wie leuchtende Fische im Schweigen eines tiefen Ozeans.

Als er sich den letzten Stufen näherte, begann der Lärm der Stadt zu ihm hoch zu steigen, zuerst leise, dann laut und immer lauter. Das Geräusch stammte hauptsächlich von Maschinen, doch die hatten einen wilden, wenn nicht sogar brutalen Rhythmus.

4

Die Frau, deren Tod geplant war, wohnte in einem bescheidenen Bungalow in den Hügeln von Laguna Beach, an einer Straße, die zwar kein sündteures Panorama bot, seit einiger Zeit aber dennoch immer nobler wurde. Verglichen mit den alternden Häusern waren die Grundstücke derart wertvoll, dass jedes Gebäude, das verkauft wurde, ungeachtet seines Zustands und Charmes sofort abgerissen wurde, um Platz für ein größeres zu schaffen.

Südkalifornien warf seine alte Hülle komplett ab. Falls sich herausstellen sollte, dass die Zukunft unerfreulich war, dann würde kein Beweis für eine bessere Vergangenheit mehr existieren, was den Verlust sicher weniger schmerzlich machte.

Das kleine, weiße Haus, das sich unter hohe Eukalyptusbäume kauerte, hatte viel Charme, doch in Tims Augen wirkte es umkämpft. Unwillkürlich sah er darin eher einen Bunker als einen Bungalow.

Warmes Lampenlicht erleuchtete die Fenster. Eng gewebte Gardinen ließen die Räume dahinter zum Geheimnis werden.

Tim stellte seinen Geländewagen auf der anderen Straßenseite ab, vier Häuser von Linda Paquettes Grundstück entfernt.

Er kannte das Haus, vor dem er stand. Es war drei Jahre alt und im schlichten Craftsman-Stil erbaut, mit Natursteinmauern und einer Verschalung aus Zedernholz. Tim hatte die Maurerbrigade geleitet.

Der Weg zur Haustür war mit unregelmäßigen Steinplatten gepflastert, die von einer doppelten Reihe aus kleinen Kopfsteinen flankiert wurden. Diese Kombination fand Tim unvorteilhaft, aber er hatte sie dennoch mit Sorgfalt und Präzision verlegt.

Die Erbauer von drei Millionen Dollar teuren Häusern fragten Maurer nur selten um Rat, wenn es um Stilfragen ging. Architekten taten das ohnehin nie.

Nachdem Tim einmal die Klingel gedrückt hatte, stand er da und lauschte dem leisen Rauschen der Palmen.

Die seewärts ziehende Luft war weniger eine Brise als eine Vorahnung davon. Die milde Mainacht atmete so schwach wie ein in Narkose liegender Patient, der auf den Chirurg wartete.

Das Verandalicht ging an, die Tür flog auf und Max Jabowski sagte: »Timothy, alter Junge! Was für eine Überraschung! «

Max war nicht nur der Besitzer eines noblen Hauses, er hatte auch menschlich eine Menge zu bieten.

»Bitte, kommen Sie doch rein!«

»Ich will nicht stören«, sagte Tim.

»Unsinn. Wie könnten Sie in einem Haus stören, das Sie selbst gebaut haben?«

Tim sah sich an der Schulter gepackt und so von der Veranda in den Flur gezogen, dass kein Widerstand möglich war.

»Ich muss Sie nur ganz kurz in Anspruch nehmen, Sir«, sagte er.

»Darf ich Ihnen ein Bier anbieten? Oder irgendetwas anderes? «

»Nein danke, ich hab keinen Durst. Es geht um jemanden aus der Nachbarschaft.«

»Die kenne ich alle, in diesem Häuserblock und im nächsten. Schließlich bin ich im Vorstand der Nachbarschaftswache. «

Das hatte Tim erwartet.

»Kaffee? Ich hab eine von diesen Maschinen, die jede Tasse einzeln aufbrühen, egal, ob Cappuccino oder einen ganz normalen Schwarzen.«

»Danke, wirklich nicht. Sehr freundlich, Sir. Es handelt sich um eine Frau. Sie wohnt in Nummer vierzehnhundertfünfundzwanzig, in dem Bungalow zwischen den Eukalyptusbäumen. «

»Linda Paquette. Ich wusste gar nicht, dass Sie bauen will. Eine sehr zuverlässige Person. Ich glaube, Sie werden gern bei ihr arbeiten.«

»Kennen Sie ihren Mann, wissen Sie, was er beruflich tut?«

»Sie ist nicht verheiratet. Sie wohnt alleine dort.«

»Also ist sie geschieden?«

»Nicht, dass ich wüsste. Will sie das Haus abreißen oder nur renovieren lassen?«

»Darum geht es nicht«, sagte Tim. »Es ist eine persönliche Angelegenheit. Ich wollte Sie bitten, ihr ein wenig von mir zu erzählen, damit sie weiß, dass man mir trauen kann.«

Max hob die buschigen Augenbrauen. Seine dicken Lippen verzogen sich zu einem entzückten Lächeln. »Also, ich hab ja schon eine Menge gemacht, aber verkuppelt hab ich noch nie jemanden.«

Obwohl er diese Reaktion auf sein Anliegen hätte vorhersehen können, war Tim überrascht. Er hatte schon lange keine Freundin mehr gehabt. Irgendwie nahm er an, er habe jenes verräterische Glitzern in den Augen verloren und die Produktion der feinen Duftstoffe eingestellt, die fälschlicherweise darauf hätten schließen lassen, dass er noch auf der Suche war.

»Nein, nein. Darum geht es auch nicht.«

»Sie sieht gut aus«, sagte Max.

»Ehrlich, das ist es nicht. Ich kenne sie gar nicht, und sie kennt mich auch nicht, aber wir haben einen … gemeinsamen Bekannten. Was den angeht, habe ich schlechte Nachrichten. Ich glaube, sie würde gern darüber Bescheid wissen. «

Das amüsierte Lächeln reduzierte sich nur minimal. Offenbar wollte Max die Vorstellung, Amor zu spielen, nur ungern aufgeben.

Jeder hat einfach zu viele Filme gesehen, dachte Tim. Deshalb glaubten alle, auf jeden gutherzigen Zeitgenossen würde hinter der nächsten Ecke eine romantische Beziehung warten. Außerdem glaubten sie deshalb noch eine Menge anderer unwahrscheinlicher Dinge, von denen manche gefährlich waren.

»Es ist eine traurige Angelegenheit«, sagte Tim. »Ziemlich deprimierend.«

»Sie meinen den gemeinsamen Bekannten.«

»Ja. Es geht ihm nicht gut.«

Das konnte man nicht als Lüge bezeichnen. Physisch krank war der Fallschirmspringer wohl nicht, aber sein geistiger Zustand war suspekt, und seine moralische Gesundheit kränkelte zweifellos.

Offenbar interpretierte Max Jabowski Tims Worte dahingehend, dass der Betreffende im Sterben lag. Sein Mund zog sich zu einem grimmigen Strich zusammen, und er nickte.

Tim erwartete, nach dem Namen des gemeinsamen Bekannten gefragt zu werden. Dann hätte er sagen müssen, den wolle er nicht preisgeben, um Linda Paquette nicht zu beunruhigen, bevor er bei ihr war und ihr beistehen konnte.

In Wirklichkeit kannte er den Namen natürlich gar nicht.

Max verzichtete auf die Frage, sodass kein Bluff nötig war. Seine buschigen Brauen wölbten sich nun über seinem ernsten Blick, während er noch einmal Kaffee anbot und dann verschwand, um seine Nachbarin anzurufen.

Die Kassettendecke und die holzgetäfelten Wände des Flurs waren dunkel, während der Kalksteinboden einen so hellen Kontrast darstellte, dass er nur illusorischen Halt zu bieten schien. Tim hatte den Eindruck, jeden Augenblick hindurchfallen zu können wie jemand, der aus einem fliegenden Flugzeug stürzte.

Zwei kleine Stühle flankierten ein Tischchen, über dem ein Spiegel hing.

Tim vermied es, sein Spiegelbild zu betrachten. Hätte er sich selbst in die Augen geschaut, so hätte er die harte Wahrheit gesehen, von der er sich lieber ablenkte.

Sein Blick hätte ihm gesagt, was ihn erwartete. Es war das, was schon immer auf ihn zugekommen war und immer auf ihn zukommen würde, solange er lebte.

Er musste sich darauf vorbereiten. Darüber nachgrübeln musste er jedoch nicht.

Anderswo im Haus erklang die gedämpfte Stimme von Max, der telefonierte.

Hier in der Mitte des Flurs stand Tim stocksteif da und hatte das Gefühl, von einer dunklen Decke herabzuhängen wie der Klöppel einer Glocke, unter sich leere Luft, in schweigender Erwartung eines plötzlichen Läutens.

Max kam zurück. »Sie ist neugierig«, berichtete er. »Ich habe nicht viel gesagt, nur dafür gebürgt, dass Sie ein anständiger Kerl sind.«

»Danke. Es tut mir leid, dass ich Sie belästigt habe.«

»Belästigt haben Sie mich nicht. Es ist nur ein wenig merkwürdig.«

»Ja, das ist es. Ich weiß.«

»Wieso hat Ihr Freund nicht selbst bei Linda angerufen und Sie angekündigt? Er hätte ihr ja nicht sagen müssen, wieso er Sie schickt – wegen der schlechten Nachricht, meine ich.«

»Er ist sehr krank und sehr verwirrt«, sagte Tim. »Deshalb weiß er zwar, was er tun müsste, aber er weiß nicht mehr, wie man es tut.«

»Das ist vielleicht das, wovor ich am meisten Angst habe«, sagte Max. »Geistig abzubauen und die Kontrolle zu verlieren. «

»So ist das Leben«, sagte Tim. »Das steht uns allen bevor. «

Die beiden schüttelten sich die Hände, dann begleitete Max seinen unerwarteten Gast bis vor die Tür. »Sie ist eine wirklich nette Frau. Hoffentlich wird das nicht zu schlimm für sie.«

»Ich werde mich um sie kümmern«, versprach Tim.

Er ging zu seinem Wagen und fuhr das kurze Stück zu Linda Paquettes Bungalow.

Die im Fischgrätmuster angeordneten Ziegel des Wegs, der zur Haustür führte, waren auf einem Sandbett verlegt. In der Luft hing Eukalyptusduft, und vertrocknete Blätter zerbröselten unter seinen Füßen.

Schritt für Schritt überkam ihn ein immer stärker werdendes Gefühl von Dringlichkeit. Die Zeit schien schneller zu vergehen, und er spürte, dass es eher früher als später kritisch werden würde.

Als er die Stufen zur Veranda hochstieg, ging die Tür auf, und sie begrüßte ihn. »Sind Sie Tim?«

»Ja. Ms. Paquette?«

»Sagen Sie Linda zu mir.«

Im Licht über der Veranda waren ihre Augen ägyptisch grün.

Sie sagte: »Ihre Mutter hat es bestimmt ziemlich schwer gehabt, Sie neun Monate lang in sich herumzuschleppen.«

»Ach, damals war ich noch ein Stückchen kleiner.«

Sie trat einen Schritt zurück. »Ziehen Sie den Kopf ein und kommen Sie rein!«

Er trat über die Schwelle, und danach war für ihn nichts mehr so, wie es einmal gewesen war.

5

Von einer Wand zur anderen breitete sich eine golden schimmernde Fläche aus, ein Parkettboden in einem so warmen Honigton, dass das bescheidene Wohnzimmer geräumig und auf sanfte Art nobel wirkte.

Der wohl aus den 1930er-Jahren stammende Bungalow war entweder sorgsam gepflegt oder irgendwann renoviert worden. Der kleine offene Kamin und die ihn flankierenden Wandleuchter waren einfache, aber elegante Beispiele der Art déco.

Obwohl die mit weiß lackiertem Holz verkleidete Decke ziemlich niedrig war, empfand Tim das trotz seiner Körpergröße nicht als unangenehm. Der Raum war gemütlich, nicht klaustrophobisch eng.

Linda besaß eine Menge Bücher. Mit einer Ausnahme stellten deren Rücken die einzigen Kunstobjekte im Raum dar, indem sie einen abstrakten Teppich aus Worten und Farben bildeten.

Die Ausnahme bestand in dem knapp zwei mal einen Meter großen Fernsehgerät mit leerem, grauem Bildschirm.

»Moderne Kunst macht mich immer ein wenig ratlos«, sagte Tim.

»Das ist keine Kunst. Ich habe es von einem Fotoladen machen lassen. Um mich daran zu erinnern, weshalb ich keinen Fernseher besitze.«

»Und weshalb nicht?«

»Weil das Leben zu kurz ist.«

Tim gab dem Foto eine Chance, dann sagte er: »Das verstehe ich nicht.«

»Irgendwann wird sich das ändern. Wenn jemand so einen großen Kopf hat wie Sie, muss doch ein wenig Gehirnmasse drin sein.«

Er war sich nicht sicher, ob ihr Benehmen unbekümmerten Charme ausdrückte oder eine Schnodderigkeit, die schon an Grobheit grenzte.

Vielleicht hatte sie auch einen kleinen Spleen. So etwas gab es heutzutage ja häufig.

»Linda, der Grund, weshalb ich hier bin …«

»Kommen Sie mit. Ich arbeite gerade in der Küche.« Während sie ihn durchs Wohnzimmer führte, sagte sie über die Schulter hinweg: »Max hat mir versichert, Sie wären nicht der Typ, der mich rücklings erdolchen und meine Leiche vergewaltigen würde.«

»Ich bitte ihn, für mich zu bürgen, und er drückt sich so aus?«

»Er hat mir gesagt, Sie wären ein begabter Maurermeister und ein ehrlicher Mensch. Den Rest musste ich ihm aus der Nase ziehen. Eigentlich wollte er keine Stellungnahmen abgeben, was Ihre Neigung zu Mord und Totschlag angeht.«

In der Küche parkte ein Automobil.

Die Wand zwischen diesem Raum und der zwei Autos fassenden Garage war entfernt worden. Anschließend hatte man das Parkett ebenso in die Garage hinein erweitert wie die weiß lackierte Deckenverkleidung.

Drei exakt ausgerichtete Punktstrahler rückten einen schwarzen Ford, Baujahr 1939, ins rechte Licht.

»Ihre Küche ist ja in der Garage«, stellte Tim fest.

»Falsch. Meine Garage ist in meiner Küche.«

»Was ist der Unterschied?«

»Der ist riesig. Ich trinke gerade Kaffee. Wollen Sie auch welchen? Mit Milch? Zucker?«

»Schwarz, bitte. Wieso steht Ihr Auto in Ihrer Küche?«

»Ich habe es gern im Blick, während ich esse. Ist es nicht wunderschön? Das 1939er-Ford-Coupé ist das schönste Auto, das je gebaut wurde.«

»Tja, mit dem Pinto kann man es eindeutig nicht vergleichen. «

Sie goss Kaffee in einen Becher. »Es ist kein klassisches Modell, sondern ein richtig heißer Ofen. Abgesenktes Dach, tiefer gelegt und mit allerlei coolen Extras ausgestattet.«

»Haben Sie selbst daran gebastelt?«

»Teilweise. Vor allem hat es ein Typ oben in Sacramento in den Fingern gehabt; der ist ein echtes Genie.«

»Hat sicher eine Stange Geld gekostet.«

Sie stellte ihm den Kaffee vor die Nase. »Soll ich etwa für meine Zukunft sparen?«

»Welche Zukunft haben Sie denn im Sinn?«

»Wenn ich die Frage beantworten könnte, würde ich vielleicht doch ein Sparkonto eröffnen.«

Tims Keramikbecher hatte einen Papagei als Henkel und war mit dem Schriftzug BALBOA ISLAND geschmückt. Er sah aus wie eine Antiquität. Vielleicht ein Souvenir aus den 1930er-Jahren.

Der Becher von Linda Paquette stellte einen Kopf dar. Er war ein keramisches Porträt von Präsident Franklin Delano Roosevelt, der auf seine berühmte Zigarettenspitze biss.

Sie trat zu ihrem Ford. »Dafür lebe ich.«

»Sie leben für ein Auto?«