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Während der Reise zu seiner zukünftigen Braut wird der Wolfswandler Waydar in einem kleinen Dorf auf einen jungen Mann aufmerksam. Der wird von den anderen Dorfbewohnern abgeschirmt, damit das Wolfswandler-Rudel ihn in Ruhe lässt. Neugierig geworden fordert Waydar den Jungen als Blutzoll. Doch statt ihn zu fressen, entwickelt er Gefühle für den jungen Morgan. Er nimmt ihn mit auf die Reise, ohne zu wissen, dass in Morgan Kräfte schlummern, die ihn zur größten Gefahr der Wolfswandler werden lassen.
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Seitenzahl: 590
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Alegra Cassano
© dead soft verlag, Mettingen 2015
http://www.deadsoft.de
© the author
Cover: Irene Repp
http://daylinart.webnode.com/
Bildrechte:
© GDphotoarts
http://www.GDphotoarts.com
With kind permission of GDphotoarts and
Niall Casson.
Thank you.
Picture wolf: © MBCH – fotolia.com
1. Auflage
ISBN 978-3-945934-27-2
Während der Reise zu seiner zukünftigen Braut wird der Wolfswandler Waydar in einem kleinen Dorf auf einen jungen Mann aufmerksam. Der wird von den anderen Dorfbewohnern abgeschirmt, damit das Wolfswandler-Rudel ihn in Ruhe lässt. Neugierig geworden fordert Waydar den Jungen als Blutzoll. Doch statt ihn zu fressen, entwickelt er Gefühle für den jungen Morgan. Er nimmt ihn mit auf die Reise, ohne zu wissen, dass in Morgan Kräfte schlummern, die ihn zur größten Gefahr der Wolfswandler werden lassen.
Das Recht des Stärkeren
Die Männer auf dem Feld arbeiteten hart. Unbarmherzig brannte die Sonne auf sie herunter und erschwerte es ihnen, die Ernte einzubringen. Morgan richtete sich auf, um sich zu strecken. Die gebückte Haltung war für ihn ungewohnt, doch er wollte nicht, dass ihm das jemand ansah. Mit dem Unterarm wischte er sich den Schweiß von der Stirn und sah sehnsüchtig zu dem Wasserfass hinüber, das sie auf einem Karren mitgebracht hatten. Unbewusst fuhr seine Zunge über die trockenen Lippen.
„Je mehr du trinkst, desto mehr wirst du schwitzen“, ermahnte ihn der alte Hagar, der neben ihm stand, die eine Hand ins Kreuz gestemmt. Sofort senkte Morgan den Blick. Schon wieder klebten ihm seine blonden Haarsträhnen im Gesicht.
„Wir machen bald Mittag“, setzte Hagar aufmunternd hinzu und bückte sich, um mit der Hand über die trockene Erde zu fahren, damit er auch noch die letzte Knolle fand. Morgan fragte sich nicht zum ersten Mal am heutigen Tag, wie die Männer es aushielten, bei dieser Hitze zu schuften. Einzig ihr Schweigen machte deutlich, wie sehr das Wetter ihnen zusetzte. Selbst die wenigen Kinder, die mit ihnen gekommen waren, arbeiteten still. Einige der Kleinsten hockten auf dem Boden. Der Gedanke an den Dorfweiher gab Morgan neue Kraft. Nach getaner Arbeit würden sie sich alle hineinstürzen. Er glaubte bereits, das fröhliche Jauchzen der Jüngeren zu hören. Er selbst konnte sich in solchen Momenten nur schwer zurückhalten, eine Wasserschlacht anzuzetteln.
Plötzlich war Pferdegetrappel zu vernehmen. Ein Reitertrupp näherte sich rasant. Hagar fluchte laut und suchte hektisch nach einer Fluchtmöglichkeit oder einem Versteck für seinen Schützling. Einer der anderen Dorfbewohner hatte Morgan gepackt und ihm einen Umhang übergeworfen, dessen Kapuze sein blondes Haar verbergen sollte.
„Kopf unten halten!“, befahl er und baute sich vor ihm auf. Einige der Arbeiter taten es ihm nach und bildeten mit ihren Körpern eine Mauer vor Morgan.
„Gott steh uns bei“, flüsterte jemand.
Morgans Herz klopfte wild. Stellten diese Reiter tatsächlich eine Gefahr dar? Vielleicht waren sie nur auf der Durchreise und das Feld lag zufälligerweise auf ihrem Weg. Die Worte seines Vaters fielen ihm ein. Erst heute früh hatte er ihn erneut gebeten, zu Hause zu bleiben, doch für Morgan kam es überhaupt nicht in Frage, sich zu verstecken, während die anderen Männer des Dorfes die Ernte einbrachten. Jede Hand wurde dringend gebraucht und er war jung und kräftig. Selbst Kinder wurden in den letzten Tagen mit hinausgenommen, um so viel Nahrung wie möglich zu retten, schließlich musste diese sie über den Winter bringen. In den zwanzig Jahren, die Morgan nun auf der Welt war, hatte er noch niemals die reitenden Wölfe gesehen, vor denen sich alle so fürchteten, und genau das beunruhigte seinen Vater. Je mehr Zeit verging, desto wahrscheinlicher war ihr Auftauchen. Sollte das nun der Fall sein? Hatten sie vor, ihren Blutzoll einzutreiben? Vorsichtig wagte er einen Blick, aber vor ihm standen die Körper so dicht, dass er nicht zwischen ihnen hindurchsehen konnte. Ein Pferd kam schnaubend in der Nähe zum Stehen, was er ausschließlich hörte, denn einer der Männer schirmte ihn auch seitlich ab.
„Was wollt Ihr?“ Hagar, der Älteste, sprach leicht zittrig.
Morgan wagte nicht zu atmen. Die Stille, die entstand, bevor einer der Männer antwortete, wurde lediglich vom Schnauben mehrerer Pferde unterbrochen.
„Was uns zusteht. Für jeden von uns einen von euch. Ihr habt Glück, dass wir so wenige sind. Gebt uns die Ausgewählten ohne Widerstand und die anderen werden überleben. Weigert euch und wir nehmen alle.“
Der Tonfall bescherte Morgan eine Gänsehaut am ganzen Körper. So kalt und emotionslos hatte er noch niemanden reden gehört. Jetzt war er sogar froh, den Mann nicht sehen zu können. Während er auf seine Füße starrte und versuchte, sein rasendes Herz zu beruhigen, erklangen fremde Stimmen.
„Ich will den“, sagte jemand. Gleichzeitig vernahm er einen dumpfen Aufprall, was ihn vermuten ließ, dass ein Reiter vom Pferd gesprungen war. Kleine Steine knirschten unter schweren Schritten.
„Ich den da hinten.“
Gemurre wurde laut. Morgan hörte, wie ein Mann sich im Tausch für seinen Sohn anbot. Die Knie wurden ihm weich und sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
„Nehmt mich! Bitte lasst meinen Jungen gehen!“
Gelächter war die Antwort und verhöhnte den flehenden Vater.
„Halt dich zurück, Alter, oder wir nehmen euch beide!“
Morgan versuchte, sich anhand der Geräusche ein Bild zu machen. Er stellte sich vor, wie der Vater von anderen Dörflern zurückgehalten wurde, denn sein Aufschluchzen drang ihm durch Mark und Bein.
„Komm her, mein Hündchen“, war die verhasste Stimme des höhnischen Mannes zu vernehmen. Füße bewegten sich stolpernd über den trockenen Boden. Morgan machte sich klein und wäre am liebsten in ein Mauseloch verschwunden. Besonders, als er die nächsten Worte hörte.
„Und wen versteckt ihr dort?“
Er schrak heftig zusammen. War er gemeint? Hatte ihn jemand entdeckt?
„Bitte ...“, setzte Hagar an, wurde jedoch sofort unterbrochen.
„Zur Seite!“
Noch stand die Mauer aus Körpern vor Morgan und gab ihm Sicherheit, aber die Unruhe der Männer konnte er deutlich spüren.
„Aus dem Weg habe ich gesagt! Geht freiwillig oder ich mache mir Platz!“
Morgan atmete zwei Mal tief durch, dann bemerkte er, wie seine Beschützer auseinander wichen. Er hielt den Kopf weiterhin gesenkt, aber der Drang, aufzusehen, war kaum länger zu beherrschen.
„Weshalb versteckt ihr den Jungen?“
„Er ... ist zurückgeblieben, Herr. Bitte nehmt einen anderen. Er weiß nicht einmal, wer Ihr seid und was Ihr von ihm wollt.“
Bei diesen Worten entgleisten Morgan für einen Moment die Gesichtszüge. Warum sagte Hagar so etwas über ihn? Vermutlich war es eine List, um sein Leben doch noch zu retten, aber würde der Fremde darauf hereinfallen?
„Nehmt ihm den Umhang ab, damit ich ihn sehen kann“, befahl der Reiter.
Morgan fühlte sich wie gelähmt und war unfähig, sich zu rühren. Jemand zog ihm die schützende Bekleidung vom Körper, aber er bezwang weiterhin den Drang, hochzusehen, hielt den Kopf tief gebeugt.
„Hübsch, euer Trottel“, stellte der Fremde fest und wandte sich dann direkt an ihn. „Sieh mich gefälligst an!“
Er zuckte bei den herrischen Worten zusammen, ließ sich jedoch Zeit, der Aufforderung nachzukommen. Einerseits war er neugierig, wie so ein Wolf aussah, andererseits war er gerade als einfältiger Trottel tituliert worden und musste somit nicht zu schnell reagieren. Als er hörte, wie der Reiter vom Pferd sprang, sah er rasch hoch. Vor ihm ragte ein riesiger Mann auf, dessen Kleidung vollständig aus Leder gefertigt war, das wie eine zweite Haut an ihm saß. Wenn Morgan geradeaus sah, traf sein Blick lediglich die Brust des Hünen. Eine Hand packte sein Kinn und hob es an. Bernsteinfarbene Augen waren das Erste, was er wahrnahm. Sie wirkten aufgrund der ovalen Pupillenform wenig menschlich. Die Mähne des Mannes bestand aus dicken, verfilzten Zöpfen, die ihm bis über die Schulter fielen. So etwas hatte Morgan noch nie gesehen. Als der Wolf erneut sprach, war dessen Mund unter dem dichten Bart kaum zu sehen.
„Ich nehme ihn.“
„Nein! Bitte lasst ihn hier. Er wird Euch nicht zufriedenstellen. Wählt einen anderen, ich flehe Euch an.“
„Ich habe mich bereits entschieden!“
Morgans Hände wurden gepackt und mit einem Seil vor dessen Bauch zusammengeschnürt. Alles ging so schnell, dass er nicht mal daran dachte, sich zu wehren, was vermutlich sowieso keinen Sinn gemacht hätte. Hagar versuchte ein letztes Mal, den Fremden umzustimmen, doch dieser knurrte ihn nur warnend an. Geschmeidig sprang der Hüne auf das wartende Pferd, das er ohne Sattel ritt. Den Strick, der den Gefangenen mit ihm verband, hielt er in der Hand.
„Sag meinem Vater, dass dich keinerlei Schuld trifft“, rief Morgan, während er bereits vorwärts gezerrt wurde. Hagar senkte betroffen den Kopf, genau wie all die anderen, die zurückblieben.
Erst nach einer Weile begriff Morgan, was geschehen war. Fast schon mechanisch bewegte er die Füße in dem Tempo, das ihm der Reiter vorgab, was zum Glück nicht sehr schnell war. Irgendwann wagte er es, sich nach seinen Leidensgenossen umzusehen. Rechts neben ihm stolperte ein Bursche namens Reger. Links lief Arn, der im selben Alter war wie Morgan. Dahinter meinte er Nielat zu erkennen, war sich aber unsicher, denn dessen Bruder Eilat sah ihm zum Verwechseln ähnlich. Insgesamt hatten die Wölfe dem Dorf fünf junge Männer geraubt. Ein herber Verlust für die Familien und für das ganze Dorf. Die fehlende Arbeitskraft der Verschleppten würde das Einbringen der Ernte erheblich verzögern.
Alle Gefangenen wurden an Stricken hinter den Pferden hergeführt, nur dass einige die Schlingen um den Hals trugen, andere um die Hände. Die Reiter unterhielten sich nicht und ihre Beute sprach ebenso wenig. Schweigend zog der Tross immer weiter, vorbei an Feldern und an einem kleinen Wäldchen. Schon bald klebte Morgan die Zunge am Gaumen. Seine Beine schmerzten von der ungewohnten Anstrengung und die Handgelenke fühlten sich wund an, obwohl er versuchte, so schnell zu laufen, dass die Stricke nicht einschnitten. Wie weit sie wohl noch weggeführt wurden? Und zu welchem Zweck? Natürlich kannte Morgan die Schauermärchen, die man sich über die reitenden Wölfe erzählte, ihm war aber auch bewusst, dass oft nur die Hälfte solcher Erzählungen der Wahrheit entsprach. Würden sich diese Männer tatsächlich in Wölfe verwandeln und über sie herfallen? Das lag außerhalb seiner Vorstellungskraft.
Der Reiter hielt so plötzlich an, dass sein Gefangener noch ein Stück weiter lief und erst neben dem Pferd zum Stehen kam. Ein Blick zur Seite zeigte Morgan, dass die Übrigen ebenfalls angehalten hatten. Was würde nun geschehen? Seine Beine zitterten unkontrolliert, was von dem langen Marsch kommen mochte, oder aber von der Angst, die langsam in ihm hochkroch. Was würde mit ihnen geschehen, wenn sie am Ziel angekommen waren? Oder noch schlimmer: Sich die Männer an Ort und Stelle verwandeln und sie in Stücke reißen würden? Ängstlich sah er zu, wie der Reiter vor ihm vom Pferd sprang. Mit einem Ruck an dem Seil, das seine Hände zusammenschnürte, zerrte er ihn hinter sich her. Morgan blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Sein Herz schlug so laut, dass sein Begleiter es hören musste, doch der verzog keine Miene und steuerte zielsicher ein Gebüsch an. Morgan stemmte die Hacken in den Boden. Er wollte auf keinen Fall mit diesem Monster in ein Dickicht verschwinden. Panik verleitete ihn dazu, unnütze Gegenwehr zu leisten.
„Ich muss pissen! Stell dich nicht so an!“, wurde er angefahren und unbarmherzig weiter geschleift. Den Kräften dieses Mannes hatte er rein gar nichts entgegenzusetzen. Wohl oder übel stolperte er die letzten Schritte hinter dem Hünen her, der sich die lederne Hose aufschnürte und herunterzog.
„Warum schleppst du mich mit?“, wagte Morgan zu fragen, obwohl ihm das Herz bis zum Hals hinauf pochte.
„Oh, der Schwachkopf kann reden“, höhnte der Mann ohne ihn anzusehen, da er mit seinem Penis beschäftigt war. „Oder hat der Alte gelogen, um dein hübsches Köpfchen zu retten?“
Morgan wurde es heiß und kalt zugleich. Was sollte er darauf antworten?
„Als wenn es mir nicht egal wäre, wie groß dein Verstand ist. Ich will mich schließlich nicht mit dir unterhalten“, sprach der andere weiter, jedoch mehr zu sich selbst, als zu seinem Gefangenen.
„Was willst du dann?“, entfuhr es diesem. Augenblicklich schoss Röte in Morgans Gesicht, als ihn die bernsteinfarbenen Augen amüsiert musterten.
„Weißt du nicht, was wir mit euch tun werden?“, fragte der Mann verblüfft.
„Ich ... Keine Ahnung. Ich habe nie mit jemandem gesprochen, der zurückgekehrt ist.“
„Weil niemand je zurückgekehrt ist“, erklärte der Wolf mit nachsichtiger Stimme.
Morgan senkte verlegen den Blick.
„Du wirst doch vom Blutzoll gehört haben, oder?“ Der Mann war fertig und packte seinen Penis wieder ein.
Sein Gegenüber nickte. „Ihr könnt in jedes Dorf reiten und euch dort Leute aussuchen, die ihr mitnehmt. Dafür kommt ihr nicht zu oft in ein und dasselbe Dorf und ihr nehmt nur so viele, wie ihr unbedingt müsst, um zu überleben“, brachte er leise hervor.
„Also doch kein Schwachkopf“, stellte der Fremde fest und kam dicht an ihn heran.
„Und was machen wir wohl mit diesen Menschen, wenn wir sie zum Überleben brauchen?“, fragte er und beugte sich zu seinem Gefangenen hinunter, schnupperte an ihm. „Du riechst gut. Nach Schweiß und Angst.“
Die Atmung des jungen Mannes ging nur noch stockend. In der Nähe dieses Ungeheuers bekam er kaum Luft. Ihm wurde schwindelig. Eine riesige Pranke packte ihn hart am Oberarm.
„Weißt du, wann euer Fleisch am besten schmeckt?“, fragte der Hüne nah an seinem Ohr.
Entsetzt sah Morgan ihn an. Also stimmten die Geschichten? Würden sie alle von diesen Bestien gefressen werden? In seinen Ohren rauschte es so dumpf, dass er die Stimme fast nicht mehr verstand.
„Wir mögen es am liebsten, wenn es von eurer Angst gewürzt wird, deshalb lassen wir euch laufen und jagen euch. Aber ich persönlich mag es noch lieber, wenn ihr Angst habt und dennoch glücklich seid. Diese Kombination betört meine Zunge mehr als jedes berauschende Kraut. Ich werde dich also erst töten, wenn du vor Angst und Glück geradezu überläufst, und nicht eher.“
Blutzoll
Waydar fing den Burschen auf, der plötzlich zusammensackte. Hatte er es übertrieben? Es hatte ihn gereizt, seiner Beute zu erzählen, was sie erwartete. Zu sehr genoss er die Angst in den Augen eines Opfers, weshalb er gerne mit ihm spielte, bevor er es erlegte. Dieser hübsche junge Mann schien äußerst zart besaitet zu sein. Er war ohnmächtig geworden wie ein kleines Mädchen. Waydar hob ihn hoch, als wäre er leicht wie ein Kind. Augenblicklich eroberte der betörende Duft des jungen Mannes seine empfindliche Nase. Auf dem Feld hatte er bei diesem Geruch an eine Frau gedacht und vermutet, dass die Männer sich vor sie stellten, um sie zu beschützen. Zu seinem Erstaunen war ein sehr attraktiver Bursche unter dem Umhang zum Vorschein gekommen. Noch immer war ihm nicht klar, warum sie gerade diesen Jungen vor ihm versteckt hatten. Der Sache musste er unbedingt nachgehen.
Waydar blieb an einer Stelle des Lagers stehen, an der ihn die Bäume vor den anderen verbargen. Die ausgewählten Opfer kauerten in einer Gruppe zusammen und beobachteten ängstlich jede Bewegung ihrer Wächter. Das Rudel schlich um die Beute herum, als könne es keine Sekunde länger warten, zuzuschlagen. Er verübelte es ihnen nicht, denn sein Magen knurrte ebenfalls. Seit ungefähr zehn Tagen hatten sie nur unzureichend gefressen. Hier und da ein kleines Tier, das die Bäuche nie wirklich füllte. Heute Nacht würde es einen Festschmaus geben. Für mindestens zwei der vier Männer gab es morgen früh keinen Sonnenaufgang mehr. Unschlüssig sah er auf den fünften hinab, den er auf den Armen trug. Der Junge war etwas Besonderes, das hatte er sofort gespürt. Er wollte sich Zeit für ihn nehmen, ihn nicht einfach hetzen und erlegen, doch wie sollte er dann den nagenden Hunger stillen? Es stand jedem Rudelmitglied zu, seinen Auserwählten zu töten, wann er es für richtig hielt. Waydar wusste, dass seine Brüder auf die Jagd brannten und für logische Argumente kaum zugänglich sein würden. Wenn jeder von ihnen heute seine Beute erlegte, wäre viel Fleisch nutzlos verschwendet, denn weder Wolf noch Mensch konnten ein etwa gleichgroßes Beutetier vollständig fressen. Gelang es ihm, sein Rudel davon zu überzeugen, nur zwei oder drei der Männer zu jagen und das Wild zu teilen, würden sie in den nächsten Tagen noch einmal den gleichen Spaß mit den verbliebenen Jagdobjekten haben.
Er sah zu den anderen. Sie warteten auf ihn, das wusste er, und dennoch verharrte er im Gebüsch. Der Blonde in seinen Armen rührte sich nicht, was ihm vermutlich das Leben rettete. Waydar jagte eine Beute nur, wenn sie sich im Vollbesitz ihrer Kräfte befand, sonst machte es ihm keinen Spaß. Entschlossen trat er vor und ging auf seine Leute zu, wobei er die Opfer nicht beachtete, die ängstlich zu ihm aufsahen und sich aneinander drückten, als würde die Nähe der anderen ihnen Schutz gewähren.
„Na endlich“, seufzte Tark. Dann fiel sein Blick auf den leblosen Körper des Jungen. „Du hast ohne uns angefangen?“ Vorwurfsvoll sah er Waydar an.
Der Rudelführer lachte laut. „Glaubst du das wirklich? Der Bengel ist einfach umgekippt. Ich wusste ja, dass mein Anblick furchteinflößend ist, aber mit so einer Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Für mich wird es heute keine Jagd geben, außer ihr beteiligt mich. Hört mir einen Moment zu! Ich weiß, wie hungrig ihr seid, aber ich bitte euch nachzudenken, ob es nicht klüger wäre, sich auf zwei oder drei Stück Wild zu beschränken und zu teilen. Es ist ausreichend Fleisch an jedem von ihnen. Warum es verschwenden, indem wir alle auf einmal töten?“
Zweifelnd sah Tark ihn an. Er schnupperte an dem leblosen Körper, stellte fest, dass der Junge noch warm war und atmete, und nickte schließlich zustimmend. „Wir könnten ihn aber auch auf die Beine bringen oder von den anderen mitschleppen lassen“, bot er an.
„Nein. So macht es mir kein Vergnügen. Ich werde ihn mir später vornehmen, wenn er sich erholt hat. Du weißt doch, dass ich gerne spiele, bis es so weit ist. Ich halte euch nicht auf. Denkt einen Moment über meine Worte nach. Falls ihr nicht alle auf einmal jagt, haben wir länger was von ihnen.“
Tark grinste, indem er die obere Zahnreihe entblößte, und nickte seinem Anführer zu. Dann wandte er sich an die übrige Gruppe, die auf den Befehl wartete, endlich beginnen zu können. „Ich stimme Waydar zu. Was meint ihr? Die Jagd wird umso spannender, wenn wir nur zwei laufen lassen.“
„Ich bin dafür, aber nur, falls tatsächlich geteilt wird“, gab Liras seine Zustimmung. Er war der Jüngste, sehr schnell, doch noch unerfahren.
Das Rudel brach in lautes Jaulen aus, womit es ausdrückte, dass es einverstanden war. Waydar atmete auf. Er trug den bewusstlosen Jungen zu den anderen Dörflern und legte ihn dort ab. Der Angstschweiß der gefesselten Männer stach ihm in die Nase und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Unwillkürlich bleckte er die Zähne und knurrte leise.
„Wen nehmen wir?“, fragte er mühsam beherrscht. Am liebsten hätte er einen gepackt und ihm die Kehle aufgerissen. Das pulsierende Blut unter der warmen, schweißfeuchten Haut war kaum zu ignorieren.
Tark und Huron setzten sich durch und nahmen ihren Auserwählten die Fesseln ab. Mit einem der unnütz gewordenen Stricke schnürte Waydar Hand- und Fußgelenke seiner Beute zusammen und überprüfte den festen Sitz.
„Du hast Angst, dass er dir wegläuft“, stichelte Tark und grinste amüsiert.
Waydar knurrte warnend und tat so, als würde sein Opfer ihn nicht weiter interessieren, dabei stimmte es, dass er befürchtete, der Junge könnte sich befreien und auf und davon sein, wenn sie zurückkehrten.
"Wir geben euch jetzt die Chance, zu verschwinden", erklärte Tark der eingeschüchterten Beute, die halb aufgerichtet da stand. "Wer es lebend aus dem Wald schafft, ist frei!"
Die beiden Männer sahen sich ängstlich an. Ihnen war bewusst, dass sie keine Chance hatten, als ihre Entführer jedoch drohend auf sie zukamen, rannten sie so schnell die Beine sie trugen.
Die übrigen Gefangenen senkten resigniert die Köpfe. Aufatmen konnten sie nicht, da sie wussten, dass ihre Zeit noch kommen würde. Die Hinrichtung war lediglich aufgeschoben worden. Ein Gefesselter schaffte es nicht, einen wimmernden Laut zu unterdrücken. Waydar sah kurz hinüber, um sich zu vergewissern, dass sein Auserwählter immer noch bewusstlos war. Sein Blick traf den eines anderen Gefangenen, der sofort das Gesicht abwendete. Trotzdem hatte der Wolf dessen nasse Wangen bemerkt.
„Autsch. Meiner ist hingefallen“, lachte Huron.
„Ich kann das Blut bis hierher riechen“, knurrte Tark und leckte sich über die schmalen Lippen.
„Verwandeln wir uns?“, fragte Liras, dem deutlich anzusehen war, wie sehr er sich darauf freute, loszulaufen.
„Nur zu“, meinte Waydar. Ein erneuter Blick auf die restliche Beute beschleunigte seinen Puls. Schnell sah er zu dem letzten Mitglied seiner Gruppe hinüber, um sich abzulenken. Bastor sprach selten, doch er schüchterte die Gefangenen allein mit seinem Blick ein. Sein Haar war noch verfilzter als das seiner Brüder. Insgesamt wirkte er mürrisch, hart und kalt. Waydar hatte ihn selten lachen gehört. Er konnte gut verstehen, dass die Opfer vor dem schweigsamen Wolf zurückschreckten und sich nicht einmal trauten, ihn anzusehen.
„Bin gespannt, wer den Ersten erwischt“, grinste Liras und jaulte im nächsten Moment auf. Ein riesiger Wolf stand nun vor Waydar und wedelte mit der Rute.
„Na, es klappt doch immer besser“, lobte der das jüngste Rudelmitglied.
„Warte! Sie sind noch zu nah. Es macht keinen Spaß, sie schon auf den ersten Metern zu erwischen“, zügelte Tark den jungen Draufgänger.
„Und falls ihr Fluchtgedanken hegt“, wandte sich Huron schmunzelnd an die übrigen Menschen, „dann versucht es ruhig. Wir jagen gerne.“ Er zwinkerte ihnen zu und verwandelte sich ebenfalls. Wenig später trabten fünf Wölfe über die Ebene, die in den Wald führte.
Morgan erwachte völlig desorientiert. Die Sonne ging gerade unter und färbte den Himmel zartrosa. Stöhnend versuchte er sich aufzurichten, verharrte jedoch in der Bewegung, als sich ihm ein riesiger Hund von der Seite näherte. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass es sich keineswegs um einen Hund sondern um einen Wolf handelte, dessen Schnauze blutverschmiert war. Als hätte das Tier sein vor Ekel verzogenes Gesicht bemerkt, leckte es mit der Zunge über Lefzen und Nase, wobei aber immer noch nicht alles Blut entfernt wurde. Morgan verhielt sich ganz ruhig, um den Wolf nicht zu provozieren. Der schnüffelte kurz an ihm und verschwand dann im Gebüsch. Erleichtert atmete er auf. Bevor er sich aber erholt hatte, vernahm er ein lautes Rascheln. Aus der Richtung, in die der Wolf gerade eben verschwunden war, tauchte sein Entführer auf und schüttelte das zottelige Haar. Er reckte und streckte sich und kam dann zielsicher auf ihn zu. Morgan sah sich nach den anderen Männern um und entdeckte zwei, die auf der Seite lagen und sich nicht rührten. Er fragte sich bang, ob sie tot waren, doch dann lenkte der Neuankömmling seine Aufmerksamkeit auf sich.
„Hast du Durst? Da vorne ist ein Bach.“
„Wie ist dein Name?“, wollte Morgan wissen und richtete sich auf die Unterarme auf. Wenn er schon sterben sollte, wollte er wenigstens den Namen seines Mörders kennen.
„Waydar. Und deiner?“, kam es mit leichter Verzögerung zurück.
„Ich heiße Morgan und ich habe tatsächlich großen Durst.“
„Dann komm.“ Waydar löste die Fesseln und hielt ihm die Hand hin, wie er verblüfft feststellte. Zögernd griff er zu und stand im nächsten Atemzug auf den eigenen Beinen. Was für eine Kraft! Waydar ging voraus und führte ihn über eine Wiese, bis zu einem kleinen Bach. Morgan kniete sich ans Ufer und schöpfte das kalte Wasser mit beiden Händen heraus. Nachdem er einige Male getrunken hatte, wusch er sich das Gesicht. Ein scheuer Blick zu seinem Begleiter zeigte ihm, dass dieser ihn beobachtete.
„Bin ich nun glücklich genug, um deinen Ansprüchen gerecht zu werden?“, fragte er herausfordernd.
Waydar lachte laut auf.
„Noch lange nicht, mein Hübscher“, knurrte er mit einer ungeahnt tiefen Stimme, die Morgan eine Gänsehaut bescherte.
„Du hattest Blut im Gesicht, als du ... ein Wolf warst. Das warst du doch, oder?“
Wieder knurrte sein Gegenüber, was er bis in die Magengrube spüren konnte.
„Ich sehe das jetzt einfach mal als Zustimmung an. Was hast du gefressen?“ Morgan schauderte bei dem Gedanken daran, dass es einer seiner Kameraden gewesen sein könnte.
„Das geht dich wohl kaum etwas an. Sei froh, dass du noch in einem Stück bist“, wurde er barsch zurechtgewiesen.
„Entschuldige. Ich wollte eigentlich nur wissen, wo die anderen ...“
Ein schriller Schrei ließ ihn zusammenfahren. Auch Waydar hob lauschend den Kopf.
„Beantwortet das deine Frage?“
Morgan würgte an einem Kloß, der ihm die Luft abschnürte. Ein erneuter Aufschrei ließ ihn zitternd auf alle viere gehen. Er wollte vor diesem Mann nicht weinen, konnte die Tränen aber kaum noch zurückhalten. Seine Augen brannten, der Hals war trocken, die Nase kribbelte. Plötzlich war Waydar neben ihm und legte ihm einen Arm um die Schultern. Morgan versteifte sich in der Umarmung und hielt die Luft an. Er meinte das Blut, das an dem Wolf geklebt hatte, riechen zu können und kämpfte gegen die Übelkeit.
„Hör nicht hin. So wird es bei dir nicht sein, das verspreche ich“, flüsterte Waydar.
Die Tränen liefen nun ungehindert über Morgans Wangen.
„Aber du wirst mich töten“, stellte er fest. „Und dann fressen.“ Seine Stimme versagte. Waydar drückte ihn fest an sich, doch dagegen wehrte er sich heftig. Er wollte nicht von diesem Monster gehalten werden.
„Lass mich los! Ich hasse dich! Bring mich jetzt um und mach es schnell!“ Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus.
Tatsächlich wurde er losgelassen, was jedoch sofort ein Gefühl des Verlustes mit sich brachte.
„Das werde ich nicht tun“, stellte der Rudelführer fest. „Und falls du glaubst, ich habe einen von deinen Kameraden getötet, dann muss ich dir sagen, dass es nicht so ist. Ich habe lediglich meinen Magen gefüllt.“ Mit diesen Worten packte er ihn im Nacken und zog ihn hoch. Am alten Lagerplatz angekommen, ließ er ihn los und hockte sich in einiger Entfernung auf den Boden. Morgan sah verwirrt auf die zwei verbliebenen Männer des Dorfes. Reger und Arn waren noch da, und sie lebten. An ihren schreckerstarrten Gesichtern konnte er erkennen, dass auch sie die Schreie gehört hatten. Mit einem Blick auf den Wolfsmann, der offenbar zu ihrer Bewachung zurückgeblieben war, setzte er sich bei seinen Leuten auf den Boden, aber so, dass er Waydar im Auge hatte.
Waydar wusste, dass sein Rudel bald zurückkommen würde. Er musterte den blonden jungen Mann, der mit gesenktem Kopf und reizvoll freigelegtem Nacken dasaß und vor sich hin starrte. Er konnte sich beim besten Willen nicht in dessen Situation hineinversetzten. Immer war er der Jäger gewesen, nie das Wild. Dieser Junge hatte etwas an sich, das seinen Beschützerinstinkt weckte, was ganz klar nicht in Ordnung war, denn er wollte sich an ihm gütlich tun und ihn nicht behüten wie eine Wölfin ihre Welpen.
„Sie werden bald zurückkommen“, stellte er fest. Obwohl er zu allen sprach, war klar, wem seine Worte galten. „Vermutlich werden sie sich kaum auf den Beinen halten können, weil ihre Mägen bis zum Platzen gefüllt sind. Es wird Berichte von der Jagd geben. Bereite dich darauf vor, deine Ohren zu verschließen.“
Er hatte nur zu seinem Auserwählten gesprochen, der aber keine Reaktion zeigte. Wie hieß er gleich? Es war etwas Einprägsames. Ach ja: Morgan. So ähnlich wie der Tagesanfang. Der Anfang, nicht das Ende, dachte er grübelnd.
Der Hunger wütete in Waydars Eingeweiden und ließ ihn über Dinge nachdenken, die er sonst weit von sich gewiesen hätte. Er wollte sein Opfer noch nicht erlegen und im Wald gab es Fleisch, das er verschmäht hatte, nur um wieder zum Lagerplatz zu laufen und sich zu vergewissern, dass dort alles in Ordnung war. Er war kein Aasfresser, und doch lockte ihn der Gedanke, sich hinauszuschleichen und die Reste in sich hinein zu schlingen. Für Morgan würde momentan keine Gefahr bestehen, da die Bäuche der Wölfe gefüllt waren. Sicher schliefen die vollgefressenen Rudelmitglieder rasch ein.
„Warum quälst du mich?“, brach es aus Morgan heraus. Seine Stimme tat Waydar körperlich weh, wie der verblüfft feststellte.
„Ich quäle dich? Was empfindest du als Qual? Dass du noch lebst?“
„Du lässt mich auf meinen Tod warten, dem ich nicht entrinnen kann“, warf Morgan ihm vor.
„Meinst du, deine Kameraden sehen das auch so? Könnte ich ihnen das Angebot machen, etwas länger zu leben, würden sie es abweisen? Und was ist mit den Toten? Hätten sie nicht gerne noch ein Weilchen gelebt?“
Morgan schluckte trocken und sah ihn mit traurigen Augen an, die sich schmerzhaft in seine Seele bohrten.
„Es ist doch nur ein Aufschub. Lieber habe ich es schnell hinter mir. Außerdem sehe ich, wie hungrig du mich anschaust. Warum tust du es nicht jetzt, wenn du die Gelegenheit dazu hast? Du willst es doch.“
„Ich schaue dich hungrig an?“, fragte Waydar verblüfft. War das so offensichtlich? Die zarte Haut des Jungen und dessen Geruch lockten ihn, doch auf eine andere Weise, als der sich das vorstellte. Er räusperte sich. „Hör zu. Ich werde dich nicht fressen, weder heute noch morgen noch übermorgen. Vielleicht tue ich es überhaupt nicht. Ich bin auf dem Weg zu ... einer Feier, für die ich ein Geschenk brauche. Vielleicht bist du dafür geeignet. Zuallererst will ich aber dein Geheimnis erfahren. Weshalb haben dich die Männer auf dem Feld versteckt? Wer bist du? Jedenfalls kein Irrsinniger, wie mir der Alte weismachen wollte.“
Diese Informationen musste der Junge erst einmal verarbeiten. Er war ganz still geworden und auch ein wenig blass. Es dauerte eine Weile, bis er wieder sprach.
„Du willst mich verschenken? An wen und wozu? Damit jemand anderes mich frisst? Meinst du wirklich, du tust mir damit einen Gefallen?! Und was mein Geheimnis angeht, so kann ich es dir gerne verraten, wenn du es dann endlich hinter dich bringst. Ich bin der Sohn ...“
Lautes Gejohle ließ ihn verstummen. Die Jäger kehrten zurück, und zwar in menschlicher Gestalt. Ihre Körper waren blutbesudelt. Einer hielt einen abgetrennten Kopf in der Hand. Morgan wandte sich angewidert ab. Waydar baute sich vor ihm auf. Er wollte nicht, dass der Junge zu viel von den Grausamkeiten sah.
„Hab dir was mitgebracht“, schrie Tark und schleuderte den Kopf vor Waydars Füße. „Wo bist du denn abgeblieben?“
„Wie nett!“, kommentierte dieser und warf nur einen flüchtigen Blick auf das Geschenk. Milchige Augen starrten ihn blicklos an. Der Mund war zu einem Schrei geöffnet, der längst verklungen war. Aus dem Halsstumpf hingen noch ein Teil der Wirbelsäule sowie zerfetzte Arterien und Venen.
„Wie ich sehe, habt ihr euch prächtig amüsiert“, meinte Waydar, der hinter sich ein Würgen vernahm.
„Der lebt ja noch. Hätte ich nicht vermutet. Ich dachte, du nimmst ihn dir wie üblich und machst dem dann ein Ende. War er so gut? Oder hast du endlich einen Arsch gefunden, der dich erträgt?“
Waydar knirschte mit den Zähnen und hätte sich am liebsten auf Tark gestürzt. Warum musste er das hier so lauthals herumposaunen? Er konnte nur hoffen, dass Morgan die Anspielungen nicht verstanden hatte.
„Du bist ja vollkommen berauscht!“, stellte er fest.
„Das bin ich“, stimmte der andere grinsend zu. Er ließ sich auf dem Boden nieder, wo sich seine Rudelmitglieder bereits zusammengerollt hatten, direkt vor den Füßen ihrer nächsten Opfer, die versuchten sich so klein wie möglich zu machen, um jede Berührung zu vermeiden.
„Hat endlich mal wieder richtig Spaß gemacht“, murmelte Tark noch, bevor er einschlief.
Waydar wandte sich zu Morgan um, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sein Rudel schlief. Der Blick, mit dem der Junge ihn ansah, sagte ihm sofort, dass er jedes Wort verstanden und richtig interpretiert hatte. Sekunden später kniete Morgan im Gras und übergab sich, bis sein Magen leer war und nur noch bittere Galle herauskam.
Wahr oder unwahr
Widerlich war das Erste, das Morgan in den Sinn kam. Ekelhaft! Der Gestank, der ihm in die Nase stieg, reizte ihn zum Würgen. Es war ein süßlicher Verwesungsgeruch, der den Männern entströmte, die um ihn herum zufrieden schnarchten. Bei jedem Ausatmen verpesteten sie die Luft und er konnte nur noch an seine ermordeten Kameraden denken. Hoffentlich hatten sie nicht zu lange leiden müssen. Ihre Todesschreie würden ihn bis an sein Lebensende verfolgen. Gänsehaut überzog seinen Körper und er zitterte, als er an den abgetrennten Kopf dachte, den einer der Männer Waydar vor die Füße geworfen hatte.
Ein unwilliges Knurren erinnerte ihn daran, in wessen Armen er lag. Obwohl er dankbar für die Wärme war, die der große Körper ihm in der kalten Nacht beschert hatte, wollte er nichts lieber, als sich aus der Umklammerung zu befreien. Doch immer, wenn er unruhig wurde, umschlossen ihn die starken Muskeln fester als zuvor und zeitweise befürchtete er, erdrückt zu werden.
„Morgan“, hörte er plötzlich seinen geflüsterten Namen. Leider versperrte ihm der massige Körper, der sich an seinen Rücken schmiegte, jede Sicht auf die Mitgefangenen. Soweit er auch den Kopf verdrehte, er konnte keinen Blick auf sie erhaschen.
„Er hat dir die Fesseln abgenommen. Versuch zu fliehen“, flüsterte derjenige weiter.
Morgan wusste nicht, wer von den beiden Überlebenden ihm diesen Rat erteilte, es war auch egal, denn der Vorschlag war sowieso unsinnig. Ganz bestimmt würde es den Bestien unglaublichen Spaß machen, hinter ihm herzujagen. Schon gestern hatte er sich vorgenommen, ihnen eben dieses Vergnügen keinesfalls zu gönnen. Sollte er an der Reihe sein und aufgefordert werden wegzurennen, würde er einfach stehen bleiben. Was wollten sie tun, um ihn dazu zu zwingen? Alles, was sie ihm androhen konnten, würde sowieso geschehen. Wozu also fliehen und das Leiden verlängern?
„Ich kann nicht“, flüsterte er zurück. Für lange Erklärungen war keine Zeit.
„Du musst! Befreie uns und wir versuchen es gemeinsam.“
Die flehende Stimme berührte sein Herz. Er war der einzige Gefangene ohne sichtbare Fesseln, wenn man einmal von diesen Armen absah, die ihn im Klammergriff hielten. Natürlich setzten die Todgeweihten ihre Hoffnungen auf ihn. Doch wie sollte er es anstellen, unbemerkt aufzustehen und dann noch die Stricke zu lösen? Die Wölfe schienen tief und fest zu schlafen, aber er vermutete, dass der Schein trog. Unschlüssig wand er sich hin und her. Augenblicklich reagierte sein Entführer.
„Lieg still! Was zappelst du so herum?“, knurrte der unwillig.
„Ich muss mal austreten“, blaffte Morgan zurück. „Lass mich aufstehen oder dir wird gleich ziemlich warm werden.“
Endlich kam Bewegung in den Mann. Er löste seinen Griff, richtete sich halb auf, beugte sich über ihn und sah ihn von oben herab an. Die unterdrückte Wut in den bernsteinfarbenen Augen war unverkennbar. Morgan schluckte nervös.
„Vorsicht, Bürschchen! Schlafende Wölfe sollte man lieber nicht wecken. Du bist ziemlich frech. Etwas mehr Respekt wäre angebracht.“
Sie duellierten sich sekundenlang mit Blicken, bevor Morgan nachgab und wegsah. Es fiel ihm schwer zu schweigen, doch er hatte die Warnung verstanden.
„Zunge ist eine Delikatesse. Reiz mich nicht, deine zu kosten!“
„Schon gut“, erwiderte er kleinlaut, wobei er weiterhin den Blickkontakt mied.
„Darf ich bitte aufstehen, damit ich mich erleichtern kann? Es ist wirklich dringend.“
Der Wolf ließ ihn zappeln, indem er schwieg. Dann legte er die flache Hand auf den Unterleib seines Opfers und drückte gegen die volle Blase. Morgan wurde stocksteif unter der Berührung und hielt den Atem an. Jedes freche Wort, das ihm entschlüpfen wollte, erstarb, bevor es die Stimmbänder erreichte.
„Hast Recht. Fühlt sich ziemlich voll an. Steh auf“, kam endlich die Erlaubnis. Morgan brauchte einen Moment, um das Gesagte zu begreifen. In seinem Kopf schwirrten die verschiedensten Empfindungen durcheinander und verwirrten ihn. Obwohl ihm dieser Mann zuwider war und er sich vor dessen Berührungen ekelte, hatte die warme Handfläche ein seltsames Prickeln in seinem Unterleib ausgelöst, das er so noch nie empfunden hatte. Er überlegte noch, ob er das gut oder schlecht finden sollte, da wurde er unter der Achsel gepackt und hochgezogen.
Waydar streckte seinen durchtrainierten Körper und gähnte, während sein Blick über das kärgliche Lager schweifte. Das Rudel schlief tief und fest. Die Gefangenen taten zwar so, doch er konnte ihre Nervosität riechen. Im Schlaf hätten sie nicht so ein verführerisches Aroma verströmt. Seine Kehle fühlte sich plötzlich ausgedörrt an. Heute sollte er etwas fressen, sonst würde er einen der Dörfler anfallen, oder gar Morgan. Die Fleischreste, die im Wald lagen, hatten ihn gestern gereizt, aber wenn er sich vorstellte, wie viele Insekten und Waldtiere sich mittlerweile darüber hergemacht hatten, verging ihm der Appetit. Fleisch musste warm sein, Blut musste heiß über die Zunge fließen ...
„Du zerquetschst meinen Arm“, drangen klagende Worte zu ihm durch. Waydar schüttelte den Kopf, um klar zu werden, und sah Morgan fragend an. Er bemerkte, wie seine Fingerknöchel weiß hervortraten, weil er dessen Arm so fest umklammert hielt. Sofort lockerte er den Griff. Unsichere blaue Augen suchten in seinem Gesicht nach dem Grund für die rüde Behandlung. Waydar leckte sich verlegen über die Lippen, gab aber keine Erklärung ab.
„Geh!“, knurrte er stattdessen und gab ihm einen Stoß in die gewünschte Richtung.
Morgan stolperte vorwärts, auf ein Gebüsch zu. Vermutlich war es dasselbe, in dem der Wolfsmann sich gestern in seiner Anwesenheit erleichtert hatte. Zwar hatte er versucht, ihn zu ignorieren, aber sein Blick war doch für einen winzigen Moment auf Waydars Geschlecht gefallen. Er wusste nicht, ob alle Wölfe so gut bestückt waren, doch beim Anblick dieses enormen Teils war ihm der Mund offen stehen geblieben.
Immer noch führte der Wolfswandler ihn am Arm, als wäre er ein kleines Kind, wie er missmutig feststellte.
„Hast du Angst, dass ich dir davonlaufe?“, fragte er mit einem Blick auf die klammernden Finger, die schon wieder zu fest zudrückten. In ein paar Stunden würde er einige blaue Flecke aufweisen können.
„Du kämst nicht weit. Möchtest du es versuchen? Denke nur daran, dass du den Jagdtrieb in uns weckst, wenn du dich zu schnell bewegst.“
„Ich will doch gar nicht fliehen, aber ich würde gerne alleine laufen. Du tust mir weh und es ist hier viel zu eng.“
Waydar stieß seufzend die Luft aus, ließ ihn jedoch los. „Sonst noch Wünsche?“, fragte er ironisch.
„Wenn du so fragst“, fing Morgan spontan an zu reden, „dann hätte ich eine Bitte. Meine Kameraden ... Ich weiß, dass ihr es vielleicht nicht für nötig haltet, aber auch sie haben Würde. Ihr lasst sie verdursten und in den eigenen Ausscheidungen sitzen.“ Er sah vorsichtig auf. Waydars Gesicht spiegelte unglaublicherweise Betroffenheit.
„Erledige, weshalb wir hier sind. Ich werde mich um die Beute kümmern.“
Als sie zum Lagerplatz zurückkehrten, war das Rudel wach. Die Männer sahen ihnen träge entgegen, reckten und streckten sich und wirkten insgesamt ruhiger als am Tag zuvor.
„Lasst die Gefangenen ins Gebüsch und gebt ihnen was zu trinken“, ordnete Waydar an.
Tark grinste wissend. „Du kommst gerade von dort, stimmt’s?“
Der Rudelführer ließ seinen Auserwählten los und baute sich vor Tark auf. „Was dagegen? Ich kümmere mich wenigstens darum, dass er bei Kräften bleibt. Eure Beute stinkt bereits zum Himmel. Weder habt ihr ihnen die Fesseln abgenommen noch sie ihre Notdurft verrichten lassen.“
Huron hob fragend eine Augenbraue, als befürchtete er, dass sich ein Streit zwischen den Männern anbahnte.
„Was hast du denn? Vielleicht Hunger? Seit wann scherst du dich darum, ob das Fleisch gut behandelt wird? Wenn wir sie jagen, pissen sie sich eh voll.“ Er brach in lautes Gelächter aus. Liras gluckste ebenfalls, versuchte aber, sich seine Erheiterung nicht ansehen zu lassen.
Bastor stand auf und trat auf die Gefangenen zu. Waydar bemerkte, wie die Beute unruhig wurde. Der schweigsame Wolf war ihnen offensichtlich nicht geheuer. Auch er konnte den Mann nicht immer einschätzen und wartete ab, was er vorhatte. In aller Ruhe nahm Bastor den beiden Männern die Fesseln ab und ging davon.
„Die Pferde müssen getränkt werden“, sagte er, schnappte sich die Zügel von zwei Tieren und lief mit ihnen Richtung Bach. Die anderen starrten ihm eine Weile erstaunt hinterher, dann raffte Tark sich auf, packte einen der verängstigten Männer und stieß ihn vor sich her. Auf ein Kopfnicken von Waydar hin kümmerte Liras sich um den Zweiten. Huron ergriff die Zügel der übrigen Pferde und schloss sich der Gruppe an.
„Danke“, sagte Morgan, als sie alleine waren.
„Wofür?“, kam es erstaunt zurück. „Du hattest Recht.“
Der Junge zuckte verlegen die Schultern und sog die Unterlippe nach innen, um darauf herum zu beißen. Diese einfache Geste ließ augenblicklich Hitze in Waydars Unterleib schießen. Verdammt, war der Kleine niedlich. Er konnte sich kaum beherrschen, so groß war der Drang, über ihn herzufallen.
„Spielen wir wahr oder unwahr?“, fragte Morgan leise.
„Was ist das denn?“ Waydar kratzte sich am Kopf und sah nach, ob schon jemand aus der Gruppe zu sehen war.
„Ich stelle eine Behauptung auf, und wenn sie richtig ist, sagst du wahr. Falls nicht, unwahr“, erklärte Morgan.
„Und wozu soll das gut sein?“
„Mach einfach mit, dann wirst du es schon merken.“
Waydar zuckte die Schultern und ließ sich im selben Moment auf dem Boden nieder wie Morgan.
„Gut“, Morgan legte den Kopf in den Nacken und sah in einen wolkenlos blauen Himmel, über den ein Vogelschwarm zog. Waydar konnte den Blick kaum von dem überstreckten Hals abwenden und schluckte trocken.
„Du bist der Anführer dieser Gruppe“, stellte Morgan fest.
„Wahr.“ Misstrauisch sah Waydar ihn an. Er verstand den Sinn dieser Übung immer noch nicht.
„Du bist aber nicht der Älteste.“
Er nickte. „Wahr.“
„Du bist der Sohn eines Herrschers“, fuhr Morgan fort.
Waydar wiegte den Kopf hin und her. „Unsere Rangordnung gleicht der der Menschen nicht. Darauf kann ich keine Antwort geben“, meinte er dann.
„In Ordnung“, Morgan ließ die Schultern hängen. „Dann bist du jetzt dran.“
„Ich?“, fragende Raubtieraugen sahen ihn an. „Also gut. Warum haben die Männer dich versteckt?“
Tadelnd schüttelte Morgan den Kopf. „So geht das Spiel nicht. Ich darf nur mit wahr oder unwahr antworten.“
Der Wolfsmann stieß die Luft aus und kratzte sich ungeniert im Schritt. „DU bist der Sohn eines Herrschers“, rief Waydar aus, als wäre ihm gerade etwas Grandioses eingefallen.
„Unwahr“, stellte Morgan fest.
Bevor er die nächste Frage stellen konnte, kam das erste Rudelmitglied mit einem Pferd zurück.
„Wir können weiter“, erklärte Tark, der misstrauisch auf sie hinuntersah. Mit einem Sprung war Waydar auf den Beinen.
„Gut. Wir reiten. Nehmt die Gefangenen mit auf die Pferde, dann sind wir schneller.“
Er trat auf einen schwarzen Hengst zu, den Liras für ihn bereithielt, und streckte dann die Hand auffordernd nach Morgan aus. Dem blieb nichts übrig, als zu gehorchen. Während Bastor und Huron die jungen Burschen aus dem Dorf bäuchlings über die Pferderücken warfen, durfte Morgan vor Waydar aufsitzen. Wieder einmal presste sich der Körper des großen Mannes gegen seinen Rücken. Er wagte kein einziges Wort darüber zu verlieren, denn er hatte Angst vor dem schnellen Galopp, zu dem Waydar das Tier antrieb. Morgan war lediglich die lahmen Ackergäule gewöhnt, die den Pflug durch das Feld zogen. Als Kind hatte er manchmal auf ihnen reiten dürfen, doch das hier war etwas ganz anderes. Von dieser rasenden Geschwindigkeit wurde ihm übel. Er beugte sich tief über den Hals des Hengstes, um den Zweigen auszuweichen, die von den Bäumen herabhingen. Außerdem krallte er sich an der drahtigen Mähne panisch fest. Waydar saß hinter ihm lässig auf dem Pferd und schien mit seinen Schenkeln genug Halt zu finden. Er hielt die Zügel locker in einer Hand und schlang den freien Arm um Morgans Körpermitte, um ihm Sicherheit zu geben.
„Keine Angst. Ich passe schon auf, dass dir nichts passiert“, flüsterte er ihm ins Ohr.
Das Kribbeln, das der Klang der Stimme auslöste, ließ Morgans Wirbelsäule in Flammen stehen. Es war ein unbeschreibliches und noch nie da gewesenes Erbeben, auf das sein Körper nur gewartet zu haben schien. Wieder einmal brachte der Wolf seine Gefühle vollkommen durcheinander. Morgan gab die starre Haltung auf und ließ sich gegen Waydars breite Brust ziehen. Ein Gefühl von Geborgenheit überkam ihn so unverhofft, dass er aufseufzte. Verwirrt versuchte er, einen klaren Gedanken zu fassen. Das hinter ihm war der Feind! Eine Bestie, die ihn fressen wollte, das durfte er nie vergessen. Auch wenn Waydar ihm etwas anderes erzählt hatte, sah er ständig dessen hungrigen Blick auf sich ruhen.
Morgan versuchte ein Stück nach vorne zu rutschen, um den Körperkontakt zu lösen, doch das war bei dem Tempo nicht möglich. Waydars Arm legte sich sofort fester um ihn. Warmer Atem streifte seinen Nacken und das Ohr und machte ihn fast wahnsinnig. In seiner Hose taten sich Dinge, die nicht geschehen durften. Verlegen ruckelte er mit dem Po, um in eine bessere Position zu gelangen. Plötzlich lag eine Pranke in seinem Schritt und er erstarrte. Atemlos verstrichen die Sekunden, in denen nichts geschah. Lediglich durch das Auf und Ab des Pferdes wurde die fremde Hand gegen seinen halbsteifen Penis gedrückt, dem das auch noch zu gefallen schien.
„Nicht“, stieß Morgan aus, hatte aber keine Ahnung, ob Waydar ihn hören konnte. Dessen Atem ging ruhig und gleichmäßig. Morgan konnte nicht sagen, ob der Wolf wusste, in welch prekärer Lage er sich befand. Er wurde gerade fast wahnsinnig. Die Hose spannte gewaltig, das Pferd hörte nicht auf, sich zu bewegen, und nun hatten auch noch die Finger, die seinen Penis durch die Hose umschlossen, ein Spiel aufgenommen, dem er sich nicht entziehen konnte. Verdammt! Morgan schmeckte Blut, als er sich auf die Unterlippe biss, um ein Aufstöhnen zu unterdrücken. Was tat diese Bestie mit ihm? Lange konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Oh, es tat so gut, doch das durfte es nicht! Nicht auf diese Weise, nicht mit diesem Mann. Er weigerte sich zu kommen, konnte aber keinen Widerstand leisten. Zu groß waren die Reize, denen er ausgeliefert war. Eine sanfte Zunge leckte spielerisch über seinen Nacken und nahm ihm den letzten Rest Selbstbeherrschung. Morgan vergaß, wo er war und wer ihn hielt. Er fühlte nur noch. Pure Lust überschwemmte seine Sinne, ließ die Vögel verstummen und das Pferd schweben. Nichts war mehr wirklich, alles nur ein Traum. Er würde erwachen und in seinem Bett liegen. Doch das Erste, was er vernahm, als er nach einer gefühlten Ewigkeit die Augen öffnete, war das leise Lachen hinter sich.
Waydar fühlte, wie sich Morgan verspannte. Jeder Muskel an dem schlanken Körper schien zu Stein zu werden. Wie betörend er roch! Und dieser Geschmack! Er hätte ihn nicht kosten dürfen, denn nun spielten seine Wolfssinne vollkommen verrückt. Er wollte beißen, wollte Blut schmecken und dieser Hals war so nah ... direkt vor seiner Nase. Der Genuss, nach dem er sich sehnte, befand sich genau vor ihm. Es war sein Recht! Obwohl er es kaum aushielt, versuchte er sich zu entspannen, um Morgan nicht wehzutun. Er roch, dass der Kleine bald so weit war, und rieb noch einmal provozierend über dessen hartes Geschlecht. Und schon hatte er ihn da, wo er ihn haben wollte, an der Schwelle zur Glückseligkeit. Der ideale Moment! Glücksgefühle eroberten gerade das Blut. Der Geruch von Sperma und männlichen Hormonen machte ihn schwindelig. Schon bald sackte der schlanke Körper in sich zusammen. Waydar hielt ihn mit festem Griff aufrecht. Der Kleine war zu süß. Er wollte ihn behalten, wollte sehen, wie weit er ihn treiben konnte. Dicht an sich gepresst, fühlte er, wie sich das Herz des jungen Mannes allmählich beruhigte.
„Warum hast du das getan?“, fragte Morgan tonlos. Eine Bitterkeit lag in seiner Stimme, die Waydar nicht vermutet hätte.
„Weil es mir Spaß gemacht hat“, war die Antwort, der gleich eine Frage folgte. „Du warst doch gerade glücklich, oder?“
„Nein, denn dann hättest du mich getötet.“ Morgans Stimme war so leise, dass Waydar die Worte kaum verstand. Er beugte sich näher zu den verführerisch roten Lippen des jungen Mannes.
Unterwerfung
Orias starrte auf die Wand, die seinem Stuhl gegenüberlag. Er sah weder das kleine Fenster, durch das die letzten Sonnenstrahlen fielen, noch die dicke Spinne, die emsig ihr Netz über den Rahmen webte. Sein Blick war leer, die Augen so trocken, dass sie schmerzten. Als ein Klopfen in sein Bewusstsein drang, war sein Hals so steif, dass er den Kopf nicht drehen konnte. Er wäre gerne sitzen geblieben, aber der Störenfried da draußen war zu lästig, um ihn länger zu ignorieren.
„Na endlich!“, wurde er dann auch angefahren, sobald er die Tür geöffnet hatte.
„Was willst du?“ Seine Stimme klang so, wie seine Kehle sich anfühlte, ausgedörrt.
„Darf ich hereinkommen?“
Mit einem Blick über die Schulter auf den beinahe leeren Raum der bescheidenen Behausung seufzte Orias und machte eine einladende Handbewegung, die zugleich resigniert wirkte. Hinter dem Besuch schloss er die Tür und schlurfte dann müde hinterher. Wann er zuletzt geschlafen, getrunken oder gegessen hatte, wusste er nicht. Zeit war unwichtig geworden.
Varo, der Dorfvorsteher, setzte sich auf einen Stuhl und streckte ächzend die Beine aus. Er hatte den ganzen Tag auf dem Feld gearbeitet. Orias runzelte missmutig die Stirn, zwang sich jedoch zu schweigen. Dieser Stuhl, auf dem Varo Platz genommen hatte, gehörte jemand anderem, doch der war fort. Der Schmerz des Verlustes krallte sich wie eine eiserne Klammer um sein Herz, verzerrte seine Gesichtszüge ins Maskenhafte und nahm ihm die Luft zum Atmen. Schwankend ließ er sich auf den zweiten Stuhl fallen.
„Wir richten eine Trauerfeier aus. Den Jungen, der dir diese Nachricht überbringen sollte, hast du nicht hereingelassen, also bin ich selbst gekommen, um dich zu bitten teilzunehmen.“
„Eine Trauerfeier?“, echote Orias. „Ich finde das verfrüht. Immerhin sind noch nicht alle tot!“
Ohne es zu bemerken, griff er sich an die Herzgegend und rieb einige Male darüber.
„Du siehst krank aus, um Jahre gealtert. Strengt es dich so sehr an, Kontakt mit ihm zu halten?“, fragte Varo besorgt.
Mit einer wegwerfenden Handbewegung ging Orias über diese Frage hinweg. Es war vollkommen egal, wie es um ihn stand, wichtig war nur sein Sohn, sein einziges Kind, der Nachfolger, den er sich immer gewünscht hatte.
„Morgan lebt“, sagte er mit kräftiger Stimme. „Ich weigere mich, um ihn zu trauern.“
Sie schwiegen einige Augenblicke und hingen ihren Gedanken nach.
„Wer sind die Toten?“, fragte Varo leise.
„Das werde ich dir nicht sagen“, stellte Orias kopfschüttelnd fest. „Lass die Familien um alle weinen. Dass sie momentan noch leben, hat keine Bedeutung. Niemals ist jemand von den Wölfen zurückgekehrt.“
„Aber du hoffst insgeheim, dass Morgan es schafft?“
„Nein.“ Orias senkte betreten den Blick zu Boden. „Ich bete jede Minute dafür, dass es zu Ende gehen möge.“
Unbehaglich räusperte sich der Gast.
„Also ... kommst du nicht zur Feier?“
Stumm schüttelte Orias den Kopf, mit den Gedanken bereits wieder weit weg.
„Ich entschuldige dich. Ich sage einfach, dass es dir zu schlecht geht.“ Varo stand auf, knetete seine Finger und hüstelte verlegen.
„Ich werde ihnen folgen“, erklärte Orias unvermittelt.
„Wie meinst du das?“
„Ich verliere ihn. Sie sind zu weit entfernt und ziehen immer noch gen Süden. Es gab heute Momente, in denen ich ihn kaum wahrgenommen habe. Durch seine Augen kann ich längst keinen Blick mehr werfen. Aber wenn ich näher bei ihm bin, wird es mir wieder gelingen. Verstehst du das?“
Varo schüttelte verlegen den Kopf und bearbeitete die steifen Finger heftiger als zuvor.
„Es tut mir leid. Ich bin nur ein einfacher Mann und nicht so gebildet wie du. Ich vermag mir nicht vorzustellen, mich in einen anderen Menschen hineinzubegeben. Womöglich ist es der Kummer, der dich unüberlegt handeln lässt. Es ist unmöglich, allein hinter den Wölfen herzujagen. Du bist nicht so schnell wie sie. Einholen wirst du sie wohl kaum und selbst wenn, was würden sie mit dir machen?“
Orias stieß die Luft in einem Atemzug aus.
„Ich werde gehen, Varo. Du kannst reden, soviel du willst. Wenn es so weit ist, muss ich bei meinem Sohn sein. Er soll nicht alleine sterben, nur von diesen Bestien umgeben. Er spürt, wenn ich bei ihm bin, genauso wie ich ihn fühlen kann.“
Der Schmerz schnürte ihm die Kehle zu und er wandte sich ab. Es war unsinnig, Varo seinen ganzen Plan zu erklären. Er verstand kein bisschen von all dem und er konnte ihm das kaum verübeln.
„Dann warte wenigstens bis morgen früh. Hast du bereits mit den anderen Männern gesprochen? Vielleicht findet sich ein Weggefährte“, überlegte der Dorfvorsteher.
„Nein. Es ist besser, ich gehe allein. Bitte behalte unser Gespräch für dich. Und nun los! Trauere um die Verlorenen und verzeih mir, dass ich nicht teilhaben kann.“
Mit einem Kopfnicken schlich Varo hinaus. Orias war schon immer sonderbar gewesen und der Verlust seines geliebten Sohnes hatte ihn wohl völlig aus der Bahn geworfen. Kopfschüttelnd begab er sich zum Versammlungshaus. Sollte er jemandem von dem Verfolgungsplan berichten? Sie brauchten jeden Mann bei der Ernte. Es war möglich, dass die Väter der anderen Entführten sich Orias anschlossen und das würde die Gemeinde noch einmal vier Helfer kosten. Es war ein aberwitziger Plan, falls man überhaupt von einem solchen sprechen konnte. Nein! Er würde den Mund halten. Selbst wenn Orias fortging, bedeutete das keinen allzu großen Verlust, denn am Dorfleben hatte er sich kaum beteiligt. Seit seine Frau gestorben war, und das musste einige Jahre her sein, kümmerte er sich nur noch um Morgan. Natürlich war es nützlich, einen weisen Mann im Dorf zu haben, doch Krankheiten konnte auch die alte Kara heilen. Varo verharrte einen Moment vor dem Versammlungshaus und scheuchte alle Gedanken an das vorangegangene Treffen davon. Hier drinnen galt es der Opfer zu gedenken, und das wollte er tun.
Morgan setzte sich mit einem Ruck auf. Er hatte Hilfeschreie vernommen, die so nah waren, dass kein Zweifel daran bestand, wer sie ausstieß. Hastig warf er einen Blick in die Runde, konnte aber weder das Rudel noch seine Gefährten entdecken. Befanden sie sich im Wald?
„Wach auf!“ Er rüttelte an Waydars Schulter.
„Hm?“, machte dieser und öffnete nicht einmal die Augen. Sie waren den ganzen vorangegangenen Tag geritten und danach müde auf den harten Boden gesunken. Vor wenigen Augenblicken waren die angstmachenden Schreie zum ersten Mal in Morgans Bewusstsein gedrungen. Er lauschte angespannt. Ja, da war es wieder! Es klang wie ein Schrei, den jemand mit der Hand zu ersticken versuchte. Dazu kamen raschelnde Laute sowie leise Stimmen.
„Wach auf! Du musst was tun. Sie bringen sie um“, flüsterte Morgan panisch.
Waydar, der an ihn geschmiegt eingeschlafen war, blinzelte, schien aber kaum die Augen offen halten zu können. Nervös wartete Morgan darauf, dass er etwas unternahm.
„Ich denke, du wolltest kein Wort mehr mit mir sprechen, solange du lebst“, knurrte Waydar und machte damit eine Anspielung auf ihr kleines Zwischenspiel bei dem gestrigen Ritt. Nun lauschte er selbst. „Sie haben nur ein bisschen Spaß“, brummte er dann und war wieder nahe daran, einzuschlafen.
Morgan drehte sich ihm zu und packte das bärtige Kinn. Sofort schnellte Waydars Hand hoch und brach ihm beinahe das Handgelenk. Es knackte und Morgan schrie gepeinigt auf.
„Mach das nie wieder“, fuhr Waydar ihn an, ließ das Gelenk aber los. Nun war er wach und konzentrierte sich auf die Geräusche, die die Nachtruhe störten.
„Ich kann da nichts tun“, stellte er fest. „Es ist ihr Recht.“
„Was genau geht da vor?“, wollte Morgan wissen. Er rieb sein schmerzendes Handgelenk. Waydar grinste so breit, dass seine weißen Zähne im Mondlicht aufblitzten, und packte mit beiden Händen seinem Auserwählten an den Hintern, was diesen wild zappeln und sich winden ließ.
„Soll ich es dir zeigen?“, fragte er provozierend.
„Lass mich sofort los!“, brauste Morgan auf und versuchte sich außer Reichweite zu bringen. Der Wolfsmann stieß die Luft aus, ließ von ihm ab und rollte sich auf den Rücken.
„Sie ... unterwerfen sie. Da muss jeder Wolf durch.“
„Was soll das heißen? Außerdem sind es Menschen und keine Wölfe.“
Unwillig verzog Waydar den Mund. „Das willst du nicht so genau wissen“, wiegelte er ab.
„Will ich wohl“, konterte Morgan wie ein kleines Kind. „Sie tun ihnen weh“, stellte er fest und hielt sein Gelenk umklammert.
„Wahr“, entgegnete Waydar, der sich den Unterarm über die Augen gelegt hatte.
„Sie ... oh nein! Das nicht, oder?“ Morgan war gerade in den Sinn gekommen, was das Gestöhne bedeuten konnte, und dass es keineswegs nur von den Gefangenen kam. Alles Blut wich aus seinem Gesicht, während Waydar stumm blieb und zu warten schien, ob er selbst darauf käme.
„Sie vergewaltigen sie?“, brachte Morgan mit bebender Stimme hervor.
„Unwahr.“ Vollkommen emotionslos gähnte der Wolfsmann.
„Was tun sie dann?“
„Du hast mir erklärt, dass man nur mit wahr oder unwahr antworten darf“, seufzte Waydar.
„Wir spielen das Spiel aber jetzt nicht“, fuhr Morgan ihn an und setzte dann beklommen hinzu. „Du willst mich auch unterwerfen, habe ich recht?“
„Momentan nicht“, stellte Waydar fest und zog ihn in seine Arme. Genüsslich schnupperte er an dem schlanken Hals. Das Duftgemisch aus Angst, Wut, Zorn und Hass vernebelte ihm die Sinne.
„Warum nicht?“ Morgan schluckte trocken, als er sich vorstellte, wie so eine Unterwerfung vonstattenging.
„Keine Lust.“
„Das glaube ich dir nicht. Denkst du, ich halte das harte Ding in meinem Rücken für einen Stock?“
Waydar lachte schallend.
„Dann willst du es also?“, wollte der Wolf wissen.
„Nein! Natürlich nicht. Wehe, du wagst es!“
„Du bist echt anstrengend, Kleiner“, seufzte der Wolfsmann. „Ich möchte nur schlafen. Lass mich also in Ruhe. Irgendwann unterwerfe ich dich schon. Ich bin schließlich der Alpha und habe in diesem Rudel schon alle unter mir gehabt.“
Morgan schluckte bei dem Gedanken. Seine Vorstellungskraft arbeitete auf Hochtouren und er schauderte. Dann dachte er an die beiden Männer aus dem Dorf.
„Du kannst doch nicht schlafen, während sie das da tun!“, begehrte Morgan empört auf.
„Wetten?“, kam es gähnend zurück. Er rollte sich auf die Seite und wartete darauf, dass Morgan seinen Platz einnahm. Dieser zögerte jedoch. „Bei mir bist du sicher“, lockte Waydar mit geschlossenen Augen. „Oder willst du, dass sie auf dich aufmerksam werden? Du hast viel zu laut geredet. Wölfe, die im Rausch sind, wirst du kaum aufhalten können.“
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen kroch Morgan auf seinen Schlafplatz zu. Er kuschelte sich an Brust und Bauch des Wolfwandlers und benutzte dessen Arm als Kopfkissen. Obwohl sie erst die zweite Nacht in dieser Position verbrachten, fühlte es sich vertraut an und sogar der Geruch hatte etwas Heimeliges. Die Geräusche, die ihn vorhin geweckt hatten, waren zwar verstummt, doch nun glaubte er, leises Schluchzen zu hören. Es machte ihn verrückt, nicht zu wissen, was geschehen war, und vor allem nicht helfen zu können. Verzweifelt überlegte er, was er für seine Kameraden tun konnte. Dass sie ihre Fesseln los waren, nützte kaum etwas. Waydars regelmäßige Atemzüge ließen auch ihn zur Ruhe kommen, obwohl er nicht in den Schlaf fand.
Der Mond stand noch am Himmel, als sich Waydar vorsichtig aufrichtete und auf den schlafenden jungen Mann hinabsah, der so verführerisch roch, dass er kaum noch an sich halten konnte. Gerade im Schlaf wirkte er so unschuldig, als vermochte er niemals etwas Böses zu tun. Das reinste Wesen, das ihm je begegnet war. Waydars Eingeweide schmerzten und grummelten. Er brauchte dringend Nahrung und jetzt schien ihm der geeignete Moment zu sein, um auf die Jagd zu gehen. Das Rudel hatte sich am Abend ausgetobt und würde bis zum Morgen durchschlafen. Dass sie überhaupt die Energie aufgebracht hatten, sich mit ihren Opfern zu vergnügen, konnte nur daran liegen, dass sie zuvor reichlich gefressen hatten. Er selbst fühlte sich schwach. Sollte ihn jemand zum Zweikampf fordern, würde er vermutlich unterliegen. Deshalb musste er nun fort und durfte keine Rücksicht auf Morgan nehmen. Er konnte nur hoffen, dass der so lange sicher war, bis er zurückkehrte, was hoffentlich rasch der Fall sein würde. Vorsichtig löste Waydar sich von dem warmen Körper. War es möglich, dass er ihn in diesem Moment zum letzten Mal sah? Es fiel ihm unendlich schwer, sich von ihm zu trennen. Er beugte sich hinunter und küsste ihn sanft auf die Schläfe.