Bollywood & Götterkult - Ava Cooper - E-Book
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Bollywood & Götterkult E-Book

Ava Cooper

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Beschreibung

»Die Göttin der Zerstörung erwacht – und sie will Rike.« Die sechzehnjährige Rike ist eine Rebellin, die sich eigentlich nur auf ihrem Skateboard wohlfühlt - bis sie Amal wiedertrifft, einen Bekannten aus Jugendtagen. Der Inder ist von ihrer Power fasziniert und sie von seinem Charme und seiner Ausgeglichenheit. Sie scheinen sich perfekt zu ergänzen. Rike könnte nicht glücklicher sein, wären da nicht diese rätselhaften Visionen von Kali, der Göttin der Zerstörung. Als ihre Träume zunehmend finsterer werden, verschwimmen die Grenzen zwischen Mythos und Realität. Zu allem Übel findet ihre Schwester Laura Hinweise, dass Amal in einen Mordfall im Namen der dunklen Göttin verwickelt war. Bald steht Rike vor der Frage, wem sie vertrauen kann – und was Kali von ihr will.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Bollywood & Götterkult

Ava Cooper

1.Auflage,2025

© Alea Libris Verlag, Wengenäckerstr. 11,

72827 Wannweil

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Carina Holste

Korrektorat: Lisa Heinrich

© Cover- und Umschlaggestaltung: Juliana Fabula | Grafikdesign – www.julianafabula.de/grafikdesign

Unter Verwendung folgender Stockdaten: shutterstock.com: Lukas Gojda | freepik.com

Contents

1.Rike 2.Rike3.Laura4.Rike5.Rike 6.Rike 7.Laura8.Rike9.Rike10.Laura11.Rike12.Laura13.Rike14.Laura15.Rike16.Laura17.Rike18.Laura19.Rike20.Laura21.Rike22.Laura23.Rike24.Laura25.Rike26.Laura27.Rike28.Laura29.Rike30.Laura31.Rike32.Laura33.Rike34.Laura35.Rike36.Laura37.Kali38.Rike39.Rike

Rike

»OhGöttliche,ichbeschwöre dich; komm und segne mich.« Ein Mann mit rabenschwarzen Haaren und kaffeebraunen Augen steht neben mir. Wir befinden uns in einem langgestreckten, reich geschmückten Raum mit gewölbten Wänden, den ich seltsamerweise kenne, obwohl ich ihn noch nie gesehen habe. Dies muss ein Tempel sein, denn ich erhasche einen Blick auf einen Altar voller Blumen und Räucherstäbchen sowie überlebensgroße Statuen von indischen Göttern.

»Ich biete dir ein Leben dar, das deinen Glanz mehren soll. Ihr Blut wird dich nähren, meine Göttin«, intoniert der Mann neben mir in einem gutturalen, getragenen Tonfall.

Tief verneigt er sich vor einer besonders großen Götterstatue mit fast schwarzer Haut und vier Armen. Ich kenne diese Göttin. Es ist Kali. Die dunkle Mutter. Göttin des Todes. Mein Herz gefriert, denn der Mann streckt ihr ein Messer entgegen, als erwarte er, dass sie es nimmt. Doch der Stein ist und bleibt tot. Natürlich. Was auch sonst?

Verzweifelt sehe ich mich um. Was mache ich in diesem Tempel? Wer ist dieser Mann? Und warum bin ich hier? Als sich mein Blick von dem seltsamen Kerl losreißt, stockt mir der Atem. Vor uns liegt ein junges Mädchen, kaum älter als ich, angeschnallt auf einer Bahre. Es starrt mit weit aufgerissenen Augen zu uns hoch. »Bitte nicht. Ich habe Ihnen doch nichts getan.«

Das hier ist ein Ritual voll dunkler, gefahrvoller Magie. Schwarzer Magie. Und ich bin ein Teil davon. Vor Entsetzen stehe ich da wie gelähmt, kann mich nicht rühren.

Sanfter, als man es von einem Mörder annehmen würde, lächelt der Mann dem Mädchen mit dem unschuldigen Gesicht zu und streicht ihm mit der freien Hand das verschwitzte, blonde Haar aus der Stirn. »Nein. Aber es war der Wille der Götter, der dich zu uns geführt hat. Du bist rein und würdig.« Er dreht sich um und geht mit langen Schritten auf mich zu. »Svaaminee, sie ist dein Geschenk.«

Er reicht mir das Messer. Ich will meine Hände wegreißen, doch stattdessen greife ich wie selbstverständlich nach der Waffe und umklammere sie. Das schwere, silberne Messer schmiegt sich regelrecht in meine Hände. Es ist gewunden wie eine Schlange und reich am Griff verziert. Ein ausgesprochen schönes Exemplar. Tödlich ist es trotzdem, wie ich intuitiv weiß. Ich muss nicht mit meinen Händen über die kühle Schneide fahren, um zu ahnen, wie sie meine Haut ritzen würde.

Ich kenne diese Waffe, und zwar seit Anbeginn der Zeit. Das Mädchen vor mir wird gleich ihren schmerzhaften Kuss schmecken. Ich sollte Mitleid haben, doch stattdessen spüre ich eine freudige Erwartung. Ich sehne mich nach dem Blut, das aus ihrem Körper spritzen wird. Ein Teil von mir fühlt ein namenloses Entsetzen, aber der weitaus größere Teil tut meine bohrenden Schuldgefühle achselzuckend ab.

Götter brauchen Opfer. Nur dann sind sie stark und können ihre Macht nutzen, höre ich eine unbekannte Stimme in meinem Kopf. Ich weiß, das bin nicht ich, denn die Stimme klingt viel rauer, kehliger als meine eigene.

Der letzte Rest meines Widerstands erstirbt plötzlich und mein Blutdurst steigert sich ins Unendliche. Kalt und ohne Gnade sehe ich auf das Mädchen hinab. Ihre verzweifelten Blicke irren zwischen dem Mann und mir hin und her, bevor sie sich in meinen versenken.

»Bitte.« Es ist nur noch ein Flüstern.

Ich will das Messer fallen lassen. Aber dieser innere Zwang, den ich nicht verstehe, treibt mich dazu, die Waffe weit über meinen Kopf zu heben. Ich ziele auf das Herz des Mädchens. Darin liegt ihre Lebensenergie, nach der mich dürstet. Mit ruhigem Blick visiere ich sie an, unbeeindruckt von den Tränen, die aus ihren Augen rinnen. Dann ramme ich das Messer in den Brustkorb und schneide ihr das Herz aus dem bebenden, blutenden Körper.

Schreiend erwache ich. Ich brülle so laut, dass meine Ohren klingeln. Zitternd vor Angst blicke ich auf meine Hände und atme auf, weil sie nicht über und über mit Blut besudelt sind. Es war nur ein Traum, beruhige ich mein wild pochendes Herz, das mir nicht glauben will. Nur ein verdammter Albtraum. Auch wenn er diesmal besonders intensiv war.

Schon kommt Mama angerannt, presst mich an sich. »Ist alles gut, Rike? Hast du wieder geträumt?«

Ich entwinde mich der Umarmung, ziehe die Beine an, schlinge die Arme darum. »Nix passiert. Bin nur gegen die Wand gestoßen.« Ich will nicht zugeben, dass ich schon wieder so bescheuerte Träume habe. Zumal nun auch noch Laura den Kopf ins Zimmer steckt. Ich stöhne leise.

»Klar. Deswegen brüllst du die Bude zusammen. Gib doch zu, dass es ein Albtraum war.« Meine perfekte ältere Schwester hebt ihre perfekt modellierten Brauen an. Die tiefblauen Augen ein Bild puren Unglaubens. Und der Genervtheit. »Ich habe morgen oder vielmehr heute einen wichtigen Mathetest. Und ich will keine Versager-Zwei.«

Sie hat natürlich nie schlechte Träume. Ich ständig, seit wir zu meinem sechzehnten Geburtstag eine Rundreise durch Indien gemacht haben. Zu Rikes Wurzeln, wie Mama gesagt hat. Schwachsinn! Bloß weil sie im Ashram rumgepoppt hat, bin ich noch lange keine Inderin. Was sie mir auch echt früher hätte sagen können. Aber letztlich – wen juckt’s? Für mich ist Daniel mein Papa. Zum Glück komme ich kaum nach meinem unbekannten Erzeuger – einem Halbinder, by the way. Womit ich nur zu einem Viertel indische Gene besitze. Meine Haut ist nur ein bisschen dunkler und meine Haare sind schwarzbraun. Aber die Farbe gleicht Papas. Außerdem habe ich Mamas grüne Augen geerbt.

»Ich träume ja nicht mit Absicht schlecht«, murre ich und ärgere mich sofort. Jetzt habe ich es doch zugegeben. Ist ja kein Wunder, dass ich neben der Spur bin. Immerhin weiß ich gerade mal seit ein paar Monaten von meinem Glück.

Laura lächelt überheblich. Aber ich erkenne auch Sorge in ihrem Blick. »Vielleicht solltest du dir helfen lassen.«

»Beim Lala-Doktor?«

»Dann könnte der Rest der Familie wenigstens mal wieder durchschlafen.« So viel zur Selbstlosigkeit.

Ich schnaube. »Kannst du knicken. Geh du doch hin. Wegen Snoberitis. Ich habe gehört, die ist ansteckend.« Mich trifft ein warnender Blick von Mama, aber sie sagt nichts. Das ist der einzige Vorteil, wenn man gerade einen Albtraum hatte – man bekommt so etwas wie Narrenfreiheit.

Was natürlich nicht für Laura gilt. Sie verdreht die Augen. »Oh Mann, du bist unmöglich. Da will man dir mal helfen … Also, ich werde jetzt weiterschlafen. Wenigstens eine von uns muss ja gute Noten haben.« Gähnend dreht sie sich um.

Am liebsten würde ich ihr etwas hinterherwerfen. Immer gibt sie damit an, dass sie schlauer ist als ich. Allerdings merke ich, wie müde ich nach all den durchwachten Nächten bin. Ich habe schon Mühe, die Augen offen zu halten.

Mama lächelt mich sanft an und streicht mir über die Haare, obwohl ich versuche auszuweichen. Aber hinter mir ist eine Wand. »Schlaf gut, mein Schatz.« Nun haucht sie mir tatsächlich einen Kuss auf die Wange.

»Mama, ich bin kein kleines Mädchen mehr.«

»Für mich schon.« Schmunzelnd steht sie auf und geht aus dem Zimmer. Auch wenn ich es nicht zugeben will, so hat ihre Nähe mich beruhigt. Sie vertreibt das Grauen des blutigen Traums. Seufzend schließe ich die Augen, in der Hoffnung, nun von coolen Partys, schnuckeligen Kerlen oder meinetwegen Einhörnern zu träumen. Nur nicht von schwarzen Ritualen für irgendeine indische Göttin.

Mein Herz wummert wie bei einem Metal Konzert. Irre, was für einen Schwung ich mit meinem geilen neuen Skateboard draufhabe. Heute sind endlich die letzten Teile gekommen. Ich habe das Brett selbst zusammengestellt mit einem Deck aus feinstem kanadischem Ahorn, den allerbesten Rollen und Top-Kugellagern. Es reagiert auf jede noch so kleine Verlagerung meines Schwerpunkts. So soll sich Skaten anfühlen! Freiheit pur.

Allerdings muss ich bei dem Speed verdammt aufpassen, dass ich nicht über einen der unzähligen losen Pflastersteine stolpere. Doch ich umschiffe die Stolpersteine spielend. Schwieriger ist das mit den Hipstern, die in Berlin Mitte mittlerweile so präsent sind, dass ich kotzen könnte.

Gerade läuft mir so ein dämliches Pärchen fast vors Board, weil sie lieber auf das iPhone in ihrer Hand starren, als auf die Umgebung zu achten. Wahrscheinlich halten sie nach irgendeinem Szene-Café Ausschau, das in einem Film oder einer Serie vorkommt. Nun bleibt das Mädel auch noch plötzlich stehen, wodurch ich fast in sie hineingefahren wäre.

»Kannst du nicht besser aufpassen, du Schicki-Kuh?«, motze ich, als ich ihr geschickt ausweiche.

»Das ist ein Fußweg und keine Skaterbahn.« Sie stemmt wütend die Hände in die Hüfte.

Ich lache und strecke ihr im Weiterfahren die Zunge heraus. »Zeig mich doch an.«

Aber dazu müsste sie mich einholen. Ich nehme erneut Schwung und sause weiter Richtung Kastanienallee. Hier, wo Szenetypen und Anarchos direkt nebeneinander laufen, kratzt es niemanden, ob ich auf dem Fußweg Skateboard fahre. Ich tippe mit dem Fuß auf den Boden und bekomme sofort mehr Speed. Vor Glück jauchze ich. Ich kann es kaum erwarten, meiner besten Freundin Nele das Teil zu zeigen. Es kommt mir manchmal vor, als seien wir dieselbe Person in zwei Körpern. Wir denken dasselbe, fühlen dasselbe, lachen über dasselbe. So etwas kannte ich bisher nicht.

Dabei hat Nele mich bei unserer ersten Begegnung ganz schön angeschnauzt. Schmunzelnd erinnere ich mich an unser Kennenlernen vor einem Jahr. Damals habe ich am Pappelplatz meine ersten Versuche auf dem Skateboard unternommen. Natürlich hat es mich immer hingesemmelt, sobald ich die Richtung wechseln wollte. Einmal bin ich Nele vor die Füße gefallen. Erst hat sie mich angeranzt. Aber dann hat sie mir gezeigt, wie ich das Gleichgewicht verlagern muss und worauf es beim Skaten ankommt. Seitdem sind wir unzertrennlich, obwohl sie zwei Jahre älter ist. Aber gemeinsames Skaten verbindet mehr als alles andere.

Das laute Glockengeläute am Zionskirchplatz reißt mich aus meinen Erinnerungen. Hastig sehe ich auf die Uhr. So ein Mist! Eigentlich hätte ich schon vor fünfzehn Minuten auf dem Pappelplatz sein sollen. Aber das Zusammenbauen hat länger gedauert als gedacht. Sofort lege ich einen Zahn zu.

Bald schon sehe ich die vertraute Anlage. Der Streetpark ist nicht besonders groß, aber mir reicht das überschaubare Angebot völlig aus. Suchend schaue ich mich um. Wo ist meine Freundin nur? Schließlich entdecke ich Nele, die mit ihren knapp ein Meter sechzig fast unter den anderen Skatern verschwindet. Dafür fällt ihr signalroter Helm umso mehr auf. Gerade springt sie über ein hüfthohes Hindernis in der Mitte, wobei das Brett an ihren Füßen klebt. Sofort spüre ich Neid angesichts ihrer Moves.

Wie gern würde ich diese Bewegungen auch beherrschen, denke ich und seufze leise. Doch ich weiß, bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Im Moment gelingen mir gerade einmal die absoluten Anfängertricks. Vielleicht lerne ich ja mit dem neuen Board ein paar coole Tricks. Mit kraftvollen Stößen kommt Nele auf mich zu. Die Power passt kaum zu ihrer schlanken Figur. Nur das Funkeln der braunen Augen verrät, wieviel Energie in ihrem Körper steckt. Elegant umschifft sie die anderen Skater, wobei ihr manche sehnsüchtige Blicke zuwerfen. Selbst in der Boyfriend-Jeans und dem labberigen, schwarzen T-Shirt ist ihre gute Figur kaum zu übersehen. Wenige Zentimeter vor mir kommt ihr Board zum Stehen.

»Hey, Rike, was geht?« Mit keinem Wort erwähnt sie die Verspätung. Das liegt nicht etwa daran, dass sie höflich sein will. Es ist ihr vielmehr egal. Wenn Nele ihr Brett reitet, bemerkt sie nicht, was um sie herum geschieht.

»Läuft.« Ich kicke das neue Board mit einem Tippen auf die Tail hoch.

Nele wirft einen anerkennenden Blick darauf. »Respekt. Das ist ja mal ein geiles Teil. Heute zusammengebaut?«

Ich nicke knapp und schaue beschämt zu Boden. Dabei spüre ich die Hitze bereits in meinem Gesicht aufsteigen. Oh Mann, nicht schon wieder! Immer wenn ich mich über etwas freue oder mich aufrege, sehe ich aus wie ein Streichholz.

»Na, dann zeig mal, was du damit kannst!«

Ich schiebe meinen Helm zurecht und rolle in die Mitte des Platzes. So unauffällig wie möglich schaue ich mich um, ob Niklas da ist, der unangefochtene König der Berliner Skaterszene. Er beherrscht die schwierigsten Tricks und bestreitet erfolgreich Meisterschaften. Fast jedes Mädchen hier ist mehr oder weniger heimlich in ihn verliebt. Selbst ich stehe auf ihn, obwohl ich das nie zugeben würde.

Unter der Woche dreht er mit seinen Kumpels meist auf dem Pappelplatz seine Runden, weil er genau so wie ich in Berlin Mitte wohnt – nur wenige Häuser entfernt von unserer Wohnung. Bemerkt hat er mich nie, obwohl wir uns schon einige Male beim Bäcker und beim Rewe gesehen haben. Aber ich bin vermutlich zu unscheinbar, um ihm aufzufallen. Außerdem soll Niklas auf Mädels mit Erfahrungen stehen. Und ich habe noch nie einen richtigen Freund gehabt.

Trotzdem kann ich nicht verhindern, dass mein Magen allein bei der Aussicht, Niklas zu sehen, kribbelt. Immer wieder schaue ich mich um, während mir das Herz bis zum Hals schlägt. Dann entdecke ich seinen leuchtend blauen Helm und mein Blick bleibt an seiner durchtrainierten Figur kleben. Er dreht inmitten seiner Jünger seine Runden. So nennt Nele die Clique um ihn herum spöttisch, weil sie jeden seiner Tricks mit frenetischem Jubel kommentieren. Ein bisschen übertrieben finde sogar ich das. Andererseits sehen die Bewegungen bei Niklas hammergeil aus.

Langsam rolle ich an die Rampe heran. Probeweise mache ich ein paar Drehungen, wobei ich kaum glauben kann, wie sensationell das Board reagiert. Gefühlt muss ich nur in eine Richtung schauen und es schwenkt herum. Zunächst versuche ich es mit einem Ollie. Selbst den versemmele ich hin und wieder. Aber heute katapultiere ich mich wie aus dem Lehrbuch in die Höhe, komme mit der perfekten Balance auf und rolle weiter, als wäre ich mit dem Board verwachsen. Ich muss an mich halten, um nicht vor Stolz aufzuschreien.

Nele, die auf einer Bank sitzt und zuschaut, reckt anerkennend beide Daumen in die Höhe. Ich grinse selbstzufrieden. Unwillkürlich schiele ich zu Niklas, der konzentriert trainiert. Jetzt slidet er gerade mit dem Board über den Rand. Natürlich bricht er kaum bei einem einfachen Ollie in Begeisterungsstürme aus! Wieso auch? Er spielt in einer ganz anderen Liga.

Als er in meine Richtung schaut, setzt mein Herz einen Schlag aus. Aber sein Blick wandert weiter, ohne mich zu bemerken. Ich seufze. Vielleicht erlange ich ja seine Aufmerksamkeit, wenn ich einen perfekten Kickflip hinlege? An dem Trick habe ich mich ein paarmal versucht. Mit der alten Gurke bin ich jedoch kläglich gescheitert.

Mit dem neuen Brett stehen meine Chancen sicher viel besser. Und Niklas kommt in meine Richtung! Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und fahre los. Wie zuvor springe ich in die Höhe, wobei es mir gelingt, das Board zu einer Drehung zu bewegen. Als ich es mit den Füßen greifen will, blendet mich etwas und ich stürze wie ein Stein.

Dank des Trainings mit Nele weiß ich, wie ich Verletzungen vermeiden kann. Außerdem trage ich ja einen Helm. Trotzdem wäre ich am liebsten vor Scham im Boden versunken. Wieso muss mir das nur ausgerechnet vor dem coolsten Typen Berlins passieren? Wütend funkele ich eine vorübergehende Geschäftsfrau an, die ihr Smartphone wie eine Waffe hin und her schwenkt.

»Hey, alles okay mit dir?«, fragt eine tiefe Stimme.

Erstaunt blicke ich auf – und sehe in Niklas’ blaue Augen, die aus der Nähe noch mehr strahlen als von weitem.

»Alles cool. Diese dämliche Business-Trulla da drüben hat mich geblendet.« Ich gebe mich betont lässig. Schnell richte ich mich auf und deute auf die Frau, deren Handy zu meinem Sturz geführt hat. »Die denkt wohl, ihr gehört die ganze Welt, nur weil sie so ein komisches Designerteilchen trägt! Dabei sieht es noch nicht mal gut an ihr aus.«

Niklas lacht leise und es klingt so sexy, dass ich schlucken muss. »Guter Style ist halt keine Frage von Kohle.« Sein Blick fällt auf mein Brett. »Steiles Board. Neu?«

Ich nicke, weil ich Angst habe, er wird den albernen Stolz aus meiner Stimme heraushören.

Niklas nimmt den Helm ab und fährt sich mit den Fingern durch seine dunkelblonden Haare, die unfassbar gestylt aussehen, obwohl sie ganz platt sein müssten. Dann grinst er mich an. »Na los, versuch’s noch mal. Die Alte ist weg. Vielleicht kann ich dir ja einen Tipp geben.«

»Ja, äh, das wäre ... echt spitze von dir!« Bis auf einen kleinen Stotterer komme ich zu meiner Verwunderung recht cool rüber. Am liebsten würde ich mich kneifen. Kaum kann ich glauben, dass er sich wirklich mit mir unterhält. Das ist sogar den Sturz wert gewesen!

Niklas zieht seinen Helm auf. Gemeinsam rollen wir los, bis er unvermittelt in die Höhe springt. Sein Brett, auf dem ein grinsender Totenkopf prangt, folgt ihm brav. Es dreht sich einmal in der Luft, dann gleitet es auf den Boden. Natürlich landet Niklas weich, als wäre es das Einfachste auf der Welt.

»Jetzt du!«

Ich zögere kurz. Hundertprozentig bin ich nicht sicher, dass der Sturz nur am aufblitzenden Handy der Business-Tussi gelegen hat. Vielleicht habe ich diesen Move einfach nicht drauf? Aber Niklas’ erwartungsvoller Blick spornt mich an. Tief atme ich durch, schließlich wage ich es.

Wie zuvor tippe ich die Tail genau in der Mitte an, schnelle in die Höhe und das Brett dreht sich. Nun gilt es, das eiernde Ding unter Kontrolle zu bekommen. Ich will keinesfalls wieder stürzen. Sonst hält Niklas mich noch für eine Vollversagerin. Da spüre ich zu meiner Erleichterung das Board. Hart kracht es auf den Boden auf. Beinahe wäre ich heruntergefallen, aber es gelingt mir, mich zu fangen. Ich habe den Kickflip geschafft! Zum ersten Mal. Sofort fühle ich mich, als könnte ich Bäume ausreißen.

Stolz sehe ich zu Niklas, der mir zuzwinkert. »Nicht schlecht für den Anfang. Du musst nur das vordere Bein dichter an die Nose bringen. Und der Fuß sollte etwas schräger stehen.«

Er rollt zu mir, springt vom Board und zeigt mir, wie ich mich auf dem Brett hinstellen soll. »Dieser Fuß muss ganz nah an die Schrauben der Vorderachse. Siehst du – so.« Nun kniet er sich auf den Boden und zieht so lange an meinem Bein, bis der Fuß die richtige Position hat. Mir wird sofort heiß bei dieser unverhofften Berührung.

»So ist es gut.« Er schwingt sich wieder auf sein Brett und führt einen weiteren perfekten Kickflip vor. Langsam rollt er zurück zu mir. »Ist eigentlich ganz easy, oder?«

Zweifelnd sehe ich zu ihm auf. Einfach geht anders. An diesem Trick habe ich mir zuvor oft die Zähne ausgebissen.

Niklas grinst. Anscheinend erahnt er meine Gedanken. »Das klappt schon. Du hast die Moves doch gut raus. Los, versuch es noch mal!«

Mit neuem Selbstvertrauen rolle ich los. Immerhin habe ich den Kickflip ja geschafft; ich muss lediglich die Landung verbessern. Wieder springe ich in die Höhe. Dabei achte ich darauf, die Füße genauso zu halten, wie Niklas es mir gezeigt hat. Damit klappt der Trick fast wie von selbst. Ich lande beinahe so weich wie er.

Vor lauter Begeisterung probiere ich es noch ein paarmal. Niklas rollt zu mir. »Jetzt hast du es raus!« Kurz zögert er, bevor er einen Flyer aus der Hosentasche herausholt. »Wir machen übernächstes Wochenende eine Party. Komm doch vorbei. Du kannst auch eine Freundin mitbringen.«

»Nice. Bin dabei.« Wie durch ein Wunder klingt meine Antwort so lässig wie geplant.

Er tippt zum Abschied kurz an seinen Helm und rollt davon. Atemlos sehe ich ihm hinterher. Kaum zu glauben; ich habe mit ihm gesprochen – ja, er hat mir sogar Tipps gegeben und ist eine Runde mit mir geskatet. Wie abgefahren ist das denn?

»Respekt«, erklingt Neles Stimme neben mir.

Ich zuckte zusammen. Sie muss sich heimlich angeschlichen haben. »Ich sag dir schon lange, dass das Anfänger-Ding nix mehr für dich ist. Mit dem neuen Board klappt’s tausendmal besser. Und jetzt ist sogar Niklas auf dich aufmerksam geworden.«

Täusche ich mich oder schwingt in ihrer Stimme ein Hauch von Eifersucht mit? Prüfend mustere ich meine Freundin, aber ihre Mimik verrät nichts. Sicher bilde ich mir das nur ein. Nele hat schließlich überhaupt kein Interesse an Jungen. Sie steht auf Mädchen. Dennoch kommt es mir so vor, als neide sie mir die Aufmerksamkeit.

»Irre, was ein Sturz zur rechten Zeit bewirken kann.« Wie eine Trophäe halte ich den Flyer hoch. »Schau mal, er hat mich sogar zu einer Party eingeladen!«

»Oh, das ist ja ... nett.« Das klingt eindeutig neidisch.

»Du darfst natürlich mitkommen.«

Bei dem Nachsatz hellt sich Neles Gesicht wieder auf.

»Supi. Da lernen wir sicher coole Leute kennen, die uns ein paar Tricks beibringen können. Außerdem hat die scharfe Blondine, die seit kurzem hier ihre Runden dreht, auch einen Flyer bekommen. Vielleicht geht da mal was.«

Ich grinse. Daher weht der Wind also. Nele will auf die Pirsch gehen. Dagegen hätte ich auch nichts ...

Rike

TiefinGedankenversunken schaue ich zu Niklas, der mit seiner Clique lässig über den Parcours slidet, als auf einmal Lauras vertraute Gestalt erscheint. Während sie sich durch die Skater bewegt, sitzen die langen, goldblonden Locken so perfekt wie bei einer Haarspray-Werbung. Allerdings passt sie mit dem biederen weißen Tellerrock und dem rosa Poloshirt so gut in den Skaterpark wie ein Pickel ins Gesicht einer Braut.

Was will sie bloß hier? Laura betont immer wieder, dass diese Prolo-Szene unter ihrem Niveau sei. Sie trifft sich lieber mit den Schnöseln aus dem Tennis-Club. Ich schnaube. Von mir aus darf das so bleiben. Meine Vorzeige-Schwester steht immer im Mittelpunkt. Neben ihr nimmt mich niemand wahr. Das ist in der Schule so, auf Partys und zuhause sowieso. Nur auf dem Skaterplatz fragt mich keiner nach Lauras Telefonnummer oder will wissen, ob sie einen Freund hat. Auf der Rampe zählen nur das Können und das Board.

Als Laura den Park erreicht, schaut sie sich um. Schließlich entdeckt sie mich und hastet auf mich zu. Dabei achtet sie nicht auf die Skater, die ihre Runden um sie herum drehen. Sie geht einfach mitten durch. Jede andere wäre wüst beschimpft worden. Aber auf Lauras sanfte Schönheit springen alle an. Ein Blick aus ihren meerblauen Augen, ein Lächeln mit wohlgeformten Lippen, schon schweigen selbst die Hartgesottensten. Sogar Niklas wirkt angetan, wie ich mit brennender Eifersucht bemerke. Jetzt pfeift ihr auch noch jemand hinterher. Wütend kneife ich meine Augen zusammen. Katzenaugen, so nennt Nele sie nicht nur wegen der Farbe. Sie findet, dass sie einen in den Bann ziehen.

Meine Schwester runzelt bei dem Pfiff lediglich die Stirn, sieht sich aber nicht einmal um. Solche plumpen Anmachen tropfen einfach von ihr ab. Mit der typischen Mischung aus Verwunderung und Herablassung im Gesicht erreicht sie mich. Niemals würde meine spießige Schwester verstehen, was ich am Skateboarden so liebe. »Da bist du ja, Rike. Du musst dringend nach Hause kommen.« Sie blickt mich von oben herab an. »Papa will mit dir reden.«

Gott, wieso führt sie sich immer wie meine zweite Mutter auf, nur weil sie zwei Jahre älter ist als ich? Ich will schon eine entsprechend genervte Antwort zurückgeben, aber ich habe eine vage Idee, worum es gehen könnte. Heute ist nämlich Elternsprechtag gewesen – und meine Noten sind noch schlechter geworden. Das wird meinen Eltern ganz sicher nicht schmecken, schließlich ist Mama Lehrerin, Papa promovierter Historiker – und in Laura sehen alle bereits die angehende UNO-Generalsekretärin. Es ist zum Kotzen, aus einer Familie von Intelligenzbestien zu stammen!

Auffordernd sieht meine Schwester mich an. »Na los, beeil dich. Papa wirkte nicht sehr begeistert. Wird dieses Jahr wohl nichts mit dem Realschulabschluss, was?«

Der letzte Satz klingt mal wieder echt schadenfroh. Am liebsten würde ich ihr eine reinhauen. Was kann ich denn dafür, dass mir nicht alles so zufliegt wie ihr? »Kann sein«, gebe ich mit zusammengebissenen Zähnen zurück.

Ich nicke Nele zum Abschied knapp zu. Die winkt ebenso kurz, bevor sie sich aufs Board schwingt und zu den anderen Skatern fährt. Laura hat sich derweil umgedreht und stolziert davon, wieder mitten über den Platz. Ich klemme das Brett unter den Arm, muss aber rennen, um sie einzuholen.

Typisch!

Wenige Minuten später erreichen wir unser Zuhause. Wir leben in einem der vielen Altberliner Gebäude aus der Jahrhundertwende, die diesem Bereich von Mitte sein Gesicht verleihen. Die Fassaden sind zwar nicht so prächtig wie an den Touristen-Hot-Spots, aber von innen punkten die Wohnungen durch eine geräumige Aufteilung, hohe Decken und wunderschöne Holzdielen. Ich liebe unser lauschiges Heim, auch wenn es manchmal etwas eng für uns vier ist. Nur einen Fahrstuhl vermisse ich bitter.

Schnaufend erklimme ich die fünf Etagen zum Dachgeschoss. Laura hingegen ist keine Anstrengung anzumerken, sie springt die Treppen leichtfüßig hoch. Anscheinend trainiert Tennis die Ausdauer tatsächlich besser als skateboarden. Viel zu schnell schließt sie die Tür auf und verschwindet in der Wohnung. Als ich ankomme, registriere ich, dass meine Schwester die Ballerinas akkurat in das Schuhregal geräumt hat. Immer die Brave!

Verächtlich pfeffere ich die Turnschuhe in eine Ecke des langgezogenen Flurs, der alle Räume gleichzeitig trennt und miteinander verbindet. Diese Aufteilung gefällt mir. Je mehr Türen zwischen mir und den anderen Familienmitgliedern liegen, desto besser. Danach verstaue ich das Board auf der dafür vorgesehenen Vorrichtung und haste in die Wohnküche, wo ich den Rest der Familie vermute. In dem Raum, der sonst unseren Lebensmittelpunkt darstellt, ist allerdings niemand. Also findet die Unterhaltung im Wohnzimmer statt, an der Essecke, die wir nur selten nutzen, weil die Stühle so unbequem sind. Unwillkürlich runzele ich die Stirn. Das spricht dafür, dass meine Eltern ihre Autorität demonstrieren wollen. Nicht gut.

Etwas langsamer als zuvor gehe ich in die Richtung, in der ich das Tribunal erwarte. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, einfach in mein Zimmer zu verschwinden. Aber es hilft ja nichts, irgendwann muss ich mit ihnen über meine Noten sprechen. Tief durchatmend stoße ich die Tür auf und betrete den Raum, der viel zu klein für den sonst so großzügigen Schnitt der Wohnung ist. Ich mag die gemütliche, helle Küche deutlich lieber.

An dem wuchtigen Tisch, der das Beklemmende des Ganzen noch unterstreicht, sitzen meine Eltern bereits. Die Situation hat etwas von einer richterlichen Anhörung. Zögernd setze ich mich. Mama sieht betreten auf die Tischplatte, während Papa meinen Blick ruhig erwidert.

Eine Weile schweigen sie. Dann räuspert Papa sich. »Wie du weißt, haben wir mit Frau Hoffstadt gesprochen.«

Ich nicke und tue gelangweilt, obwohl ich ahne, dass diesmal mehr als die übliche Gardinenpredigt kommt.

Nun verdunkeln sich seine Augen und er hebt einen Zettel hoch. »Kannst du mir bitte sagen, wieso du in fast allen Hauptfächern auf vier stehst – und in Mathe sogar auf fünf? Du hattest uns versprochen, bis zum Ende des Schuljahres überall auf zwei oder drei zu kommen.«

»Ja, klar, hatte ich. Na und?« Angriff ist die beste Verteidigung. Wobei Papa echt verdammt sauer aussieht.

»Nichts na und. Rike, das war eine Abmachung. Deine letzte Chance.« Seine Stimme hebt sich bedrohlich, was ein untrügliches Signal für einen baldigen Wutausbruch ist.

Trotzdem kann ich es nicht lassen, ihn weiter zu reizen. »Bis zum Sommer ist noch viel Zeit.« Ich zucke betont lässig mit den Schultern. »Macht mal keinen Stress.«

»Keinen Stress?« Jetzt tritt Papas Halsschlager deutlich hervor. Die nächsten Worte brüllt er regelrecht. »Ich glaube, dir ist überhaupt nicht klar, was auf dem Spiel steht! Mit diesem Zeugnis war es das mit einer Versetzung aufs Gymnasium. Damit kannst du Toiletten putzen.«

»Daniel, nicht so hitzig. Immerhin hat Rike gerade äußerst viel zu verarbeiten.« Beruhigend legt Mama ihm eine Hand auf den Arm. Papa schaut sie noch einen Moment böse an, dann schwillt die Ader an seinem Hals langsam wieder ab und er atmet nicht mehr ganz so heftig.

Ich kann mir gerade eben ein verächtliches Schnauben verkneifen. Was gibt es da zu verdauen? Es sind nur Gene, nichts weiter. Aber wenn es hilft, spiele ich mit. Ich versuche, möglichst viel Leid und Schmerz in meinen Blick zu legen.

Mama sieht zu mir und ihr Gesicht wird weich, schuldbewusst. Ein Seufzer entweicht ihr. »Es ist im Moment eine schwere Zeit für dich. Trotzdem hat dein Vater recht. Mit so einem Abschluss hast du wenig Zukunftsperspektiven.«

»Ist mir doch egal.« Ich verschränke bockig die Arme vor der Brust, obwohl ich weiß, dass das falsch ist. Es wäre besser, Reue zu zeigen und Besserung zu geloben. Aber das bringe ich nicht über die Lippen. »Ich will sowieso in einem Skaterladen Klamotten verkaufen.«

Prompt flammt Papas Wut wieder auf. Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. »Verdammt, Rike, langsam reicht es mir! Wir haben es im Guten versucht, aber so kommen wir nicht weiter. Es kann nicht sein, dass wir dir alles durchgehen lassen, bloß weil ...« Er bricht ab, wechselt einen Blick mit Mama, die ihn unglücklich ansieht. »So geht das nicht! Du kannst uns nicht über deine Noten anlügen. Wir hätten dir doch geholfen, damit du besser wirst. Aber wie willst du in drei Monaten das Ruder herumreißen?«

Ich zucke mit den Schultern. »Klappt schon.«

Diese lapidare Bemerkung bringt Papa zum Platzen. »Es wird klappen, weil du dich endlich einmal nur auf die Schule konzentrieren wirst. Die nächsten zwei Wochen wirst du schön zu Hause bleiben und lernen. Keine Verabredungen mit Freundinnen. Keine Partys. Und kein skaten.«

»Das kannst du nicht machen! Da kannst du mich gleich einsargen. Skaten ist mein Leben.« Kalte, nackte Angst flammt in mir auf. Was mache ich ohne mein Board?

»Genau das ist das Problem.« Seine Kieferknochen mahlen. »Du konzentrierst dich so sehr darauf, dass dir alles andere egal ist. Damit ist jetzt Schluss, Fräulein.«

Entsetzt huscht mein Blick zwischen meinen Eltern hin und her. Noch mehr als Papas harte Miene verrät die Betretenheit in Mamas Gesicht, wie ernst sie es meinen. Eine eiskalte Faust greift nach meinem Magen und ich verlege mich auf Betteln. »Bitte macht das nicht.« Aus weit aufgerissenen Augen sehe ich sie an, mein Blick flackert. »Ich lerne auch jeden Tag und schreibe nur noch Einsen. Versprochen! Aber bitte, bitte lasst mir mein Board und meine Freunde.« Nun kämpfe ich sogar mit den Tränen. »Bitte ... nein ... Wie soll ich denn ein Leben ohne Skaten aushalten? Gerade jetzt?«

In Mamas Gesicht blitzt Verständnis auf und ich schöpfe Hoffnung. Dann schüttelt Papa den Kopf. »Tut mir leid, Rike. Das hast du schon oft versprochen. Und was ist passiert? Nichts.« Er sieht mich gleichzeitig bittend und streng an. »Es ist zu deinem Besten. Das musst du verstehen.«

Mit diesen Worten steht er auf und geht zum Flur. Ich folge ihm panisch, weil mich eine üble Vorahnung überfällt. Er wird doch nicht ... Schon greift Papa zum Skateboard und nimmt es an sich. »Das kommt weg. Du kriegst es erst zurück, wenn deine Noten wieder besser sind.«

»Du bist so ein Arschloch«, schreie ich in voller Lautstärke. Wie kann er es nur wagen, mir mein brandneues Board wegzunehmen?

»Rike!« Mamas Gesicht verzieht sich vor Entsetzen. Das Mitleid, das bis eben noch darin gelegen hat, ist verschwunden. »Dafür entschuldigst du dich. Sofort!«

Natürlich weiß ich, dass ich zu weit gegangen bin. Aber ich kann nicht anders, der Zorn rast in mir, lässt mich weiterbrüllen. »Ich denke gar nicht daran! Papa soll mir mein Skateboard wieder geben. Das habe ich bezahlt.«

»Mit Papas Geld. Also hat er ein gewisses Mitspracherecht«, lässt sich Laura vernehmen, die gerade lässig über den Flur schlendert.

Was will die blöde Kuh denn hier? Wahrscheinlich live dabei sein, wenn sie mich zur Minna machen. »Das geht dich gar nichts an, du dämliche Biedermann-Barbie.«

»Na, ein bisschen schon. Ihr seid so laut, dass ich nicht lernen kann.« Sie seufzt gespielt dramatisch.

»Siehst du, Rike. Laura lernt, statt sich mit irgendwelchen komischen Freunden zu treffen.« Stolz lächelt Papa seine Lieblingstochter an, bevor er sich finster an mich wendet. »Nimm dir mal ein Beispiel an deiner Schwester.«

Das bringt das Fass zum Überlaufen. »Immer geht es euch nur um Laura. Ich bin euch völlig egal. Bloß weil ich nicht dein leibliches Kind bin. Das ist so unfair. Ich hasse euch alle!« Den letzten Satz brülle ich so laut, dass meine eigenen Ohren davon klingeln. Zornbebend drehe ich um und renne zum Flur. Dort schnappe ich mir meine Sneakers, bevor ich wie der Blitz aus der Tür flitze. Ich bekomme noch mit, dass Laura mir etwas hinterher ruft, aber das überhöre ich geflissentlich. Im Moment will ich niemanden aus dieser Familie sehen und am wenigsten diese selbstherrliche Kuh.

Laura

DieWohnungstürkrachtso heftig ins Schloss, dass die Deko auf dem Schuhschrank scheppert. Ich verdrehe die Augen. Das ist mal wieder typisch Rike! Anstatt sich dafür zu entschuldigen, dass sie vielleicht sitzenbleibt, sucht sie Ausreden. Wie ihre Abstammung – die mich auch ziemlich überrascht hat. Uns beide. Aber Papa liebt sie deswegen nicht weniger, was sie eigentlich wissen sollte. Und ich kann nun wirklich nichts für ihr schulisches Versagen. Es ist schließlich ihre eigene Schuld, wenn sie zu viel Zeit mit ihren unmöglichen Skaterfreunden verplempert. Mehr als Kohle vom Amt erwarten die meisten von denen eh nicht von ihrem Leben.

Das ist für jemanden wie Rike, die mehr auf die Meinung der Freunde hört als auf die Ratschläge von Eltern und Lehrern, tödlich. Vor allem diese Nele, für die es nichts außer ihrer Skaterwelt gibt, bringt sie auf eine ganz falsche Spur.

»Na, toll. Jetzt hat Rike es geschafft, uns allen den Abend zu versauen.« Ich rümpfe meine Nase.

Mama sieht mich strafend an. »Du hättest sie nicht noch anstacheln müssen. Du weißt doch, wie sie ist. Und was sie gerade durchmacht.« Ein tiefer Seufzer.

»Ach so. Jetzt ist Rikes Trotzkopf also mal wieder meine Schuld?« Säuerlich verschränke ich die Arme vor der Brust. Ich verstehe einfach nicht, wieso ich ständig eine Teilschuld an Rikes Eskapaden bekomme. Sobald sie etwas anstellt, heißt es immer, ich hätte das verhindern müssen.

»Du bist nun einmal die Vernünftigere«, holt Mama die ewige Leier aus der Schublade. »Außer, wenn es um Rike geht. Es scheint dir regelrecht Freude zu bereiten, sie zum Ausflippen zu bringen.«

Ein bisschen Recht hat sie schon, daher blicke ich schuldbewusst zu Boden. Hin und wieder macht es mir tatsächlich Spaß, meine impulsive Schwester zu reizen, in der Hoffnung, Mama würde wenigstens einmal zu mir halten. Aber nein, ständig ermahnt sie mich, ich soll vernünftig sein und mich zurückhalten. Gott, manchmal würde ich auch gerne ausflippen wie Rike! Damit wäre niemandem geholfen. Also schlucke ich meine Wut und meine Enttäuschung herunter. »Es tut mir leid. Das kommt nicht wieder vor.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, schaltet sich nun Papa ein. Seine Miene ist immer noch verkniffen und auf der Stirn steht eine steile Falte. Kein Wunder bei all dem, was Rike gerade mal wieder vom Stapel gelassen hat. »Sie muss lernen, dass ihr Verhalten Konsequenzen nach sich zieht. Wir können nicht zulassen, dass sie ihr Leben wegwirft.«

»Natürlich. Und es war gut, dass du ihr das klar gemacht hast«, unterstützt Mama ihn hastig. Dann erscheinen Sorgenfalten auf ihrer ansonsten fast glatten Stirn. »Aber du hättest Laura nicht als Vorbild ins Spiel bringen sollen. Du weißt doch, wie Rike darauf reagiert.«

Ich verdrehe die Augen. »Genauso wie auf jede andere Ermahnung. Ehrlich, Mama, Rike flippt ständig aus. Ich verstehe nicht, warum du sie immer in Schutz nimmst.«

»Weil sie jemanden braucht, der hinter ihr steht. Obwohl sie das gar nicht zu bemerken scheint.« Mamas Gesichtsausdruck wird traurig, wie so oft, wenn wir über Rike und ihr explosives Temperament reden.

Ich gehe zu ihr hinüber, um sie zu drücken. »Sie ist so sehr auf ihre vermeintlich schlechte Position fixiert, dass sie nichts wahrnimmt. Das war früher schon so. Und jetzt erst recht. Dabei hatte ich gehofft, wir könnten mal wieder einen Familienabend machen. Ich habe nämlich nichts vor.«

Das stimmt zwar nicht, aber ich will Mama eine Freude bereiten. Ich weiß schließlich, wie sehr sie es liebt, wenn wir Zeit miteinander verbringen.

Tatsächlich verschwinden die Sorgenfalten und ihr Gesicht klart sich auf. »Wirklich? Hast du Lust auf eine Runde Monopoly?«

Ich nicke und nehme mir in Gedanken vor, Sophie abzusagen, die eigentlich mit mir ins Kino wollte. Aber das ist jetzt wichtiger. Mama dreht sonst noch vor Sorge durch. Wer weiß schließlich, wann Rike wieder zuhause auftaucht?

Rike

Barfußrenneichdie Treppen hinunter, als verfolgen mich sämtliche Teufel der Hölle. Erst als die Tür hinter mir ins Schloss fällt, ohne dass ich Schritte hinter mir höre, halte ich kurz an, um in die Schuhe zu schlüpfen. Danach haste ich weiter, nicht mehr ganz so schnell wie zuvor, aber dennoch zügig genug, um etwaige Verfolger abzuhängen.

Immer Laura hier, Laura da. Sie macht alles besser, ist klüger, schöner, sportlicher und fleißiger als ich. Wie sehr ich das hasse! Es gibt nichts, worin Laura mich nicht toppt. Das Skaten ist der einzige Bereich, in dem sie noch nicht versucht hat, mir das Wasser abzugraben. Wahrscheinlich liebe ich es deswegen so, das Brett unter meinen Füßen zu spüren.

Kurz denke ich darüber nach, zurück zur Skaterbahn zu gehen. Vielleicht ist Nele noch da. Sie versteht immer gut, wie ich mich fühle. Denn sie ist ohne Abschluss von der Schule gegangen, während ihr älterer Bruder eine Klasse übersprungen hat und bald seinen Doktor in Chemie macht. Hell, ich weiß gerade einmal, dass es Atome und Moleküle gibt, habe aber keinen blassen Schimmer, wozu die so genau gut sind.

Wie gerne würde ich mit Nele quatschen! Aber wenn Mama und Papa mich irgendwo suchen, dann sicher dort. Außerdem – was soll ich ohne Board auf dem Platz? Wie konnte Papa nur! Wütend trete ich nach einem Stein, der auf dem Gehweg liegt, anscheinend nur darauf wartend, meinen Zorn abzubekommen. Mit unerwartetem Speed schießt er in die Höhe und hätte beinahe einen kleinen Jungen getroffen. Seine Mutter, die ihn an der Hand hielt, starrt mich böse an, als ob ich mit Absicht auf ihn gezielt hätte.

»Tut mir leid«, murmele ich.

Der Junge hingegen grinst und greift nach dem Stein. »Darf ich damit spielen?«

»Klar.« Der Kleine lacht mich glücklich an und kickt seinen neuen Schatz mit einer Power über den Fußweg, als wolle er Haaland Konkurrenz machen.

Ich lächele, erleichtert, dass zumindest er mir den Beinaheunfall nicht übelnimmt. Um mich irgendwie abzulenken, marschiere ich zur nächsten Haltestelle und steige in die erstbeste Bahn. Ziellos fahre ich durch die Gegend. Ich nehme das Handy und versuche, mit harten Punkrock-Beats Papas anklagende Worte zu vertreiben. Doch ich höre ihn trotzdem in Dauerschleife in meinem Kopf.

Laura lernt, statt sich mit irgendwelchen komischen Freunden zu treffen. Selbst in seiner Gedankenstimme höre ich die Anklage und die bittere Enttäuschung heraus. Das bin ich doch für alle: eine grenzenlose Enttäuschung. Wäre es anders, wenn ich seine leibliche Tochter wäre? Als ob ich etwas dafür kann, dass Mama ihre Triebe nicht unter Kontrolle hatte! Auf sie sollte er sauer sein, nicht mich.

Ich drehe die Lautstärke weiter auf, um ihn aus meinem Kopf zu verreiben. Es geht nicht.

Nimm dir mal ein Beispiel an deiner Schwester.

Erst auf vollster Stufe verstummt Papas Stimme endlich und ich sehe zu, wie die Welt am Fenster vorbeizieht. Der Zug rattert einmal bis zum Wannsee und anschließend nach Oranienburg. Ich bleibe einfach sitzen, lausche meiner Lieblingsband und störe mich nicht an all den Spießern, die den Kopf über meine Musik schütteln, die trotz der Kopfhörer durch die Bahn schallt. Mamas und Papas eingehende Anrufe ignoriere ich geflissentlich.

Dafür schreibe ich Nele Nachrichten über Whats-App, in denen ich von dem Streit berichte. Aber von meiner Bestie kommt keine Antwort. Erst bin ich angefressen, bis mir einfällt, dass sie heute beim Geburtstag ihrer Tante ist. Und die vertritt die seltsame Ansicht, Handys hätten nichts im Restaurant zu suchen. Wer erwischt wird, wie er oder sie mit seinem Gerät herumspielt, muss ein Gedicht aufsagen oder ein Lied singen. Kein Wunder, dass Nele das vermeiden will.

Allerdings frage ich mich, wie man ohne Memes, Reels oder Nachrichten die volle Dosis Familie aushalten soll. Seufzend stecke ich das Handy wieder in die Bauchtasche von meinem Hoodie und starre weiter aus dem Fenster.

Als die Bahn erneut am Wannsee ankomme, tut mir so langsam der Hintern weh. Außerdem knurrt mein Magen, immerhin habe ich wegen des Streits nichts gegessen. Mittlerweile ist es schon fast zehn. Ich beschließe auszusteigen und zu schauen, was es hier gibt. Leider klappt man hier in Spießerhausen die Bordsteine unter der Woche früh hoch, mehr als die Hälfte der Restaurants sind bereits zu und die übrigen Läden sehen viel zu teuer aus. Zumal sich auf meinem Konto fast keine Kohle mehr befindet, weil alles für das neue Board drauf gegangen ist.

Vermutlich wäre es besser gewesen, wenn ich bis Mitte weitergefahren wäre. Dort herrscht auch werktags bis in die Nacht hinein reges Treiben. Ich ärgere mich schon über mich selbst, will aber nicht mehr zurück zur Bahn laufen. Bis ich in Mitte wäre, hinge mir der Magen in den Kniekehlen. Außerdem erhasche ich aus dem Augenwinkel ein Lokal, das anscheinend noch aufhat.

Om Shanti Om steht auf einem silbernen Schild in verschnörkelten Lettern. Das klingt indisch. Oh Mann, warum hängt mir das nur gerade alles nach? Allerdings läuft mir alleine beim Gedanken an ein schönes, scharfes Curry das Wasser im Munde zusammen. Als ich eintrete, stelle ich fest, dass dieser Laden ganz und gar nicht den indischen Lokalen ähnelt, die ich sonst kenne. Dort finden sich meist hinduistische Götterfiguren oder Bilder von ­Tempeln.

Dieses Restaurant präsentiert sich lässig im Industrial Style, mit rauen Holztischen, Schwingstühlen mit tabakbraunem Lederbezug und Eisengestellen sowie überproportional großen Glühbirnen, die von Stahlstreben herabbaumeln. Statt Götterstatuen hängen an den verklinkerten Wänden Poster von Bollywood-Stars.

Ich mag die außergewöhnliche Atmosphäre, obwohl - oder vielleicht gerade weil - kein weiterer Gast hier ist. Nur der Barkeeper sieht mich gleichermaßen erstaunt und erfreut an. »Hallo, Rike. Schön, dich wiederzusehen.« In seiner melodischen Stimme schwingt nur ein leichter indischer Akzent mit, der sehr süß klingt.

Das ist Amal, mit dem Laura und ich früher Tennis gespielt haben. Als ich dachte, dass ich mich anpassen müsste. Und er sieht immer noch heiß aus! Mit diesen schwarzen Haaren, dem markanten Gesicht und dem sensationellen Lächeln, das er mir gerade schenkt. Damals hatte ich für ihn geschwärmt. Aber nach Flirten steht mir heute echt nicht der Sinn.

»Hi«, erwidere ich die Begrüßung lapidar und steuere den hintersten Tisch an. Dort werfe ich mich auf eine weiß gepolsterte Sitzbank, den Blick stur aus dem Fenster gerichtet. Durch die spiegelnde Glasfläche erkenne ich, dass Amal mich einen Augenblick verwirrt ansieht, bevor er sich achselzuckend eine Karte greift und damit zu mir kommt.

Plötzlich verschwimmt das Bild im Fenster, verwirbelt wie Wasser, das durch einen Ablauf fließt. Kurz darauf wird es wieder klar. Allerdings ­erblicke ich nicht länger mich selbst, sondern eine Figur mit dunkler, fast schwarzer Haut, vier Armen und ­einem flammenden Haupt.

Kali! Wirken die verdammten Träume etwa immer noch in mir nach? Ich schlage die Hände vor das Gesicht und die Figur im Fenster tut es mir nach. Entsetzen kriecht in mir hoch und mir wird eiskalt. Was geht hier vor sich? Werde ich verrückt? Warum habe ich auf einmal Halluzinationen?

Ich werfe Amal einen hilfesuchenden Blick zu, der mich mit zusammengezogenen Augenbrauen mustert. Hat er das Bild in der Scheibe etwa auch gesehen? Schnell schaue ich erneut zum Fenster, das nur noch mein vertrautes Gesicht widerspiegelt. Sicherlich habe ich mir das eben nur eingebildet. Natürlich! Der Stress war wohl zu viel gewesen. Der blöde Streit halt. Erleichtert atmete ich aus.

Amals wachsamer Ausdruck verschwindet. Stattdessen lächelt er herzlich und reicht mir die Karte. »Und, wonach steht dir der Sinn? Allerdings hat die Küche eigentlich schon zu. Du hast also nicht mehr viel Auswahl.«

Ich nehme die Speisekarte an mich, immer noch völlig perplex wegen meiner seltsamen Halluzination. »Das ist okay, ich habe eh kaum Hunger. Was gibt es denn?«

»Wie wäre es mit Samosas? Die sind schnell gemacht.«

»Klingt gut, die nehme ich.« Ohne auch nur einmal hineingesehen zu haben, schließe ich mit einem Ruck die Karte. »Und vorher einen Chai Latte, bitte. Zum Warmwerden.« Ich schüttele mich.

Amal lacht, ein tiefes, kehliges Lachen. »Du solltest auch nicht in so dünner Kleidung ­herumlaufen.«

»Danke, Papa.« Finster starre ich ihn an. Bloß weil er zwei Jahre älter ist, muss er mir keine dämlichen Erwachsenensprüche an den Kopf werfen. Ich weiß selbst, dass es zu kalt ist, um nur mit Hoodie und Shorts durch die Gegend zu rennen. Aber ich hatte halt keine Zeit gehabt, eine dickere Jacke überzuwerfen, während ich die Flucht vor meiner Familie ergriffen habe.

Ich nehme das Telefon wieder aus der Bauchtasche, um zu checken, ob Nele endlich zurückgeschrieben hat. Leider Fehlanzeige. Vermutlich ufert der Geburtstag in der handyfreien Zone ihrer Tante aus. Dafür hat Mama mehrere Nachrichten geschickt. Die Ersten klingen reichlich angefressen, die Letzten besorgt.

»Rike, bitte melde dich doch«, steht dort. »Lass mich mit Papa reden, wir finden bestimmt eine Lösung. Aber ich muss wissen, dass es dir gutgeht. Wo bist du nur?«

Seufzend lasse ich das Gerät sinken. Eigentlich wollte ich die Nacht bei Nele verbringen, um meinen Eltern einen Denkzettel zu erteilen. Aber das fällt nun flach. In ein Hotel kann ich auch nicht gehen, dafür reicht die Kohle nicht. Also ab zu Mutti und Papi und mich entschuldigen? No way!

»Na, Stress zuhause gehabt?«

Vor lauter Schreck zucke ich zusammen. Ich habe gar nicht gemerkt, wie Amal sich genähert hat, so leise bewegt er sich. Geschickt stellt er mir den Chai Latte vor die Nase und mustert mich voller Anteilnahme.

»Hast du etwa mitgelesen?«

»Natürlich nicht. Aber dein Gesichtsausdruck spricht Bände.« Ohne mich zu fragen, setzt er sich zu mir, ein Glas Wasser in den Händen haltend. »Was ist los? Mal wieder über Laura geärgert?« Auch beim Tennis hat meine Schwester es nie lassen können, mich vor anderen vorzuführen, was so manches Mal in einem Streit endete.

»Das sowieso. Vor allem über meine Eltern. Ich kann es ihnen einfach nie recht machen.« Wütend beiße ich mir auf die Lippen, aber auch das bringt meinen Redeschwall nicht zum Stoppen. »Sicher wünschen sie sich, sie hätten nur ein Kind. Wenn sie könnten, würden sie mich abgeben.«

»Sag sowas nicht.« Amal sieht mich eindringlich an. »Sie lieben dich sehr. Das hat man immer gemerkt.«

Ich schnaube. »Ach ja? Und warum sind sie nie zufrieden mit dem, was ich mache? Ich soll mir ja ein Beispiel an Laura nehmen.« Dabei ahme ich Papas Stimme nach, aber mein Herz sticht und zwickt. Es ist so unfair, dass ich nie gegen meine perfekte Schwester ankomme. »Heute haben sie mir sogar meine Freunde verboten. Und mein Skateboard.«

»Das tut mir leid. Wie ist es denn dazu ­gekommen?«

Ernsthaft? Glaubt er wirklich, ich würde mit ihm über meine Sorgen sprechen, bloß weil wir uns von einigen Tennisstunden kennten? Ich will ihm schon verklickern, dass ihn das gar nichts angeht. Aber das Mitgefühl in Amals sanften, braunen Augen ist zu verlockend, seine Nähe zu verwirrend. Sie sendet mir leise Schauer über den ganzen Körper. Beinahe gegen meinen Willen erzähle ich ihm von dem Streit und Lauras unverschämter Einmischung.

Gerade als ich fertig bin, kommt ein älterer Herr, dessen Haut deutlich dunkler ist als Amals, und bringt das Essen an den Tisch. Er mustert mich seltsam eindringlich. Ist es so selten, dass sich Fremde hierher verirren? Oder sieht er mir meine Mischlingsherkunft an? Kann er indische Gene wittern, so wie ein Spürhund Drogen riecht? Ich stelle ihn mir sofort vor, auf allen vieren, lauernd, schnuppernd. Bei dem Gedanken breche ich beinahe in Gelächter aus. Ich beiße mir auf die Unterlippe, um ernst zu bleiben.

»Danke, Onkel Mahesh.« Amal nickt ihm dankbar zu. »Ich leiste unserem letzten Gast Gesellschaft. Das ist übrigens Rike. Ich kenne sie von früher ... Vom Tennisclub.«

Ach, deswegen sieht er mich so an. Er will wissen, mit wem sein Neffe hier faulenzt, anstatt zu arbeiten. Ich zwinge mich zu einem höflichen Lächeln. »Guten Abend.«

»Namaste, Rike. Es ist schön, dich kennenzulernen.« Dabei beugt Mahesh, dessen indischer Akzent viel stärker ist als der von Amal, sich vor. Schmunzelnd wendet er sich an seinen Neffen. »Ich schließe ab und mache alleine in der Küche sauber. So lange könnt ihr miteinander reden. Du kannst ja danach ins Haus kommen.«

»Danke, Onkel.«

Ich sehe zu, wie der gebrechlich wirkende Mann hinter der Schwingtür verschwindet. Kaum kann ich mir vorstellen, dass er Amals Onkel sein soll. Ich werfe ihm einen prüfenden Blick zu, sage aber nichts, sondern stecke mir schweigend das erste Samosa in den Mund. Die Teigtaschen sind kross frittiert. Sie zerbröseln zwischen meinen Zähnen und setzen ihr köstliches Innenleben frei. Dieser ist mit exotisch gewürzten Erbsen gefüllt. Verzückt genieße ich das Aroma.

»Falls du es wissen willst – Mahesh ist nicht mein echter Onkel, sondern mein Großonkel. Aber das klingt so sperrig.« Amal grinst mich an.

»Und wieso wohnst du bei ihm?« frage ich ihn, während ich mir einen weiteren Samosa nehme.

Als Amal die Lippen zusammenpresst, wünsche ich mir, ich hätte nicht gefragt. Es ist sicher kein guter Grund, dass er nicht bei seiner Familie lebt. Ich überlege, ob ich die Frage irgendwie zurücknehmen kann.

Aber da antwortet er schon mit leiser Stimme: »Meine Eltern starben bei einem Attentat, als ich klein war. Meine Großeltern wollten mich zu sich nehmen. Onkel Mahesh meinte allerdings, ich sollte lieber zu ihm nach Deutschland kommen. Hier wäre es viel friedlicher. Meine Heimat Gujarat ist ...« Er lässt den Satz verklingen und seufzt tief, wobei sich sein Blick trübt. »Nun, es gab viel Hass zwischen Moslems und Hindus. Deshalb haben meine Großeltern sein Angebot nur zu gern angenommen.«

Erschüttert blicke ich zu ihm auf. Es muss schlimm sein, die Eltern bei einem so furchtbaren Ereignis zu verlieren. Gerne würde ich Amal etwas Aufmunterndes sagen, weiß aber nicht, was. Nimm’s leicht, das wird bestimmt schon wieder, wäre mehr als unangemessen. Ich räuspere mich. »Es ist sicher gut, dass du hierhergekommen bist.«

Amal macht mit seinem Kopf eine Bewegung, die irgendwo zwischen Kopfschütteln und einer angedeuteten Acht lag. Es dauert eine Weile, bis ich raffe, dass das die indische Version des Nickens darstellt.

»Es vergeht kein Tag, an dem ich Shiva und Vishnu nicht dafür danke, hier leben zu dürfen. Ich bin glücklich mit der Situation, wie sie jetzt ist.« Ernst sieht er mich an. »Das solltest du auch sein. Du magst dich über deine Eltern ärgern. Aber immerhin geht es ihnen gut. Und sie sorgen sich um dich. Außerdem – vielleicht haben sie sogar recht.«

»Womit? Dass ich nichts kann?« Ich versuche zu scherzen, damit er nicht merkt, wie verletzt ich bin.

»Das meine ich nicht und das weißt du.« Amals Gesicht verliert nichts von seiner Ernsthaftigkeit. »Es ist wichtig, einen guten Abschluss zu haben. Vielleicht solltest du dich mehr aufs Lernen konzentrieren. Zeig ihnen, was in dir steckt!«

Genervt starre ich ihn an. Solche Spießerparolen kenne ich sonst nur von Laura und meinen Eltern. Nele und meine Skaterfreunde pfeifen auf Abschlüsse und Noten. Allerdings ... will ich wirklich mein späteres Leben mit miesen Jobs bestreiten? Oder von der Stütze leben? Beides nicht mein Ding. Trotzdem gibt ihm das nicht das Recht, mich anzugreifen. »Ach was. Und wie steht es mit dir? Ist das dein Traum?«

Er lächelt. »Das ist er tatsächlich. Ich wollte schon immer einen coolen, indischen Laden haben.«

»Ist ... ist das dein Geschäft?«

»Zur Hälfte. Ja. Meine Eltern haben mir ein wenig Geld hinterlassen. Mahesh und ich betreiben es gemeinsam. Du siehst also, vor dir steht ein erfolgreicher Geschäftsmann.«

Dabei wirft er sich so in Pose, dass ich lachen muss. Dann werde ich wieder ernst. »Damit machst du das, was du liebst.« Gedankenverloren nehme ich mir noch einen Samosa. Diesmal erwische ich einen mit Blumenkohl. Mjam! Genüsslich verschlinge ich ihn.

Amal lächelt vor sich hin. »Das kann man so sagen. Aber ich will später trotzdem studieren, um eine solide Basis zu haben. Was magst du denn?«

»Skaten.« Ich rufe es wie aus der Pistole geschossen. Nichts auf der Welt gibt mir ein so gutes Gefühl.

»Bist du so gut, dass du damit Geld verdienen kannst?« Seine Stimme verrät keinen Spott, sondern reines Interesse.

Verwunderte sehe ich ihn an. Diese Frage hat mir noch keiner gestellt. Alle versuchen sonst, mir die vermeintliche Spinnerei auszureden. Aber für Amal scheint dies ein möglicher Lebensentwurf sein. Ich seufze. »Leider nein. Mein Talent reicht mal gerade für ein paar Tricks.«

»Glaubst du denn, du wirst jemals so gut werden?«

Es verwirrt mich, wie ernsthaft er sich damit auseinandersetzt und mich dadurch dazu zwingt, es ebenfalls zu tun. Eigentlich habe ich viel zu spät mit dem Skaten angefangen, um jemals ganz vorne zu sein. Niklas könnte sein Hobby zum Beruf machen, so gut wie er fährt. Aber ich nicht. Ich zucke mit den Achseln. »Ist unwahrscheinlich.«

»Na, dann brauchst du Plan B.« Er nimmt einen großen Schluck von seinem Wasser.

Einen Plan B. Ja, den muss ich mir unbedingt überlegen. Ich schiebe mir ein weiteres Samosa in den Mund und verputze es, während ich nachdenke. »Ich wollte früher gerne Webdesignerin werden«, murmele ich schließlich.

»Und warum jetzt nicht mehr?«

Ich spiele mit dem Besteck. »Das packe ich eh nicht ...«

»Aber wieso denn?« Amal sieht mich verständnislos an. »Du bist klug und einen guten Geschmack hast du auch.« Er deutet auf meine Klamotten. »Du hast einen eigenen Stil, passt dich nicht an. So etwas wird gesucht.«