Blutzoll der Wölfe - Reise über das Meer - Alegra Cassano - E-Book

Blutzoll der Wölfe - Reise über das Meer E-Book

Alegra Cassano

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Beschreibung

Waydar und Morgan reisen über das Meer, um einen Meister zu finden, der sie im Gebrauch ihrer magischen Fähigkeiten unterrichtet. Dass diese Reise von langer Hand eingefädelt wurde und Morgans Visionen von einer höheren Macht gesteuert werden, ahnen die beiden nicht. Andrax, einer von fünf Hütern der Welt, ist verschwunden. Sollte es Waydar und Morgan nicht gelingen, ihn zu finden und zur Rückkehr zu überreden, wäre Morgan gezwungen, dessen Platz einzunehmen und für immer auf der anderen Seite des Meeres zu bleiben.

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Seitenzahl: 687

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Alegra Cassano

Blutzoll der Wölfe

Die Reise über das Meer

Band III

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2017

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© George Mayer – fotolia.com

© Willyam – fotolia.com

© Elena Schweitzer – fotolia.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-161-1

ISBN 978-3-96089-162-8 (epub)

Bisher erschienen:

Blutzoll der Wölfe Band 1

Blutzoll der Wölfe Band 2

Inhalt:

Waydar und Morgan reisen über das Meer, um einen Meister zu finden, der sie im Gebrauch ihrer magischen Fähigkeiten unterrichtet. Dass diese Reise von langer Hand eingefädelt wurde und Morgans Visionen von einer höheren Macht gesteuert werden, ahnen die beiden nicht.

Kapitel 1

Morgan lag neben Waydar in ihrem gemeinsamen Bett, das sich im Bauch des Schiffes befand. Sein Wolf hatte sich nach drei Tagen endlich an das Schaukeln des Kahns gewöhnt, und musste sich nicht mehr übergeben. Morgan sog den vertrauten animalischen Duft seines Partners tief ein und erinnerte sich daran, wie er, vor scheinbar unendlich langer Zeit, von Waydar und dessen Rudel aus seinem Dorf geraubt worden war. Seine Bestimmung war es gewesen, von dem Alpha, der ihn als Blutzoll gefordert hatte, gefressen zu werden. Was genau es war, das Waydar damals davon abgehalten hatte, ihn zu töten, konnte er nicht sagen. Entweder waren seine Anziehungskräfte als Bestador schon ausgereifter gewesen als gedacht, oder Waydar liebte es einfach, mit seiner Beute zu spielen. Der Gedanke an die Kameraden aus seinem Heimatdorf, die von den übrigen Wölfen gefressen worden waren, schmerzte immer noch. Damit, dass die Wolfswandler Menschen als Nahrung bevorzugten, würde er sich niemals anfreunden können. Obwohl er kein gehässiger Mensch war, befriedigte es ihn auf einer niederen Ebene, dass es Waydar und auch Tark in den ersten Tagen an Bord viel zu schlecht gegangen war, um Nahrung zu sich zu nehmen. Die Wolfswandler kamen in der Regel eine gute Woche ohne Fleisch aus, wenn sie sich zuvor satt gefressen hatten. Da es vor ihrer Abreise einen Festschmaus gegeben hatte, sollten alle die Seereise überstehen, ohne zu verhungern. Laut dem Kapitän würden sie sechs bis sieben Tage unterwegs sein, also hatten sie ungefähr die Hälfte des Weges geschafft.

Waydar räkelte sich und drehte sich auf die andere Seite, womit er Morgan den Rücken zuwandte. Sein Geliebter ließ den Blick über die starken Muskeln des Wolfsmannes gleiten, bevor er diese mit einer Decke verhüllte. Waydar mochte keine Kleidung und behauptete, sie würde ihn in seiner Bewegungsfreiheit einengen, weshalb er auch in der Öffentlichkeit lediglich eine Lederhose trug.

Morgan ließ sich auf den Rücken sinken und starrte an die niedrige Kabinendecke. Was sie am anderen Ufer wohl erwartete? Die Seewölfe ließen sich nicht allzu sehr darüber aus und man wusste auch nie, wann sie Seemannsgarn spannen, denn einige der Erzählungen hörten sich sehr nach Lügenmärchen an. Morgan schmunzelte, als er daran dachte, wie viele solcher Legenden für ihn bereits wahr geworden waren. Er selbst hatte sich zu einem Bestador, einem Bestienjäger, entwickelt. Mit diesen machte man den Wolfskindern Angst, wenn sie ungezogen waren. Das hatte ihm zumindest Bastor, ein alter Wolf aus Waydars Rudel, erzählt. Morgan bedauerte, dass der Ratgeber nicht mit ihnen gereist war, denn er hatte sie aus manch brenzliger Situation befreit. Waydar hatte Bastor nach dem Tod seines Vaters, der der Anführer des Rudels vom grünen Hügel gewesen war, zu seinem Stellvertreter ernannt und deswegen wollte Bastor lieber bei dem Rudel bleiben, was vermutlich eine vernünftige Lösung war. Mitten in seine Grübelei hörte er seinen Wolf auf einmal reden.

„Schlaf endlich, Morgan. Jetzt nützt es nichts mehr, mit der Entscheidung zu hadern.“

„Ich kann nicht“, gab er seufzend zurück. „Woher weißt du eigentlich, dass ich wach bin?“

„Ich kann deine Gedanken lesen, schon vergessen?“, kam es mit einem Gähnen zurück. „Du denkst echt wirres Zeug. Kannst du das nicht mal abschalten? Ich bin müde.“

„Du musst meine Gedanken ja nicht lesen“, kam es patzig zurück. „Es geht dich gar nichts an, was ich denke. Warum spionierst du mir nach? Ich schaue ja auch nicht ständig, was in deinem Kopf vor sich geht.“

Waydar seufzte und wandte sich seinem Geliebten zu. Seine bernsteinfarbenen Augen trafen auf Morgans dunkelblaue.

„Ich will mich nicht mit dir streiten, sondern schlafen“, erklärte er bestimmt. Morgan seufzte und verschloss seinen Geist vor ihm.

„Willst du schmollen oder dich ankuscheln?“ Waydar breitete verlockend seine Arme aus. „Bei mir bist du sicher“, sprach er die Worte, die Morgan so gerne hörte, seit sie zusammen waren.

Der Bestador rang mit sich. Er wäre zu gerne an dieser schwarz behaarten Brust eingeschlafen, doch sein Stolz machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Nachdenklich nagte er an seiner Unterlippe, konnte sich aber zu keiner Entscheidung durchringen.

„Morgan, komm endlich her!“ Waydars Stimme hatte nun den Befehlston angenommen, der jedes Mal einen Schauer über den Rücken seines Geliebten jagte. Wohlig schüttelte der sich, überwand den inneren Widerstand und rutschte näher an den Wolfswandler heran, der ihn sofort in eine kraftvolle Umarmung zog.

„So ist es gut. Und nun schlaf.“ Waydar grub seine Nase in Morgans hellbraunen Schopf, der zu Beginn ihrer Beziehung blond gewesen war. Erst mit der Verwandlung in einen Bestador hatte sich Morgans Körper verändert, war länger und straffer geworden. Augen- und Haarfarbe waren nun dunkler. Statt in Himmelblau sah Waydar jetzt in Augen, die der Farbe des Meeres an seiner tiefsten Stelle glichen. Statt Strohblond besaß Morgans Haar nun eher die Farbe von frisch geschlagenem Holz. Waydar hielt seinen Menschen in den Armen und lauschte auf dessen Atmung und Herzschlag, die sich beide langsam beruhigten. Er küsste ihn auf den Scheitel und schloss selbst die Augen.

„Waydar! Schnell, komm mit!“ Jemand zerrte an ihm, kaum dass er eingeschlafen war. Müde blinzelte der Alpha-Wolf und versuchte, festzustellen, wer ihn in seiner Ruhe störte. Morgan war ebenfalls wach geworden und richtete sich schlaftrunken auf.

„Was ist denn los?“, nuschelte er.

„Das kleine Mardermädchen ist den Mast hinaufgeklettert und kommt anscheinend nicht mehr runter“, erklärte eine männliche Stimme und Waydar erkannte nun Liras, den jüngsten seines Rudels.

„Und wo ist ihre Mutter?“, hakte er nach, während er sich schon aufsetzte und nach seiner Hose angelte.

„Die suchen wir schon, aber sie kann noch nicht klettern. Dood ist wie vom Erdboden verschluckt“, erklärte Liras weiter die Lage. Die drei Marderwandler waren mit ihnen aufs Schiff gegangen, um am anderen Ufer nach ihresgleichen zu suchen. So schnell es ging, eilten die Wölfe an Deck. Einige Seewölfe standen bereits dort und starrten einen Mast hinauf.

„Warum holt sie denn niemand von euch runter?“, fragte Waydar ungehalten. Die Mannschaft kletterte doch ständig in den Masten herum, um die Segel zu setzen oder zu reffen.

„Die Kleine ist zu weit oben“, erklärte ein Mann. „Sie weigert sich, abwärts zu klettern.“

Waydar legte den Kopf in den Nacken und die Hand über die Augen, um diese vor der Sonne zu beschatten. Ganz oben an der Spitze des Mastes hockte das kleine Mardermädchen und klammerte sich fest.

„Yvi!“, rief er hinauf. „Komm sofort runter!“

Morgan, der ihm gefolgt war, verdrehte die Augen. „Wenn sie das könnte, würde sie wohl nicht so heulen“, stellte er fest.

„Und was schlägst du vor?“, knurrte der Alpha. Er würde da ganz gewiss nicht hochklettern, wenn es sich die erfahrenen Seewölfe schon nicht zutrauten.

„Wenn wir ihre Mutter finden, kann sie sie vielleicht überreden, uns zumindest ein Stück entgegenzukommen“, meinte Morgan.

„Wir suchen sie immer noch“, seufzte Liras und sauste davon.

„Halt dich fest, Yvi! Wir suchen deine Mutter“, gab Waydar an die Kleine weiter. Morgan wollte etwas sagen, doch Waydar fuhr ihm ins Wort. „Entweder du tust selbst etwas, oder du hältst den Mund“, knurrte er. Beleidigt wandte der Bestador sich ab.

„Kannst du Dood nicht wittern?“, fragte er nach einer Weile. Sera würde ihnen höchstens moralisch etwas nützen, denn sie war noch geschwächt und würde womöglich vom Mast fallen, wenn sie versuchen würde, ihre Tochter zu erreichen. Waydar sog die Luft tief ein. Er war nicht reinrassig und konnte auch in seiner menschlichen Gestalt riechen wie ein Wolf. Langsam bewegte er sich die Schiffswand entlang.

„Erinnere mich daran, dass ich keine Welpen will“, knurrte er in Morgans Richtung. Dieser schmunzelte, denn sie hatten schon einmal darüber gesprochen, wie schön es wäre, eine richtige Familie mit Nachwuchs zu haben. Den konnte man zur Not ja adoptieren. Plötzlich blieb der Alpha stehen, schlug eine Plane zur Seite und griff darunter. Als er den Arm zurückzog, hielt er einen Marder in der Hand, der heftig zappelte.

„Dood!“, rief Morgan und stemmte die Hände in die Hüften. „Yvi braucht Hilfe und du versteckst dich? Was bist du denn für ein Freund?“

Der Marder verwandelte sich in einen kleinen Jungen mit roten Haaren, Sommersprossen und auffällig vorstehenden Schneidezähnen.

„Ich kann nichts dafür. Sie will mich nicht helfen lassen und hat gesagt, ich soll verschwinden“, klagte er.

Waydar packte ihn im Genick und führte ihn Richtung Mast. „Ich denke, sie hat ihre Meinung geändert“, erklärte er mühsam beherrscht. „Kletter bitte rauf und hol sie runter.“

Dood sah Hilfe suchend zu Morgan, der seinem Geliebten jedoch zustimmte.

„Du bist der Einzige, der das kann. Bitte, Dood.“

Der Rothaarige verzog genervt das Gesicht und verwandelte sich wieder. Keckernd turnte er den Mast hinauf, als böte er kein Hindernis. Jeder, der unten stand, verfolgte diese Aktion angespannt. Gerade als Dood bei der Kleinen angekommen war, tauchten drei Wolfswandler mit Sera, der Mutter des Mädchens, auf. Diese stemmte die Hände in die Hüften und blickte vorwurfsvoll nach oben.

„Na wartet! Wenn ihr wieder unten seid, gibt es ein Donnerwetter!“, rief sie. Die beiden Marder schienen zu ahnen, was ihnen blühte. Das Geschrei des Mädchens verstummte. Sie ließ sich von dem etwas größeren Marder beim Klettern helfen, doch beide verharrten auf einem Mastbaum, an den ein Segel gespannt war.

„Sie haben Angst vor der Strafpredigt“, stellte Morgan fest. Sera fasste ihn ins Auge. Jetzt, wo ihre Tochter außer Lebensgefahr war, konnte sie mit ihm reden.

„Entschuldige, aber du bist nicht ganz unbeteiligt an der Situation“, stellte sie sachlich fest. Morgan schluckte sichtbar. „Ich?“

„Ja. Du hast uns jeden Tag etwas von deinem Licht gegeben. Es macht uns stark und die Kinder neigen nun dazu, zu glauben, dass du damit alles heilen kannst. Sie werden zu übermütig. Du musst bitte damit aufhören.“

Morgan wurde rot. Er hatte nur helfen wollen. Seine magischen Kräfte konnten zur Heilung eingesetzt werden. Da es Sera, die beinahe ausgeblutet wäre, weil Marderblut unter den Heilern als Wundermittel galt, immer noch nicht wirklich gut ging, war es schon zu einem Ritual geworden, ihr von seiner Kraft zu geben. Dass er die beiden Kinder auch bedachte, war ihm gar nicht richtig bewusst. Sie hüpften ständig um ihn herum und da berührte er sie eben ab und zu.

„Ich werde es nicht mehr tun“, versprach er.

„Denk nicht, dass ich undankbar bin, Morgan. Dein Licht hat mir sehr gutgetan. Ich möchte nur nicht, dass den Kindern etwas geschieht, weil sie denken, unsterblich zu sein.“

„Ich werde mit ihnen reden“, versprach Morgan. Waydar nickte ihm aufmunternd zu.

„Ihr beiden kommt jetzt sofort runter!“, rief er in Richtung der Kinder. „Ich bin der Alpha und ihr müsst darauf hören, was ich sage!“

Überrascht sah Sera ihn an. Sie gehörten eigentlich nicht zu Waydars Rudel, nicht einmal zu seiner Spezies, doch es rührte sie, dass er diese Tatsachen anscheinend vergessen hatte. Die beiden Marderkinder schienen ebenfalls irritiert, folgten aber der Aufforderung.

„Verwandelt euch, damit ihr was zu eurer Verteidigung sagen könnt“, verlangte der Wolf. Im Nu standen die beiden in ihrer menschlichen Gestalt vor ihm. Yvi war so ein süßes, kleines Mädchen, dass man ihr die Streiche nicht zutraute, die sie ausheckte. Wenn sie einen mit ihren großen, unschuldigen Augen ansah, konnte man ihr unmöglich böse sein.

„Danke, Waydar“, sagte Sera und stellte sich an seine Seite den Missetätern gegenüber.

„Was denkt ihr euch dabei, wenn ihr solch eine waghalsige Kletterpartie unternehmt?“, fragte sie.

Dood zuckte mit den Schultern, während Yvi auf den Boden starrte. Vor allen gerügt zu werden, war sicher noch unangenehmer, als eine Strafpredigt im stillen Kämmerlein zu erhalten.

„Vermutlich habt ihr überhaupt nicht gedacht“, fuhr Sera fort. „In Zukunft will ich keinen von euch mehr dort oben herumturnen sehen, ist das klar? Ihr könntet ins Meer fallen und gefressen werden! Ihr könntet aufs Deck fallen und euch das Genick brechen!“

„Ich nicht“, murmelte Dood so leise, dass ihn niemand hörte. Yvi sah mit einem schüchternen Augenaufschlag zu Waydar, als erhoffte sie sich von ihm Rückendeckung.

„Nein, kleines Fräulein. Deine Mutter hat vollkommen recht. Wenn euch langweilig ist, müsst ihr euch eine andere Beschäftigung suchen. Wir sind ja bald da, dann könnt ihr auf Bäume klettern, falls es dort welche gibt.“ Er hielt kurz inne, als müsse er über die eigenen Worte nachdenken und korrigierte dann: „Auf sehr kleine Bäume. Aber hier an Bord wird nicht mehr an den Masten rumgeturnt, verstanden?“

Die beiden Kinder sahen sich an und Waydar konnte ihre Gedanken beinahe lesen.

„Auch nicht auf den Mastbäumen!“, setzte er streng hinzu.

„Mist!“, hörte er Dood flüstern und musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu lachen.

„Dann geht jetzt und spielt etwas Vernünftiges“, erlaubte Sera, die die beiden erlösen wollte. „Später will Morgan euch noch etwas sagen.“ Die beiden warfen dem Bestador, der erneut errötete, einen fragenden Blick zu, verschwanden aber dann gemeinsam.

„Bin gespannt, was sie nun aushecken“, murmelte Waydar, der dem Frieden nicht traute. Dood und Yvi fanden immer etwas, mit dem sie Unfug machen konnten. Am ersten Tag hatten sie alle Seile ausgerollt und einer der Seewölfe war über einen herumliegenden Strick gestolpert. Am nächsten Tag rutschten sie die Segel herunter und verursachten einen Riss, den sie wieder zunähen mussten. Waydar schüttelte den Kopf und sah zu Morgan hinüber.

„Keine Welpen? Keine Kinder?“, fragte der Bestador mit einem frechen Grinsen. Waydar schüttelte entschieden den Kopf. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die beiden kleinen Marder auf der schmalen Reling entlangflitzten, und Fangen spielten. Was war, wenn sie ausrutschten und ins Wasser fielen?

„Waydar. Es sind Kinder, die sich langweilen. Entweder du bietest ihnen etwas, oder du lässt sie laufen. Marder sind geschickte Kletterer, die fallen nicht so einfach runter.“

Der Wolf knurrte. „Du springst ins Meer und angelst sie wieder raus, wenn sie abstürzen“, drohte er. Morgan dachte an seine Kräfte, und dass er die beiden vermutlich von hier oben aus mental zu sich hochholen konnte, doch er wusste nicht genau, wie er es anstellen musste. Oft gelangen ihm seine spontanen Versuche, doch manchmal gingen sie auch daneben oder er schoss über das Ziel hinaus. Genau deswegen befanden sie sich auf dieser Reise. Waydar besaß ebenfalls Kräfte, mit denen er kaum gezielt umgehen konnte. Gerade in letzter Zeit hätte er davon profitieren können. Schließlich hatte er Morgans Drängen nachgegeben und war mit ihm auf diese Seereise gegangen, um Meister Dragin zu finden, der sie unterrichten sollte. Morgan hatte während einer Nahtoderfahrung von diesem Mann erfahren, der auf der anderen Seite des Meeres leben sollte. Diesen wollten sie nun aufsuchen.

„Dood! Yvi! Kommt mal her!“, rief Waydar aus voller Kehle, sodass Morgan bei der Lautstärke erschrocken zusammenzuckte. Die beiden Fellknäuel kamen angeflitzt und wuselten um ihre Füße herum.

„Und nun?“, fragte Morgan, der seinen Wolf ebenso neugierig ansah wie die Pelztiere.

Waydar kratzte sich am Kopf, auf dem kurze Stoppeln sprossen. Bis seine Haare zur ursprünglichen Mähne gewachsen waren, mit der er Morgan kennengelernt hatte, würde es allerdings Jahre dauern.

„Ich erzähle euch eine Geschichte“, erklärte Waydar. „Habt ihr Lust darauf?“

Zwei Köpfchen nickten im Takt. Schwarze Knopfaugen sahen ihn interessiert an.

„Dann lasst uns in die Kabine gehen, da ist es gemütlicher“, meinte der Alpha und trottete voraus. Morgan folgte mit den beiden Kindern. Er war ebenfalls gespannt darauf, was Waydar sich einfallen lassen würde.

Tark, Liras und Huron, die drei restlichen Wölfe aus Waydars Rudel, bemühten sich in der Zwischenzeit darum, Informationen aus den wortkargen Seewölfen herauszubekommen.

„Was fresst ihr denn unterwegs?“, fragte Liras, dem es mit seinem einnehmenden Wesen gelang, jede harte Schale zu knacken.

„Normalerweise fressen wir an Land, aber wenn wir mal länger unterwegs sind, fangen wir Chuomons. Manchmal wird eine der Ziegen gerissen, die wir immer für Notfälle im Laderaum dabeihaben.“

„Chuomons? Was ist denn das?“, hakte Liras sofort nach.

Der Seewolf mit dem dunklen, wettergegerbten Gesicht schmunzelte. „Ach ja, das kennt ihr vom Festland nicht.“ Er schüttelte den Kopf, trat an die Reling und starrte angestrengt ins Wasser. „Sind gerade keine da, oder ich sehe sie nur nicht. Normalerweise treiben sie sich immer in der Nähe von Schiffen herum. Man benötigt nur den richtigen Köder.“

Alle drei Wölfe hörten gebannt zu.

„Was ist denn der richtige Köder?“, fragte Tark schließlich.

„Ein Mensch. Am besten so ein gut aussehender wie der, der euren Alpha begleitet. Ich wette, da würden sie scharenweise kommen.“

„Das vergiss mal ganz schnell. Morgan ist kein normaler Mensch, sondern ein Bestador. Der würde diese Chu… wie hießen die? Na ja, auf jeden Fall würde er die töten, bevor sie ihm etwas tun. Oder warum kommen sie, wenn man einen Menschen ins Wasser wirft?“

Der Seewolf schüttelte den Kopf über so viel Unwissenheit. „Man wirft den Menschen doch nicht ins Wasser“, sagte er tadelnd. „Man hängt ihn mit dem Kopf ins Wasser, so, dass er noch ab und zu Luft holen kann.“

„Also wollen diese Viecher den Menschen retten?“, rätselte Liras weiter.

„Nein.“ Der Seewolf lachte. „Sie werden von dem Platschen und Schreien angelockt. Chuomons lieben zappelnde Beute. Sie ziehen sie nach unten auf den Meeresgrund und fressen sie, wenn sie ertrunken ist.“

Huron zog die Nase kraus. Diese Biester gefielen ihm nicht, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie sie aussahen oder wie groß sie waren.

„Und dann ist der Mensch weg und ihr habt immer noch kein Fressen.“ Tark schüttelte den Kopf. „Wenn ihr einen Menschen als Köder dabeihabt, könnt ihr doch den fressen.“

„Der Köder wird ja lebend wieder eingeholt. Die Chuomons schaffen es nicht, ihn unter Wasser zu ziehen, wenn er gut festgemacht ist. Sie knabbern ihn höchstens ein wenig an. Das Gute ist, dass sie nicht lockerlassen, die blöden Viecher. Während sie an dem Menschen hängen, kann man sie einsammeln und an Deck werfen.“

„Und dann?“ Liras wurde es etwas flau im Magen, wenn er sich die Szene vorstellte.

„Dann zappeln sie noch ein bisschen rum, aber an der Luft können sie nicht überleben. Sobald sie aufhören, zu zappeln, ist der ideale Moment, sie zu fressen. Dann sind sie schon ein bisschen aufgewärmt.“

Tark schüttelte sich. „Wie sehen diese Biester denn aus?“, wollte er wissen.

„Oberkörper und Kopf ähneln denen von Menschen und vor allem das Gesicht, sie sind aber vollständig unbehaart und haben sehr helle Haut. Der Unterkörper und die Beine sind fischähnlich zusammengewachsen und von verschiedenfarbigen Schuppen bedeckt. Mir schmecken die mit den rosigen Schuppen am besten, aber es ist nicht ganz leicht, sie zu fressen. Am besten reißt man zuerst den Kopf ab und saugt sie dann aus.“

Tarks Gesicht hatte sich bereits vor Ekel verzogen. „Bitte sag, dass es am anderen Ufer Menschen gibt“, bat er. Sie hatten für jeden von ihnen einen einzigen Menschen mitgenommen, was er viel zu wenig fand. Waydar hatte beschlossen, die Beute zu erlegen, sobald sie am Festland angekommen waren. Aber dort mussten sie auch etwas fressen. Leichte Panik erfasste ihn und er sah den auskunftsfreudigen Wolf flehend an.

„Ja, Menschen gibt es schon, aber kein Blutzoll-Abkommen, so wie bei euch.“

Tark stieß die angehaltene Luft aus seinen Lungen mit einem Atemzug aus. Hauptsache, es gab Menschen!

„Die sind ganz schön wehrhaft und verschanzen sich in Steinburgen. Außerdem haben sie Waffen und gehen auf jeden Angreifer los.“

Das klang nicht gut. Tark ließ die Schultern hängen. Wäre er doch mal zu Hause geblieben, wo er sich auskannte.

„Werdet ihr diese Chuomons fangen?“, fragte Liras neugierig.

„Ich denke nicht. Wir sind vermutlich übermorgen an Land, dann fressen wir dort.“

Der junge Wolf senkte enttäuscht den Kopf. Er hätte zu gerne mal so ein Wesen gesehen.

„Schau ab und zu über die Reling. Vielleicht entdeckst du einen. Aber pass gut auf. Die können springen. Nicht, dass dir noch einer in deinem hübschen Gesicht hängt.“

Liras wurde rot, bedankte sich aber artig für die Auskunft. Huron packte ihn am Arm, um seinen Besitzanspruch klarzumachen. Das hübsche Gesicht hatte ihm gar nicht gefallen. Der Seewolf lachte und erklärte, dass er nun wieder arbeiten müsse. Damit ließ er die drei zurück, die sich sofort über die Schiffswand beugten, um nach den Chuomons Ausschau zu halten.

„Hat er sie gefressen?“ Yvis Stimme schnappte vor Spannung beinahe über. Sie saß zwischen Morgan und Dood und hörte mit offenem Mund Waydars Geschichte von der Wolfsprinzessin zu.

„Ja, natürlich“, sagte Waydar leichthin, worauf Dood freudig in die Hände klatschte.

„Nein!“, kreischte Yvi aufgelöst und Morgan schüttelte stumm den Kopf in Richtung seines Geliebten.

„Das darf er nicht!“ Die Kleine weinte jetzt beinahe.

„Hat er auch nicht“, verbesserte sich Waydar verunsichert. „Ich meine, er wollte, aber er hat es dann doch nicht getan.“

Yvi blinzelte eine Träne weg. „Und was hat er getan?“

„Äh …“ Waydar sah Hilfe suchend zu Morgan.

„Er hat sie geküsst“, erklärte der Bestador und lächelte versonnen.

„Buh!“, rief Dood und sprang empört auf. Yvi klatschte jedoch in die Hände und schien mit dem Ausgang der Geschichte zufrieden.

„Haben sie Kinder bekommen?“, fragte sie.

„Ja, natürlich.“ Morgan strahlte Waydar an, der die Augen verdrehte.

„Wohnen sie jetzt in einem Schloss?“, hakte Yvi nach.

„Ja, ich denke schon“, gab Morgan zurück und strich der Kleinen über die feinen Haare.

„Waydar soll weitererzählen“, jammerte das Mädchen.

„Aber die Geschichte ist doch schon zu Ende“, erklärte der und bemerkte augenblicklich die Enttäuschung, die sich auf den Gesichtern der Kinder breitmachte.

„Das war alles?“ Dood machte seiner Empörung Luft.

„Für heute, ja.“ Waydar stand auf. Er hatte wirklich genug davon. Ständig hatten die Kinder ihn unterbrochen und Fragen gestellt, besonders gerne welche, die mit „warum“ anfingen.

„Und morgen erzählst du weiter?“ Yvi ließ nicht locker.

„Mal sehen. Vielleicht, wenn ihr euch nicht verwandelt und als Marder einfach zuhört“, knurrte Waydar, der nur noch an die Luft wollte. Das Mädchen klammerte sich an sein Bein. „Ach bitte, Waydar. Du bist so lieb.“

Morgan kicherte, hielt sich aber schnell den Mund zu. Dennoch traf ihn ein strafender Blick.

„Wenn ihr ganz nett zu Morgan seid, singt der euch bestimmt etwas vor“, meinte er und grinste breit. Morgan erdolchte ihn mit Blicken. Er und singen?

„Oh ja!“, schnappte Yvi nach dem Köder und hüpfte zu Morgan hinüber. „Singst du uns was vor? Bitte!“ Mit großen Kulleraugen sah sie ihn flehend an. Dood dagegen schien hin- und hergerissen. Er fühlte sich wohl zu erwachsen für Schlaflieder.

„Ich kann gar nicht singen“, wehrte sich der Bestador schwach.

„Jeder kann singen“, empörte sich die Kleine und kuschelte sich auf seinen Schoß. Waydar blieb an der Treppe, die nach oben führte, stehen, um zu lauschen.

„Na gut“, gab Morgan nach und räusperte sich. In Erwartung von Ohrenqualen verzog Waydar das Gesicht, staunte dann aber nicht schlecht, als eine überaus melodische Stimme erklang. Er hatte Morgan niemals singen hören, doch diese Töne zogen ihn so sehr in den Bann, dass er ins Zimmer zurückkehrte und seinen Geliebten verlangend anhimmelte. Die Melodie faszinierte ihn und löste eine Sehnsucht aus, die ihn magisch zu dem Freund hinzog. Als er sich schließlich von der Seite an ihn kuschelte, wusste er nicht, wie er hier hingekommen war. Die Kinder lauschten ebenfalls wie gebannt. Yvi schmiegte sich an die Brust des Sängers, während Dood sich zu dessen Füßen niederließ.

Morgan selbst war völlig versunken und hielt die Augen geschlossen. Als sein Lied endete und er in die Runde blinzelte, staunte er mit offenem Mund. Die Kabine war voller Wölfe, sowohl die von der See als auch die vom Land. Alle schienen irgendwie weggetreten zu sein und hatten ein seliges Lächeln auf den Lippen. Als der Gesang abbrach, war es, als würden sie langsam wieder zu sich kommen. Gegenseitig warfen sie sich verwunderte Blicke zu.

„Was geht hier vor sich?“, fragte schließlich der Kapitän.

Morgan kam sich vor, als hätte er etwas Verbotenes getan und senkte schuldbewusst den Kopf. „Es tut mir leid. Ich habe noch nie gesungen. Kommt nicht mehr vor“, versprach er kleinlaut.

Der Kapitän schüttelte stumm den Kopf. Er schwankte leicht, als er sich aufrichtete. Wie ein Betrunkener stolperte er aus der Kabine. Nach und nach kamen alle Anwesenden zu sich, nur die beiden Kinder schliefen tief und fest. Morgan legte Yvi sanft aufs Bett, während Waydar Dood vom Boden hochhob und neben sie platzierte. Der Alpha kratzte sich verlegen am Kopf.

„Unser Bett ist dann wohl belegt“, stellte er fest und sah Morgan nachdenklich an.

„War es so schlimm?“, fragte der und schluckte nervös.

„Schlimm? Es war zauberhaft. Du hast alle Lebewesen auf diesem Schiff angelockt. Ich glaube, das hat was mit deinen Kräften zu tun.“

Von oben ertönten aufgeregte Rufe und beide sahen erschrocken auf.

„Lass uns nachsehen“, forderte Waydar. Gemeinsam liefen sie an Deck. Der Schiffsboden war mit schuppigen Leibern übersät, die zappelten und sich wanden. Die Seewölfe griffen beherzt zu und warfen die Wesen, die etwa so groß waren wie kleine Menschenkinder, über Bord zurück ins Wasser.

„Fasst mit an!“, wurden sie aufgefordert. Waydar bückte sich angewidert und sah in ein menschenähnliches Gesicht, was ihn zurückzucken ließ.

„Werft sie ins Meer, sonst sterben sie!“, schrie jemand. „So viele könnten wir nicht mal fressen, wenn wir vollkommen ausgehungert wären.“

Die übrigen Landwölfe halfen fleißig mit, die Chuomons über Bord zu werfen. Nun hatten sie zum ersten Mal Kontakt zu fremdartigen Wesen und wussten, dass der Seewolf sie nicht veralbert hatte. Die Chuomons existierten wirklich! Was es wohl noch für Kreaturen gab, die sie nicht kannten? Tark wischte sich die klammen Finger an seiner Lederhose ab. Niemals würde er einen dieser glitschigen Gesellen fressen, das stand für ihn fest. Mit Schwung beförderte er einen Körper nach dem anderen zurück ins Wasser. Zumindest schrien die Fischmenschen nicht, klappten nur die kleinen Münder tonlos auf und zu und starrten mit starren, dunklen Augen ins Leere, so als würden sie nichts sehen.

„So etwas habe ich noch nie erlebt“, stöhnte der Kapitän und sah zu Morgan hinüber, der ebenfalls half. „Das muss der Gesang dieses jungen Mannes gewesen sein.“

Kapitel 2

Morgan war in die Kabine des Kapitäns eingeladen worden. Neugierig, wie es dort aussah und was der Seewolf von ihm wollte, machte er sich zurecht, strich sein Haar glatt und begutachtete seine Kleidung. Viel Auswahl besaß er nicht. Vermutlich ging es bei dem Gespräch um seinen Gesang und das Auftauchen der Meereswesen. Morgan schüttelte sich immer noch, wenn er an die Gesichter dieser eigenartigen Kreaturen dachte. Die Gesichtszüge waren ihm allzu menschlich vorgekommen. Er hatte bei dem Anblick an Kleinkinder denken müssen, was sicherlich an der geringen Körpergröße und der fehlenden Behaarung lag.

Es wäre ihm lieber gewesen, Waydar an seiner Seite zu haben, doch die Einladung galt nur für ihn, wie der Bote betont hatte.

Dieser junge Seewolf, der ihm die Nachricht überbracht hatte, war es auch, der ihn nun führte. Gleich zu Beginn der Reise war ihnen eingeschärft worden, nur in dem Bereich des Schiffes zu bleiben, der für Besucher vorgesehen war, damit sie die Mannschaft bei der Arbeit nicht störten und selbst nicht in Gefahr gerieten. Morgan sah sich auf dem Weg neugierig um.

„Da sind wir. Kapitän Avos erwartet dich bereits.“ Viel zu schnell war der Spaziergang beendet und Morgan fand sich vor einer Holzwand wieder. Er bedankte sich und ging durch die schmale Tür, die sein Begleiter für ihn aufhielt. Zu seinem Erstaunen lagen auf einem Tisch, hinter dem der Kapitän stand, Früchte und Brot. Wölfe fraßen so etwas seines Wissens nie und auf See waren diese Köstlichkeiten wohl kaum zu bekommen. Die Speisen mussten vom Land mitgenommen worden und für ihn vorgesehen sein. Das Wasser lief ihm vorfreudig im Mund zusammen.

„Ah, da bist du ja“, wurde er begrüßt.

Zwar hatte er den Kapitän bereits aus der Ferne gesehen, doch nun konnte er ihn näher in Augenschein nehmen. Wie alle Seewölfe, die Morgan bisher zu Gesicht bekommen hatte, zeichnete den Mann wettergegerbte dunkle Haut aus, die ledrig wirkte. Er trug einen Bart, dessen dunkelbraune Farbe von grauen Strähnen durchsetzt war. Auf dem Kopf saß für gewöhnlich eine Fellkappe, die der Mann in der Kabine abgelegt hatte. Die Kopfhaut, die nur noch am Rand von einem Haarkranz besetzt wurde, schien beinahe noch dunkler zu sein als die übrige Haut. Wie die gesamte Mannschaft trug der Kapitän an Deck einen durchgehenden Anzug, der Morgan wie aus gegerbtem und eingefettetem Leder gefertigt erschien. Im Moment trug der Kapitän eine Art Nachthemd aus grobem Leinenstoff, was Morgan befremdlich fand, da Menschen in solchen Gewändern schliefen und keinesfalls Besuch empfingen. Außerdem würde der Stoff bei einer Verwandlung zerreißen, da sich nur Leder mit den Wölfen unbeschadet verwandelte. Da er sich mit den Sitten und Gebräuchen der Seewölfe nicht auskannte, versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen, und lächelte dem Kapitän freundlich zu.

„Bitte bediene dich an den Speisen und setz dich an den Tisch.“

An der Art, wie der Mann redete, glaubte Morgan, zu erkennen, dass er nicht oft Gäste empfing. Mit der Mannschaft sprach der Kapitän nicht so nett, wie er bereits mitbekommen hatte. Kurze Befehle wurden gebrüllt und weitergegeben, wie es auf einem Schiff vermutlich üblich war. Morgan kam der Aufforderung nach und griff sich einen verlockend rot glänzenden Apfel. Waydar zuliebe aß er so selten wie möglich, um ihn nicht an seinen eigenen Hunger zu erinnern. Bei dem Gedanken an die Menschen im Schiffsbauch, die als Nahrung für die Wölfe gedacht waren, drehte sich ihm der Magen um und er hätte das duftende Obst beinahe wieder weggelegt. Dann besann er sich auf seine guten Manieren, nickte dem Kapitän dankend zu und biss ein Stück ab. Die Süße explodierte geradezu auf seiner Zunge. Fruchtsaft lief ihm über das Kinn und er wischte ihn mit dem Handrücken weg. Genüsslich kaute er langsam und genoss die Frische und Fruchtigkeit. Fast konnte er den Sommer spüren, in dem dieser Apfel gereift war.

„Wo habt ihr diese Köstlichkeit her?“, fragte Morgan, dem es nicht behagte, wenn ihm jemand beim Essen zusah.

„Eine der Silberfellschwestern gab uns die Nahrung mit. Sie wollte, dass wir die Menschen damit versorgen, doch ein Anteil sollte nur für dich sein. Ich habe dir täglich etwas davon bringen lassen.“

Morgan erinnerte sich an die handtellergroßen Teigfladen, die köstlich geschmeckt hatten. Vermutlich hatte Alva, die Köchin der Familie Silberfell, diese Küchlein für ihn gebacken. Einen Moment wurde sein Herz schwer, als er an die Wölfe dachte, die am anderen Ufer zurückgeblieben waren. Wie gerne hätte er jetzt einige von ihnen um sich gehabt. Vor allem vermisste er Bastor, den alten Wolf, der immer einen Rat für ihn gehabt hatte, aber auch Lucardia, die jüngere der Silberfellschwestern. Was die beiden jetzt wohl machten?

Kapitän Avos lenkte die Aufmerksamkeit des Bestadors wieder auf sich, indem er ihn ansprach.

„Du fragst dich sicher, warum ich dich zu mir gebeten habe“, begann er. Morgan biss noch einmal in den saftigen Apfel und nickte, während er kaute.

„Ich weiß, dass du besondere Kräfte besitzt und das war auch der Grund, warum ich zunächst gezögert habe, dich an Bord zu nehmen. Mir ist noch kein Wesen, wie du es bist, begegnet. Meiner Mannschaft habe ich nichts von deinen Fähigkeiten erzählt, da ich Unruhe vermeiden wollte. Du musst wissen, dass wir Seewölfe sehr abergläubisch sind. Vermutlich hätte mindestens die Hälfte der Männer gemeutert, wenn sie gewusst hätten, wer oder was du bist.“

Morgan hielt im Kauen inne und sah nachdenklich auf die halb gegessene Frucht. Er schluckte hinunter, was er im Mund hatte.

„Und nun habe ich mich mit meinem Gesang verraten?“, fragte er und versuchte, auszuloten, in welcher Lage er sich befand.

„Nun ja“, der Kapitän schmunzelte. „Die Mannschaft glaubt nun, du seist eine Art männliche Sirene. Hast du schon mal etwas davon gehört?“

Als Morgan den Kopf schüttelte, fuhr Avos fort. „Angeblich gibt es Wesen, ähnlich den Chuomons, nur größer. Der Oberkörper soll aussehen wie der einer hübschen Frau mit langen Haaren und sie sollen ganz wundervoll singen können, doch nur an Land oder auf Felsen. Durch den Gesang werden die Seeleute derart verzaubert, dass sie die Gefahr nicht sehen und deren Boote deshalb an den Klippen zerschellen. Eine tödliche Falle also.“

Morgan schluckte unbehaglich. Was hatte er da nur angerichtet?

„Und nun glaubt die Mannschaft, dass ich Unglück bringe?“, forschte er bang nach.

„Nein. Du hast Unmengen von Nahrung an Bord geschafft, ohne einen Finger zu rühren. Das hat sie beeindruckt. Wenn du an Bord bleiben würdest, müssten sie nie mehr hungern, bis wir in einen Hafen einlaufen.“ Avos holte tief Luft und sah den jungen Mann vor sich an.

„Wir fahren nur kurze Strecken und sind nie länger als zehn Tage auf See. Unsere Mägen haben sich daran gewöhnt, in dieser Zeit keine Nahrung aufzunehmen. Doch es gibt größere Schiffe, die dieses Problem noch nicht gelöst haben. Auf Fahrten, die Wochen dauern, müssen die Seewölfe sich ihre Beute aus dem Meer holen. Wir haben uns an die Chuomons gewöhnt, doch es gibt auch andere Wesen in der Tiefe, Fische zum Beispiel, aber noch einige andere Arten. Jemand wie du könnte das Problem der Nahrungsbeschaffung ganz einfach lösen und deshalb bist du eine Menge wert.“

Morgan wurde es flau im Magen. War er in Gefahr? Wollte Avos ihn etwa auf seinem Schiff behalten? Unruhe ergriff ihn und er wäre beinahe aufgesprungen und aus der Kajüte geflüchtet, doch er zwang sich, sitzen zu bleiben und abzuwarten. Er war ein Bestador! Niemand konnte ihn zu etwas zwingen.

„Vor mir musst du dich nicht fürchten“, beschwichtigte Avos ihn sofort. „Ich wollte dich nur warnen. Die Mannschaft ahnt nicht, wie stark du bist, denn ehrlich gesagt, siehst du nicht sehr wehrhaft aus. Es könnte sein, dass jemand etwas Dummes versucht, womöglich, dich zu entführen. Andere Kapitäne würden einen Batzen Gold für dich bezahlen, da bin ich sicher. Sei auf der Hut. Solange wir auf hoher See sind, solltest du sicher sein. Niemand wird sich der Wut deines Alphas stellen wollen, denn der sieht extrem kräftig aus, wenn er nicht gerade mit seinem Essen die Chuomons füttert.“ Avos zwinkerte ihm amüsiert zu.

Morgan dachte an Waydar und an den kläglichen Anblick, den sein Geliebter geboten hatte, als er seekrank gewesen war.

„Ich danke dir für die Warnung“, brachte er heraus, wusste aber noch nicht so recht, wie er mit der Situation umgehen sollte.

„Ich will nicht, dass du jemanden tötest, solltest du angegriffen werden“, fuhr Avos fort.

Morgan verzog den Mund zu einem schmalen Strich. „Ich werde versuchen, das zu vermeiden“, versprach er.

„Ich habe Hunger“, knurrte Tark ungehalten. „Wir haben Menschen für uns mitgenommen, warum können wir die nicht fressen?“

Waydar machte sich gerade mehr Sorgen darüber, wo Morgan blieb. Der war schon eine ganze Weile in der Kajüte des Kapitäns. Leider konnte er nicht in dessen Kopf eindringen, weil sein Geliebter immer noch wegen des unerlaubten Übergriffs schmollte und seinen Geist verschloss.

„Wir fressen sie an Land“, erklärte der Alpha geduldig.

„Aber warum nicht jetzt?“ Tark benahm sich wie ein ungezogenes Kind. So war es immer, wenn er hungrig war. Seine Stimmung sank dann dermaßen in den Keller, dass er unerträglich wurde.

„Weil wir es so ausgemacht haben. Es sind doch nur noch zwei oder drei Tage. Das hältst du wohl aus. Reiß dich doch einmal im Leben zusammen!“

„So gereizt?“, stichelte Tark. „Du hast doch nicht etwa ebenfalls Hunger?“

Waydar knurrte warnend. Er hatte keine Lust auf eine unsinnige Diskussion.

„Darf ich mir die Beute dann wenigstens ansehen?“

„Nein! Wenn du sie riechst, kannst du dich erst recht nicht zurückhalten. Amüsier dich mit Liras oder ruh dich aus.“

Tark zischte verächtlich und zog die Oberlippe hoch, als befände er sich in Wolfsgestalt und wollte seinem Gegenüber drohen. Waydar verdrehte die Augen, ließ es aber durchgehen.

„Liras und Huron sind in unserer Kabine“, stieß Tark aus und spuckte auf den Boden.

„Verstehe. Daher deine schlechte Laune“, mutmaßte Waydar.

„Wir haben uns darauf geeinigt, es zu dritt zu versuchen, aber … ich finde, Liras und Huron sind viel zu oft zusammen.“

Das alte Lied der Eifersucht. Waydar verstand Tark einfach nicht. Als Liras sich nur für ihn interessiert hatte, hatte er ihn nicht besonders gut behandelt und immer wieder davon gesprochen, sich ein Weibchen zu suchen und eine Familie zu gründen. Nun, wo Huron ebenfalls Ansprüche anmeldete, wurde Liras offenbar interessant.

„Da kommt Morgan“, seufzte Waydar erleichtert und ließ Tark einfach stehen, um seinem Geliebten entgegenzugehen.

„Wie war es denn?“ Er schloss den Bestador fest in seine Arme und drückte ihn an sich, während er versuchte, dessen Stimmung zu erspüren. Morgan, der keine Lust hatte, zu berichten, öffnete seine Erinnerungen und ließ Waydar das Gespräch mit dem Kapitän verfolgen. Während der Alpha die Informationen in sich aufnahm, hielten sie sich umschlungen und genossen die Wärme des anderen.

„Ich passe auf dich auf“, versprach Waydar. „Niemand nimmt dich mir je wieder weg.“

Morgan schluckte ein paar Tränen hinunter, die hinter seinen Augen brannten. Obwohl seine Kräfte stärker waren als die seines Gefährten, ließ er sich gerne beschützen und in Sicherheit wiegen.

Tark war zu den Käfigen geschlichen, in denen sowohl Menschen als auch Ziegen untergebracht waren. Er wollte nur mal sehen, auf welche delikaten Happen er sich freuen konnte. Alleine der Geruch nach Mensch, Angst, Schweiß und Hilflosigkeit machte ihn schwindelig. Dass es auch nach Ausscheidungen roch, verdrängte er geflissentlich. Nah am Holzgitter, das bis zur Decke hinaufreichte, versuchte er, die Zahl der Beute zu schätzen, denn sie hatten nicht nur für den Eigenbedarf vier Menschen dabei, sondern auch einige für die Seewölfe. Wenn die Menschen am anderen Ufer so wehrhaft waren, wie es der eine Seewolf berichtet hatte, verstand er diese Maßnahme. Die Seewölfe würden nur kurze Zeit am Ufer zubringen, die Waren ausladen, neue aufnehmen und den Rückweg antreten. Da blieb keine Zeit für die Jagd. Tark überlegte ernsthaft, ob er mit zurückfahren sollte. Huron und Liras amüsierten sich bestens miteinander. Waydar und Morgan brauchten ihn erst recht nicht und die Marder würden sich sofort auf den Weg machen, um die Zuflucht ihrer Rasse zu finden, wo sie hofften, auf andere Marder zu treffen. Wenn er zurückfuhr, konnte er es sich auf dem Schloss der Silberfelle gemütlich machen, wo es eine eigene Menschenzucht gab. Aus dieser stammten auch die Exemplare, die sie dabeihatten.

Tark sah sich um. Womit konnte er einen Menschen heranlocken? Aus einem Sack, der an der Wand lehnte, lugte ein Kanten Brot hervor. Er brach ein Stück ab und ging damit ans Gitter.

„Na kommt. Wer von euch hat Hunger?“, lockte er.

Drei junge Männer mit vor Dreck strotzenden Gesichtern und strähnigen Haaren trauten sich nach einer Weile so nah heran, dass sie mit ausgestreckten Armen nach der Nahrung greifen konnten, wobei sie sich gegenseitig schubsten. Mindestens fünf andere kauerten im hinteren Bereich und starrten ihn furchtsam an. Tark fasste einen der Mutigen ins Auge und versuchte, diesen so nah heranzulocken, dass er ihn zu fassen bekam. Menschen waren dermaßen dumm!

Der Ausgewählte griff nach dem Brot und ließ es auch nicht los, als Tark es durch die schmale Lücke zwischen den Holzstangen zu sich zog. So konnte der Wolfswandler das Handgelenk seines Opfers packen und es festhalten. Der Gefangene schrie panisch auf, während die anderen, die nichts bekommen hatten, zurückwichen.

„Hab ich dich“, knurrte Tark und spürte, wie sein Bluthunger ihn schlagartig übermannte. Der Mensch zerrte heftig an seinem Arm, wobei er sich Hilfe suchend nach seinen Kameraden umsah und um Hilfe rief. Das Brot war längst vergessen und lag unbeachtet am Boden.

„Lass ihn sofort los!“

Tark dachte zuerst, er hätte sich die Stimme nur eingebildet, doch als er den Kopf suchend zur Seite drehte, sah er seinen Alpha, der ihn wütend anfunkelte. Augenblicklich löste er den Griff.

„Nur Spaß, Waydar. Ich hätte ihn doch nicht durch das Gitter hindurch gefressen.“

„Ich habe dir verboten, dich der Beute zu nähern“, grollte Waydar, packte Tark an der Schulter und zerrte ihn vom Käfig weg. Die Menschen mussten von der Zurechtweisung nichts mitbekommen. „Was hast du dir dabei gedacht? Wenn Morgan das gesehen hätte!“

„Was dann?“, stieß Tark aggressiv hervor. Er tolerierte den Bestador nur wegen dessen Stärke. Nachdem das Rudel Morgan und die anderen Menschen damals als Blutzoll aus deren Dorf mitgenommen hatte und sich zeigte, dass dessen Bindung zu Waydar viel enger wurde, als es hätte sein dürfen, hatte er den Jungen angefallen, um ihn zu fressen. Zu der Zeit waren Morgans Kräfte noch nicht erwacht. Leider war der Alpha rechtzeitig dazugekommen, hatte den Menschen gerettet und Tark bestraft.

„Du hast mir Gehorsam geschworen! Muss ich dich erst wieder unterwerfen, damit du spurst?“, knurrte Waydar.

Der Wolfswandler dachte einen Moment darüber nach, erinnerte sich dann an die letzte, schmerzvolle Unterwerfung durch seinen Alpha und schüttelte den Kopf. „Ich werde mit dem Schiff zurückfahren, dann bist du mich los!“, stieß er hervor und funkelte Waydar aus grünen Augen wütend an.

„Doch zunächst wirst du erfahren, wie es einem Gefangenen hier unten ergeht“, grollte eine Stimme, die beide Wölfe die Köpfe wenden ließ. Morgan stand wie ein Racheengel vor ihnen. Die Aura, die den Bestador umgab, war sichtbar. Wie eine dunkle Wolke wallte sie nebelartig um ihn herum, unheilvoll und bedrohlich.

„Geh zur Seite, Waydar.“

Bevor Tark sich von dem Schrecken erholen konnte, sausten Bretter um ihn herum nieder und sperrten ihn in einen ähnlichen Pferch wie die Menschen und Ziegen, nur dass dieser wesentlich kleiner war und er sich darin kaum bewegen konnte.

„Hör sofort damit auf! Waydar, unternimm was! Dein Freund dreht völlig durch!“, kreischte Tark.

Morgan ließ sich jedoch nicht aufhalten.

„Da siehst du mal, wie man sich als Beute fühlt!“, schrie er und baute das Gefängnis immer massiver, sodass Tark kaum noch durch die Ritzen der Bretter hindurchsehen konnte. Morgan rührte sich dabei nicht, lenkte alles nur mit der Kraft seiner Gedanken. Als sich nichts mehr bewegte, wagte Waydar es, ihn anzusprechen.

„Woher wusstest du, wo wir sind?“, fragte er leise und mit ruhiger Stimme. Erleichtert stellte er fest, dass das Dunkle, Unglückverheißende verpufft war und sein Geliebter nun so vor ihm stand, wie er ihn kannte.

„Du hast meine Gedanken gelesen?“, stellte er fest. Morgan stemmte provozierend die Hände in die Hüften und nickte.

„Lass ihn raus. Er hat es jetzt begriffen.“ Waydar näherte sich dem Bestador sehr vorsichtig. Es wäre nicht das erste Mal, dass der ihn mit seiner Kraft von sich fortschleuderte.

„Nein“, knurrte Morgan, der klang wie ein echter Wolf. „Er soll spüren, was es heißt, anderen ausgeliefert zu sein. Dabei muss er noch nicht mal befürchten, gefressen zu werden.“ Seine Stimmlage änderte sich. Nun hörte er sich an, als würde er gleich weinen. Immer wieder faszinierte es Waydar, wie Morgan sich von einem gefährlichen Monster in einen kleinen, hilflosen Jungen verwandeln konnte und das manchmal von einer Sekunde zur nächsten.

„Du sagst es selbst. Er wird nicht dasselbe fühlen, weil er weiß, dass sein Leben nicht bedroht ist. Er hat keine Todesangst, sondern wird nur wütend.“

„Dann sollte ich ihm vielleicht zeigen, was Todesangst ist“, fauchte Morgan, der noch nicht bereit war, sich zu beruhigen. In der Box blieb es still, also lauschte Tark vermutlich ihrem Wortwechsel.

„Morgan, ich bin sein Alpha“, erklärte Waydar, so ruhig er konnte. „Du darfst meine Autorität nicht untergraben, indem du Strafen gegen meine Rudelmitglieder verhängst. Verstehst du das?“

Der Bestador schüttelte stumm den Kopf, ging zu dem Käfig mit den Menschen hinüber und reichte ihnen Brot und Obst durch die Holzstäbe, wobei seine Augen so sehr in Tränen schwammen, dass er nur Konturen erkennen konnte. Waydar beobachtete ihn stumm. Er wusste, welches Problem sein Geliebter damit hatte, dass die Wölfe seinesgleichen fraßen. Wenn der Kleine sich nun auch noch mit der Beute anfreundete, würde es umso schlimmer werden. Dennoch ließ er ihn die Nahrung verteilen. Erst als Morgan am Gitter stand und seinen Artgenossen beim Essen zusah, ging er zu ihm und berührte von hinten sacht dessen Schulter.

„Komm mit, Morgan. Du hast sie versorgt. Mehr kannst du nicht tun.“

Der Bestador schien auf einmal keine Kraft mehr zu besitzen. Er fiel geradezu in Waydars Arme, der ihn auffing und hochhob. „Ich bringe dich in unsere Kajüte, in Ordnung?“ Ein Protest blieb aus, also machte Waydar sich auf den Weg. Der Kleine war so leicht, dass es ihn kaum Mühe kostete, ihn zu tragen. Der Körper in seinen Armen wurde von Schluchzern geschüttelt. Waydar tat es wahnsinnig leid, dass sein Geliebter so litt. Versprechungen abzugeben, die nicht einzuhalten waren, widersprach jedoch seiner Moral. Die Menschen würden gefressen werden, denn das war ihre Bestimmung. Auch er als Alpha konnte nichts daran ändern, höchstens selbst verzichten, was außer Frage stand. Er brauchte Kraft, da er nicht wusste, was sie erwartete. Außerdem war es ungewiss, was sie zukünftig fressen würden, da ließ er sich sicherlich nicht den letzten Menschen entgehen. Was er in dem Käfig gesehen hatte, war durchweg appetitanregend gewesen. Er konnte sein wölfisches Ich nicht verleugnen und steckte aus Rücksicht auf Morgan bereits stark zurück. So tötete er sein Opfer sofort und schmerzlos, wie er es versprochen hatte. Dabei zogen die Wölfe einen Teil ihrer Fresslust aus der Jagd. Zappelnde, sich wehrende Beute war verlockender als tote. Für Morgan hatte er sich angepasst, so gut es eben ging.

Waydar beugte sich über den Geliebten und küsste ihn auf die Stirn.

„Es wird alles gut. Bei mir bist du sicher“, wisperte er ihm ins Ohr.

Sera hatte alle Mühe damit, die Kinder ins Bett zu scheuchen. Die beiden stritten bereits eine Weile, was an ihren Nerven zerrte.

„Nun gebt euch die Hände und vertragt euch wieder“, verlangte sie gereizt.

„Nur wenn Yvi verspricht, die Wahrheit zu sagen“, platzte Dood heraus. Sera hatte ihn längst als Sohn angenommen, auch wenn er nicht ihr leibliches Kind war. Es gab nur noch wenige Marder, da sie eine Zeit lang gejagt und beinahe ausgerottet worden waren. Dood hatte dabei seine ganze Familie verloren. Er war von der Wolfswandlerin Lucardia vom Silberfell gerettet und gesund gepflegt worden. Diese Wölfin hatte Jahre später auch Sera und Yvi aus den Klauen einer Heilerin befreit, die auf das Blut der Marder aus gewesen war, weil dieses als heilend galt. Sera wusste, dass Dood Lucardia sehr vermisste und auf dem Schiff bereits vor Heimweh geweint hatte. Vermutlich war er deswegen gereizter als sonst. Im Schloss der Silberfelle war er ein fröhlicher und manchmal vorlauter Junge gewesen. Hoffentlich fanden sie die Zuflucht ihrer Rasse tatsächlich an dem Ufer, zu dem sie unterwegs waren.

„Welche Wahrheit soll sie denn sagen?“, fragte Sera, die den Faden wiedergefunden hatte. Skeptisch sah sie ihre Tochter an, die verlegen wegsah. Sera kannte sie gut genug, um zu wissen, was das bedeutete.

„Sie wäre doch ganz alleine von dem Mast runtergekommen“, schmollte Dood. „Sie hat nur so getan, als wenn sie heulen würde. Weil ich ihr nicht geholfen habe, bin ich nun der Böse.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte wütend vor sich hin.

„Stimmt das, Yvi?“ Sera wandte sich wieder ihrer Tochter zu, die den Mund zu allen möglichen Schnuten verzog.

„Tut mir leid“, brachte Yvi heraus.

„Na das ist ja wohl die Höhe!“ Sera stemmte die Arme in die Hüften und holte tief Luft, um Yvi eine Standpauke zu halten.

„Ein bisschen bin ich ja doch schuld“, lenkte Dood ein. „Ich habe mit ihr gewettet, dass sie sich nicht bis ganz nach oben traut. Dann sind wir beide raufgeklettert, aber runter wagte sie sich nicht mehr. Als ich ihr helfen wollte, hat sie gesagt, sie käme alleine klar und ich sollte gefälligst verschwinden. Das habe ich gemacht und nun denken Morgan und Waydar, dass ich sie im Stich gelassen hätte.“

Sera seufzte tief. Sie ging zu dem Jungen hinüber und setzte sich zu ihm. Er lehnte sich vertrauensvoll an ihre Schulter und sie verstrubbelte ihm den roten Schopf.

„Sieh mal, Dood, ihr seid beide noch jung und hattet Langeweile. Ich will keinem von euch einen Vorwurf machen, aber ihr habt viele Leute hier in Angst und Schrecken versetzt. Ich schlage vor, diese Sache bleibt unter uns. Niemand ist einem von euch böse. Es gibt wichtigere Sachen, über die die Erwachsenen nachdenken müssen. Wir sind bald da und sollten uns allmählich um unsere Marschroute kümmern. Ich will nicht, dass ihr euch noch mal in so eine gefährliche Situation bringt. Versprecht ihr mir das? Morgan kann nicht alles heilen und ihr seid durch seine Kraft auch keinesfalls unverwundbar. Das wollte er euch eigentlich noch selber sagen.“

Die Marderkinder versprachen einvernehmlich, sich nicht mehr in Gefahr zu begeben. Dann wollten sie von Sera etwas über das Land erfahren, in dem sie sich bald befinden würden. Wie sich herausstellte, wussten sie alle drei nicht viel über das, was auf sie zukam.

„Wie können wir die Zuflucht eigentlich finden?“, fragte Dood, dem es langsam dämmerte, dass sie alleine weiterziehen würden.

„Angeblich sollen die Marder den Weg mit einer Geruchsspur markiert haben, die nur wir zu riechen vermögen, da wir ebenfalls Marder sind. Ich hoffe, dass es so ist, denn andere Anhaltspunkte kenne ich nicht.“ Sera wollte den Kindern keine Angst machen. Das Abenteuer, auf das sie sich eingelassen hatten, war ihr während der Reise immer waghalsiger vorgekommen. Sie war es, die die beiden Kleinen aus der sicheren Umgebung des Schlosses gerissen hatte, um sie in ein unbekanntes Land mit Gefahren zu bringen, die sie nicht abschätzen konnte. Wie stand man hier zu den Mardern? Wurden sie verfolgt? Warum sollten ihre Artgenossen in einer Zuflucht leben, wenn es in diesem Land sicher war? Immer stärkere Zweifel waren in ihr hochgekommen, doch der Wunsch, endlich wieder mit anderen ihrer Rasse vereint zu sein, war stärker gewesen. Dood hatte sich damals gefreut, nicht mehr der einzige Marder im Schloss zu sein. Obwohl Lucardia sich so lieb um ihn gekümmert hatte und eine gute Freundin geworden war, hatte er doch stets die Sehnsucht nach seiner Rasse im Herzen gespürt. Wenn er älter wurde, würde diese Verlorenheit nur noch ausgeprägter zum Tragen kommen. Bald würde er geschlechtsreif sein und nach einem Weibchen suchen. Sera straffte die schmalen Schultern.

Kapitel 3

Waydar hatte Morgan in ihr gemeinsames Bett gebracht und ihn zugedeckt, wie man es mit einem Kind machte, das man schlafen legte. Der Gutenachtkuss fiel zu seiner großen Freude inniger aus, als er es sich erträumt hatte. Geradezu hungrig zog der Bestador ihn an sich und klammerte sich an ihm fest. Waydar stützte sich mit einer Hand ab, um den Geliebten nicht mit seinem Gewicht zu erdrücken. Morgans heißer Atem streifte sein Ohr, als der seine Wünsche hinein hauchte.

„Ich bin sofort für dich da“, versprach der Alpha, versuchte aber gleichzeitig, die klammernden Finger zu lösen. „Lass mich nur kurz Tark befreien.“

„Nein!“ Morgan schlang nun auch noch die Beine um ihn, nahm ihn in einen Ganzkörperklammergriff. „Bleib hier. Er wird es schon überleben“, flehte er.

Hin- und hergerissen wusste Waydar nicht, was er tun sollte. Sex mit seinem Geliebten war in letzter Zeit immer erfüllender geworden. Sie verstanden sich mit jedem Mal besser. Er musste nicht mal mehr Morgans Gedanken lesen, die Körpersprache reichte vollkommen aus. Gerade war der warme, biegsame Leib des Bestadors sehr mitteilungsfreudig. Dennoch wollte er Tarks Zorn nicht heraufbeschwören. Sein Rudelbruder war sowieso angeschlagen. Hunger und dazu Eifersucht auf Liras und Huron nagten an ihm. Waydar befürchtete, dass Tark aus Wut auf Morgan etwas Dummes anstellen könnte. Während er noch überlegte und die streichelnde Hand zwischen seinen Schenkeln zu ignorieren versuchte, flüsterte Morgan ihm ins Ohr: „Er ist schon frei. Jetzt hör auf, an ihn zu denken und konzentrier dich auf mich.“

Einen Moment wunderte sich Waydar noch, wie Tark befreit worden sein konnte, im nächsten hatte er ihn bereits komplett vergessen. Was sein geliebter Mensch gleichzeitig mit Zunge und Händen anstellte, forderte ihn heraus, ließ seinen Körper vor Verlangen zittern. Rasch entledigte er sich seiner Lederhose, solange er noch oben lag. Etwas an Morgans Drängen sagte ihm, dass das nicht mehr lange der Fall sein würde. Kaum war er nackt, tauchte Morgan unter ihm weg und er landete aufstöhnend mit dem Gesicht im Kissen. Gerade wollte er sich umdrehen, da war der Bestador bereits über ihm.

Waydar war nicht nur überrascht, sondern geradezu entsetzt. Was hatte Morgan vor? Auf keinen Fall würde er passiv bleiben und sich nehmen lassen. Er war der Alpha! Sein Herz klopfte wild, als nun auch noch seine Hände gepackt und festgehalten wurden.

„Was soll das?“ Er zwang sich, ruhig zu sprechen, obwohl ihm sehr nach Brüllen zumute war. Eine Hand landete klatschend auf seiner Pobacke. So, nun reichte es! Mit aller Kraft versuchte der Wolfswandler, seine Hände zu befreien, während er lauthals schimpfte. Morgan sah nicht so aus, war aber kräftig, denn er benutzte ganz offensichtlich seine Magie.

„Hör sofort damit auf!“, knurrte der Alpha. „Wir hatten eine klare Absprache. Keine Manipulation meines Körpers, wenn wir uns lieben.“

„Wehr dich doch einfach“, kam es amüsiert zurück. Morgan schien ihn nicht ernst zu nehmen. Dem würde er es zeigen. Waydar konnte mit seinen eigenen Kräften nicht so gut umgehen wie Morgan, doch wenn er wütend oder in Panik war, schoss er oft über das Ziel hinaus. Deshalb war er sehr vorsichtig, wann er die Magie anwendete. Der Bestador wollte es nicht anders! Waydar konzentrierte sich und im nächsten Moment waren seine Hände frei. Morgan hockte allerdings immer noch auf ihm und presste ihm nun etwas Heißes auf die Arschbacken.

„Du bringst mich zum Glühen“, flachste Morgan und massierte das dralle Fleisch. Einen Moment genoss Waydar dieses ungewohnte Gefühl, doch dann warf er sich herum, packte den Geliebten an den Schultern und zog ihn auf sich.

„Habe ich dir wehgetan?“, fragte er besorgt, als er an die Hitze dachte, die von den Händen des Kleinen ausgegangen war. Hatte er ihn verbrannt? Das war ihm schon einmal passiert, als er jemanden retten wollte.

„Nein. Ich habe es bereits geheilt. Du brauchst keine Rücksicht zu nehmen. Ich bin nicht zerbrechlich.“ Mit diesen Worten zwang Morgan Waydar dessen Beine gegen den Bauch, sodass er wieder Zugang zu dem Hinterteil des Wolfsmannes hatte.

„Was ist denn heute mit dir los?“, fragte der verblüfft. So hatte Morgan sich noch nie benommen. Erst durch ihn hatte der Kleine die Liebe überhaupt kennengelernt. Beim ersten Mal war die Angst vor der Vereinigung sehr groß gewesen, bis er bemerkte, wie sanft Waydar sein konnte und wie erfüllend es war, derart geliebt zu werden. Ab da konnte Morgan nicht genug davon bekommen.

„Kämpf mit mir. Ich will erobert werden“, gurrte der Bestador.

„Das kannst du haben, aber beschwer dich nachher nicht.“ Waydar hatte gelernt, zu kämpfen und das sollte Morgan nun zu spüren bekommen. Sie rangelten eine Weile, dann machte der Wolf Ernst und nagelte den schlanken Körper unter seinem fest. Obwohl er besiegt war, lächelte Morgan ihn schelmisch und zugleich herausfordernd an. Ein feiner Schweißfilm bedeckte dessen Körper und zeugte von der Anstrengung, die es ihn gekostet hatte, sich so lange zu entziehen.

„Ich gebe auf. Jetzt unterwirf mich“, forderte er.

Waydar sah ihm forschend in die dunkelblauen Augen. Wollte er das wirklich? Nach einem verlorenen Kampf war es bei den Wölfen üblich, den Schwächeren zu unterwerfen. Auch bei Ungehorsam wandte ein Alpha diese Methode zur Disziplinierung an. Sie hatte nichts mit liebevollem Sex gemein, weshalb er zögerte.

„Mach es als Wolf“, forderte Morgan nun auch noch.

Da Waydar nicht reinrassig war, konnte er als Mensch genauso gut riechen wie als Wolf. Er näherte sich Morgans Gesicht und sog dessen Duft tief ein. Immer noch hielt er den Blick des Kleinen gefangen. Überdeutlich war Lust darin zu lesen, doch von einer Intensität, die Waydar erschreckte. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte er Morgan herum, sodass der auf dem Bauch lag, schob ihm die eigenen Knie unter den Leib und umklammerte dessen Nacken. Dann drang er ohne jede Vorbereitung in ganzer Länge in ihn ein, blieb jedoch in seiner menschlichen Gestalt.

„Du hast mir nichts vorzuschreiben“, knurrte er, während der Junge zuerst keuchte und dann einen winselnden Ton von sich gab. Morgan war immer gegen die Unterwerfungen gewesen und deshalb sogar eifersüchtig geworden. Waydar hatte ständig versucht, ihm zu erklären, dass eine Unterwerfung nichts mit erfüllendem Sex zu tun hatte. Nun musste er diese Gelegenheit einfach nutzen, um ihm das noch einmal klarzumachen.

Waydar bemühte sich, zu verdrängen, wen er unter sich hatte. Rücksichtslos stieß er immer wieder in seinen Untermann hinein, blendete dessen Schmerzenslaute aus und achtete nur auf sich und seinen Höhepunkt. Als er gekommen war, sackte er auf dem schlanken Körper zusammen und blieb schwer atmend liegen.

Morgan wusste, dass er es selbst herausgefordert hatte, doch nun wollte er nichts mehr, als diesen schweißnassen, massigen Körper loszuwerden. Er bekam kaum Luft, so sehr drückte Waydars Gewicht auf seine Lungen. Gerade wollte er seine Kräfte einsetzen, um sich zu befreien, da rollte der Wolfsmann sich auf die Seite.

„Bist du nun zufrieden?“, fragte der Alpha gereizt. „War es das, was du wolltest?“

Kleinlaut musste Morgan zugeben, dass ihm das Erlebnis nicht gefallen hatte. „Tut mir leid. Ich hatte es mir irgendwie anders vorgestellt“, gab er zerknirscht zu. Augenblicklich regte sich bei Waydar das schlechte Gewissen.

„Komm her“, verlangte er seufzend und streckte den Arm aus. Morgan kuschelte sich, ohne zu zögern, an ihn.

„Ich musste wissen, wie sich das anfühlt, bevor du …“, er brach verlegen ab.

„Bevor ich?“, wiederholte Waydar.

„Na ja, du wirst Tark sicher bestrafen, oder? Der legt es doch nur darauf an. Dachte ich jedenfalls. Nun glaube ich nicht mehr, dass er scharf drauf ist.“

Waydar ließ den freien Unterarm über seine Augen sinken und stöhnte. Wie oft hatte er Morgan erklärt, dass es nicht schön und schon gar nicht lustvoll war, unterworfen zu werden, ebenso wenig, wie selber zu unterwerfen?

Der Kleine ließ seine Finger gedankenverloren über Waydars breite Brust wandern, zog Linien entlang des Brustbeins und der Rippen.

„Es tut mit leid, wie ich mich verhalten habe. Die Langeweile hier auf dem Schiff und die Ungewissheit, was uns erwartet, machen mir zu schaffen.“

„Nicht nur dir.“ Waydar dachte an Tark und musste gleich eine Frage loswerden. „Hast du Tark wirklich befreit?“

„Denke schon. Ich habe mir vorgestellt, wie die Bretter um ihn herum herunterfallen. Das sollte genügt haben.“

Der Alpha blieb skeptisch. „Ich sehe lieber mal nach.“

Morgan legte seinen Arm fest um ihn und küsste ihn auf die salzig schmeckende Haut. „Du willst mich doch nicht so unbefriedigt zurücklassen?“, fragte er zuckersüß. „Oder kann so ein gestandener Wolf wie du nur einmal?“

„Du bist ganz schön frech“, stellte Waydar schmunzelnd fest und dachte an die Zeit, als Morgan noch Angst vor ihm gehabt und dennoch eine dicke Lippe riskiert hatte, um einen schnellen Tod herauszufordern. Der Alpha rollte sich auf die Seite und küsste sanft die verlockend roten Lippen seines Geliebten. „Fangen wir noch mal ganz von vorne an?“, fragte er.