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Dein Blut ist ihr Leben. Ihr Tod ist deine Freiheit. Sanijas Welt ist streng geteilt. Eine Seite gehört den Menschen, die andere den Arboranos: riesigen Bäumen mit einem Bewusstsein. Sie wandern auf ihren Wurzeln umher, in ihrem Reich sind Menschen entweder Sklaven oder Dünger. Nachdem der Anführer Mouwka den Befehl gibt, Sanijas Heimat anzugreifen, wobei die Hälfte ihres Dorfs ums Leben kommt, beherrscht sie nur noch ein Gedanke: Rache. Gemeinsam mit einigen Überlebenden lehnt sie sich gegen Mouwka und sein Gefolge auf. An ihrer Seite kämpft Matinion, mit dem sie aufgewachsen ist, als wären sie Geschwister, den sie aber heimlich liebt. Während die Arboranos alles daransetzen, ihre blutige Ordnung zu erhalten, entdeckt Sanija, dass nicht alles ist, wie es scheint. Die Wurzeln des Widerstands sprießen – und der Kampf um die Freiheit beginnt.
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Seitenzahl: 608
Veröffentlichungsjahr: 2025
1.Auflage,2025
© Alea Libris Verlag, Wengenäckerstr. 11, 72827 Wannweil
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Juno Dean
Korrektorat: Lisa Heinrich
© Cover- und Umschlaggestaltung: Juliana Fabula | Grafikdesign – www.julianafabula.de/grafikdesign
Unter Verwendung folgender Stockdaten: shutterstock.com: Lukas Gojda | freepik.com
ISBN: 9783988270603
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Alle Figuren dieses Romans sind von der Autorin frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären reiner Zufall. Auch alle beschriebenen Ereignisse entspringen gänzlich dem Reich ihrer Fantasie.
Content Notes:
Tod von geliebten PersonenVersklavungMonsterrattenMordende BäumeBlut
IhrBewohnerZaniras,hört gut zu und vergesst niemals: Unsere Welt ist kein sicherer Ort, sondern voller Gefahren. Die schlimmsten sind unsere hölzernen Feinde, die Arboranos, denn so wie der Mensch Tiere jagt, machen die Todesbäume Jagd auf uns. Sie brauchen unser Blut für ihr Überleben. Wehe den Unglücklichen, die sie in ihre gierigen Zweige bekommen!
In den dunklen Zeiten, bevor unsere Welt in das Baumreich und das Menschenreich geteilt wurde, schlachteten die Arboranos ganze Dörfer und Landstriche ab. Sie tränkten ihre Äcker in Blut und labten sich daran. Doch der göttliche Krana stand uns in seiner Güte bei und strafte sie für ihre Überheblichkeit, denn wer nimmt, muss auch geben. Die Todesbäume jedoch nahmen nur.
Kranas Zorn zwang die Arboranos zum Frieden mit den Menschen. Doch er gebar auch das Feuer – die lodernde Bestie, die heimtückisch aus dem Nichts kommt und nur einen Zweck kennt: alles Leben zu verschlingen. Seit jenen Tagen entfesselt Krana jedes Mal den Feuerdämon, wenn seine Wut herausbricht. Die Bestie tötet alles, was sich ihr in den Weg stellt, denn der Schöpfer kann sie zwar rufen, aber nicht kontrollieren. Das Feuer kennt kein Erbarmen, sondern nur Hunger. Es nimmt sich, was es will und hinterlässt Asche, Schmerz sowie das Echo verlorener Leben.
Fürchtet das Feuer genauso sehr wie die Todesbäume. Fürchtet beide und flieht, wenn ihr leben wollt!
LautesKreischenerklanginmitten der Nacht und weckte Matinion. Einen Moment lang verstand er nicht, was draußen vor sich ging. Dann gellten die nächsten Schreie: noch schriller, noch lauter, noch verzweifelter. Sein Herz krampfte sich zusammen. Das waren unverkennbar Rufe der Todesangst. Obwohl er erst acht Jahre alt war, konnte er schon zwischen leichter Furcht und blankem Entsetzen unterscheiden.
Sofort sprang Matinion auf und rannte zu seinen Eltern, die sich ruhig anzogen.
»Mama, Papa … Sie kommen. Die Todesbäume.«
Sein Vater nickte ernst, während er sich den Schwertgurt anlegte. »So ist es, mein Sohn. Ich werde versuchen, den anderen zu helfen. Das ist meine Aufgabe als Anführer. Aber du, Matinion, du musst dich in Sicherheit bringen.«
»Ich will auch helfen.«
Sein Vater schüttelte den Kopf. »Das ist nicht deine Bestimmung. Du musst überleben, hörst du?«
Seine Mutter zog Matinion zu sich und küsste ihn, wobei Tränen über ihre Wangen liefen. »Lauf zum Nachbardorf und hol Hilfe! Beeile dich, bald könnte es zu spät sein.«
Matinion spürte den drängenden Unterton und doch zögerte er. Er wollte sie nicht verlassen, denn ein Teil von ihm ahnte bereits, dass er sie nie wiedersehen würde. »Was ist mit euch? Ihr müsst mitkommen!«
Seine Eltern sahen sich an. Schließlich seufzte sein Vater schwer. »Das geht nicht. Ich muss den anderen helfen. Und deine Mutter auch – sie ist Heilerin. Das verstehst du doch?«
Zögernd nickte Matinion.
»Dann lauf! Lauf so schnell du kannst!« Seine Mutter schob ihn Richtung Ausgang.
Als sie aus der Tür traten, erwartete sie das nackte Grauen. Überall liefen Menschen kreischend und weinend durcheinander. Sie flüchteten vor den Todesbäumen, die durch die Reihen pflügten, so unbeteiligt wie eine Sense, die durch Gras fährt. Ihr Haus lag an der Seite des Dorfes, die vom Wald abgewandt war; daher waren die Arboranos noch nicht hier. Aber es würde nicht mehr lange dauern.
Matinion schluckte. Wie sollte sein Vater es mit dem Schwert gegen diese Giganten aufnehmen? Er wollte ihn anflehen, die Waffe wegzustecken und mit ihm zu kommen. Zum Nachbardorf, wo es vielleicht Hilfe gab. Als er den entschlossenen Ausdruck auf den Gesichtern seiner Eltern sah, wusste er, es war vergebens. Sie würden sich nicht von ihrem Volk abwenden, sondern dessen Schicksal teilen.
»Lauf, mein Sohn«, sagte sein Vater. Nach diesen Worten drehte er sich um und lief auf die todbringenden Bäume zu, die kaltblütig alle Menschen töteten, die sie in ihre knorrigen Äste bekamen. Seine Mutter strich ihm sanft über die Wange, dann folgte sie ihrem Mann nicht minder entschlossen.
Matinion sah ihnen verzweifelt nach. Er wollte weder sie im Stich lassen noch die anderen. Aber er hatte versprochen, Hilfe zu holen. Das würde er machen. Hastig drehte er sich um und rannte davon, so schnell seine Beine ihn trugen.
Er war erst einige wenige Meter weit gekommen, als er einen Schrei hörte, der ihm durch Mark und Bein ging. Auch in ihrer unendlichen Qual erkannte er die Stimme sofort: Das war seine Mutter, die ihren Todesschrei ausstieß.
Tränen stiegen ihm in die Augen und er wischte sie rasch fort. Er war ein Krieger, oder zumindest würde er das bald sein. Aber jetzt kam er sich wie der größte Feigling vor. Als er durch den Wald lief, in dem die unbeweglichen Brüder und Schwestern der Arboranos standen, schwor er sich, dass er sich rächen würde.
Sanija,wobistdu? Mutter und Vater wollen mit dir sprechen!«
Die Rufe ihres fünf Jahre älteren Bruders Kaneron schreckten sie auf, als sie im Anaon-Wald, der im Norden und Osten an ihr Dorf grenzte, nach Himbeeren suchte. Die leckeren Beeren waren jetzt reif und süß, wobei es Sanija weniger darum ging, etwas zum Essen beizusteuern. Vielmehr genoss sie den Frieden des Waldes, auch wenn die anderen Dorfbewohner das sonderbar fanden.
Niemand außer ihr suchte die Nähe von Bäumen, selbst wenn sie fest verwurzelt und ohne Bewusstsein waren. Deren Verwandtschaft zu den beweglichen Todesbäumen, den Arboranos, die auf der anderen Seite des Flusses Nisarim wüteten, war den meisten Zaniranern suspekt. Sanija jedoch genoss die Stille hier ebenso wie die Farbenpracht der Blüten, die in diversen Rot-, Lila- und Rosaschattierungen leuchteten. Außerdem spendeten die massigen Bäume Schatten und sorgten so für Kühle; eine seltene Wohltat im schwülwarmen Klima des Südens.
»Schwester, wo steckst du denn? Sie warten schon auf dich!« Kanerons Brüllen war diesmal lauter.
In der Idylle der Natur klang es wie eine donnernde Fanfare. Verwundert registrierte Sanija die Dringlichkeit in seiner Stimme. Was mochten ihre Eltern nur von ihr wollen? Sie hatte doch alle Arbeiten im Haushalt erledigt und konnte ihre freie Zeit nutzen, wie sie wollte. Außerdem sammelte sie Beeren für die gesamte Familie. Vielleicht würde Kaneron ja wieder gehen, wenn sie sich still verhielt. Sie wollte noch nicht nach Hause!
»Saniiiija«, ertönte es erneut – mit einem langgezogenen i, wie Kaneron es immer machte, wenn es wichtig war.
Sanija seufzte. Es half nichts. Sie wusste, ihr Bruder würde keine Ruhe geben, bis er sie gefunden hatte.
»Ich bin im Wald, bei den Himbeeren.«
Schon bald konnte sie Kaneron erkennen, der die Lichtung vor den Sträuchern erreichte. Als er sie sah, rannte er los, was bei seiner stämmigen Statur etwas unbeholfen wirkte. Wie immer, wenn sie Kaneron mit Abstand besah, konnte Sanija kaum glauben, dass dieser baumlange Kerl mit ihr verwandt war. Denn während ihr Bruder hünenhaft, breit und ungelenk war, war sie von normaler Größe und dabei gertenschlank und geschmeidig. Einzig die roten Locken ihres Vaters hatten sie gemeinsam, auch wenn Kaneron die Haare kurz trug.
Sanija wartete, bis ihr Bruder vor ihr stand. »Was soll ich denn nun schon wieder angestellt haben?«, fragte sie aufmüpfig, wobei ihre grünen Augen erbost funkelten.
Aber Kaneron schüttelte nur den Kopf. Sein Atem ging schneller und das breite, freundliche Gesicht glänzte. Es dauerte einige Momente, bis er wieder zu Atem kam.
»Ich weiß es nicht«, keuchte er schließlich. »Worum es auch geht: Du solltest dich beeilen, Mutter und Vater wirkten sehr energisch. Los, wir müssen sofort zu ihnen.«
Sanija blickte in seine blauen Augen, in denen goldene Punkte für ein ständiges Funkeln sorgten und sie spitzbübisch erscheinen ließen. Diesmal sahen sie ernster aus als sonst. Was wohl los war? Sanija war sich keiner Schuld bewusst. Dennoch beeilte sie sich, ihrem Bruder zu folgen, der bereits kehrtgemacht hatte und davonlief.
Schon bald erreichten sie ihr Heim, das nur wenige Hundert Meter vom Waldesrand entfernt stand. Die Stammesoberhäupter wohnten hier, damit sie die Bewohner verteidigen konnten, falls die Arboranos den Frieden brachen und ihr Dorf heimsuchten.
Sanijas Blick fiel auf den hölzernen Aussichtsturm, der neben ihrem Heim stand. Er war zwar seit einer Weile nicht mehr besetzt, dennoch erinnerte er Sanija täglich an die Bedrohung, die immer beunruhigender wurde, seitdem der tyrannische Mahagonibaum Mouwka die Arboranos anführte. Er wiegelte die Todesbäume gegen die Menschen auf.
Sanijas Schritt verlangsamte sich, als sie sich dem kleinen Lehmhaus näherten, dessen Dach mit Reet gedeckt war. Sie ahnte, dass hier nichts Gutes auf sie wartete. Dennoch richtete sie sich zu einer kerzengeraden Haltung auf und stieß die schmale Holztür auf, die schon seit langem einen frischen Anstrich benötigte.
»Ah, Sanija, da bist du ja endlich.« Der volle Bass ihres Vaters Rajos spiegelte seine natürliche Autorität wider.
Sanijas Blick wanderte durch das längliche Wohnzimmer. Die hölzernen Fensterläden waren weit offen und das goldgelbe Licht, das die Frühlingstage kennzeichnete, durchflutete das Zimmer mit den niedrigen Decken. Trotz der Sonnenstrahlen wirkte der Raum heute düster auf sie. Ihr Vater saß auf seinem Lieblingsplatz, einem wuchtigen Holzstuhl mit hoher Rückenlehne und breiten Armlehnen. Wie so oft wunderte sie sich, wie klein der Sitz erschien, wenn er darauf saß. Rajos war nicht nur groß, sondern auch massig wie ein Bulle. Neben ihm sah alles andere zerbrechlich aus, selbst Sanijas Mutter Helara. Und sie überragte die meisten Frauen um eine Handbreit und war alles andere als zierlich. Beide blickten Sanija mit einer Mischung aus Ernst und Sorge an.
Was in Kranas Namen soll ich bloß angestellt haben?, fragte Sanija sich verwirrt. Noch immer war sie sich keiner Schuld bewusst. Trotzdem ging sie nur zögernd weiter. Sie bemerkte, dass sich ein Mann im Raum befand, dessen Silhouette sie nur schemenhaft erkennen konnte.
Wer mochte das bloß sein? Kanerons Freund Matinion, der als Ziehsohn ihrer Tante bei ihnen ein- und ausging, war auf den Feldern. Außerdem schien dieser Fremde viel schmaler zu sein. Da trat der unbekannte Besucher aus dem Schatten heraus und lächelte sie scheu an. Das war Rinaro, ein Bekannter aus Kindertagen, der ständig über seine eigenen Beine zu stolpern schien. Was wollte der denn hier?
Eine böse Vorahnung überfiel Sanija. Das Prickeln auf ihrer Kopfhaut wurde zu einem Brennen, das ihren ganzen Körper erfasste. Fragend schaute sie Rajos in die Augen oder besser, sie versuchte es, denn er drehte verlegen den Kopf weg. Sanijas Ahnung wurde zur Gewissheit: Ihre Eltern hatten sie verraten und verkauft!
Kurz räusperte Rajos sich, bevor er sagte: »Nun, Sanija, du bist mittlerweile zur Frau herangereift. Wir finden daher, dass du heiraten solltest.«
Ihr Herz erstarrte bei dieser Ankündigung. Sie hatten diese Diskussion bereits oft geführt und bisher war es ihr stets gelungen, ihren Vater umzustimmen. Doch dieses Mal, das spürte Sanija mit jeder Faser ihres Körpers, würde ihr das nicht gelingen. Wäre Rajos noch unschlüssig, wäre Rinaro jetzt nicht hier, in ihrem Heim.
»Umso mehr freut es uns, dass Rinaro um deine Hand gebeten hat. Er ist ein anständiger Mann aus einer guten Familie. Du kannst dich glücklich schätzen, die Seine zu werden. Du wirst ihn also bald heiraten.«
Obwohl Sanija geahnt hatte, was er sagen würde, trafen Rajos’ Worte sie bis ins Mark. Über ihren Kopf hinweg hatten sie einfach über sie entschieden. Sie hätte schreien können vor Wut und Enttäuschung. Sanija kämpfte dagegen an, bis sich die Wirbel in ihrem Kopf auflösten. Schließlich drehte sie den Kopf und blickte Rinaro an, der dümmlich vor sich hin grinste. Erwartete er etwa, dass sie »Ja« hauchte? Ganz bestimmt nicht!
»Aber, Vater! Dalea heiratet dieses Jahr und sie ist zwanzig. Ich bin erst achtzehn! Es ist nicht fair, dass ich so bald den Bund eingehen muss. Bitte, gib mir noch ein wenig Zeit.«
»Sei still, Tochter!«, herrschte Rajos sie an. »Es ist bereits alles arrangiert. Die Feier findet nächstes Jahr um diese Zeit statt. Das ist mein letztes Wort!«
Mit einem Ruck sprang er auf, wobei sein mächtiger Stuhl wackelte, und verließ das Zimmer. Sanija blickte flehend zu ihrer Mutter, die trotz des offenkundigen Mitgefühls nur stumm den Kopf schüttelte, bevor sie ihrem Gatten folgte. Hart atmete sie aus und hoffte, dass mit der Luft der Zorn entweichen würde. Doch vergebens, zu enttäuscht war sie von ihren Eltern. Warum hatten sie vorher nicht mit ihr geredet?
Rinaro indes schien nichts von ihrer Gereiztheit zu merken. Vielmehr lief er mit leuchtenden Augen auf Sanija zu und umarmte sie. Hündisch schmiegte er sich an sie, als wollte er gekrault werden. »Niemals hätte ich gedacht, dass deine Eltern meinem Antrag zustimmen werden. Ich bin ja so glücklich, meine Geliebte. Bald bist du mein!«
Verächtlich schaute sie ihn an. Dieses winselnde Elend sollte ihr Gatte werden? Dem sie zu dienen und zu gehorchen hatte? Nur über ihre Leiche! Wütend stieß sie Rinaro von sich. »Das werden wir ja noch sehen, ob wir den Bund eingehen. Freu dich nicht zu früh, ich habe auch ein Wörtchen mitzureden.« Schnaubend rannte sie aus dem Haus.
***Ungestüm lief Sanija drauf los. Ihr einziger Gedanke war: weg! So schnell sie konnte, hastete sie vorbei an den kleinen Lehmhäusern, die so typisch für ihre Region waren. Sie hatte schon fast das andere Dorfende erreicht, als ihr endlich einfiel, wohin es sie zog: zu ihrer großen Schwester Dalea. Sie war bei ihrer Freundin Tojana, um das Brautkleid fertigzustellen. Bestimmt würde sie Trost spenden, auch wenn sie selbst bald den Bund der Ehe einging. Also steuerte sie Tojanas Haus an, die schon letztes Jahr geheiratet hatte. Dabei achtete sie darauf, einen Bogen um die bekannten Wege zu machen. Nicht, dass sie noch auf Rinaro traf!
Langsam trat sie durch das Tor, das in den Garten führte, und klopfte zweimal an der Haustür. Doch sie vernahm nichts, nur lautes Lachen. Also stieß sie die Tür auf und trat ein. Die beiden Frauen standen im Wohnraum und legten letzte Hand an das elfenbeinfarbene Brautkleid an. Einen Moment hielt Sanija den Atem an, weil ihre Schwester so schön aussah. Das Kleid betonte ihre Kurven wunderbar; außerdem passte der Farbton perfekt zu ihren honigblonden Haaren.
»Und was meinst du?«, fragte Dalea ihre Freundin. »Glaubst du, ich werde Matinion darin gefallen?«
Sanija antwortete an Tojanas Stelle. »Du bist wunderschön. Er wäre dumm, wenn er etwas anderes sagt. Aber dazu ist er sowieso zu höflich.«
»Schwesterherz!« Daleas liebes, ein wenig pausbäckiges Gesicht leuchtete auf. »Wie kommst du denn hier herein? Hast du dich etwa angeschlichen?«
»Von wegen anschleichen. Ihr habt so laut gegackert, dass ihr mein Klopfen nicht gehört habt.« Schmunzelnd ging Sanija zu ihrer Schwester und nahm sie vorsichtig in den Arm. Danach trat sie einen Schritt zurück und musterte Dalea gründlich. »Wirklich: Du bist eine umwerfende Braut.«
»Sag ich doch! Matinion fallen vermutlich die Augen aus dem Kopf.« Tojana kam grinsend zu ihr und drückte sie.
»Ganz sicher.« Sanija lachte mit. Auf einmal fragte sie sich, ob ihre Intuition richtig war. Würde ausgerechnet Dalea, die bald selbst eine Ehefrau sein würde, ihren Kummer verstehen? Bei ihr stand schon als kleines Mädchen fest, dass sie eines Tages Matinion heiraten würde; den Jungen, dessen ganzes Dorf von den Todesbäumen vernichtet worden war.
Sanija erinnerte sich noch gut an die Nacht, in der Matinion bei ihnen angekommen war, obwohl sie damals erst fünf Jahre alt gewesen war. Das Entsetzen in seinen nussbraunen Augen hatte sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt. Er hatte die Männer gedrängt, seinem Dorf beizustehen. Doch Rajos, der den verzweifelten Jungen mit Sanija im Wald fand, sagte ihm, es sei zu spät.
Seine kinderlose Schwester Alina nahm Matinion auf. Rajos, der sich für ihn verantwortlich fühlte, versprach, ihn mit seiner Tochter Dalea zu verheiraten, sobald sie alt genug wären. Was nun der Fall war. Und Dalea freute sich sichtlich auf die Hochzeit. Sollte sie ihre Schwester also mit ihrem Kummer behelligen? Nachdenklich betrachtete Sanija sie.
»Was ist?«, fragte Dalea nervös, als sie schwieg. »Sehe ich etwa doch zu dick darin aus?«
»Auf keinen Fall! Alles sitzt perfekt. Es geht nicht um dich … sondern um mich …« Sie verstummte, knetete ihre Finger, unsicher, was sie erzählen sollte.
Voller Mitgefühl schaute Dalea sie aus ihren warmen, braunen Augen an. Sie erkannte den Kummer in Sanijas Miene und strich ihr seufzend über die Wange. »Was ist denn los, Schwester? Gab es wieder Streit mit Papa?«
Sanija nickte und kämpfte mit den Tränen. »Er will mich nächstes Jahr vermählen. Mit Rinaro!«
»Hast du ihm nicht als Zehnjährige mal die Nase gebrochen?«, fragte Tojana belustigt.
»Das hatte er verdient. Er hat mich dummes, schwaches Mädchen genannt, weil ich einen blöden Stein nicht anheben konnte. Alle anderen Jungen haben über mich gelacht!« Diese Beleidigung konnte Sanija natürlich nicht auf sich sitzen lassen, schließlich konnte sie viel besser kämpfen als Rinaro. Also hatte sie sich wütend auf ihn gestürzt, wobei es zu dem folgenschweren Fausthieb auf die Nase gekommen war.
»Es war mein Recht, meine Ehre zu verteidigen! Trotzdem hat Vater verlangt, dass ich mich bei Rinaro entschuldige. Er durfte mich sogar auch ins Gesicht schlagen.« Ihre Wangen brannten bei der Erinnerung an die Demütigung, die viel schmerzvoller war als jeder Hieb, mit dem ihr Vater sie hätte züchtigen können.
Dalea lachte. »Oh ja, daran erinnere ich mich. Du hast getobt und gewütet deswegen. Wie kommt Vater nur darauf, dass ausgerechnet er zu dir passt? Wenn euer Heim beschützt werden müsste, würde er sich unter dem Küchentisch verkriechen und dir das Kämpfen überlassen.«
Bei dem Gedanken, wie der schlaksige Rinaro schlotternd unter einem Tisch kauerte, während sie das Schwert schwang, musste Sanija lachen. Dalea und Tojana fielen mit ein und für wenige Augenblicke verschwand der Kummer.
Doch nicht für lange. »Was soll ich denn nur machen? Vater ist es wirklich ernst damit!« Ihr Magen zog sich zusammen, als ob einer der Todesbäume seine holzigen Äste um ihn schlang und zudrückte.
Dalea schüttelte traurig den Kopf. »Ich weiß es nicht, Sanija. Wenn er es dir befiehlt, musst du heiraten.«
»Es ist so ungerecht, dass wir keine Wahl haben! Am liebsten würde ich fliehen. Vielleicht finde ich ja die Sandfrauen in der Wüste Noarang.« Hoffnung keimte in ihr auf. Sie sah sich selbst, gerüstet und gegürtet als Kriegerin, die sie hier nicht sein durfte. Ein Lächeln umspielte bei dieser Vorstellung ihre Lippen.
Daleas ruhige Stimme zerstörte die Illusion sogleich. »Willst du uns wirklich verlassen, obwohl du dann nicht mehr zurückkehren kannst?«
Verstört blickte Sanija ihre Schwester an. Nein, niemals konnte sie Dalea den Rücken kehren, die immer für sie da war, obwohl sie Sanijas Eigensinn oft nicht verstand. Oder Kaneron, der ihr seit frühester Kindheit das Kämpfen beigebracht hatte – zuerst gegen den Willen ihres Vaters, später gemeinsam mit ihm. Auch ihre Eltern liebte sie innig. Obwohl sie ihnen diesen Verrat nicht vergessen würde, ertrug sie die Vorstellung nicht, sie nie wiederzusehen.
Sanija ließ ihre Schultern sinken, die noch vor kurzem straff wie ein gespannter Bogen schienen. Tränen stiegen in ihr auf, doch sie kämpfte dagegen an. Ein Krieger weint nicht, das hatte Rajos ihnen immer wieder eingetrichtert, wenn sie sich beim Training verletzten. Ich bin keine Kriegerin und werde es niemals sein. Ich bin dazu verdammt, das Bündnis mit Rinaro einzugehen und ihm zu gehorchen.
Sanija wimmerte bei diesem Gedanken auf und die eben noch unterdrückten Tränen benetzten endlich ihr Gesicht. Sanft nahmen Dalea und Tojana sie in den Arm, strichen ihr über den Rücken, während sie sich ausweinte. All ihr Kummer floss aus ihr heraus, rüttelte und schüttelte sie. Nach einer Weile machte sie sich verlegen von den beiden frei.
»Es … Es tut mir leid«, stammelte sie. »Ich will dir nicht die Vorfreude auf die Hochzeit verderben.«
Dalea winkte ab. »Nicht doch. Du bist meine kleine Schwester und ich werde immer für dich da sein, wenn es dir schlecht geht. Nur weil ich mich auf die Ehe mit Matinion freue, muss das nicht heißen, dass es dir mit deinem Zukünftigen ebenso ergeht.«
»Aber ihr seid schon so früh miteinander verlobt worden … Ärgert es dich denn nicht, dass du keine Wahl hast?«
»Warum? Er ist ein guter Mann und ich mag ihn sehr. Ich kann es kaum erwarten, den Bund mit ihm einzugehen.«
Bei diesen Worten leuchteten ihre Augen auf, und Sanija schluckte. Sie hatte bisher nicht gewusst, dass ihre Schwester so für Matinion fühlte. Kurz durchzuckte sie Eifersucht, auch wenn sie nicht wusste, warum.
»Außerdem ist das meine Aufgabe als Tochter«, sagte Dalea, nun ganz die pflichtbewusste, ältere Schwester.
Sanija seufzte. »Wie gern würde ich das so abgeklärt sehen wie du. Aber … das kann ich nicht.«
»Kein Wunder bei dem Verlobten«, brummte Tojana. Sie betrachtete Sanija prüfend. »Vielleicht könntest du dir selbst einen Mann suchen. Einen, den du respektieren kannst. Ich weiß, dass viele junge Männer dich insgeheim begehren. Und sie haben recht damit. Los, schau dich an!«
Unvermittelt nahm sie den Spiegel vom Tisch. Verwirrt wischte Sanija sich die Tränen ab, bevor sie das schmale Gesicht darin musterte, als sähe sie es zum ersten Mal. Forschend betrachtete sie ihre klaren, grünen Augen, die kurze, gerade Nase und den Mund mit den weichen Lippen. Umrahmt wurden ihre Züge von langen, kupferfarbenen Locken, die sie jedoch meist zu einem Zopf zusammenband.
Sie versuchte, ihr Spiegelbild anzulächeln, doch das sah eher nach einer Grimasse aus. War sie wirklich hübsch?
Dalea ermutigte sie. »Wenn du nur wüsstest, wie oft ich dich um deine langen Beine beneidet habe! Du solltest dich nur ein wenig weiblicher geben, dann würden die jungen Männer Schlange vor der Tür stehen!«
Ungläubig blickte Sanija ihre Schwester an, die für sie den Inbegriff der Weiblichkeit darstellte. Ihre Rundungen waren genauso, wie es sein musste: ausladend und üppig, während ihr eigener Körper eher drahtig war. Die athletischen Beine, der straffe Bauch und die sehnigen Arme würden manch einem Krieger zur Ehre gereichen. Doch es mischten sich seit einigen Sommern auch sanftere Formen hinein. Ein wenig fülliger waren ihre Hüften geworden, was die schmale Taille betonte. Und ihre Brust wölbte sich so stark, dass sie kaum noch in Kanerons alten Harnisch passte. Sie war tatsächlich zur Frau herangereift. Es war vielleicht doch an der Zeit, Abschied von ihrem Mädchen-Dasein zu nehmen und sich auf ein Leben als Ehefrau vorzubereiten, obwohl ihr nichts ferner lag.
»Also muss ich mich wohl herrichten, damit andere Männer Interesse an mir haben.« Sie seufzte schwer, weil sie sich vorkam wie eine Preiskuh.
»Lass mich nur machen. Es wäre doch gelacht, wenn wir keinen passenderen Ehemann für dich finden als diesen Tölpel Rinaro«, sagte ihre Schwester, die anscheinend glaubte, eine Lösung gefunden zu haben.
»Jeder ist besser als Rinaro.« Tojana lachte.
Grinsend zupften die beiden wieder an Daleas Kleid herum, während Sanija gegen das Grauen ankämpfte. Welchen Mann auch immer sie heiraten würde, er konnte dann über sie bestimmen.
HungrigsahMatinionzu, wie Helara das Fleisch aus dem Garer nahm, in dem sie das Essen zubereitete. Das hüfthohe Gerät stammte von der früheren Zivilisation, die im Krieg von den Bäumen vernichtet worden war. So wie die gewaltigen Steinhäuser, die sie errichtet hatten, und deren Überreste mittlerweile zugewuchert waren. Allerdings hatten einige Maschinen dem Wüten widerstanden. Wie diese Garer, von denen jede Großfamilie einen besaß. In den Trümmern hatten sie auch einige nützliche Werkzeuge und Waffen aus Metall gefunden – wie auch immer ihre Vorfahren die hergestellt hatten. Außerdem gab es viele kleine Geräte, die den ganzen Abend über Licht abgaben, wenn sie sich tagsüber draußen mit Sonne vollsaugen konnten.
»Ihr könnt jetzt Platz nehmen«, wies Helara sie lächelnd an, während sie das Essen auf den großen Tisch stellte. Sie verbrachten den Abend wie so oft als Großfamilie miteinander: Mal bereitete Alina die Speisen für alle zu, mal Helara. Aber fast immer aßen sie zusammen. Dadurch fühlte Matinion sich Rajos und dessen Familie ebenso verbunden wie Alina und Großmutter Leana, in deren Heim er lebte.
Nachdem jeder Platz genommen hatte, bedienten sich alle großzügig. Eine Weile aßen sie schweigend.
»Reichst du mir bitte das Salz, Matinion?«, bat Sanija.
»Sicher. Hier ist es.« Grinsend gab er ihr den Pfeffer.
»Haha.« Sie verdrehte die Augen. »Ich lach mich tot. Und jetzt gib mir den richtigen Streuer. Sonst verrate ich allen, dass ich dich letztes Mal im Kampf besiegt habe.«
»Danke, dass du es herumposaunst.« Grimmig sah er sie an. Tatsächlich hatte Sanija ihn beim letzten Trainingskampf ganz schön alt aussehen lassen, indem sie ihn durch eine schnelle Drehung ihres Körpers auf den Boden geworfen hatte – mitten in den Matsch hinein. »Damit ist deine Drohung jetzt allerdings wirkungslos.« Matinion nahm den Salzstreuer und hielt ihn demonstrativ in seiner Hand fest.
»Noch habe ich nicht erzählt, wo das war …« Sie hob eine Augenbraue.
»Ist ja schon gut, hier ist das Ding.« Hastig gab er ihr den Streuer.
Sie grinste ihn frech an. Dabei fiel ihm auf, dass ihre Augen wie Smaragde funkelten, wenn sie sich freute, so wie jetzt. Außerdem legte sich ein rosiger Hauch auf ihre Wangen, der die Zartheit ihres Gesichts unterstrich. Sie hatte sich von einem ungelenken Mädchen zu einer hübschen jungen Frau entwickelt. Genauso schön wie Dalea, wenn auch ganz anders.
»Ist etwas?« Sanija sah ihn verwirrt an, weil er sie, ohne es zu merken, immer noch anstarrte.
»Nein, nein«, stotterte er, schaute hastig weg und stopfte sich eine Kartoffel in den Mund. Hoffentlich hatte Dalea nicht bemerkt, wie er ihre Schwester angesehen und mit ihr verglichen hatte.
Aber seine Verlobte war zu gutherzig, um etwas anderes als ein freundschaftliches Necken darin zu sehen. Sie legte Matinion lächelnd eine Hand auf den Arm. »Meine Schwester ist halt eine echte Kämpferin. Sei froh, dass sie dich mag.«
Alle lachten. Matinion wandte sich dem Braten zu und kaute darauf herum. Wobei das kaum nötig war, weil das Fleisch schön saftig und butterzart war.
»Wusstest du schon, dass sie als Nächste heiraten soll? Vater will sie nächstes Jahr mit Rinaro vermählen.«
Sprachlos starrte Matinion erst Dalea, danach Sanija an. Auf einmal hatte er das Gefühl, das zarte Bratenfleisch verwandelte sich in eine zähe Pampe. Als er es heruntergeschluckt hatte, fragte er entgeistert: »Mit dem Weichei? Den isst du doch zum Frühstück. Wann hast du dich denn in den verguckt?«
Großmutter Leana kicherte leise und Matinion warf ihr einen liebevollen Blick zu. Die Herzlichkeit der alten Dame hatte ihm damals über den Kummer nach der Vernichtung seines Dorfes hinweggeholfen. Er war sehr froh, dass sie immer für ihn da war. So oft, wie es ging, besorgte er ihr die leckeren Naschereien aus Honig, die sie so gern aß. Sie freute sich jedes Mal darüber wie ein kleines Kind.
Rajos hingegen sah ihn wütend an.
»Als ob ich für eine solche Memme schwärmen könnte. Der ist sogar zu feige, um gegen eine Mücke zu kämpfen«, erwiderte Sanija mit blitzenden Augen und schwang die Gabel wie eine Waffe hin und her. »Trotzdem ist unser Vater der Meinung, er wäre ein guter Gemahl für mich.«
»Das ist er auch«, donnerte Rajos. »Rinaros Vater ist immerhin unser Gerber. Mit dieser Kunst hat er es zu Wohlstand gebracht. Du machst damit eine gute Partie.«
»Das ist mir egal! Vater, ich beschwöre dich – zwäng mir keinen Mann auf, den ich so sehr verachte wie Rinaro. Du verurteilst mich zu einem Leben in einer lieblosen Ehe. Wie soll ich ihn denn jemals respektieren? Das kann ich nicht.« Wütend schüttelte Sanija den Kopf, wobei ihre roten Locken wild hin- und herschwangen.
Rajos seufzte angesichts ihrer Bockigkeit. Er legte sein Besteck weg und schaute sie ernst an. »Tochter, ich verstehe ja, dass er … nun, etwas mehr Format haben könnte. Doch du musst irgendwann heiraten. Und er will dich.«
»Bist du denn gar nicht auf die Idee gekommen, mich zu fragen, ob ich ihn auch will?«
Rajos schnappte hörbar nach Luft. Um die Wünsche der Frauen ging es bei den Zaniranern nicht, Ehen wurden von den Vätern besiegelt. Das wusste auch Matinion und seine Ehe mit Dalea war schon lange beschlossene Sache gewesen. Allerdings hatte er sie gefragt, ob sie sich eine Ehe mit ihm überhaupt wünschte, bevor sie den Termin festgesetzt hatten. Alles andere wäre ihm respektlos vorgekommen.
»Wieso sollte ich? Darum geht es nicht!«, erwiderte Rajos ebenso heftig wie zuvor seine Tochter. Nun, von irgendwem hatte sie dieses Temperament schließlich. Sanija kam in dieser Hinsicht so sehr nach ihrem Vater, dass Matinion fast geschmunzelt hätte. Aber das war kein guter Zeitpunkt dafür. Stattdessen schaltete er sich ein.
»Rajos, du wirst die nächsten Jahre viel weniger Streit mit ihr haben, wenn du sie nach ihren Wünschen fragst. Oder möchtest du künftig wirklich jeden Tag beim Abendessen mit Sanija drüber diskutieren müssen? Du weißt, wie beharrlich sie ist.« Er schüttelte den Kopf. »Also, Dalea und ich werden nach der Hochzeit nicht mehr zum Essen kommen, wenn sie nur meckert.«
Dabei zwinkerte er Sanija heimlich zu.
»Nein, auf keinen Fall«, spielte Dalea mit. »Und dann siehst du auch die vielen kleinen Enkel nicht, die wir dir in Zukunft schenken werden.«
»Oh ja, ihr müsst ganz viele Kinder bekommen, damit ich jemanden zum Spielen habe!«, rief Kanerons Tochter Ninara schmatzend. Nini, wie ihr Spitzname lautete, war ein hübsches dreijähriges Mädchen, das mit seinen blonden Locken und den blauen Augen eindeutig nach ihrer Mutter Anea schlug. Alle lachten angesichts ihrer Begeisterung für die ungeborene Kinderschar.
Matinion zerwuschelte Nini lachend die Haare. »Na, wenn du das möchtest, werden Dalea und ich schon dafür sorgen.«
Sanija nutzte die Steilvorlage sofort und wandte sich an Rajos. »Vater, er hat recht. Ich werde mich niemals damit abfinden können. Bitte, löse die Verlobung.«
»Das kann ich nicht!« Rajos blieb stur.
»Kannst du nicht, oder willst du nicht?«
»Beides.« Rajos fuhr sich mit seinen mächtigen Pranken durch den roten Bart. »Außerdem – du musst irgendwann heiraten. Macht es für ein Weib denn so einen großen Unterschied, wem sie beiliegt?«
»Vater!« – »Rajos!« – »Sohn!« Die Ausrufe kamen fast gleichzeitig von allen Frauen der Familie. Selbst Anea, Kanerons sonst so stille Gemahlin, fiel mit ein.
Kaneron lachte. »Das hättest du nicht sagen sollen. Jetzt hast du alle Frauen des Hauses gegen dich aufgebracht.«
Schuldbewusst blickte Rajos sich um. »Nun gut. Das ging wohl etwas zu weit. Ich entschuldige mich dafür.«
Helara und Alina sahen ihn allerdings immer noch ebenso bitterböse an wie Sanija. Dalea hingegen lächelte so süß, wie nur sie es konnte, und Rajos’ Gesichtszüge wurden weich.
»Papa, das Herz der Frauen wirst du wie die meisten Männer nie verstehen – und das von Sanija noch weniger. Ich gebe dir einen guten Rat: Lass sie sich selbst jemanden suchen. Sonst wird sie unglücklich. Und du auch …«
Das Stammesoberhaupt ließ den Blick von seiner ältesten Tochter zu Sanija schweifen, die ihn hoffnungsvoll ansah. Schließlich seufzte Rajos und spießte ein Stück Fleisch auf, das er danach hochhielt. »Also gut. Wenn Sanija bis zum nächsten Frühjahr einen anderen passablen Ehemann findet, werde ich die Verlobung lösen. Einverstanden?«
Zaghaft nickte Sanija.
Matinion sah ihr an, dass sie erleichtert war, weil sie Rinaro nicht heiraten musste. Dennoch würde sie nicht um die Ehe drumherum kommen, und das behagte ihr offensichtlich nicht. Kein Wunder. Sie war ein unabhängiger Geist, der nicht eingeengt werden wollte. Es tat ihm unfassbar leid, dass sie ihr Leben nicht so verbringen konnte, wie sie es sich wünschte. Aber Rajos hatte seine Meinung gefasst und sie würde sich fügen müssen. Auch wenn das etwas in ihr zerstören würde, das sie so besonders machte.
***»Nun, Matinion, wie gedenkst du die letzten Tage deiner Freiheit zu verbringen? Wenn du erst einmal verheiratet bist, ist es Schluss mit dem süßen Lotterleben«, witzelte Kaneron, als sie nach dem Essen aus dem Haus gingen, um in der milden Abendluft ein oder zwei Gläser Schnaps zu trinken.
Er wollte ihn schon anfahren, doch das milde Lächeln, das auf dem Gesicht seines Freundes lag, nahm den Worten die Schärfe. Kaneron war glücklich mit seiner Anea, das wusste jeder. Also grinste Matinion nur spöttisch, was die Düsternis vertrieb, die oft wie ein Schatten auf seinem Gesicht lag. Im Gegensatz zu Kaneron, dessen breiter Mund fast immer zu einem Lächeln verzogen war, fiel ihm das Lachen schwer. Er konnte nicht vergessen, was die Arboranos seinen Eltern und dem ganzen Dorf angetan hatten. Beim Anblick des Waldes, der das Dorf umgab, kamen die Erinnerungen an jene Nacht vor dreizehn Sommern bei Matinion zurück.
Er hörte wieder das Brüllen der anderen, das Donnern der Bäume und das gellende Schreien seiner Mutter, als ein Arborano sie erwischte. Wie gut, dass er Rajos und Sanija im Wald gefunden hatte, kurz bevor er nicht mehr weiterlaufen konnte. Er hatte sie angefleht, seinen Leuten beizustehen, doch Rajos hatte nur seufzend die großen Hände auf seine Schultern gelegt und ihm gesagt, dass es dafür zu spät sei. Sein Dorf sei bereits zerstört. Es war seinen Eltern nie darum gegangen, dass er Hilfe holte. Er sollte nur gerettet werden.
Keuchend schüttelte er den Kopf, um die Bilder zu vertreiben. Kaneron sah ihn mitfühlend an, schwieg jedoch. Matinion lächelte dankbar. Mit seinem Freund fühlte er sich so verbunden, als wäre er sein Bruder. Was er für ihn auch war, schließlich war er fast genauso häufig bei Rajos wie bei Alina. Die Grundstücke gingen ohnehin ineinander über.
»Wir sollten vorher unbedingt noch einen kleinen Ausflug unternehmen. Damit wir uns mal wieder so richtig betrinken.« Sofort brach Kaneron in dröhnendes Gelächter aus, wobei er sich auf die Schenkel klopfte.
Matinion schüttelte belustigt den Kopf. Manchmal hatte es den Anschein, als mache sich sein Freund aus allem einen Spaß. Doch vielleicht weigerte er sich nur, sein ganzes Leben in Angst vor den Todesbäumen zu verbringen. Es war eine Gabe, um die er ihn schmerzlichst beneidete.
Seit der Zerstörung seines Heimatdorfs hatte es keine weiteren Übergriffe mehr gegeben. Matinion traute dem scheinbaren Frieden jedoch nicht. Er befürchtete, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie auch dieses Dorf erobern wollten. Aber daran wollte er jetzt nicht denken. Und noch weniger wollte er seinem Freund die gute Laune verderben.
»Das stimmt. Also sollten wir wohl bald aufbrechen.«
***»Aber Matinion, warum willst du denn mit Kaneron weg? Es gibt noch so viel zu tun für die Hochzeit!« Schmollend verzog Dalea ihren Mund und richtete die großen, braunen Augen anklagend auf ihn. Er hatte ein paar Tage gewartet, bis er ihr von Kanerons Plänen erzählte – und wie befürchtet war seine Verlobte nicht glücklich darüber. »Viele der anderen Männer sind auf der Jagd, dann sind wir Frauen ganz alleine im Dorf. Wollt ihr nicht warten, bis sie zurück sind?«
Der Vorwurf in ihrer Miene schmerzte Matinion. Kurz dachte er darüber nach, ihrem Wunsch zu entsprechen. Doch dann würde sein Freund ihn an die Arboranos verfüttern; zumindest hatte er ihm das angedroht.
»Ich habe es Kaneron versprochen. Er will noch einen letzten Ausflug vor der Hochzeit mit mir machen, denn er glaubt, dass ich danach keine Zeit mehr für ihn haben werde.« Er griff nach ihrer Hand und raunte: »Schließlich wollen wir ganz schnell an unserem Erstgeborenen arbeiten.«
Sofort überzog sich Daleas Gesicht mit einer flammenden Röte, was sie in Matinions Augen sehr reizvoll machte.
»Damit hast du vermutlich recht«, flüsterte sie verlegen. »Gut, dann wünsche ich euch viel Spaß beim Ausflug. Bleib aber bitte nicht zu lange weg!« Scheu drückte sie sich an ihn und hauchte ihm einen Kuss auf den Mund. Er war so süß wie sie, brachte aber nichts in ihm zum Klingen.
Schwungvoll näherte sich Kaneron dem Paar und legte ihnen seine Hände oder vielmehr seine Pranken auf die Schultern. »Na, ihr Turteltäubchen, könnt ihr euch nicht voneinander lösen? Seid nicht traurig, wir werden nicht lange weg sein. Und dann wird endlich Hochzeit gefeiert!«
Voller Vorfreude funkelten seine Augen. »Das ist wohl vor allem die Aussicht auf den Schnaps, der reichlich fließen wird.«
Sein Freund grinste. »Nein, das hat natürlich nichts mit alkoholischen Getränken zu tun. Ich freue mich nur für euch, meine Lieben. Aber dann lasst uns bald aufbrechen, damit ihr umso schneller wieder vereint seid.«
»In zwei Tagen. Okay?«
Matinion schaute Dalea fragend an. Eine Weile sah sie ihn nur stumm an, schließlich nickte sie ergeben. Er strich über ihr Haar. »Ich danke dir, mein Herz.«
***Sie brachen früh auf. Matinion genoss den Ritt. Obwohl es ihm leidtat, Dalea verletzt zu haben, so freute er sich darauf, ein paar Tage nichts von den Hochzeitsvorbereitungen hören zu müssen. Er hatte es satt, immer wieder neue Farbnuancen anzuschauen und so zu tun, als wüsste er, welche davon am besten zu ihr passte.
Warum machen Frauen so viel Aufregung um ihre Kleidung? Er seufzte. Sofort kassierte er einen Hieb von Kaneron, der seinen drahtigen Körper fast umgeworfen hätte.
»Na, mein Freund, wird es dir zu viel?« Kaneron zwinkerte ihm zu. »Ich wusste schon, warum ich dich zu dem Ausflug überredet habe. So viele Vorbereitungen, und das nur wegen eines Abends. Ich hätte Anea damals am liebsten entführt!«
Schmunzelnd erinnerte Matinion sich an die prunkvolle Eheschließung, bei der das ganze Dorf mit lila Blüten dekoriert gewesen war. Mädchen in Rosa-Tönen vollführten komplizierte Tänze, während Kaneron dem Treiben sichtbar verzweifelt zuschaute. Aber Rajos’ einziger Sohn musste natürlich mit allen Ehren vermählt werden. Auch für die Hochzeit seiner Tochter scheute das Stammesoberhaupt keine Mühen, obwohl Matinion ihn inständig bat, nur eine schlichte Feier zu arrangieren.
Ihr gemeinsamer Ausflug bot eine gute Gelegenheit, dem ganzen Trubel für eine Weile zu entgehen. »Dann wollen wir abwarten, ob wir das Dorf bei unserer Heimkehr noch wiedererkennen«, antwortete er lachend.
Ach,Sanija,warumwollen die Männer gerade jetzt alleine sein? Ich wünschte, Matinion wäre bei mir geblieben, damit wir die Feier gemeinsam planen können.«
Stumm schaute Sanija ihre Schwester an, deren hübsches Gesicht vor Kummer verzogen war. Was wusste sie schon von solchen Dingen? Doch Daleas traurige Augen flehten um eine Antwort. Dabei waren Matinion und Kaneron erst seit einigen Stunden fort. »Die beiden nehmen nur Abschied von ihrem gewohnten Leben. Das ist vermutlich ein Männerritual. Erinnere dich: Als Kaneron heiratete, war es nicht anders.«
Dankbar schaute Dalea sie an. Sanija konnte erkennen, dass dieser Gedanke ihr Trost gab. Also redete sie munter weiter: »Ich denke, du solltest sogar froh darüber sein, dass Matinion weg ist. Jetzt kannst du endlich die Feierlichkeiten so planen, wie du es willst. Wenn es nach ihm ginge, trügest du nur Lumpen, und das sollten wir verhindern!«
Nun huschte der Anflug eines Lächelns über Daleas Züge. »Dann beeilen wir uns, um rechtzeitig fertig zu werden. Uns bleiben nur ein paar Tage und es gibt noch so viel zu tun.« Sie reichte Sanija einen Stapel mit elfenbeinfarbenen Karten. »Ich möchte jeder Familie eine persönliche Karte schreiben. Bitte hilf mir dabei.«
Entsetzt blickte sie ihre Schwester an. Jeder im Dorf wusste, wann die Hochzeit war – seit Monaten wurde über nichts anderes mehr geredet. Warum sollten alle noch eine Karte bekommen? Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber Daleas Blick erstickte ihr Aufbegehren im Keim. In ihren Augen lag diese Mischung aus Forderung und Sanftmut, die auch ihre Mutter so gut beherrschte. Widerspruch war zwecklos, das wusste Sanija. Also fing sie an, den Text zu schreiben, den ihre Schwester ihr als Vorlage hingelegt hatte. Schweigend konzentrierten sie sich auf die Aufgabe: Immerhin mussten über hundert Karten verfasst werden, und zwar in einer schönen Schrift.
»Also, wie sorgen wir dafür, dass du bald einen passenden Ehemann bekommst?«, fragte Dalea heiter.
Sanija seufzte. »Wenn ich das wüsste! Ich habe keine Ahnung, wie ich einen Mann finden soll, der mir gefällt – und ihn auch noch dazu bringe, dass er mich erwählt.«
»Lass mich nur machen«, erwiderte ihre Schwester leichthin. »Es gibt eine Reihe junger Männer, die infrage kämen. Wie wäre es mit Aranos? Er ist sehr stattlich.«
»Und äußerst überzeugt von sich.« Sanija verdrehte die Augen. Aranos sah tatsächlich gut aus mit seinem markanten Gesicht und den breiten Schultern. Aber darum war er offensichtlich auch der Meinung, jede Frau flöge auf ihn. »Nein, danke. Den müsste ich ja den ganzen Tag anbeten.«
Dalea lachte. »Das stimmt. Was ist mit Elajon? Er ist doch nett.«
»Zumindest tut er so. Aber wenn niemand hinschaut, wirft er Steine nach Katzen und Hunden. Deswegen habe ich ihm früher schon ein paarmal eine übergebraten.«
Dalea schüttelte seufzend den Kopf. »Sanija, du hast dich einfach mit zu vielen jungen Männern angelegt. Das wird schwer mit dir. Gibt es denn niemanden, der dir gefällt?«
Doch, den gab es. Allerdings war das zu Sanijas Leidwesen ausgerechnet Matinion, der sich zu einem gutaussehenden jungen Mann entwickelt hatte. Seine Gesichtszüge waren männlich-markant, aber ohne Aranos’ Überheblichkeit. Außerdem mochte sie die Tiefgründigkeit seiner dunkelbraunen Augen.
Wie er sie letztes Mal beim Essen angesehen hatte! Als versuchte er, sie komplett zu durchdringen. Dieser Blick war ihr durch Mark und Bein gegangen. Kurz fragte sie sich, ob sie sich gegen eine Ehe mit ihm genau wehren würde wie gegen die mit Rinaro. Entschlossen verdrängte sie diesen Gedanken, immerhin war er Daleas Verlobter.
»Nein, da ist niemand«, sagte sie daher hastig.
»Schade.« Eine Weile schwieg Dalea, wobei sie den Kopf schief legte wie ein junger Hund. Dann glitt ein Lächeln über ihre Züge. »Ich habe es! Am besten siehst du dich auf meiner Hochzeitsfeier gründlich um. Vielleicht fällt dir ja ein Mann auf, der dein Herz zum Hüpfen bringt.«
Mit sichtlicher Erleichterung konzentrierte ihre Schwester sich wieder auf die Karten und Sanija folgte ihrem Beispiel. Sie war froh darüber, dass sie zumindest eine Ablenkung von diesen seltsamen Gedanken an Matinion hatte. Allerdings wurde es nach einer Weile ganz schön langweilig, eine Einladung nach der anderen zu schreiben.
Irgendwann ließ Dalea den Stift sinken. »Mein Arm wird lahm. Ich glaube, wir brauchen eine Pause.«
Da konnte und wollte Sanija nicht widersprechen. »Wie wäre es mit einer Erfrischung? Es ist so warm.« Sie stöhnte.
»Oh ja. Ich weiß auch schon, wo wir hingehen können.« Dalea sprang auf und lief ins Haus. Sanija sah ihr verwirrt hinterher. Nach wenigen Augenblicken kam sie mit zwei Handtüchern wieder. Also wollte sie mit ihr schwimmen.
»Wer zuletzt da ist, ist eine Ente«, rief ihre Schwester und eilte leichtfüßig davon.
Fluchend erhob sich auch Sanija, um ihr nachzujagen. Dabei kam sie kaum hinter Dalea her, die sie sonst mühelos abhängte. Doch die Vorfreude auf ein Bad schien ihren Beinen Sprungkraft verliehen zu haben, denn sie lief immer schneller. Nach einer Weile erreichten sie den kleinen See, in dem sie schon als Kind so gern gebadet hatten. Er speiste sich aus dem Wasser des Flusses Nisarim, dessen Fluten die Basis ihres Lebens darstellten.
Er lag inmitten des Waldes, in dem Sanija kürzlich noch die Beeren gesammelt hatte. Allerdings befand sich der See nicht so tief im Forst, sondern lag ganz am Anfang. Das kristallklare Wasser funkelte im Sonnenschein und lud sie ein, sich darin abzukühlen. Der stummen Aufforderungen folgten die Schwestern nur zu gern. Jauchzend entledigten sie sich ihrer Kleidung, wobei Dalea erstaunlicherweise wieder schneller war als Sanija.
Schnell zog sie sich ebenfalls aus, auch die Kette, die sie seit ihrem zehnten Lebensjahr trug. Ihre Mutter hatte sie ihr geschenkt, als sie ihren Vater hatte überreden können, ihr das Schwerttraining zu erlauben. Der Anhänger zeigte eine junge Frau mit langen, lockigen Haaren und einem Schwert in der Hand. Ihre Mutter hatte es aus einem Stück Holz gefertigt und es mit Pigmenten nachbearbeitet, bis es fast dieselbe Farbe wie Sanijas Haare hatte. Es erinnerte sie immer daran, dass ihre Mutter hinter ihr stand. Aber auch sie hatte nicht gegen die Verlobung mit Rinaro protestiert. Seufzend legte sie die Kette oben auf die Kleidung und sprang ins kühle Nass.
Das Wasser umschmeichelte Sanijas erhitzten Körper. Mit einem glücklichen Seufzen tauchte sie einmal hinunter und genoss es, unter der Oberfläche zu schwimmen. Erst als sie keine Luft mehr bekam, kam sie wieder hoch.
Dalea lachte. »An dir ist ein Fisch verloren gegangen.«
»Ich liebe nun einmal das Wasser.« Darin fühlte sie sich federleicht. Selbst der Gedanke an ihre Verlobung rückte dabei in weite Ferne. Sie tauchte erneut ab, machte einige Züge unter Wasser und schoss wieder aufwärts. Seufzend ließ sie sich treiben und Dalea tat es ihr gleich.
Nach einer Weile gingen sie aus dem See und rieben sich mit den mitgebrachten Handtüchern ab. Dann setzten sie sich darauf und blickten auf das glitzernde Wasser.
***Als sie wieder trocken waren, zogen sie sich an und schlenderten gemächlich zurück ins Dorf. Immerhin waren noch etliche Karten zu schreiben. Sie waren gerade damit fertig geworden, als sie das Donnern von Hufen hörten.
»Die Jäger!« Sofort sprang Sanija auf und stürmte davon, um ihren Vater und seine Männer zu begrüßen. Obwohl sie noch wütend auf Rajos war, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, als Erste die Neuigkeiten zu erfahren.
***Sanija und Dalea kamen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die Männer auf den »Platz des Friedens« ritten. Der kreisrunde Platz mit seinen imposanten Statuen aus rostrotem Stein stellte das Zentrum des dörflichen Lebens dar. Sanijas Blick fiel auf das Abbild des göttlichen Krana.
Der Verteidiger, wie der höchste Gott ihres Volkes genannt wurde, hatte den Zaniranern vor langer Zeit im Krieg gegen die Todesbäume beigestanden, so brachte man es schon den Kindern bei. Laut der Legende verließ Krana seine himmlischen Gefilde, um zur Waffe zu greifen. Doch erst nach vielen Tausend Toten schlossen Menschen und Arboranos Frieden miteinander. Seitdem markierte der Fluss Nisarim die Grenze zwischen Menschen- und Baumreich.
Immer mehr Dorfbewohner liefen zusammen, um die heimkehrenden Jäger zu begrüßen.
»Seid willkommen daheim!«, schallte es vielstimmig. Der Hufschlag der fast fünfzig Pferde donnerte auf dem Platz. Sanija, die ein besonders feines Gehör hatte, hätte am liebsten gewartet, bis es zumindest etwas leiser wurde. Aber dazu war sie zu neugierig.
Also drängelte sie sich durch die Menge. Die Lastpferde waren schwer beladen mit dem Fleisch der erlegten Tiere, doch die Mienen der Männer verrieten keinen Stolz. Vielmehr wirkten sie nervös.
Sanija erblickte ihren Vater sofort. Die roten Locken, die den ihren so sehr glichen, stachen aus der Menge heraus. An seinem starken Oberarm rankte sich der goldene Armreif, der seinen Rang als Anführer symbolisierte. Der Anblick versetzte ihr wie so oft einen Stich. Wäre sie ein Junge, würde er an sie übergehen: Sie war die bessere Reiterin, die geschicktere Schwertkämpferin und die klügere Strategin. Allerdings war ihr Bruder nicht nur älter, sondern auch groß und stark. Und er war ein Mann, also würde Kaneron den Armreifen von ihrem Vater erhalten, sobald dieser sich zurückzog.
Sie schob den Gedanken beiseite und lief auf Rajos zu, der gerade von seinem Pferd abstieg. Ihre Schwester folgte etwas langsamer. »Vater, was ist geschehen? Warum seht ihr so bekümmert aus?«
Rajos blickte auf seine Tochter und seufzte. Wie ein Fisch, der nach Luft schnappt, öffnete er den Mund und schloss ihn wieder. Die Muskeln in seinem Gesicht zuckten, als er schließlich knurrte: »Verfluchte Arboranos! Zwei von ihnen waren im nördlichen Teil des Anaon-Waldes unterwegs.«
Sanijas Magen verkrampfte sich und sie starrte ihren Vater an. »Göttlicher Krana, hilf! Ist etwas passiert? Ich meine, ist …?« Sanija konnte den Satz nicht aussprechen, zu schrecklich war die Vorstellung, dass die Arboranos jemanden in ihre knorrigen Äste bekommen hätten.
Rajos verstand sie auch so. Begütigend legte er eine Hand auf ihre Schulter und schüttelte den Kopf. »Es waren nur ein paar Jungbäume und sie haben uns nicht bemerkt. Wir sind ihnen aus dem Weg gegangen.«
Sanija zog die Stirn kraus. »Auf unserer Seite? Was machen sie denn dort? Die Grenze respektieren sie doch normalerweise.« Dafür wüten sie umso schlimmer auf der Seite, die den Bäumen gehörte.
Sanija schüttelte sich vor Ekel, als sie daran dachte, mit welcher Grausamkeit die Todesbäume ihr Reich vergrößerten. Die wenigen Menschen, die noch im Baumreich lebten, waren Sklaven der Bäume. Tagsüber mussten sie die Keimlinge pflegen und ihre Erde mit dem Blut düngen, das ihnen immer wieder abgezapft wurde. Sanija mochte sich ihre Qualen kaum vorstellen.
»Wer weiß, was Mouwka plant. Den verfluchten Bäumen ist nicht mehr zu trauen, seit dieser Tyrann sie anführt. Erinnere dich daran, wie sie Matinions Heimat verwüstet haben, nachdem er an die Macht gekommen ist!«
»Das war ein trauriger Tag für das gesamte Südland. Und vor allem für Matinion!« Sanija spürte wieder das Entsetzen jenes Tages, an dem sie ihn aufgelöst und am Ende seiner Kräfte im Wald gefunden hatten.
Kurz blitzte auch in Rajos’ Augen Grauen auf. Schnell verschwand es, und die gewohnte Selbstsicherheit kehrte zurück. »Wir werden die Wachtürme wieder besetzen. Hier fällt kein Todesbaum ein.« Dann seufzte er und strich sich durch den Bart. »Eins bereitet mir jedoch Sorgen«, sagte Rajos so leise, dass nur Dalea und sie ihn verstanden. »Wir haben einen Menschen getroffen, dem die Flucht aus dem Baumreich gelungen war. Er hat uns berichtet, dass die Setzlinge in letzter Zeit oft verkümmern, woran auch immer das liegen mag. Aber behaltet es für euch, ich will niemanden beunruhigen.«
Sanija horchte auf. Ein Mensch war aus der Gefangenschaft der Bäume entkommen! Wie war ihm wohl die Flucht gelungen? Sie wollte Rajos gerade fragen, als Dalea dazwischen ging. Ihre Augen flackerten hektisch.
»Vater, wo genau wart ihr?«
»Sorge dich nicht, mein Kind. Bis hierher kommen die Bäume nicht.«
Daleas Miene entspannte sich nicht durch seine Worte; im Gegenteil, sie wurde sogar regelrecht panisch. »Aber das heißt, ein Teil des Menschenreichs ist nicht mehr sicher! Sie sind in höchster Gefahr.« Weinend warf Dalea sich in Sanijas Arme.
Da ging auch ihr endlich ein Licht auf, und sie wusste, warum ihre Schwester so verzweifelt war. »Bei Krana! Wir müssen sie warnen, bevor etwas Schreckliches passiert.«
»Wer ist dort? Was ist hier los?«, fragte Rajos.
»Matinion und Kaneron. Sie machen einen Ausflug.« Sanijas Stimme war tonlos, sie spürte blankes Entsetzen.
Blässe überzog die wettergegerbte Haut ihres Vaters. Trotzdem sagte er: »Das bedeutet gar nichts. Sie sind gute Krieger. Zur Sicherheit werden wir morgen einen Trupp zu ihnen schicken. In der Nacht können wir es nicht wagen.«
Er legte Dalea seine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen. Zuversichtlich tätschelte er ihren Rücken. Doch der Blick, den er Sanija zuwarf, verriet etwas anderes. Angst lag darin – und Resignation.
Sagmirdoch,mein Freund, wieso bist du so angespannt in letzter Zeit?« Kanerons dröhnender Bass riss Matinion aus seinen Gedanken. Er hatte selbstvergessen zugesehen, wie das Kaninchen, das sie erlegt und zerkleinert hatten, in einem tragbaren Garer vor sich hin dampfte.
Von diesen Geräten gab es nur einige Handvoll im Dorf. Rajos überwachte persönlich ihre Nutzung. Sie stammten von der früheren Zivilisation, die diese und viel mehr Wunder hatte bewirken können. »Wie kommst du darauf, ich wäre angespannt?«
»Du benimmst dich seltsam in letzter Zeit. Je näher es auf die Hochzeit zugeht, desto unruhiger wirst du.« Nun verschwand der Schalk aus seinen Augen und er wurde ernst. »Sag, willst du meine Schwester nicht heiraten? Wenn dir die Vorstellung zuwider ist, werde ich mit Vater sprechen. Ich möchte sie keinesfalls unglücklich sehen. Oder dich.«
Matinion schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht. Dalea ist wunderbar. Sie ist hübsch, freundlich und warmherzig, so wie eine Ehegattin sein sollte. Ich schätze ihre Sanftheit, sie schenkt mir das Gefühl von Geborgenheit. Daher bin ich Rajos dankbar, dass er mich für würdig genug hält, sie zu heiraten.«
»Er fühlt sich für dich verantwortlich, seit er dich gefunden hat. Außerdem mag er dich sehr.« Kaneron zögerte einen Moment, dann sprach er weiter: »Allerdings ist mir aufgefallen, dass du Sanija mit anderen Augen ansiehst als Dalea. Unser Wildfang hat es dir angetan, was?«
Matinion war froh, dass es hier kaum Licht gab. Er fühlte nämlich, wie sich seine Wangen rot färbten. »Wie kommst du denn darauf? Sie ist … nun ja, eure kleine Schwester.« Die bald meine Schwägerin sein wird, ergänzte er in Gedanken.
»Trotzdem gefällt sie dir.« Es war eine Feststellung.
Eine ganze Weile schwieg Matinion. Tatsächlich war Sanija zu einer wahren Schönheit erblüht. Doch es war nicht ihr Äußeres, das ihn faszinierte. Ihm gefielen ihre Entschlossenheit und ihre Impulsivität und sogar ihre Widerborstigkeit, obwohl er das nicht zugeben wollte. Kaneron sah ihn durchdringend an.
Schließlich seufzte er. »Irgendwie schon. Sie hat etwas Besonderes an sich mit ihrer wilden, unbeherrschten Art. Zumal sie trotzdem sensibel und liebevoll ist. Sie ist nicht wie andere Mädchen und das mag ich.« Er lächelte versonnen. Sofort räusperte er sich. »Trotzdem werde ich zu meinem Wort stehen und Dalea heiraten.«
»Warum? Du magst Sanija doch eigentlich lieber …«
Einen Moment stellte Matinion sich vor, wie es wäre, wenn er mit Sanija statt mit Dalea unter dem Hochzeitsbaldachin stand. Wenn sie ihn mit ihren wunderbaren grünen Augen voller Liebe und Begehren ansähe. Sofort ging sein Puls schneller. Dann seufzte er. »Nein, es soll nicht sein. Das würde Daleas Herz brechen. Sie freut sich schon so auf die Hochzeit. Außerdem weißt du ja, wie wenig begeistert Sanija davon ist, heiraten zu müssen. Ich möchte keine Last sein, die ihr die Luft zum Atmen raubt.« Das würde sie ihm niemals verzeihen. Und er sich auch nicht.
Kaneron betrachtete ihn nachdenklich, bevor er nickte. »Das kann ich verstehen. Ich glaube sowieso, du und Dalea passen besser zusammen. Ihr seid beide ruhig und besonnen. Außerdem akzeptiert ihr das Unausweichliche. Das wird Sanija nie lernen. Sie wollte schon immer mit dem Kopf durch die Wand. Weißt du noch, wie sie sich als Zehnjährige vorgenommen hatte, die erste zaniranische Kriegerin zu werden?«
Matinion schmunzelte. »Oh ja, und ob ich mich erinnere. Sie lief tagelang mit einem Schwert herum und schlug damit auf alles ein, was ansatzweise einem Gegner ähnelte.«
Die Männer prusteten los bei der Erinnerung an die jüngere Sanija, die mit bitterem Ernst abwechselnd auf eine Trauerweide und eine Birke eindrosch.
»Aber letztlich hat Rajos nachgegeben.« Matinion grinste anerkennend. »Wir durften ihr das Kämpfen beibringen. Und sie ist wirklich gut. Was sie mir ja erst neulich beim Essen schadenfroh unter die Nase gerieben hat.«
Kaneron runzelte die Stirn. »Das stimmt. Allerdings hat es sie nur noch entschlossener gemacht, ihre Bestimmung zu verweigern. Es wird schwer für sie werden, sobald sie sich Rinaro oder einem anderen Mann unterordnen muss.«
Die Erwähnung von Sanijas unerwünschtem Verlobten versetzte Matinion einen Stich im Herzen. Ein Teil von ihm wäre gern an seiner Stelle. Bis er sich an die übersprühende Wut erinnerte, mit der sie über ihn wetterte. Nein, so sollte sie niemals über ihn reden. Das würde alles zerstören, was sie verband. Zumal Dalea eine liebevolle, gute Frau war. Die Ehe mit ihr würde sicherlich friedlich und harmonisch werden. Auch wenn ihr das Feuer fehlte, das Sanija im Übermaß besaß.
***Schweigend warteten sie, bis das Kaninchen gar war. Derweil tranken sie etwas Schnaps. Allerdings hielten sie sich zurück, schließlich wollten sie das Essen ja würdigen.
»Was meinst du, ist das Vieh durch?«, fragte Kaneron.
Matinion zog das Kaninchen vorsichtig mit einer großen Gabel heraus und befühlte es. »Vielleicht. Aber ich bin kein Koch. Besser, wir warten noch ein paar Minuten.«
»Ach was!« Kaneron lachte. »Das geht schon. Vergiss nicht – je schneller wir essen, desto eher können wir uns richtig betrinken.«
Matinion setzte zu einer Antwort an, als ein hölzernes Knirschen ihn aufmerken ließ. Es hörte sich anders an als die üblichen Geräusche im Wald. Als risse ein Riese Holz mit den bloßen Händen auseinander. Der Klang war drängend, bedrohlich und sein Herz begann zu rasen. Etwas daran wirkte vertraut, auch wenn er nicht wusste, woher er es kannte. Klar war nur, es waren keine guten Erinnerungen. All seine Instinkte rieten ihm zu fliehen. Aber er würde nicht wie ein Kind weglaufen, nur weil ein Ton ihn ängstigte!
»Psst, Kaneron. Hast du das auch gehört?«
Sein Freund schüttelte den Kopf, verstummte allerdings. Wie ein Hund, der die Witterung aufnimmt, reckte und drehte er sich hin und her. Eine Weile schwiegen beide Männer. Nur Stille antwortete ihnen. Matinion runzelte die Stirn. Hatte er sich getäuscht? Hatte er bloß ein Tier gehört? Aber nein, dieses Geräusch hatte anders geklungen.
»Du und deine Schreckhaftigkeit«, brummte Kaneron schließlich. »Kein einziger Laut ist zu hören.«
Es stimmte, die Ruhe war beinahe greifbar. Zu still war es, wie Matinion jetzt fand. Eulen hätten rufen oder Grillen ein Konzert der Nacht anstimmen müssen, stattdessen herrschte unheimliches Schweigen. Die sonderbare Nervosität verstärkte sich in ihm. Impulsiv griff er zu seiner Axt, die er wie immer bei sich trug. Sie diente ihm ebenso als Waffe wie als Werkzeug.
Kaneron stöhnte. »Du übertreibst, mein Freund. Außer uns ist hier niemand.« Er schlug ihn in die Seite. »Sag mir lieber eins: Fieberst du schon der Brautnacht entgegen?«
Matinion musste wider Willen grinsen. Dieser alte Schwerenöter kannte kein Pardon. Tatsächlich machte ihn der Gedanke an die Brautnacht unruhig, allerdings aus anderen Gründen, als sein Freund vermutete. Sie sollte ein Symbol der Vereinigung ihrer Seelen sein. Dazu müsste er Dalea mehr lieben, als er es tat. Das würde Kaneron jedoch nicht verstehen. Daher überlegte er, was er antworten sollte. Zur Ablenkung nahm er einen Schluck Schnaps.
Sein Freund beobachtete ihn feixend. »Das nützt dir auch nichts, Matinion. Ich kriege es schon noch aus dir heraus und wenn es die ganze Nacht dauert. Ich kann warten – und trinken!« Fröhlich hob er sein Glas, um einen Schluck zu nehmen.
Da ertönte erneut das dumpfe Krachen. Kaneron zuckte zusammen. »Jetzt habe ich es auch gehört! Was war das? Das ist kein Tier, das weiß ich.«
Matinion nickte grimmig. Hastig sprang er auf und schloss seinen Griff fester um die Axt. Kaneron erhob sich ebenfalls, um nach der Waffe zu greifen. Gemeinsam spähten sie in die Dunkelheit, die der Mond nur spärlich erhellte.
Wieder ertönte der dumpfe, knackende Laut und auf einmal wusste er, woher er es kannte: Das waren die Schritte der Todesbäume! Dieses Geräusch hatte ihm jahrelang Albträume bereitet.
»Die Arboranos sind unterwegs. Los, wir müssen sofort zu den Pferden. Beeil dich!« Schon drehte er sich um und wollte zu seinem Tier rennen, das wieherte und an den Zügeln zerrte, mit denen es angebunden war. Doch Kaneron stand da wie erstarrt, offensichtlich unfähig, sich zu bewegen.
Ein weiteres Donnern erklang, lauter diesmal und eine Ahnung von Tod verbreitend. Matinion versetzte seinem Freund einen Stoß und trieb ihn zu den Pferden. Schrill wieherten sie, als spürten sie die herannahende Gefahr. Die krachenden Schritte wurden lauter, schneller.
Sie rennen, um uns zu erwischen, dämmerte ihm. Sie wissen, dass wir fliehen wollen.
Hektisch versuchte Matinion die Zügel zu entwirren, doch sein Pferd scheute und tänzelte nervös umher. Fluchend holte er sein Messer heraus und zerschnitt den Zügel. In einer fließenden Bewegung sprang er auf das Tier, das sofort lospreschen wollte. Matinion hielt die verbliebenden Teile der Zügel noch fester und hinderte das Pferd so am Davonlaufen.
