Bolwieser - Oskar Maria Graf - E-Book

Bolwieser E-Book

Oskar Maria Graf

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Beschreibung

Als der Bahnhofsvorsteher Xaver Bolwieser erfährt, dass seine Frau ihn betrügt, gerät seine kleinbürgerliche Welt ins Wanken. Die Gerüchteküche brodelt. Um seine Ehe und seine Ehre zu retten, schwört Bolwieser einen verhängnisvollen Meineid. Der erste »Spießerroman« Grafs , tragikomisch und realistisch erzählt: Ein Mann ist seiner Frau hörig, seine blinde Liebe treibt ihn in die Katastrophe.

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Das Buch

Der Bahnhofsvorsteher Xaver Bolwieser ist frisch verheiratet. Seine Frau Hanni ist sein ganzer Stolz. Mit ihr hat er sich ein gemütliches Heim geschaffen. Ansonsten möchte Bolwieser seine Ruhe haben. Doch eines Tages trifft Hanni, reiche Tochter eines Brauereibesitzers, einen Jugendfreund wieder. Sie beginnt eine Affäre mit ihm. Als sie eine Weile später auch noch den Liebhaber wechselt, beginnt es in der kleinstädtischen Gerüchteküche heftig zu brodeln. Bolwieser hingegen schwört einen Eid auf Hannis »Unschuld«. Das Schicksal nimmt seinen Lauf, denn dieser Meineid bringt ihn ins Gefängnis.

Oskar Maria Graf schrieb über sein Ehedrama aus der Provinz: »Mein ›Kleinbürger‹ Bolwieser ist irgendein Mensch, der einfach ins Tragische versinkt.«

Bolwieser erschien erstmalig 1931.

Der Autor

Oskar Maria Graf wurde 1894 in Berg am Starnberger See geboren. Von 1911 an lebte er als Schriftsteller in München. Bereits in Wien im Exil protestierte er 1933 mit seinem berühmten »Verbrennt mich!«-Aufruf gegen die Bücherverbrennung und gegen die Regierung der Nationalsozialisten. Ab 1938 lebte er in New York, wo er am 28. Juni 1967 starb.

In unserem Hause sind von Oskar Maria Graf bereits erschienen:

Das bayrische Dekameron · Bolwieser · Kalendergeschichten · Das Leben meiner Mutter · Unruhe um einen Friedfertigen · Die Weihnachtsgans und andere Wintergeschichten · Wir sind Gefangene

Oskar Maria Graf

Bolwieser

Roman einer Ehe

List Taschenbuch

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ISBN 978-3-8437-0867-8

1. Auflage August 2010

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2010

Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München

Titelabbildung: trevillion / Paul Knight

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: CPI – Clausen & Bosse, Leck

»Beschaffenheit des Menschen: Haltlosigkeit, Langeweile, Angst.«

»Wäre unsere Beschaffenheit wirklich glücklich, so brauchten wir uns nicht zu scheuen, an sie zu denken, um glücklich zu sein …«

Pascal

»Nur eines ist in der Welt sicher: Das Weib. Du erwartest von ihr nichts als Süßes. Das Süße kommt aber nur von dir selbst. Etwas anderes erwartest du von ihr nicht, darum gibt es auch keinen Betrug.«

Aus »Der Russe redet«

I.

In einer Kleinstadt, an einem strahlenden Sommermorgen, ein unaufgeräumtes, nett möbliertes Schlafzimmer noch nicht lang verheirateter Leute – wenn aus den offenen Fenstern die blühweißen Decken und Leintücher gestülpt sind, und die Sonne allmählich den ganzen Raum erglänzen läßt – das hat etwas Bestrickendes!

Die Erinnerung an die vergangene Nacht umwebt noch jedes Möbelstück. Die heitere Helligkeit kriecht nach und nach in die heimlichsten Nischen. Die frische Morgenluft vermengt sich mit dem eigentümlich erregenden Körpergeruch, welcher sich noch nicht ganz verfl üchtigt hat, lockert ihn langsam auf und erfüllt den Menschen, der sich zufällig in dem betreffenden Zimmer aufhält, mit einem verschwiegenen, unbeschreiblich wohltuenden Triumph.

Ein Mann von fünfundzwanzig Jahren verfällt dabei in eine zärtliche Illusion. Ein neugebackener Ehemann Mitte der Dreißig aber steht gelassen da wie ein überlegener Sieger und empfindet ganz körperlich.

Er ist satt.

»Schön war’s! … Wunderschön!« resümiert er. Alle Geschehnisse der Nacht wachen wieder auf in ihm. Die Regungen, deren er sich entsinnt, hält er mit lüsterner Bedachtsamkeit fest. Er denkt an die lächerlichsten Kleinigkeiten. An vieles! Und es ist doch immer nur der Körper seiner Frau.

»Alles gehört dir! Ganz dir! Nur dir!« jauchzt er insgeheim und spürt Kraft und Leben. Jung, unsagbar jung glaubt er zu sein, und es ist ihm, als seien alle Frauen der Welt wie die seine, als hätten auch sie nur quellende Brüste, einen ebenso feuchten Mund, dieselben weichen Arme und die gleichen heißen, zuckenden Schenkel.

Dieses Gefühl steigert sich bis zur gierigen Zuversicht, daß jede Nacht so und nicht anders, ja, womöglich noch berauschender sein wird! Er taumelt in Gedanken in die verwegensten Lüste …

Solcherart stand der Bahnhofsvorstand Xaver Bolwieser im Schlafzimmer seiner Dienstwohnung vor dem großen Spiegel und zog an den beiden Enden seines karierten Selbstbinders. Er war ein mittelgroßer, leicht beleibter Mann, mit gesundem Gesicht und gutmütigen, braunen Augen. Sein unverbrauchtes Haar war glatt gescheitelt und hob die Rundheit des Kopfes noch mehr hervor. Zwischen den rosigen Backen hügelte sich die stumpfe, kurze Sattelnase, und darunter borstete sich ein dichter, sorgfältig zurechtgestutzter Schnurrbart.

Die Tür zum Gang stand offen, und von der nach hinten liegenden Küche kam Tellergeklapper und ein summendes Singen. Seine Frau bereitete das Frühstück. Der Duft des eben aufgebrühten Kaffees schwamm daher. Bolwieser schnupperte behaglich daran und bekam ein noch glücklicheres Gesicht. Er ließ den Selbstbinder los und atmete tief.

Draußen vor den Fenstern stand der freundliche Tag. Silbern funkelten die Gleise in der Sonne und liefen vielverschlungen unter die hohe, verrußte Brücke. Die Stadt mit ihren altertümlichen, ineinandergeschachtelten Häusern sah appetitlich aus, und der klare Himmel spannte sich wie eine durchsichtige Glasglocke darüber.

Bolwieser wandte sich wieder dem Spiegel zu und entdeckte darin das zart rosafarbige, reichbestickte Nachthemd auf dem Bett seiner Frau. Mechanisch griff er nach seinem Selbstbinder, aber seine Hände blieben untätig. Er betrachtete immer und immer dieses hübsche Hemd. Der weiche Batist rann über die Bettkante. Flach ausgebreitet war das Hemd und verriet trotzdem noch deutlich die Formen des Körpers, welcher es getragen hatte.

Der Bahnhofsvorstand bekam merkwürdig haltlose Züge. Seine Lippen öffneten sich ein wenig. Dann verschwamm ihm der Blick. Hm, ja, gestern nacht, hmhm!

Beim Greinbräu war er mit dem Oberförster Windegger und dem Oberinspektor Lederer zum Tarock gewesen.

»Zahlen jetzt, zahlen, Mariele!« sagte der Oberinspektor und legte die Karten hin. Jeder steifte den müdgekrümmten Rücken. Bolwiesers Kopf war dumpf und ein wenig drehrig. Die strammgewachsene, blutjunge Kellnerin kam herbei: »Drei Maß Helles, Herr Oberinspektor, und ein Gulasch.« Ihre sanft ausbuchtende Hüfte berührte die Schulter des Sitzenden, und dieser hob nickend sein unbelebtes, blasses Stubengesicht, lächelte verspielt und tätschelte wie zufällig den Hintern des Mädchens. Nur so …

Die drei im rauchigen Nebenzimmer waren die einzigen Gäste zu so später Stunde. Längst war draußen die Wirtsstube dunkel und still. Ausgelaugt vom Kartenspiel und leicht angeheitert vom Bier saß man da. Jeder blickte auf die Kellnerin. Die hatte ihren Oberkörper in den Tisch gebeugt und rechnete zusammen.

Drei sozusagen erprobte Ehemänner umgaben sie.

Bolwieser lugte in ihren Blusenausschnitt und entdeckte unter dem Gekräusel der bespitzten Unterwäsche eine prächtig erblühte, weiße, feste Brust. Er nahm etliche gierige Augen voll. Verborgen und geschwind. Das aber entging dem Oberförster Windegger nicht. Auch er fuhr jetzt angeregt über die prallen Hinterbacken des Mädchens und scherzte: »Mariele? … Mariele! Du scheinst ja direkt gar nichts unten drinn’ anzuhaben, was?« Die Kellnerin fand nichts Anstößiges an diesen Zudringlichkeiten und gab vorwitzig zurück: »›Ja, warten S’! Anpumpeln werd’ ich mich bei so einer Hitz’ wie eine Klosterfrau!« Das erheiterte.

»Hast recht, Mariele!« unterstützte sie Windegger lustig: »Ganz recht! Wo nichts ist, braucht man nichts wegräumen, wenn’s drauf ankommt.« Und keck kniff er sie, daß sie sich lässig wegwandte und ungeniert sagte: »Ah Sie! … Was Sie schon wieder alles meinen, Herr Oberförster!« Jeder amüsierte sich darüber. Dann ging man gemütlich.

Als Bolwieser später im ehelichen Schlafzimmer ankam, traf er sein Frau noch wach. Er beugte sich nieder und küßte sie, aber sie wischte wie enttäuscht mit der Hand über ihren Mund und schalt vorwurfsvoll: »Pfui! Du riechst so nach Bier! Pfui!« Sie streckte sich atmend: »Ach, ist das eine Hitze heut’! Nicht zum Einschlafen!« Er überflog sie mit jäh erweckten Augen, murmelte einige Entschuldigungsworte heraus und verschwand hastig durch die Türe. Im Bad machte er Licht, ließ das kalte Wasser über seinen Kopf rinnen und spülte sich gurgelnd den Mund aus.

»He! Du! … Xaver?« hörte er sie mittendrinnen halblaut rufen und gab ebenso Antwort: »Ja! Jaja! Gleich komm’ ich! Gleich!« Eilig trocknete er sich ab, und als er zurückkam, brannte das Licht auf ihrem Nachttisch. Sie lag erwartungsvoll bereit im aufgedeckten Bett und lächelte ihn sonderbar an. Ihr Haar war geordnet, ein feiner, süßer Duft entstieg ihrem Körper, und das rosa Nachthemd hatte sie an.

»Komm!« hauchte sie verhalten: »So spät ist’s schon!«

»E-entschuldige! Entschuldige!« stammelte er: »A-aber morgen hab’ ich ja keinen Dienst.« Er war ganz frisch.

»Komm! Komm doch!« hob sie ihre nackten, weichen Arme, und er erbebte. Das Licht erlosch erst, als die milchweiße Dämmerung durch die offenen, verhängten Fenster rann …

*

»Xaver! Na, was ist’s denn? Wie lang brauchst du denn noch?« erklang nun die helle Stimme der Frau Bahnhofsvorstand in der Küche. Bolwieser schrak zusammen und zog und zerrte heftiger an seinem Selbstbinder.

»Verdammt und noch mal verdammt!« knurrte er und rief lauter: »Hanni! Geh! So komm doch einmal her! Ich bring’ und bring’ die Krawatte nicht ein!«

»Mit diesen verdammten modernen Umlegkragen wird man ewig nicht fertig!« murrte er, als seine Frau daherkam. Die neckte ihn spöttelnd: »Ich sag’ ja! Ich sag’ ja! Ihr Männer! … Wie Kinder muß man euch anziehn!« Geschickt zog sie die Schleife zurecht. Auf seinem gereckten Hals stand der Kopf wie eine runde, rote Kugel. Seine Blicke ruhten beständig auf ihrem frischen, kirschbackigen Gesicht.

»Gott sei Dank!« atmete er auf. Ganz nah war sie. Er spürte ihren warmen Leib. »Du! … Ich weiß nicht – ich kann kaum ruhig stehen neben dir!« raunte er mit belegter Stimme und preßte sie an sich. Sie ließ ihn gewähren. Schmatzend küßte er ihre gespannte Wange. Sie riß sich endlich los von ihm und sagte mit freundlicher Resolutheit: »So, jetzt aber Schluß! Gockel!« Im Sonntagsstaat stand er da. Er mußte als Beisitzer zu einem Disziplinarverfahren gegen einen Kollegen nach München.

Beim Frühstück fragte Hanni einmal nebenher: »Kommst du heut’ noch zurück, oder dauert’s wieder länger, meinst du?«

Die Signale drunten im Stationsgebäude läuteten scheppernd. Ab und zu pfiff eine Lokomotive schrill und fauchte lang hin. An- und abfahrende Züge ließen das Haus leise erzittern. Bolwieser hörte durch dieses vertraute Geräusch nur den Wunsch der eben gesprochenen Worte.

»Jaja, sicher! Sicher komm’ ich heut’ noch! Sicher«, erwiderte er und zerkaute mit größtem Appetit die zurechtgemachten röschen Buttersemmeln. Zufrieden schlürfte er den Kaffee in sich hinein. Der Kanarienvogel trillerte hell und munter im Bauer. Die Pendeluhr an der Wand tickte gemächlich. Auf den tauglänzenden Topfblumen, welche das Fenster umrahmten, stand die blinkende Sonne. Von den Straßen herauf drang der fleißige Lärm des Tages. »Herrgott, so ein dienstfreier Tag ist doch was sehr Schönes!« sagte der Bahnhofsvorstand und setzte zweideutig zwinkernd hinzu: »Und nach so einer Nacht, da schmeckt mir das Frühstück immer noch mal so gut.« Hannis Blikke umflogen ihn wohlgefällig. Er aß und aß. »Es wär’ mir schon sehr recht, wenn du heut’ noch heimkämst«, sagte sie abermals und betonte dabei das Wörtchen »sehr«. Gesund und füllig saß sie ihm gegenüber. Ihr dichtes schwarzes Haar war streng nach hinten gekämmt und gab ihrem frischen Gesicht eine erregende Nacktheit. Wie zwei rosige Muscheln klebten die Ohren an den Kopfseiten. Eine einfache, gestreifte Waschbluse trug sie, die ihre Formen vorteilhaft verriet. Ihr ebenmäßiger Hals verlief im dreieckigen, mit einem schmalen, weißen Krägelchen umsäumten Ausschnitt, und darunter lugte die zartgebuchtete Brustgrube hervor.

»Ich komm’, sobald ich kann«, versprach er erneut und weidete sich an ihrer Erscheinung. Endlich erhob er sich, streckte sich ein paarmal, machte sich fertig und ging.

Prüfend durchschritt er drunten noch einmal alle Stationsräu me und zeigte dabei eine ernste, pfl ichtwichtige Miene. Laut, daß es jeder hören mußte, regierte er herum. Kurz und sachlich erteilte er seinem Stellvertreter, dem dürren, devoten Sekretär Mangst, nebensächliche Anweisungen. Dann wünschte er allen herablassend einen »Guten Morgen« und trat durch den Stellwerkraum auf den Perron hinaus.

Es warteten nur wenige Leute auf den Zug. Der Oberförster Windegger war darunter und gesellte sich zu ihm. Er mußte drei Stationen weiter zur Holzrevision fahren. Während des Fahrens kamen sie ins schönste Gespräch.

»Gestern – das war einmal wieder ein handfester Männertarock«, meinte Windegger und kam auf den Oberinspektor Lederer zu sprechen, von dem jeder Bekannte wußte, was für eine bissige Frau er hatte.

»Gestern war er aufgekratzt, der Oberinspektor«, erzählte der Förster geschwätzig weiter: »Ja, wissen S’, Herr Vorstand, seine Frau ist augenblicklich verreist … Da darf er ja ausbleiben … Da macht’s nichts. Aber sonst! Oje! Oje! Wenn er da nicht um elf Uhr daheim ist, da kracht’s grausam … Hmhmhm, so ein patenter Mensch, hm, und so ein Drachen! Ganz Werburg spricht darüber … Förmlich zum Gespött hat er sich schon gemacht, der arme Mensch … Mein Gott, so was!« Er kam immer mehr in Fluß: »Na, ich kann’s verstehen, daß man seiner Frau Gemahlin da und dort ein wenig nachgibt. Nichts einzuwenden gegen eine schickliche Rücksicht, aber so was von unterm Pantoffel, das geht denn doch schon über die Hutschnur!« Bolwieser kam gar nicht zu Wort. Er konnte nur ab und zu nicken oder den Kopf schütteln.

»Ein Mann in seiner Stellung und dabei so verträglich. Trinkt nicht, wirft das Geld nicht ’naus, hmhm, und ewig ist er krank auch noch … Keine Sorgen haben die zwei Leut’ln, keine Kinder … Ich versteh das nicht. Ganz vergrämt ist er schon. Und gestern, da hat man’s wieder gesehen. Humor hätt’ er sogar …«

»Jaja, gestern war er fidel«, wollte der Bahnhofsvorstand einfallen, doch schon redete sein Begleiter darüber hinweg: »Ich kenn’ ihn, seit er in Werburg ist. Das sind jetzt vierzehn Jahr’ … Entgegenkommend, kulant, pfl ichttreu und absolut ohne jeden Stolz. Jeder mag ihn – daheim aber, bei ihr, da hat er die reinste Höll’! … Direkt aufschnaufen tut er jedesmal, wenn er unter die Leut’ kommt.«

»Bedauerlich! Bedauerlich so was«, brummte Bolwieser: »Sie wird doch nicht etwa gar eifern, die Frau Oberinspektor?«

»Eifern? Ah! Er ist doch weit über fünfzig!«

»Soso … Ausschauen tut er wie siebzig … Recht was Leidendes hat er«, sagte der Bahnhofsvorstand wiederum.

»Ja eben! Eben! Na, wie lang wird er denn schon noch das Leben haben? … An der Leber soll’s ihm fehlen. Höchstens fünf oder zehn Jahr’ geb’ ich ihm noch … Und was hat er alsdann gehabt von seinem Leben? Radikal nichts wie Kummer und Verdruß!« sagte Windegger und schloß mit der üblichen Betrachtung: »Ein Mann will seinen Frieden, weiter nichts; aber so ein Weib, das ist der Teufel auf der Welt.«

Bolwieser zog sein Taschentuch und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Ihn interessierten anderer Leute Angelegenheiten wenig. Er blickte flüchtig durch das Fenster. Erntegelbe Felder und abgemähte Wiesen fl ogen vorüber. Fern an den buckligen Hügeln hingen dunkle Wälder, und kein Windhauch rührte sie.

»So eine mordialische Hitze heut’«, bog der Bahnhofsvorstand das Gespräch in eine andere Richtung.

»Ja, und ewig will’s nicht regnen, ewig nicht«, pfl ichtete Windegger bei und betrachtete ebenfalls die vorüberkreisende Landschaft: »Überall klagen die Bauern.« So plätscherte das Gespräch inhaltslos weiter, bis der Zug mit einem harten Ruck in Plandorf anhielt. Herzlich verabschiedete sich Windegger. Bolwieser war froh, als er allein war. Er knöpfte seine Weste auf, streckte die Füße gradaus und machte sich’s bequem auf seinem Sitz. Ab und zu fielen seine Augenlider herab. Einem ruhigen Nachdenken gab er sich hin.

Der Oberinspektor Lederer kam ihm in den Sinn. Was für ein mürbgewordener, kränklicher Mensch! Wie gestern dieses verkümmerte Gesicht auf einmal erschimmerte, als er die Kellnerin tätschelte.

Mitleid mit diesem Mann überkam ihn. Er sah Lederer vor sich und sah dessen Frau, sah beide öd und schweigsam in einem ewig aufgeräumten, unbehaglich sauberen Wohnzimmer – sie häkelt womöglich unentwegt, er sitzt da und liest uninteressiert die Zeitung, langweilt sich, möchte reden, aber sie gibt karge Antworten. »Könntest mir doch wenigstens was vorlesen!« sagt sie muffig. Er möchte ganz etwas anderes, hätte Lust auf eine Zigarre oder sich mit jemandem zu unterhalten und fängt tonlos und gleichgültig zu lesen an. Sie sitzt da mit ihrem zerfallenen, abgeblühten Gesicht. Ihre lichtlosen Augen hebt sie nach einer Weile, ihr magerer zänkischer Hals bekommt noch mehr Buchtungen, und dann weist sie ihn feindselig zurecht: »Danke! Danke! … Wenn du nicht fortgehen kannst, bockst du mir was vor!« Er schweigt, wagt nicht einmal zu seufzen und geht schließlich zu Bett …

»Die sollten Kinder haben, dann wär’s vielleicht besser«, brümmelte Bolwieser gedankenversunken vor sich hin: »Die schon …« Überraschend zwängte sich eine Erinnerung in seine trüben Betrachtungen. In der Hochzeitsnacht, als sich ihre bis zum Platzen erregten Körper ineinander verkrampften, hatte Hanni fast ängstlich herausgestoßen: »Aber gell, Xaverl, kein Kind vorläufig! Kein Kind, ja kein’s, gell! Da warten wir noch!« Eigentümlich – er erschrak damals fast darüber. Später aber, an ruhigen Tagen, waren sie übereingekommen, daß ihre Ehe viel reizender ohne Kind sei. Auf einmal zerrann all die Traurigkeit um Lederer. Aus dem Bereiche dieses unfrohen Beispiels wechselte Bolwieser in sein eigenes hinüber. Er spürte plötzlich wieder Hanni in sich. Beinahe etwas wie ein schadenfroher Übermut überwältigte ihn, als er Lederers Ehe mit der seinen verglich.

Es gibt nichts Grausameres als glückliche Ehemänner!

Kurz vor seiner Beförderung zum Bahnhofsvorstand in Werburg – knappe zwei Jahre war es erst her – hatte Bolwieser die Brauereibesitzerstochter Hanni Neithart aus Passau geheiratet, und alles an ihr war wie für ihn bestellt: Drei Jahre jünger als er, längst über die Mädchenschwärmereien hinaus, ganz aufgeblüht, tüchtig und reif, lebhaft und heiter.

Und?

Bolwieser suchte nach einem Wort. Erst kurz vor München fand er den richtigen Ausdruck.

»Ganz aufeinander eingefahren«, fiel ihm ein: »Ganz und gar.« Sein Beruf gab ihm oft solche Bezeichnungen ein. In der besten Stimmung verließ er den Bahnhof.

II.

Wenn ein kleinstädtischer Familienmensch, der gewohnt ist, tagaus, tagein streng eingeteilt seine liebgewonnene Arbeit zu verrichten, auf einmal zwei, drei Stunden in einer fremden, heißen, lärmenden Großstadt wartend zubringen muß, das macht ihn müde und unlustig. Anfangs hat er noch einen klaren Kopf. Er überlegt geruhig, wie er seiner Frau eine Freude machen könnte. Tausend wünschenswerte Dinge sieht er in den Auslagen aufgestapelt. So viele Nettigkeiten entdeckt er darunter, daß ihm die Wahl schwer wird. Endlich geht er doch in einen Laden, kauft schüchtern etwas, freut sich darüber, aber schon drei, vier Schritte weiter, in einer anderen Auslage oder im Warenhaus, fällt ihm weit Schöneres in die Augen und ist womöglich noch billiger. Er ärgert sich, daß er sich beim ersten Antrieb gleich so überrumpeln ließ. Die Fülle der Abwechslung verwirrt ihn. Die Menge stumpft ihn schnell ab. Er sieht zuletzt überhaupt nichts mehr und will auch nichts mehr sehen. Er läuft planlos durch die Straßen und weiß nicht, was er unter den vielen hastigen Menschen anfangen soll. Jeder und jede fliehen an ihm vorüber, seine Blicke wollen verweilen, wollen ein Bild, ein Ganzes, aber ehe er richtig zum Schauen kommt, ist alles schon wieder weggeweht. Die grellen Farben kühner Damenkleider, ein schöngeschwungenes, glänzend bestrumpftes Bein, verstörte und heitere Gesichter, eine geschwinde Welle Duft, ratternde Trambahnen, surrende Autos, Schutzmannshelme, Hupen, Klingeln, Signale, Krachen und Wortfetzen – alles wirbelt als undeutliches Gemeng durch ihn, und er wird mehr und immer mehr interesselos. Verhetzt kommt er in ein Café, durchblättert gleichgültig die Zeitungen, er verdöst da und dort die Zeit, steht zum Schluß noch verdrießlicher auf, geht wiederum zwecklos herum und kommt sich ganz ausgepumpt und verloren vor.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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