Endora - Alegra Cassano - E-Book

Endora E-Book

Alegra Cassano

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Beschreibung

Eine Frau, die sich nicht an Regeln halten will und der es verboten ist, um ihren Mann zu trauern. Ein Krüppel, der ein zu gutes Herz hat und deshalb sterben soll. Ein wohlhabender Schurke, der es gewohnt ist zu bekommen, was er will. Ein Vater, der sich nichts sehnlicher wünscht, als zu seiner Familie zurückzukehren. Eine Heilerin, die die Schicksalsfäden all dieser Menschen in Händen hält und Spaß daran hat, diese zu verdrehen. Mitten drin zwei Kinder, eins davon ein ahnungsloses Opfer, das andere mit einer speziellen Begabung gesegnet. Das sind die Zutaten, aus denen Endora entstanden ist. Entdecken Sie diese mittelalterlich anmutende Welt. Weinen Sie mit Ayda, leiden Sie mit Jaron, versuchen Sie Lando zu verstehen, der immer nur das Beste will. Begleiten sie die Geschwister Bale und Banja und seien Sie beim Endkampf Gut gegen Böse dabei! Wer wird dieses Mal siegen?

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Seitenzahl: 324

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Alegra Cassano

Endora

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Platz der Freude

2. Der neue Ernährer

3. Die Wahl

4. Wolf

5. Schweren Herzens

6. Erinnerungen

7. Verschwörung

8. Ein Kind

9. Hin und her gerissen

10. Überraschung

11. Drei Verschwörer

12. Die Grube

13. Die Höhlen

14. In Sicherheit

15. Der Belua

16. Höllenqualen

17. Spiegelblick

18. Natas Plan

19. Rotfunken

20. Rubions Haus

21. Schlinggras

22. Winterschläfer

23. Wolfs Geschichte

24. Teoman

25. Die Beichte

26. Alameas Plan

27. Träume

28. Geister der Vergangenheit

29. Arek

30. Geheimnisse

31. Bosheit einer Hexe

32. Mutterglück

33. Gefangen

34. Führe mich nicht in Versuchung

35. Im Netz der Spinne

36. Die Weissagung der Sterne

37. Qualen der Vergangenheit

38. Lügen

39. Begegnung von Geist und Seele

40. Verzweifle nicht

41. Der Zweikampf

42. Magie

43. Freund und Feind

44. Der letzte Kampf

45. Entscheidungen

46. Das Urteil

Epilog

Impressum neobooks

1. Platz der Freude

Als Lando den Platz endlich erreichte, war dieser von Menschen umringt. Wieder einmal befand er sich unter den Letzten. Sein Blick schweifte ärgerlich über die dicht gedrängt stehenden Leute, um eine Stelle zu finden, an der er sich zwischen den Wartenden hindurchzwängen konnte. Er zog sein rechtes Bein nach, wie er es seit seinem Unfall immer tun musste und fluchte, aber nur in Gedanken. In der Öffentlichkeit sollte man lieber vorsichtig sein, was man sagte, und besonders hier, auf diesem Platz. In der Menschenansammlung versteckten sich immer genug Leute, die sich beim Rat anbiedern wollten.

Nachdem Lando sich endlich durch die hinteren Reihen schwatzender Bürger gekämpft hatte, konnte er einen Teil des Platzes überblicken. Das Kopfsteinpflaster wirkte kalt und unfreundlich. Noch nicht einmal Unkraut wuchs hier. Alles war penibel sauber und würde es auch bleiben. Das Aussehen dieses Ortes stand im starken Gegensatz zu dessen Namen: Platz der Freude. Das, was an diesem Ort geschah, hatte kaum einen Menschen je fröhlich gestimmt. Eigentlich hätte der graue Stein rot sein müssen, vom Blut der Opfer, denn früher befand sich hier der Richtplatz. Taoman, der ehemalige Ratsälteste, war nicht zimperlich in der Wahl der Bestrafungen gewesen. Lando lief es bei diesem Gedanken kalt den Rücken herunter, und ihm wurde wieder einmal bewusst, welches Glück es war, dass jetzt Dimetrios regierte.

Die Bewohner von Endora versammelten sich um den Platz der Freude, sobald die Glocke des Turms geläutet wurde. Sie kamen zusammen, weil es Vorschrift war und natürlich auch aus Neugierde. Jedem, der diesen Treffen fern blieb, ohne krank oder bereits tot zu sein, drohten gewaltige Strafen, die niemand auf sich nehmen wollte, der bei Verstand war. Die Menschenmassen stauten sich mittlerweile zurück, bis an die ersten Häuser, die den Platz umgaben.

Lando fragte sich, warum die Glocke heute geläutet worden war. Es gab keine festen Zeitabstände zwischen den Versammlungen. Immer waren wichtige Ereignisse der Grund für diese Treffen, weshalb sich jeder Einwohner bereits auf dem Weg hierher Gedanken machte, was es wohl zu verkünden gab.

Der Ratsälteste trat in dem Moment auf sein hölzernes Podium, als Lando in der Menge Ayda und ihre Kinder entdeckte. Ayda war die Frau von Jaron, der für Lando wie ein Bruder war. Die Familien standen sich sehr nah. Lando, Jaron und Ayda waren fast gleichaltrig und schon als Kinder unzertrennlich gewesen.

Dimetrios stellte sich an das Geländer des erhöhten Bauwerks, wobei man ihm ansah, dass er der Festigkeit dieser Konstruktion nicht traute. Seine Finger krallten sich an die verzierte Holzleiste vor ihm, als er sich vorsichtig über die Brüstung beugte, um nach unten zu spähen. Das Podium wurde nur an den Versammlungstagen herbeigeschafft, damit man den Rat, der aus drei Mitgliedern bestand, besser sehen konnte. Nun richtete Dimetrios sich zu seiner vollen, imposanten Größe auf und eröffnete die Sitzung, indem er seine Hand zum Himmel streckte. Neben seinem emporgereckten Arm wehte die gelbrote Fahne Endoras in der leichten Brise, die die Hitze heute etwas erträglicher machte. Sobald der Ratsälteste sich der Aufmerksamkeit der Bewohner sicher war, und es ruhig wurde, nahm er den Arm herunter und hielt sich erneut fest, wobei er dieses Mal bereits entspannter wirkte. Die beiden anderen Mitglieder des Rates hatten auf Stühlen zu den Seiten des Ältesten Platz genommen. Wie üblich blieben sie stummes Beiwerk und trugen nichts zur Versammlung bei. So manch ein Bürger fragte sich, warum die Zwei überhaupt dort saßen. Dimetrios alleine traf die Entscheidungen und sprach als Einziger zu den Anwesenden.

„Bewohner Endoras! Ich heiße Euch willkommen!“, rief der Ratsälteste.

Lando richtete seine volle Aufmerksamkeit auf ihn. Dimetrios war ein großer Mann mit lichtem Haar. Stets trug er eine Kappe, die wie eine Blase aussah, welche um seinen Kopf zu schweben schien. Die fehlende Kopfbehaarung machte ein langer, weißer Bart wett.

„Ihr Leute hört mir zu“, sagte der Ratsherr mit einer tiefen, und trotz seines Alters noch kraftvollen Stimme.

„Wir haben heute zwei Dinge zu verhandeln.“

Jetzt wurde es still auf dem Platz. Sogar die Kinder wagten es nicht mehr, einen Ton von sich zu geben. Die Neugier auf das, was nun kommen würde, ließ alle verstummen.

„Ayda tritt vor“, hörte Lando die Aufforderung und sofort schoss ihm ein Stich der Angst ins Herz. Ayda? Was hatte das zu bedeuten? Hauptsächlich wurden hier Vergehen verhandelt. Was hatte sie getan?

Er beobachtete, wie die Frau seines besten Freundes gefolgt von ihren Kindern, dem zwölfjährigen Bale und der siebenjährigen Banja, den Platz betrat. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie vollständig in Grau gekleidet war. Das war die Farbe, die die Frauen tragen mussten, deren Männer sich nicht im Ort befanden. Ayda war oft gezwungen, sich so zu kleiden, denn Jaron war Jäger und häufig für einige Tage außerhalb der Mauern, die den Ort umgaben. Ihre Schönheit hatte Ayda sich bewahrt, auch wenn sie bereits achtundzwanzig Jahre alt war. Ihr hellbraunes Haar trug sie wie eh und je in einem dicken Zopf auf dem Rücken, nur dass sie diesen jetzt unter dem Kragen ihres Kleides versteckt hatte. Es war üblich, den Frauen nach der Geburt des ersten Kindes die Haare bis auf Schulterlänge abzuschneiden und diese Frisur dann beizubehalten. Lando fragte sich, wie Ayda darum herum gekommen war. Noch brennender interessierte ihn jedoch, warum sie in den Richtkreis gerufen wurde, einem runden Mosaik in der Mitte des Platzes.

Während Dimetrios sprach, hielt Ayda ihre Kinder fest, jedes an einer Hand, als befürchtete sie, sie würden ihr weg genommen werden. Obwohl Bale zu alt dafür war, an der Hand seiner Mutter zu laufen, hielt er still.

„Ayda“, begann der Ratsälteste. „Dein Mann ist fort, und der Rat hat beschlossen, dass du dir einen neuen Ernährer suchen musst.“

Lando beobachtete, wie Ayda empört aufblickte, offensichtlich etwas entgegnen wollte, aber dann nur ungläubig den Kopf schüttelte. Ihm selbst verschlug es die Sprache, und auch die Menschen um ihn herum schienen wie erstarrt. Wie lange Jaron schon unterwegs war, konnte er nicht sagen, doch mit Sicherheit noch kein halbes Jahr und das war die Frist, die normalerweise abgewartet wurde.

Genau das versuchte Ayda jetzt wohl vorzubringen, aber Dimetrios unterbrach sie.

„Ruhe!“, donnerte er von oben herab. „Ich habe nicht nach deiner Meinung gefragt!“

Ayda senkte den Kopf. Als Frau stand ihr das Reden hier nicht zu, aber da kein Mann anwesend war, der für sie das Wort ergreifen konnte, hatte sie auf eine Ausnahme gehofft. Nun glühten ihre Wangen vor unterdrücktem Zorn.

„Meldet sich jemand freiwillig als Ernährer?“, fragte Dimetrios bereits in die Runde, ohne der verstörten Frau weitere Beachtung zu schenken.

2. Der neue Ernährer

Landos Gedanken überschlugen sich. Jeder ledige Mann durfte sich jetzt melden. Wenn sich niemand finden sollte, würden die Kinder in den Hort kommen, damit Ayda, frei von dieser Bürde, einen neuen Mann finden konnte. Lando war ungebunden. Er könnte sich anbieten, aber er zögerte noch. Fanden sich zwei Anwärter, würde es ein Duell geben. Bei drei und mehr Bewerbern durfte die Frau selbst entscheiden, wen sie als Ernährer wollte.

Rubion betrat den Platz und zeigte damit an, dass er sich zur Verfügung stellte. Wieder bohrte sich der Schmerz wie ein rostiger Nagel in Landos Herz. Natürlich trat Rubion vor! Er hatte schon immer für Ayda geschwärmt und versucht, sie mit seinem Reichtum zu betören, doch sie hatte sich glücklicherweise für Jaron entschieden.

Lando knirschte mit den Zähnen, als Rubion sich bereits siegessicher im Kreis drehte und seinen Freunden zuzwinkerte. Er war anscheinend davon überzeugt, dass ihm die Frau zugesprochen wurde.

Dimetrios sah sich abwartend um. Lando bemerkte, wie Aydas Blick flüchtig zu Rubion huschte. Die Abscheu in ihren Augen war unübersehbar. Er kannte sie so gut, dass er selbst spürte, wie sie sich in diesem Moment fühlte. Vor Verzweiflung begann brennende Säure in seiner Kehle aufzusteigen.

Trotz des drohenden Zweikampfes, den er nie und nimmer gewinnen konnte, trat Lando vor, gerade in dem Moment, als Dimetrios die Hand heben wollte, um die Entscheidung zu besiegeln. Landos Erscheinen wurde von den Umstehenden mit lautem Gemurmel kommentiert und er hörte ein Murren aus dem Lager von Rubions Freunden. Doch nichts konnte ihn jetzt irritieren. Er konzentrierte sich auf Ayda und blendete den Rest aus, aber selbst ihr Mund blieb ungläubig offen stehen, als sie ihn ansah. Ihr Blick wanderte zu Rubion und dann wieder zu Lando zurück. Er sah deutlich die Furcht darin und vermutete, dass sie ebenfalls an den Zweikampf dachte.

Sie schüttelte kaum merklich den Kopf in seine Richtung. Er wusste selbst, dass es Wahnsinn war, was er da tat, aber er hatte in diesem Moment nicht anders handeln können. Er konnte doch nicht kampflos die Familie seines besten Freundes dessen ärgstem Feind überlassen. Das würde Jaron ihm nie verzeihen.

„Sonst niemand?“, fragte Dimetrios und ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Für Lando stand bereits fest, dass er sich dem Duell stellen musste, und ihm war bewusst, dass er den Tag vermutlich nicht überleben würde, doch wenigstens würde er ehrenhaft sterben.

Rubion war größer, stärker, besser ausgerüstet und, was das Wichtigste war, körperlich unversehrt. Lando dagegen war als Jugendlicher in eine Falle geraten und konnte seit dem sein rechtes Bein nicht mehr richtig benutzen, weshalb er es nachzog. Er war nicht mehr schnell und wendig. Diese körperliche Beeinträchtigung machte ihm schwer zu schaffen und sie war auch der Grund, warum er bisher keine Familie gegründet hatte. Ernähren könnte er eine Frau schon, nur war er der Meinung, für keine gut genug zu sein. Frauen wollten keinen Krüppel, wenn sie ehrlich waren.

Ein Raunen ging durch die Menge, und Lando drehte sich überrascht um, genau wie Ayda und Rubion. Der junge Dell war auf den Platz getreten. Er war gerade erst sechzehn Jahre alt geworden.

„Was willst du?“, knurrte Dimetrios ungehalten.

„Ich melde mich als Ernährer“, erklärte der Junge tapfer. Wieder raunte die Menge und einige Leute lachten.

„Dell, das ist unmöglich. Du bist noch nicht so weit“, erklärte Dimetrios mit kaum verhaltenem Ärger in der Stimme. Er war Dells Onkel und konnte so einen Unsinn nicht billigen. Sein Bruder würde ihn auf ewig verfluchen, wenn er Dells Meldung zuließ.

Dimetrios wollte diese Sache jetzt schnell beenden, bevor noch jemand auf die Idee kam einzugreifen. Er hatte keinen Zweifel am Ausgang des anstehenden Zweikampfes, und obwohl es schade um Lando war, war dieser doch selbst Schuld. Warum musste er sich auch freiwillig melden? Schon immer hatte es Ärger wegen seiner Sippe gegeben! Dimetrios wollte sich jetzt nicht weiter darüber aufregen und endlich zum zweiten Punkt der Tagesordnung übergehen.

„Geh zurück, Dell!“, befahl er scharf. Der Junge blieb unsicher stehen.

„Steht denn irgendwo geschrieben, wie alt der Ernährer sein muss?“, wagte er zu fragen.

Lando bewunderte den Mut des Jungen. Es war jedoch abzusehen, dass seine Meldung nicht zugelassen wurde. Suchend ließ Lando seinen Blick über die Menschen schweifen, die ihm am nächsten standen. Alles Fremde. Die meisten kannte er zwar vom Sehen, aber hier war niemand, der ihm helfen konnte. Er hatte Dells Absicht durchschaut. Wenn sich ein dritter Mann melden würde, wäre der Zweikampf nicht mehr nötig und Ayda könnte selbst entscheiden.

„Dell, du kannst keine Familie ernähren“, sagte Dimetrios jetzt noch einen Ton schärfer und winkte seinen Neffen vom Platz. Der Junge bemerkte, wie zwei Wachleute sich in seine Richtung bewegten, und trat deshalb zögernd den Rückzug an.

Lando atmete tief durch. Die Luft schien ihm stickiger als zuvor und ihm war, als würde er den Staub des Platzes auf der Zunge schmecken. Zusammen mit den rumorenden Säften in seinem Inneren, entstand ein Gemisch, von dem ihm übel wurde, doch er war bemüht, sich davon nichts anmerken zu lassen. Eine Schwäche reichte wirklich. Ihm war bewusst, dass der Ratsälteste nun so schnell wie möglich seine Entscheidung verkünden würde. Dimetrios war nicht gerade für seine Geduld bekannt.

Lando spürte, wie Rubion ihn kalt musterte, vermied es aber seinen Nebenbuhler direkt anzusehen. Wenn der Unfall nicht gewesen wäre, hätte er vielleicht eine Chance gegen ihn gehabt, aber so … Nein, er hatte seinen Tod besiegelt, als er in den Kreis getreten war. Nun gab es kein Zurück mehr und alles, was er tun konnte, war in Würde zu unterliegen. Sein Verstand suchte noch nach einem Ausweg, denn geistig war er Rubion schon immer überlegen gewesen, aber im Grunde seines Herzens wusste er, dass es keine Möglichkeit gab, seinem Schicksal zu entrinnen. Für Ayda und die Kinder tat es ihm besonders Leid, denn dann hatten sie niemanden mehr, der ihnen beistand. Mehr als er jetzt tat, konnte er für sie leider nicht tun.

Die Menge wurde erneut unruhig, als sich aus den hinteren Reihen ein Mann nach vorne drängte. Er war sehr groß und so breit wie zwei normal gebaute Männer. Lando erkannte ihn sofort. Es war der Holzfäller Kahn, den er aus den Wäldern kannte. Er hatte ihm vor Jahren in einer Notlage geholfen.

Lando war zufällig in der Nähe gewesen, als er die Hilfeschreie des Mannes hörte. Khan hatte sich, ohne es zu wissen, einen Baum zum Fällen ausgesucht, der einem Arakus als Unterschlupf diente. Durch den Krach, den die Axtschläge verursachten, war das Tier aus seinem Erdloch, unterhalb des Baumes geschossen und hatte sich in die Wade des Mannes verbissen. Khan konnte es zwar mit seiner schweren Axt erschlagen, aber er schaffte es nicht, die Zähne, die wie Widerhaken in seinem Fleisch steckten, herausziehen. Lando half ihm bei dieser sehr blutigen Angelegenheit. Arakusbisse entzündeten sich häufig, denn die Tiere waren Aasfresser. Khan hatte einige Tage zwischen Leben und Tod in der Wildnis verbracht, während Lando mit allen Heilkräutern, die ihm zur Verfügung standen, versuchte, für Linderung zu sorgen. Er hatte sich aufopferungsvoll um den Kranken gekümmert, hatte ihm Wasser gebracht, Nahrung besorgt und ihm Mut zugesprochen. Für Lando war das selbstverständlich. Erst als es dem Holzfäller wieder gut ging, trennten sich ihre Wege.

„Wie kann ich das je gut machen?“, hatte Khan zum Abschied gefragt und Lando antwortete: „Du brauchst nichts gut zu machen, aber wer weiß, vielleicht bist du einmal in der Nähe, wenn ich Hilfe nötig habe.“

Nun stiegen Lando beinahe Tränen in die Augen, als er den Riesen sah, der sich durch die Menge schob, vorsichtig aber stetig, so als hätte er Angst, jemanden zu zerquetschen, aber als befürchte er auch, zu spät zu kommen.

„Ich melde mich“, sagte er mit seiner tiefen Bassstimme und zwinkerte Lando zu. Rubion knurrte ungehalten. Er war sich seiner Sache schon so sicher gewesen, wie Lando seinem Untergang.

„Nun denn“, sagte Dimetrios wenig begeistert.

„Dann hast du wohl die Wahl Ayda.“

3. Die Wahl

Ayda war noch benommen. Sie fühlte sich, wie in einem Traum, so als würde dies alles nicht wirklich geschehen. Sie meinte, neben sich zu stehen und sich selbst zu betrachten, wie sie grübelnd da stand.

Warum wurde sie bereits jetzt dazu gezwungen, sich einen neuen Mann zu suchen? Jaron war doch noch nicht einmal zwei Monate fort! Hatte ihn jemand gefunden? War er tot? Vor Angst krampfte sich ihr Herz schmerzhaft zusammen, dann wurde ihr jedoch bewusst, dass das nicht sein konnte. Wäre ihr Mann gefunden worden, hätte man ihn zurück nach Endora gebracht, damit alle die Möglichkeit hätten, ihn zu sehen und sich zu verabschieden. Außerdem wäre ihr die Todesnachricht vor der Zusammenkunft mitgeteilt worden, damit sie sich in Schwarz hätte kleiden können und nicht in dem Grau, das den Frauen vorbehalten war, die auf die Rückkehr ihrer Männer warteten.

Warum also?

Dimetrios trommelte ungeduldig mit den Fingern auf das hölzerne Geländer, während er von oben auf die Frau herab starrte. Ayda dämmerte schließlich, dass sie leider nicht träumte und dass sie sich bald entscheiden musste, sonst würde der Rat das für sie tun. Banja klammerte sich an ihren Rock, als sie sich zu den drei Anwärtern umwandte, die nebeneinander aufgereiht auf ihre Entscheidung warteten.

Da war Rubion, den sie seit ihrer Kindheit kannte. Er hatte ihr schon damals Angst eingejagt, aber es hatte auch eine Zeit gegeben, in der sie ihn anders kennen gelernt hatte.

Ihre Mutter arbeitete früher in dem Haushalt von Rubions Familie, und zwar in der Küche. Sie nahm ihre kleine Tochter manchmal mit, damit diese aushalf. Natürlich hätte Rubion sich niemals in die Küche verirrt, aber der Zufall wollte es, dass Ayda in den Garten geschickt wurde, um Kräuter zu holen. Dieser Garten befand sich dicht an der Stadtmauer, allerdings auf der Seite, die in das offene Gelände führte. Rubions Haus besaß als einziges im Ort einen Zugang durch die Mauer ins Ödland.

Ayda hatte Angst. Die vielen Geschichten über wilde Tiere und verschollene Jäger hatten sie das Gebiet außerhalb der Mauer fürchten gelehrt. Als sie damals vor dem Tor innehielt und nicht wusste, was sie tun sollte, war Rubion aufgetaucht. Er war etwas älter als sie und damals sehr feist, mit auffällig runden Wangen, was zu seinem Stand gehörte. Wenn sich jemand gutes Essen leisten konnte, sollte das auch jeder sehen. Ayda kannte nur die Jungen aus ihrer Nachbarschaft, und die waren dünn wie Bohnenstangen.

Rubion machte ihr Angst, weil er anders war, und das spürte sie sofort.

Wahrscheinlich war er von ihrem Anblick genauso irritiert, denn er blieb stehen, musterte sie ausgiebig und wusste nicht so recht etwas mit ihr anzufangen. Schließlich klagte sie ihm ihr Leid und gab sogar zu, sich zu fürchten in den Garten zu gehen. Rubion übernahm das für sie, was ihn zu ihrem Helden machte und wofür sie ihm sehr dankbar war. Als sie die Kräuter entgegen nahm, gab sie ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dass diese Geste einen bleibenden Eindruck bei dem Jungen hinterlassen würde, ahnte sie damals noch nicht. So wie er heute vor ihr stand, hatte er nichts mehr mit dem Kind von einst gemeinsam, zumindest nicht äußerlich.

Rubions ganze Erscheinung war düster, was er mit seiner schwarzen Kleidung noch unterstrich. Einzig das Schwert glänzte silbern an dem, reich mit funkelnden Steinen verzierten Gürtel. Sogar seine Gesten wirkten auf sie bedrohlich. Wie er die Hände in die Hüften stemmte, immer eine Hand in der Nähe seiner Waffe, als müsse er bereit sein zu kämpfen. Wie er den Kopf steif aufrecht hielt, das Kinn vorgereckt. Die Beine streckte er voll durch, um sich in seiner ganzen Größe zu präsentieren und er stand breitbeinig, als dürfe er nicht schwanken, damit niemand ihn von diesem Platz vertreiben konnte. Rubions pechschwarze Haare bekamen durch die Sonne einen violetten Schimmer. Sein ebenso schwarzer Bart bedeckte das halbe Gesicht und leider auch seinen Mund, was sie bedauerte, denn er besaß schön geschwungene Lippen, wie sie von früher wusste. Die Augen, ehemals von einem warmen braun, waren nun schwarz wie die Nacht, so dass Ayda kaum die Pupillen erkennen konnte. Alles, was an Rubions Körper früher rund und weich gewesen war, wurde heute durch straffe Muskeln ersetzt. Sie betrachtete seine Hand, die sie manchmal gehalten hatte. Die dicken, kurzen Kinderfinger waren schmal und knochig geworden. Jetzt lächelte er auch noch, wobei sein Bart sich teilte und den Blick auf kleine gelbe Zähne frei gab, was ihr eine Gänsehaut zusammen mit weiteren Erinnerungen bescherte.

Rubion hatte es nach ihrer ersten Begegnung darauf abgesehen, sie zu treffen, sobald sie sich in seinem Haus befand. Er sprach kaum, was Ayda verunsicherte. Oft starrte er sie lange Zeit einfach nur an. Weiterhin half er ihr, die Kräuter zu besorgen, obwohl sie das selbst gekonnt hätte, zumindest als sie älter war und nicht mehr so ängstlich, wie als kleines Mädchen. Ihr wurde allmählich bewusst, dass Rubion sich in sie verguckt hatte. Eigentlich war das nicht verwunderlich, denn in seinem Haus gab es keine anderen weiblichen Wesen, die auch nur annähernd in seinem Alter waren. Seine Mutter lud immer nur die Jungen des Dorfes ein, damit sie mit ihrem Sohn spielten. Als Dank erhielten sie dafür etwas zu essen.

Lando und Jaron gehörten zu Rubions damaligen Spielgefährten. Sie hatten Ayda einige Male von diesen Treffen berichtet und es hörte sich immer so an, als würden sie sich über Rubion lustig machen, der auf Grund seiner Körperfülle nicht mit ihnen mithalten konnte. Aydas Gefühle schwankten bei diesen Berichten meistens zwischen Mitgefühl für Rubion und dem Drang, mit ihren Freunden zu lachen.

„Macht euch nicht über ihn lustig!“, wies sie die Jungen oft zurecht und fügte dann etwas leiser hinzu: „Wenn er davon erfährt, lässt er euch die Köpfe abschlagen.“

Doch die beiden lachten dann nur und alberten weiter herum.

Das Einzige, das heute für Rubion sprach, war sein Reichtum. Er besaß ein großes Haus mit Angestellten, die er allerdings schlecht behandelte, wie ihr zu Ohren gekommen war. Rubions Jähzorn war gefürchtet. Geschichten machten die Runde, von verletzten Dienstmägden und schwer verwundeten Stalljungen. Ayda konnte sich nicht vorstellen, wie er sich gegenüber ihren Kindern verhalten würde. Bale war nicht immer folgsam und Rubion hatte keine Erfahrung mit der Erziehung von Kindern. Das machte ihr Sorgen.

Ihr Blick wanderte weiter zu Lando, und sie konnte sich eines winzigen Lächelns nicht erwehren, das sie aber sofort unterdrückte. Er war ihr fast so vertraut wie Jaron und sie verknüpfte mit ihm schöne Erinnerungen an Ausflüge und Abende am Feuer. Lando war geduldig und verstand sich gut mit ihren Kindern. Außerdem war er schon immer hilfsbereit und tierlieb gewesen. Als sie Kinder waren, versuchte Lando immer, verletzten Wildtieren zu helfen. Meist schaffte er es nicht, da Tiere in Endora als Nahrungsquelle angesehen wurden. Landos Vater schlachtete die armen Kreaturen, die er in seinem Schuppen fand. Trotzdem hörte sein Sohn nicht auf, die Verletzten zu pflegen, nur dass er sich dafür einen anderen Ort suchte.

Ayda rechnete es Lando hoch an, dass er sich so mutig gegen Rubion stellte. Vielleicht hätte der dritte Mann sich gar nicht gemeldet, wenn Lando nicht vorgetreten wäre, und ihr wäre dann keine Wahl geblieben, als mit Rubion zu gehen. Ayda wusste, dass Jaron und Lando wie Brüder waren, und obwohl sie spontan zu ihrem Freund tendierte, zögerte sie doch genau aus diesem Grund.

Er war ein wunderbarer Mann, doch sie wusste, dass er selbst das ganz anders sah. Er reduzierte sich auf sein schlimmes Bein, was sie völlig unsinnig fand. Wenn Lando durch den Ort ging, folgten ihm die Blicke der ledigen Frauen, und schon oft hatte Ayda darin Begehren gelesen. Lando sah gut aus, mit seinem hellen, lockigem Haar und den blauen Augen, die er von seinen Eltern geerbt hatte und die in Endora etwas Außergewöhnliches waren. Früher hatte Lando sein Aussehen gehasst. Er hatte seine Haare mit Lehm beschmiert, damit er den anderen Jungen ähnlicher sah, später trug er oft eine Lederkappe oder die Kapuze seiner Jacke. Angeblich wollte er sich tarnen, damit er besser jagen konnte, aber das hatte Ayda ihm nie abgenommen. Zum Glück schien Lando sich heute zumindest mit seinem Aussehen abgefunden zu haben. Den Bart stutzte er sauber zurecht, und wenn er lachte, blitzten weiße Zähne, die sogar noch vollständig waren, was hier ebenfalls eine Seltenheit war. Landos Oberkörper wirkte sehr kräftig, doch an der Taille wurde er schmal, fast wie bei einer Frau. Ayda fand das insgeheim aufregend, denn die anderen Männer die sie kannte, hatten eine stämmige Figur, auch Jaron.

Lando strahlte immer noch etwas Jugendliches aus, obwohl er ein Jahr älter war als sie. Ganz erwachsen war er nie geworden, und hinter seinen Himmelsaugen sah sie immer wieder den unbeschwert herumspringenden Jungen, der es nicht fertigbrachte, lange still zu sitzen. Es musste eine Qual für ihn gewesen sein, nach seinem Unfall so lange nicht aufstehen zu dürfen.

Ayda wandte sich zögernd Kahn zu, den sie nur wenige Male gesehen und mit dem sie noch nie ein Wort gewechselt hatte. Sie fühlte sich durch seine enorme Größe eingeschüchtert, obwohl seine Stimme angenehm klang und er freundliche Absichten zu haben schien. Vielleicht war es wirklich am besten ihn zu wählen, einen völlig Unbekannten, mit dem sie nichts verband. Sollte Jaron heimkommen und seine Familie zurückverlangen, hätte er in Kahn einen fremden Nebenbuhler vor sich, allerdings auch einen sehr starken. Verzweifelt sah sie dem großen Mann in die, für sein kantiges Gesicht viel zu sanften Augen.

Was sollte sie nur tun? So gerne sie an Jarons Rückkehr glauben wollte, so unsinnig schien sie. Der Rat würde sie doch nicht neu vergeben, wenn sie nicht sicher waren, dass ihr angestammter Ernährer tot war, oder? Zu gerne hätte sie nach einer Erklärung verlangt, aber Dimetrios hatte schon zu Anfang klar gemacht, dass er ihr als Frau keine Rechenschaft schuldig war.

„Willst du selbst entscheiden, oder soll ich es für dich tun?“, fragte der Ratsherr, dem anzumerken war, dass er nicht länger warten wollte.

Ayda versuchte, sich zusammenzureißen. Sie straffte die Schultern und ging einen kleinen Schritt auf Lando zu. Ihr Sohn Bale hatte sie längst los gelassen, nur Banja klammerte sich weiter an ihren langen Rock. Die Kinder kannten Lando gut. Er war wie ein Freund für sie und hatte schon oft mit ihnen und Jaron Ausflüge unternommen. Er hatte Bale einige Fallen gezeigt, die der Junge selbst stellen konnte, und Ayda verstand nicht, warum ihr Sohn sich jetzt so abweisend benahm. Ihr missfiel es ebenfalls, dass Jaron ersetzt werden sollte, aber was konnte sie dagegen tun?

„Triff jetzt deine Entscheidung, Ayda“, forderte Dimetrios sie unmissverständlich auf. Wie sollte sie eine so wichtige Wahl unter diesem Druck treffen? Verzweifelt sah Ayda sich um. Sie fühlte sich, als würde alle Kraft aus ihr weichen. Ihre Knie wurden weich, und sie hatte Angst, zu fallen. Das Blau von Landos Augen zog sie förmlich in ihren Bann und gab ihr die Kraft, aufrecht stehen zu bleiben.

„Bist du sicher?“, flüsterte sie kaum hörbar. Er nickte sofort.

„Du weißt, was passieren kann …“, setzte Ayda noch einmal an, wurde aber von Rubion unterbrochen.

„Ayda! Warum zögerst du? Unter diesen Dreien bin ich die beste Wahl. Das weißt du genau“, seine Stimme klang ungehalten und gekränkt.

Ayda löste ihren Blick von Landos und wandte sich Rubion zu. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als sie ihn ansah. Sie hörte Bale hinter sich und meinte das Wort „Mutter“ zu verstehen, doch sie drehte sich nicht nach ihrem Sohn um. Diese Entscheidung musste sie alleine treffen, und Rubion kam überhaupt nicht in Frage. Sie musste ihre Absage jetzt nur so formulieren, dass er nicht beleidigt war.

„Rubion“, begann sie und der Versuch, ihre Stimme ruhig zu halten, gelang ihr zu ihrem eigenen Erstaunen.

„Es ehrt mich, dass du mir dieses Angebot machst. Doch du weißt, dass ich für dich nicht standesgemäß bin. Deshalb lehne ich ab. Es tut mir leid. Ich will dir mit den Kindern nicht zur Last fallen.“

Schnell und bereits ein wenig erleichtert wandte Ayda sich dem nächsten Mann zu, und ließ Rubion mit einem ungläubigen Ausdruck auf seinem Gesicht einfach stehen.

Kahn sah ihr gutmütig entgegen. Noch einmal erwog sie die Möglichkeit, ihn zu erwählen, doch ihr Herz konnte sich nicht dazu durchringen, auch wenn ihr Verstand ihr dazu riet. Er war fremd, aber vielleicht war das gerade gut?

„Auch euer Angebot ehrt mich, und ich danke euch sehr“, sagte Ayda zu dem großen Mann, ohne ihm ins Gesicht zu sehen. Stattdessen starrte sie geradeaus auf seinen mächtigen Brustkorb. Sie sagte nicht direkt nein, aber es war jedem klar, dass sie ihm absagte.

Nun drehte sie sich schnell zum Letzten in der Runde: „Ich nehme dein Angebot an, Lando. Du bist mir am vertrautesten und ich bin sicher, dass du ehrliche Absichten hast. Du weißt, wie sehr ich Jaron liebe, denn du liebst ihn selbst, wie man einen Bruder liebt. Deshalb möchte ich, dass du als Ernährer für mich und die Kinder sorgst.“

Lando ahnte, wie schwer Ayda diese Wahl fiel. Er nahm ihre Hand und lächelte ihr aufmunternd zu. Ayda fühlte sich ein wenig besser, jetzt wo sie sich entschieden hatte. Sie traten zusammen vor Dimetrios, um sein Urteil zu hören. Rubions Blick sprach Bände, als er dem Paar hasserfüllt nachstarrte. Doch noch gab er sich nicht geschlagen. Mit großen Schritten trat er vor den Ratsältesten: „Ich verlange, dass Ihr als oberster Ratsherr die Entscheidung trefft“, forderte er mit fester Stimme.

„Ayda ist dazu momentan nicht in der Lage. Die Verkündung kam zu plötzlich. Ich bin sicher, wenn sie mehr Zeit hat nachzudenken wird ihre Wahl anders ausfallen.“

Lando hielt Aydas Hand ganz fest. Er spürte, wie sie zitterte. Es war noch nicht überstanden. Dimetrios sah ihn nun direkt an.

„Was sagst du dazu?“

Landos Stimme war ganz ruhig, als er entgegnete: „Das Gesetz ist eindeutig. Ayda hat sich entschieden. Ich kann sie und ihre Kinder ernähren und werde es mit Freude tun. Ich weiß nicht, was es daran zu zweifeln gibt.“

Auf dem Platz war es vollkommen still. Die Sonne brannte unbarmherzig auf die Wartenden, denn sogar der Wind hielt den Atem an. Alle Leute warteten gespannt auf Rubions Reaktion, und diese kam prompt. Er war kein Mann, der lange über seine Worte nachdachte.

„Wie will der Krüppel denn eine Frau und zwei Kinder ernähren?“, fragte er gehässig. Ayda hörte, wie Lando scharf die Luft einsog. Sie wollte nicht, dass er auf diese Provokation einging, deshalb drückte nun sie seine Hand ganz fest und sagte schnell: „Dimetrios, ich bin nicht froh darüber, mir einen neuen Ernährer suchen zu müssen, aber meine Wahl ist gefallen. Ich will Lando.“

Der Ratsherr verkniff mürrisch den Mund, nickte aber. Er starrte eine Weile nachdenklich auf die Menschenmenge herab. Mit einem letzten Blick auf Rubion schwenkte er dann endlich die Fahne von Endora, um anzuzeigen, dass das Urteil gefällt war.

„Lando ist hiermit als Ernährer für Ayda und ihre Kinder anerkannt“, bestätigte er für alle hörbar.

Rubion schnaufte wie ein wütender Barbatus, sagte aber nichts mehr und trat mit hochrotem Kopf zurück. Auch Kahn verließ den Richtkreis und als Dimetrios die Fahne senkte und in die Halterung steckte, zogen sich auch Ayda, Lando und die Kinder zurück. Sie durften in den Ring der Zuschauer treten, mussten aber warten, bis der zweite Punkt für den heutigen Tag verhandelt worden war.

Landos Knie zitterten immer noch und er schaffte es kaum, sich zu konzentrieren. Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf herum. Dass es nicht zum Duell gekommen war, war seine Rettung, aber er konnte noch nicht absehen, wie sehr sein Leben sich nun verändern würde. Lando ließ Aydas Hand nach einer Weile mit Bedauern los, aber Bale sah ihn weiterhin finster an. Mit dem Jungen musste er später in Ruhe reden, um ihm klar zu machen, dass er seinen Vater nicht ersetzen, sondern nur helfen wollte.

4. Wolf

Bales Aufmerksamkeit richtete sich auf jemand anderen, der in den Richtkreis gerufen wurde. Der Junge war groß, schmächtig und unglaublich dreckig. Bale wusste, dass er älter war, als er selbst, vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre. Dimetrios erklärte, die Bäckerin bezichtige den Jungen, der Wolf hieß, des Diebstahls. Er solle einen Laib Brot aus der Backstube gestohlen haben. So wie Wolf aussah, traute ihm jeder sofort diesen Raub zu, aber die wenigsten verurteilten ihn dafür, denn viele Leute kannten die Geschichte des Jungen.

„Was hast du dazu zu sagen, Wolf?“, fragte Dimetrios in einem neutralen Ton. Er als Ratsältester und Richter durfte keine Partei ergreifen, auch wenn ihm das manchmal schwer fiel. Der Junge stand mit gesenktem Kopf da. Er trug zerlumpte Kleidung, die stellenweise nur noch von dünnen Fäden zusammengehalten wurde. Seine weichen Lederschuhe waren aufgeplatzt. Vorne schauten die Zehen und an den Seiten die nackte Haut hervor. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt noch an seinen Füßen Halt fanden.

„Ich habe das Brot genommen. Es tut mir sehr leid“, brachte Wolf halblaut hervor. Seine Stimme klang viel zu jung, wie die eines Kindes. Eine Frau kämpfte sich durch die Umstehenden nach vorne.

„Bestraft ihn nicht! Ich werde das Brot bezahlen!“, rief sie, noch bevor sie den Platz erreichte. Wolf sah nicht zu ihr hin. Er bewegte sich überhaupt nicht, so als wäre er zu einer Steinfigur geworden.

„Ich bezahle das Brot“, wiederholte die Frau, als sie bei Dimetrios angekommen war. Nun trat auch die Bäckerin vor: „Er muss bestraft werden. Er soll endlich verstehen, dass er nicht stehlen darf“, forderte sie mit herrischer Stimme. Ihr kleiner, dicker Körper bebte vor Anstrengung.

„Mein Mann wird ihn bestrafen, sobald er zurück ist“, versicherte die andere Frau eilig. Dimetrios war überrascht und zugleich gefiel ihm nicht, dass er heute ständig von Weibern angesprochen wurde. Der Bäckerin als Anklägerin stand das gerade noch zu, aber jetzt mischte sich noch eine Frau ein, und schon herrschte das Chaos. Dimetrios wusste, dass Wolf keine Familie hatte. Eigentlich gehörte er in den Hort, aber von dort riss er ständig aus, und irgendwann hatten sie es aufgegeben, ihn zurückzubringen. Solange er keinen Ärger machte, wurde er im Ort geduldet.

„Wie stehst du zu dem Jungen?“, fragte er deshalb neugierig. Da der Mann dieser Frau nicht anwesend zu sein schien, musste er ihr wohl oder übel das Wort erteilen.

„Er arbeitet für uns“, gab sie ohne Zögern an. „Wenn Ihr ihn bestraft, dann bitte so, dass er seine Arbeit noch verrichten kann.“

Wolf stand die ganze Zeit mit gesenktem Kopf da und zeigte keine Regung, so als ginge ihn das alles nichts an.

„Warum hast du das Brot gestohlen?“, fragte Dimetrios.

„Ich hatte Hunger“, gab Wolf leise zurück.

„Bekommst du bei deiner Arbeit nichts zu essen?“, hakte der Richter nach. Wolf zögerte. Er warf einen scheuen Blick auf die Frau, die angeboten hatte, seine Schulden zu bezahlen.

„Manchmal“, entgegnete er dann ausweichend.

„Bekommst du etwas Anderes als Entlohnung?“, wollte Dimetrios wissen. Wolf schüttelte zögernd den gesenkten Kopf, doch dann fiel ihm noch etwas ein: „Ich darf im Schuppen schlafen“, sagte er, und für einen kurzen Moment huschte Freude über sein dreckverschmiertes Gesicht. Doch dann schien er sich wieder bewusst zu werden, welchen Verbrechens er hier angeklagt war und ließ mutlos den Kopf hängen. Dimetrios verlor allmählich das Interesse an dieser Geschichte, was daran liegen konnte, dass ihm selbst der Magen knurrte.

„Bezahle der Bäckerin das Brot und sorge dafür, dass er nicht mehr stiehlt. Noch einmal kommt er mir nicht so glimpflich davon“, schloss Dimetrios den Fall ab und schwenkte die Fahne Endoras. Damit war die Versammlung beendet und die Menschen entlassen. Zögernd löste sich der Pulk auf. Überall wurde getuschelt, wobei Wolfs Fall nebensächlich war. Ayda und Lando sorgten für Aufregung und die Leute stellten sich Fragen.

Warum hatte Ayda sich so schnell einen neuen Ernährer suchen müssen? War Jaron tot oder würde er zurückkehren? Was würde passieren, wenn der Todgeglaubte hier erschien und seine Familie zu einem anderen Mann gehörte, der zudem noch sein bester Freund war? So einen Fall hatte es in Endora noch nie gegeben. Manche Menschen schienen froh zu sein, dass sich endlich einmal etwas Spannendes ereignete. Sie überlegten sich immer neue Möglichkeiten, warum Jaron ersetzt worden war. Hatte jemand gesehen, wie er getötet wurde? Womöglich war er von einer Bestie gefressen worden! Es musste einen Grund geben, warum Dimetrios so handelte. Ayda, Jaron und Lando würden noch lange für Gesprächsstoff sorgen, das war sicher.

Bale nahm Banja bei der Hand und ging seiner Mutter voraus, wobei er Lando im Weggehen einen missmutigen Blick zuwarf.

„Bale ist nicht glücklich mit deiner Wahl“, seufzte Lando, als er mit Ayda in Richtung ihres Hauses lief.

„Er sollte glücklich und dankbar sein, dass Rubion nicht der einzige Anwärter geblieben ist“, meinte Ayda. Lando nickte. Mit seinen Gedanken war er jedoch bei Jaron.

„Was ihm wohl passiert ist“, fragten beide wie aus einem Mund. Sie stutzten und sahen sich schweigend an.

„Es tut mir leid“, sagte Lando dann.

„Was meinst du?“

„Es tut mir leid, dass du zu dieser Entscheidung gezwungen wurdest.“

„Ich danke dir sehr, dass du dich gemeldet hast, doch ich bin nicht sicher, ob das eine gute Entscheidung von dir war. Falls Jaron zurück kommt …“ Lando bemerkte sehr wohl den feuchten Schimmer in ihren Augen, denn sie senkte den Kopf nicht schnell genug.

„Ich weiß“, versuchte er sie zu beruhigen, „aber ich hatte keine Ahnung, was ich sonst hätte tun sollen. Ich konnte dich und die Kinder doch nicht Rubion überlassen.“

„Dein Leben wird sich nun sehr verändern“, stellte Ayda leise fest und wechselte damit gekonnt das Thema. Sie befanden sich kurz vor ihrem Haus. Von den Kindern war nichts zu sehen. Vielleicht waren sie schon hineingegangen, denn die Häuser durften in Endora nie verschlossen werden.

„Du solltest deine Sachen holen“, sagte Ayda sanft, ohne den Freund anzusehen. Lando nickte nachdenklich. Er musste bei der Familie im Haus wohnen. Seine einfache Junggesellenhütte war zu klein für sie alle.

„Ja, ich beeile mich“, sagte er und schlug den Weg nach links in Richtung der Stadtmauer ein.

Als er nun alleine den vertrauten Weg entlang ging, wurde ihm schlagartig die ganze Tragweite seines Handelns bewusst. Ihm wurde so übel, dass er sich einen Moment auf einen großen Stein am Wegrand setzen musste. Was hatte er nur getan?