Wir sind Gefangene - Oskar Maria Graf - E-Book

Wir sind Gefangene E-Book

Oskar Maria Graf

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Beschreibung

Kraftvoll, ehrlich und mit schonungsloser Offenheit schildert Oskar Maria Graf seine Erlebnisse von der Kindheit bis zum Ausgang des Ersten Weltkriegs und der Zeit der Münchner Räterepublik. Eine ebenso packende wie berührende Autobiographie und ein Zeitdokument erster Güte - Oskar Maria Graf wurde mit diesem Werk schlagartig berühmt. Bis heute ist es eines seiner wichtigsten Bücher.

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Seitenzahl: 712

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Das Buch

Als Graf seine romanhafte Autobiographie Wir sind Gefangene 1927 veröffentlichte, bedeutete es für ihn den literarischen Durchbruch. Anerkannte Schriftsteller wie Thomas und Heinrich Mann, Maxim Gorki oder Romain Rolland sprachen ihm ihre Bewunderung aus. Aufrichtig, eindringlich und bisweilen entwaffnend selbstironisch erzählt Graf, wie er als junger Mann aus der verhaßten dörflichen Backstube geprügelt wurde, in die Großstadt München ging und versuchte, als Dichter in den Kreisen der Schwabinger Bohème Fuß zu fassen. Er schloß sich den Anarchisten um Erich Mühsam und Gustav Landauer an und vagabundierte mit einem befreundeten Maler durch die Schweiz. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs verweigerte er den Befehl und nahm bewußt die Einweisung in eine Irrenanstalt auf sich, um dem Töten zu entgehen. Er engagierte sich während der Revolution 1918 und schildert die Entstehung der Münchner Räterepublik wie ihre brutale Niederwerfung – stets auf der Seite derer, die ganz unten stehen.

»Er treibt es unmöglich und erregt Lachen und Kopfschütteln; aber er gewinnt dabei unser Herz.« Thomas Mann

»Ein tiefbewegendes Werk, in seiner Aufrichtigkeit nur vergleichbar mit Rousseaus Bekenntnisse.« Romain Rolland

Der Autor

Oskar Maria Graf wurde 1894 in Berg am Starnberger See geboren. Von 1911 an lebte er als Schriftsteller in München. Bereits in Wien im Exil, protestierte er 1933 mit seinem berühmten Verbrennt mich!-Aufruf gegen die Bücherverbrennung und gegen die Regierung der Nationalsozialisten. Ab 1938 lebte er in New York, wo er am 28.Juni 1967 starb.

In unserem Hause sind von Oskar Maria Graf bereits erschienen:

Das bayrische Dekameron · Bolwieser · Kalendergeschichten · Das Leben meiner Mutter · Unruhe um einen Friedfertigen · Die Weihnachtsgans und andere Wintergeschichten · Wir sind Gefangene

Oskar Maria Graf

Wir sind Gefangene

Ein Bekenntnis

Mit einem Vorwort von Konstantin Wecker

List Taschenbuch

Die vorliegende Fassung folgt der 1927 im Drei Masken Verlag, München, publizierten Erstausgabe.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.ullstein-buchverlage.de

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ISBN 978-3-8437-0864-7

1. Auflage März 2010

3. Auflage 2013

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2010

© 1994 by Paul List Verlag in der Südwest Verlag GmbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München

Titelabbildung: Howard J. Winter (Fotograf); © zefa/Corbis

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Vorwort

Kaum ein Buch hat mich bereits als Jugendlicher so in seinen Bann gezogen, so lachen und weinen lassen wie die Autobiographie des ewig aufmüpfigen Bayern Oskar Maria Graf. Dessen Obsession, ständig einer Gefangenschaft entfliehen zu wollen, kenne ich sehr gut, obwohl sich meine behütete Kindheit doch sehr unterscheidet von der des Urgesteins aus Berg am Starnberger See: »Zehn Jahre war ich alt … als einer zu befehlen begann, mich anschrie, prügelte und immer noch mehr prügelte. Zehn Jahre war ich alt, als ich anfing zu wissen, was Zwang ist, und anfing, ihn zu hassen.«

Aufgewachsen in einer Backstube, großgeprügelt von seinem Bruder Max, erinnert sich Graf keines lieben Wortes in seiner Kindheit. Und bald beginnt sein lebenslanger Privatkrieg gegen die Autoritäten, der ihn zum Rebellen und Pazifisten macht. Dem Ersten Weltkrieg entzieht sich Graf auf unnachahmliche Weise: Er lacht und hört nicht auf zu lachen, bis er von der Front weg in ein Irrenhaus kommt. Des Ehrentitels »Schandfleck der ganzen bayrischen Armee« erweist sich Graf bis an sein Lebensende als würdig. 1958 bringt er seinen Pazifismus auf den einfachen Punkt: »Ich werde niemals einen Staat oder irgendein System mit der Waffe verteidigen, weil das für mich barbarisch ist. Wenn ich Sie umbringe, kann ich nicht mehr mit Ihnen reden.«

Noch nie wurde eine Autobiographie von solch schonungsloser Selbstentlarvung geschrieben, noch nie hat sich jemand so ironisch und fast schon unangenehm ehrlich als einen beschrieben, dem es ausschließlich ums Überleben geht, jenseits von Gut und Böse, frei von moralischem und ideologischem Pathos. Mit großer erzählerischer Kraft, vor keiner Schwäche haltmachend, malt Graf im Prisma seines Lebens das Porträt einer durch Repression und Weltkrieg traumatisierten Generation. Wir sind Gefangene reicht bis zur blutigen Niederschlagung der Rätedemokratie durch protofaschistische Freikorps. Es war Grafs Durchbruch als Schriftsteller. Und es müsste Standardlektüre im Deutschunterricht werden.

Konstantin Wecker

Vorwort von Oskar Maria Graf zur ersten Ausgabe nach 1945

Dieses Buch, das nunmehr in der unveränderten Fassung der Erstausgabe vom Jahre 1927 neu erscheint, war für meine ganze literarische Existenz von grundlegender Bedeutung. Bis dahin nämlich hatte ich mir durch ein Bändchen expressionistischer Allerweltsgedichte, einige derbsatirische Bauernskizzen im Simplizissimus und in der Jugend und ein Büchlein ernster Dorfgeschichten, hauptsächlich aber durch mein verwildertes Bohemeleben in München nur eine gewisse Lokalpopularität erworben, die über das Künstlerviertel Schwabing kaum hinausreichte. Im übrigen muß ich offen gestehen, daß ich damals meine Schriftstellerei noch für eine ziemlich fragwürdige Angelegenheit hielt, für eine mühelose Beschäftigung, die sich lediglich aus einem lustvollen Erzählertalent, aus sehr viel Eitelkeit, etlichen originellen Ideen und einem sehr frechen, draufgängerischen Leichtsinn zusammensetzte.

Das wurde mit dem Erscheinen von Wir sind Gefangene mit einem Schlage anders. Das Buch erregte ein ungeheures Aufsehen, wurde in allen Kreisen heftig diskutiert, in der tonangebenden Tagespresse und den seriösen Zeitschriften einhellig bewundert, und in rascher Aufeinanderfolge erschienen englische, französische, spanische und russische Übersetzungen. Außer der stark nachhelfenden Propaganda des Verlages, der ein Plakat mit einem überlebensgroßen Bild von mir und dem Balkentext »Der Autor des Tages – Das Buch des Jahres« in allen deutschen Städten an die Litfaßsäulen kleben ließ, verhalfen aber vor allem die begeisterten, eingehenden Äußerungen so großer Geister wie Romain Rolland, Maxim Gorki, Thomas und Heinrich Mann, Hugo von Hofmannsthal und anderer namhafter Autoren meiner Generation diesem schnellen Ruhm erst zu einer weitausgreifenden Wirkung. Damit war ich gewissermaßen in allen Ehren aufgenommen in unsere große, ernsthafte Literatur, und nicht nur das! »Aus Wir sind Gefangene hallt erstmalig und unüberhörbar der ingrimmige Entsetzensschrei der von Krieg, Nachkrieg und mißratener Revolution enttäuschten Jugend und klagt uns alle an!« hieß es in einer langen Rezension des später in die Tschechoslowakei emigrierten und dort von Hitleragenten ermordeten Theodor Lessing, und ich stand auf einmal – unversehens und ungewollt – stellvertretend als Sprecher der Jugend meiner Generation in der vordersten Front der sozialen und geistigen Auseinandersetzungen jener bewegten Jahre.

Wahrhaftig – die reißende Eitelkeit, welche so ein unverhofft leichter Triumph nun einmal erzeugt, ganz weggedacht –, wenn ich mich heute, nach über dreißig Jahren, an meinen damaligen Zustand zurückerinnere, so muß ich zugeben, daß mich all dieses überrumpelnde ungemein verwirrte, ja, ganz zuinnerst sogar schockierte, denn in all meinem Oberflächenleben beschäftigte ich mich seit langem sehr intensiv mit den Werken und Lehren meines gewaltigen Lehrmeisters Tolstoj, und das war nicht spurlos in mir geblieben. Jetzt auf einmal fing ich an, gründlich über mich und meine Stellung zur Literatur nachzudenken und landete stets bei der bedrängenden Frage: »Für was und für wen schreibt man? Ist der Schriftsteller nur da, um die höchste Sprachmeisterschaft zu erreichen, um mit subtilster Kenntnis der Psychologie irgendwelche Fälle des wirklichen Lebens verständlich zu machen und seine Leserschaft durch die Kunst seines Erzählertums zu faszinieren, oder besteht seine Aufgabe nicht vielmehr darin, mit seinem Schreiben das Unrecht auf der Welt, wo immer es sich auch zeigt, zu bekämpfen, die Menschen für soziale und moralische Einsichten empfänglich und für sich selbst verantwortlich zu machen, jeden Krieg als Verbrechen zu brandmarken, und auf die Gefahr hin, ein Leben lang verkannt und verdächtigt zu werden, stets einer Gesellschaftsordnung das Wort zu reden, in welcher gleiches Recht für jeden gilt und die Freiwilligkeit zur Einordnung in das Ganze schließlich zur sittlichen Regel wird?«

Von da ab wurde mir klar, daß ich nur noch ein Schriftsteller im letzteren Sinn, also zeitlebens ein sogenannter »engagierter« Schriftsteller sein konnte, dessen Talent zugleich eine unabdingbare menschliche und soziale Verpflichtung war. Ganz gewiß nämlich lag in allem Schönen, in jeder Kunst etwas Humanes, aber dieses Humane entzückte und rührte stets nur, zerfloß wieder und blieb ohne tiefergehende Wirkung. Es drang nicht hinein in die Zweideutigkeit des menschlichen Charakters, es zerstörte nicht dessen ererbte, gedankenlos übernommenen Vorstellungen, es war nicht imstande, den feigen, meinungslosen jedermann zu einem selbständig denkenden und handelnden Menschen zu machen. Auch die Kunst war etwas wie »Opium für das Volk«. Sie machte den einzelnen und ganze Völker widerstandsunfähig gegen das Sinnwidrige und Böse im Allgemeinleben, das wir in den letzten Schreckensjahrzehnten erleben mußten. Das konnte und durfte nie wieder die Aufgabe der Schriftsteller, der Künstler, der Geistigen sein! Blieben sie dabei, dann häuften sie auf die grauenhafte Mitschuld, die sie unleugbar in der Vergangenheit auf sich geladen hatten, noch unermeßlich mehr wirkliche Schuld, und das Schlimmste: Dann verläuft all ihr weiteres Mühen und Schaffen resonanzlos im blinden Nichts und bedeutet den nachfolgenden Generationen höchstenfalls noch soviel wie ein kurioses »Hobby« aus der Großvaterzeit. –

Wir sind Gefangene hatte aber auch – so wie ich es heute übersehe – eine noch ganz andere, außer mir liegende Bedeutung in der damaligen deutschen Öffentlichkeit. Das Buch war ein Vorläufer all der erst kurz darauf erscheinenden, unvergeßlich starken Antikriegsromane von Remarque, Renn, Plievier, A. M. Frey usf. und leitete eine geradezu hektisch ansteigende Produktion ähnlicher Werke aller politischen Richtungen ein, die – der herrschenden Konjunktur entsprechend – für manchen Verleger ein sehr lukratives Geschäft wurden.

Mein Buch jedoch, niedergeschrieben mit der ganzen bedenkenlosen, flackernden Subjektivität eines rebellischen Dreißigjährigen, unterschied sich von all diesen Nachfolgewerken sehr wesentlich. Es war keineswegs nur ein protestlerisches Antikriegsbuch. Es hatte sich, ohne daß ich dies ahnte oder wollte, sozusagen während des Schreibens zu einem umfassenden Dokument der höchst bewegten Zeit von 1905 bis zum Zusammenbruch der deutschen Revolution von 1918 ausgeweitet, und da sich hier einer aus der anonymen Masse nicht als überlegener Ankläger, Warner oder Mahner außerhalb seiner Gesellschaft stellte, sondern mitten in ihr verblieb und offen bekannte:»Das bin auch ich! Auch ich bin mitschuldig an der Katastrophe!«, hatte die damalige Jugend in diesem Buch ihren ungewollten Wortführer gefunden.

Gerade das hatte Thomas Mann als erster und einziger in seiner Besprechung ungemein fein witternd erspürt. Möglicherweise gewann deswegen Wir sind Gefangene die Herzen meiner Altersgefährten und setzte in all den Jahren keinen Staub der Antiquiertheit an, denn auch heute noch bezeugen mir unzählige Briefe von Lesern aus allen Weltrichtungen, wie unverstellt und aufhellend sie in diesem Buch ihre eigene Jugend beschworen finden, und das Allereigentümlichste ist, daß seither nicht wenige Historiker dieses subjektive Bekenntnis als objektives Quellenwerk der damaligen Zeit benutzen.

Hoffen wir also, daß diese Autobiographie auch der heutigen Jugend einiges zu sagen hat. Vor allem deshalb, weil sie aufzeigt, daß sich die damalige Jugend trotz aller Enttäuschung und Aussichtslosigkeit tapfer zu dieser ihrer Zeit bekannte und dennoch zukunftsgläubig blieb. Daß sich diese Zukunft nicht so erfüllte, wie sie es erhofft hatte, war nicht die Schuld dieser Jugend, die immer wieder ihr Leben einsetzte in den blutigen Kämpfen für diese Ziele. Um es noch einmal zu wiederholen: Daß eine ganz andere, schrecklichere Zukunft heraufkam, war und bleibt zum großen Teil die Schuld jener Geistigen, die sich, sobald die Politik notwendigerweise ins widerliche Detail gehen mußte, sofort wieder zurückzogen, um makellose Kunst zu produzieren. –

New York, USA, im Frühjahr 1965

Oskar Maria Graf

Vorbemerkung

Die nachfolgenden Aufzeichnungen umspannen die Zeit von meinem 11. bis zu meinem 25. Lebensjahre, beginnen 1905 und schließen Ende 1919 ab. Die Niederschrift des ersten Teiles wurde im April 1920 beendet, die des zweiten in den Jahren 1924 bis 26 beschlossen.

Nichts in diesen Blättern ist erfunden, beschönigt oder zugunsten einer Tendenz niedergeschrieben.

Erinnerung und nochmalige Vergegenwärtigung reihten Wort an Wort. Dieses Buch soll nichts anderes sein als ein menschliches Dokument dieser Zeit.

München, Ende Juli 1926      Oskar Maria Graf

Erster Teil

I Verändertes Leben

An jenem Mainachmittag, da der Lehrer plötzlich zur Türe hereinkam, auf mich und meine Schwester Anna zuging und uns sagte, wir dürften heimgehen, weil unser Vater sehr krank sei, empfand ich gar nichts. Auf der Straße redeten wir wenig und machten ernste Gesichter. Im Grunde waren wir froh, daß wir den langweiligen Rechenunterricht hinter uns hatten. Wir lernten gut und gingen gern in die Schule, aber das Rechnen mochte ich nicht. Es überraschte nicht, es lief immer klar und glatt ab.

Der Tag war wunderbar sonnig und weit, die Wiesen rundum standen in saftigem Grün und waren blumengesprenkelt, die Apfelbäume links und rechts von der Straße blühten.

Am Dorfanfang traf uns eine Bäuerin und sagte stehenbleibend: »Geht heim, euer Vater ist schwer krank. Arg ist er dran.« Wir beeilten uns. Zu Hause war es irgendwie still. Wir kamen in die Küche, die zugleich als Wohnzimmer diente, und sahen die Mutter am Herd mit Flaschen hantieren. Sie sagte bloß: »Geht hinauf zum Vater« und brach in ein Weinen aus. Wir legten unsere Schulranzen hin und gingen hinauf. Als wir eintraten, begannen wir zu weinen. Warum wußten wir nicht. Ich empfand keinen Schmerz, nur ein leises Grauen. Im Zimmer roch es sehr stark nach Medikamenten und Schweiß. Vor dem Bett saß in Uniform mein Bruder Eugen und sah den Vater unablässig an. Hinter ihm standen Theres und Emma. Beide weinten ganz leise. Max, mein ältester Bruder, stand an der Wand und starrte uns an. Maurus lehnte am Fenster, und Lorenz lispelte uns zu: »Geht hin.« Sein Gesicht war ganz verweint.

Wir traten etwas zögernd ans Bett und sagten zugleich: »Vater!« Der Kranke lag regungslos und röchelte schon. Sein Gesicht war unheimlich gelb und eingefallen. Meine jüngere Schwester schmiegte sich ans Bett und wimmerte nochmal: »Vater!« Da bewegte er den Kopf ein wenig und starrte sie schweigend an. Alle sahen auf ihn und begannen jetzt laut zu weinen. Eugen wollte den Arm unter Vaters Nacken legen, um ihm aufzuhelfen. In diesem Augenblick aber stieß der Sterbende einen hüstelnden Laut heraus, der Körper streckte sich, das Gesicht zuckte und das Weiße der Augen trat ungeheuer stark hervor. Der Tod war eingetreten. Lorenz rannte zur Tür und schrie, sie öffnend: »Mutter!« Wir alle standen schluchzend am Bett und falteten die Hände. Nur Max bewahrte seine Ruhe. Unsere Mutter kam herein und trat ans Bett, bekreuzigte sich, warf einen schmerzhaften Blick gen Himmel, faltete die Hände und wisperte leise ein Gebet. Dabei rannen ihr die Tränen über die verfalteten Wangen. Nach einer Weile bekreuzigte sie sich wieder, beugte sich über den Toten und drückte ihm die Augen zu. Unterdessen zündeten Emma und Theres die beiden Kerzen an, die noch von der letzten Ölung dastanden, holten Weihwasser und besprengten den Toten. Mit schwerer Stimme fing meine Mutter das Vaterunser zu beten an, und wir alle fielen nacheinander ein. Darauf verließen wir das Zimmer und gingen schweigend in die Küche hinunter. Das Begräbnis wurde besprochen, die Leichenfrau bestellt und der Geistliche zur Aussegnung. Um sechs Uhr abends schon stand der Leichenwagen vor dem Haus, und unter lautem Wehgeklage wurde der Sarg aufgeladen und zum Pfarrort gefahren. Hinterdrein schritten wir und viele Dorfleute gebeugten Hauptes und beteten einen Rosenkranz. Als der Sarg im Leichenhaus lag, kamen die Leute zur Mutter und zu den ältesten Geschwistern und reichten ihnen die Hände. Uns Kinder sahen sie mitleidig an und sagten: »Arme Kinder« oder so was. –

Am andern Tag weckten uns feierliche Glocken, die den ganzen Vormittag läuteten. Ins Grab senkte man dreimal die Fahne des Veteranenvereins, und Böller wurden in der Nähe abgeschossen, denn mein Vater war Kriegsteilnehmer von 1870/71.

Mittags aßen wir in der Wirtschaft, und alle Verwandten und Basen nahmen an dem Mahl teil. Es wurden allerhand Geschichten vom Vater erzählt und was er zu dieser und jener Zeit noch gesagt hatte. Nachmittags ging die ganze Familie mit der Verwandtschaft an den See hinunter und trank gemeinsam im Restaurant Kaffee. Das alles kam uns vor wie ein Sonntag und gefiel uns Kindern eigentlich ganz gut – nur eben kamen uns ab und zu die Gedanken an den Vater dazwischen und wir wurden flüchtig traurig. –

Von da ab änderte sich alles im Hause. Wir hatten eine gutgehende Bäckerei, dazu eine Spezereiwarenhandlung und eine Konditorei, zirka zwanzig Tagwerk Wiesenland, etwas Wald, vier Kühe, ein Pferd und meistens vier bis fünf Schweine im Stall. Meine Mutter kam aus einem großen Bauernhof, und mein Vater war Bäcker gewesen. Als sie heirateten, war das Haus sehr klein, jetzt – durch Vaters Lust am Bauen – war ein stattlicher Koloß daraus geworden.

Mein Großvater selig, der Rechenmacher Lorenz Graf, träumte sein Leben lang von einem solchen Haus. Da er aber mit der kärglichen Arbeit nie weiterkam, fing er an, sich auf das jähe Glück zu verlassen. Mit größter Leidenschaft spielte er in einer damaligen Lotterie und verwandte zum Schaden der kinderreichen Familie oft noch die letzten Spargroschen dafür. Aber er wurde nur immer ärmer, und als er starb, war das Anwesen verschuldet und baufällig. –

In seinen letzten Lebensjahren kränkelte mein Vater, und Max übernahm nach seiner Militärentlassung gewissermaßen den Befehl. Seine Art zu kommandieren war kurz, grob und barsch und rief bei Lebzeiten meines Vaters wütende Streite hervor. Der alte Mann griff einmal sogar zum Messer und wollte fluchend auf den Jüngeren losgehen. Meine Mutter warf sich dazwischen.

Seitdem redeten sich die beiden nicht mehr an, und Vater ergab sich dem Trunke. Er bestellte sich Affenthaler Faßwein, saß den ganzen Tag murrend im Kanapee und goß langsam Glas um Glas hinunter. Er aß allein in der Stube, um Max nicht sehen zu müssen. Die beiden wichen einander aus, wo es ging, und wenn sie sprechen mußten, gab es sogleich wieder verbissenen Streit, daß wir Kinder immer laut aufheulten und davonliefen. Nach solchen Auftritten trafen wir meistens unsere Mutter verweint und gebrochen. Der Vater verließ das Haus, betrank sich in irgendeinem Wirtshaus und kam spät in der Nacht heim.

Wir alle haßten Max. Mit ihm war irgend etwas Fremdes ins Haus gekommen. Er trieb uns mit schneidend-scharfen Worten an. Kannte keine Milde, schlug sofort zu. Mit der Hand, mit einem Teigspachtel, mit allem, was gerade nah war. Eugen, der einzige, der ihm an Kraft gleichstand, war damals beim Militär. Lorenz, der Lenz, arbeitete nachts mit den Gesellen, Maurus lernte in Karlsruhe das Konditorhandwerk und Emma in München die Damenschneiderei. Theres, die im Alter gleich nach Max kam, stand eigentlich ganz für sich. Sie fuhr vormittags mit dem Pferd das Brot aus und arbeitete untertags sonstig im Hause. Ihr redete Max nichts drein, denn sie wußte zu antworten. Die beiden kümmerten sich nicht umeinander, waren aber harte Feinde. –

Nach Vaters Tod schlossen wir jüngsten Geschwister uns mehr und mehr zusammen. Lenz las sehr viel Karl-May-Bücher, bestellte heimlich Teschings und schoß während des vormittägigen Brotaustragens Fasanen, Hasen und Eichhörnchen, stecke sie in den Brotkorb und briet sie nachts unter Beihilfe der Gesellen. Anfangs wurde ich nicht in dieses Geheimnis eingeweiht. Erst als ich einmal mit Lenz mitgehen mußte, zog er mich in den Wald, holte seinen Stutzen aus einem Felsloch und sagte mir alles. Ich war begeistert. Sofort wurde für mich ein neues Tesching in Solingen bestellt. Solche Sachen kamen stets per Nachnahme zum Schuster unseres Dorfes. Der bekam als Schweigegeld Brot.

Mit der Zeit genügte uns dieses einzelne Wildern nicht mehr. Es wurden alle Altersgenossen des Dorfes eingeweiht, und sonntags pirschten wir die Wälder ab. Alles, was uns in den Weg lief, wurde niedergeknallt. Wer auf den ersten Schuß ein Wild zur Strecke brachte, bekam den ›Jägerpreis‹, das hieß, daß das gemeinsam gekaufte Tesching sein alleiniges Eigentum wurde. Die Sache wurde allmählich ruchbar. Der Gendarm kam ins Haus. Wir logen zwar grundsätzlich, aber es gab eine furchtbare Rauferei zwischen Lenz und Max, die damit endete, daß Lenz in die Stadt fuhr, sich eine Stelle als Gehilfe suchte und nie mehr etwas hören ließ. Später, nach einem echt romantischen Walzen durch Deutschland, schiffte er sich in Hamburg nach Amerika ein.

Um diese Zeit kam ich aus der Werktagsschule. Ich mußte nunmehr auch nachts mithelfen. Max sah mir scharf auf die Finger. Sehr eingeschüchtert, unternahm ich lange nichts. Sonntags jedoch zerstörten wir die neuen Bänke des eben gegründeten Verschönerungsvereins, dessen Vorstand Max war, rissen junge Pflanzbäume aus oder zündeten einen Heuhaufen an. Es war irgend etwas in uns, das uns dazu drängte. Wir sahen das förmlich als unsere Aufgabe an und konnten nicht ruhig sein. »Lenz muß gerächt werden«, sagte ich stets. Es mußte etwas geschehen. Wir haßten die Dörfler. Damals lasen wir das Indianerbuch ›Der Untergang der Seminolen‹. Schön, unsäglich schön war der Schluß: ›Der letzte Seminole beugt sich über den toten Häuptling, schlitzt ihm die Ader auf und trinkt das Blut, das nach Rache schreit. Dann geht er zu den Sioux und zieht gegen die Weißen …‹

Wir waren zu dritt; Martin, ein Schulfreund von mir, Anna, meine Schwester, und ich. Vor dem Dorf, tief im Kornfeld, trafen wir uns eines Tages. Ich entwarf den Racheplan, die beiden anderen knieten nieder, erhoben feierlich den Arm und sagten: »Ich schwöre!« Wir hatten ausgemacht, daß demjenigen, der etwas verrate, das Schlimmste geschehen müsse. Dann kamen die Wirkungen. Der Müller hatte seinen eisernen Pflug mitten im Acker stehen gelassen. Er wurde auseinandergeschraubt und die Teile wurden in alle Windrichtungen geworfen. Der Wirt am See baute auf der sogenannten Etztalhöhe ein Almhäuschen aus Holz. Wir schufteten vier Sonntage – immer wieder gestört von harmlosen Spaziergängern – bis wir es vom Erdboden losbrachten, dann flog es krachend den Hügelrücken hinunter. Das war direkt gigantisch; die im Wege stehenden Bäume brachen ab, das Geröll sauste nieder und der hölzerne Koloß wälzte sich drohend weiter. Drunten liefen die Leute zusammen wie bei einem Brand und konnten nichts tun. Einen furchtbaren Krach tat es und das ganze Haus zerschellte. Wir waren längst weg und spielten ganz harmlos daheim in unserem Hof mit leeren Kisten Hausbauen.

Der Bürgermeister ließ seine Füllen auf die Weide. Wir leiteten Wasser aus dem nahen Bach in die Wiesenfläche, machten in der Mitte Feuer und hetzten die Tiere, bis sie dampften, immer über Feuer und Wasser. Dann machten wir die Weidenstangen weg und die Füllen rannten verwirrt davon. Erst spät in der Nacht fand man sie schlotternd und furchtsam auf einem engen Felsweg im Schloßpark.

Wir stahlen von den gedeckten Gartentischen der Wirtschaft die Tischtücher und verbrannten sie, wir ruinierten die schönsten Buchen- und Eichenbäume, daß sie abdorrten. Es hieß wohl immer: »Das sind die Bäckerbazin!« Doch wenn die Leute wirklich einmal zur Mutter was sagten, meinte diese: »Geh! Sowas gibt’s doch gar nicht! Geh, wie werden denn so kleine Kinder das machen können!« Max erfuhr merkwürdigerweise wenig oder gar nichts.

Es mußte was geschehen! Die Rache war viel zu klein. Sie tat nach unserem Dafürhalten niemandem weh.

Abermals wurden Teschings bestellt. Die Jagd ging von vorne an, nur daß wir dieses Mal alles Erschossene einfach liegen ließen. Ein Geselle hatte drei Tage Gefängnis bekommen wegen der Geschichte mit Lenz. Er wollte nichts mehr wissen von solchen Dingen und drohte mir nachts stets mit Prügeln. Was blieb anderes übrig, als alles geheim zu halten. Wir erneuerten, nachdem wir allmählich überall die uns umlauernden Gefahren witterten, jeden Sonntag unseren Schwur. Das Zeremoniell wurde mit der Zeit ein wenig romantischer. Ich war der Häuptling, und nachdem meine Schwester und der Marti geschworen hatten, aßen wir zusammen eine Stange ›Andreas Hofer-Feigenkaffee‹, den wir aus dem Laden gestohlen hatten. Der schmeckte furchtbar bitter, wir bekamen Magengrimmen davon, aber gerade weil das Zeug so schlecht war, galt es für uns als eine Art Verschwörermahl. Wir hießen den Feigenkaffee aus einem unerfindlichen Grunde ›Claro‹, weil das fremdländisch und indianisch klang und immer auf den Zigarrenschachteln in unserem Laden stand. Trafen wir uns werktags manchmal und wußte einer halbwegs von einer drohenden Gefahr, so raunten wir uns zu: »Wir müssen wieder Claro essen!« Der also Angesprochene verstand und fragte nicht weiter. –

Wir mußten schwer arbeiten. Ich wurde abends (im Winter um 11Uhr, im Sommer um 9Uhr) vom Gesellen geweckt. Die ganze Nacht ging es. Um sechs Uhr früh zählte mir Mutter das Brot in den Korb, legte Wecken obenauf, füllte den Rucksack für Anna, die bereits schläfrig gähnend in der Küche wartete. Und hinaus ging es in die frische Morgenluft bis zwölf Uhr mittags. Anna machte auch noch den ganzen Nachmittag Gänge. Ich mußte in der Konditorei mithelfen. Schneeschlagen neben Max, Sandtorte einrühren, Mürbteig kneten. Um fünf Uhr abends konnte ich schlafen gehen. Das war der normale Taglauf. Oster-, Pfingst- und Weihnachtszeit wurde es oft viel später. Nebenbei galt es Holz zu spalten oder Häcksel zu schneiden. Und immer dieses peitschende, drohende: »Loslos! Los! Marschmarsch!« Dafür gab mir Mutter im Sommer wöchentlich fünf Mark und im Winter jeden Sonntag drei. Weihnachten und zu meinem Geburtstag bekam ich etwas auf die Sparkasse, und dann durfte ich die Summe im Buch lesen. Aber das durfte Max nicht wissen. Der hatte überhaupt so seine eigenen Ideen mit mir. Als er heimkam vom Militär, sagte er kurzerhand: »Der muß Schiffsjunge werden!« Er schnitzte mir eine Armbrust und wollte mir das Schießen beibringen, aber die Konstruktion stimmte nicht und die Armbrustübungen hörten schnell auf. Hierauf mußte ich das Zitherspielen lernen. Kaum kam ich von der Schule heim, ging das Üben an. Immer das gleiche, die Noten und dann endlich die Melodie ›Rosenstock, Holderblüht!‹ Aber ich lernte nichts, wenngleich alle Strenge angewendet wurde. Den Schneider, bei dem ich die Zitherstunden nahm, bestach ich mit Brot und Biergeld. Er gab sich keine Mühe mehr. Mir wurde die Zither so verhaßt wie eine Marter. Eines Tages, als Max abends fortging und ich zum Schneider gehen sollte, lauerte ich hinter dem Nachbarzaun sehr lange, bis ich von meinem Bruder nichts mehr hörte. Dann öffnete ich den Zitherkasten, tat Sand und Steine hinein und versenkte das verhaßte Instrument im Weiher beim Nachbarn. Am andern Tag, als ich spielen sollte, fand sich die Zither nicht mehr. Ich log und log und bekam schließlich furchtbare Prügel, aber ich war erlöst. Seit dieser Zeit hielt die strengste Zucht an. Es war bloß gut, daß ich bald darauf aus der Schule kam und nachts arbeitete.

So ging es beinahe zwei Jahre. Langsam hörten unsere indianischen Rachefeldzüge auf. Ein Geselle hatte ein Buch: ›Wie werde ich Erfindern Ich las es, und mein Leben bekam eine andere Kurve. Durch eben denselben Schuster, der für uns immer die Nachnahmen einlöste, bestellte ich mir technische Schriften. Ich begann zu zeichnen. Alle Schriftsachen wurden im Dachboden versteckt. Ich erfand. – Es war ein Stiefelzieher. Die Zeichnung schickte ich an ein Patentbüro in Kassel. Ein sehr ermunternder Brief, der mir große Aussichten versprach, war die Antwort. Aber man müsse, hieß es, fünfundsiebzig Mark einschicken.

Fünfundsiebzig Mark! Mein Herz schlug höher. Mit einer solchen Summe konnte man nach Patentierung Tausende gewinnen. Ich zeigte den Brief ganz insgeheim Theres. Sie war Feuer und Flamme. Mutter wurde eingeweiht. Ich bekam das Geld und sandte es ab. In fünf Wochen war ich Inhaber eines deutschen Reichspatents, versandte gedruckte Prospekte in alle Himmelsrichtungen und wartete siegessicher. Alle Tage kam ich zum Schuster. Lauter Absagen.

Ein Modell wurde von einer Firma verlangt. Verflucht! Ein Modell!

Ein Modell! Weitere sechzig Mark waren dazu nötig, und wieder gaben mir Mutter und Theres das Geld heimlich. Das Modell kam beim Schuster an und – funktionierte nicht. Absage auf Absage kam. Theres lächelte schon. Ich tröstete mich. Edison ist auch nicht von heute auf morgen ein Millionär geworden. Zäh muß man sein. Unermüdlich!

Ein neuer Plan! Aus Mecklenburg schrieb ein biederer Mann, daß alle Patentbüros und Anwälte Schwindel seien. Er mache es für – und eine genaue, grundehrliche Aufstellung lag bei – den niederen Preis von achtzig Mark und verspreche bei Nichtverkauf der Erfindung Rückvergütung. Es gibt eben doch noch ehrliche Leute auf der Welt, sagte ich mir.

Die zweite Erfindung wurde losgelassen. Eingeschrieben gingen die Zeichnungen nach Mecklenburg, und wieder binnen fünf Wochen war das zweite Patent erworben. Ein selbstsichziehender Flaschenkork. Ein Massenartikel, eine Millionensache! –

Jetzt schrieb ich persönliche Briefe an die Herren Fabrikanten. Ich schrieb ganz kollegial. Absagen. Ich schrieb noch kollegialer: ›Sehr verehrter Herr Direktor oder Werter Herr Bayer! Ich habe eine Erfindung, die Sie in Ihrer Fabrik sicher verwerten können. Ich trete mit Vergnügen alle Rechte an Sie ab um den geringen Preis von 1000 Mark. Mit den besten Grüßen oder Hochachtungsvollst oder herzliche Grüße, Oskar Graf, Erfindern Absage! Ich formulierte: ›P. P. Ich habe eben eine sehr geschäftstüchtige Erfindung gemacht. Hier lege ich sie bei. Ich gebe Ihnen alle Rechte für 500Mark, bin aber auch mit weniger zufrieden. Bitte nehmen Sie mir die Sache ab. Ich könnte schließlich auch mit dreihundert Mark zufrieden sein. Mit Gruß Oskar Graf, Erfindern Absage. Oder gar keine Antwort. Nicht einmal fünfzig, nicht einmal dreißig Mark zahlten die Schufte. Die Welt erkannte eben mein Genie nicht. –

Um diese Zeit kam Maurus von Karlsruhe nach Hause. Er brachte Bücher mit. Eine Unmasse ›Jugend‹-Hefte, einen Band Heine, Reclam-Bücher von Stifter, einen Band Uhland, Lessings dramatische Meisterwerke, Napoleons Liebschaften und Freundinnen, Ibsens ›Volksfeind‹, ›Die Frau vom Meer‹ und Viktor Scheffels Novellen. Er sprach auf eine gewisse schwäbelnde Art hochdeutsch, erzählte mir von einem Buch über den Kaiser Wilhelm II., das ›Er‹ hieß und las mir aus Shakespeare vor. Er tat dies mit einer Glut, mit einem Antrieb, der in mir den Ehrgeiz entflammte. Ich fing an, die Bücher zu lesen. Aber Maurus geriet schon in den ersten Wochen mit Max in Streit und warf die Sache hin. Nach einer Rauferei mit Blut, Weinen und Gebrüll packte er seinen Koffer und ging nach Bamberg.

Was nun?

Eine Kuh wurde krank. Vier Schweine krepierten. Das Pferd endete an Kolik. Der Bürgermeister lieh Max ein Buch: ›Der Haustierarzt‹. Ich las es in den Nachtstunden. Langsam wachte ein regeres Interesse auf. Auch überlegte ich, was ich nun eigentlich für einen Beruf ergreifen wollte. Wieder wurde eine Kuh krank. Der Herr Bezirkstierarzt kam und hielt im Stall einen Vortrag. Das war der Anstoß. Die Sache war für mich beschlossen: Ich werde Tierarzt.

Die Kuh ging kaputt. »Infektion«, sagte der Herr Bezirkstierarzt. Infektion? Was ist das?

Ich bestellte bei Parey in Berlin als erstes Buch für meine zukünftige Praxis: ›Die Kuhseuchen‹. Es war ein dunkelblaues, elegantes, schlankes Büchlein mit vornehmem Goldaufdruck. Also!

Ich las und las. Plötzlich kam der Riß. Da stand mitten unter anderen Worten, genau so wie alle anderen: ›Immun‹.

Ja, was heißt das? Was heißt das?

Sofort schrieb ich um ein Tierarztfremdwörterbuch. Und nun ging es ans Auswendiglernen. Von A bis Z. Jeder Brotaustraggang war erfüllt mit lautem Hersagen der unerhört gedrechselten Wörter. Wenn zufällig der Herr Bezirkstierarzt vorbeifuhr, zog ich schon ganz gleichgestellt die Mütze und rannte klopfenden Herzens in weitem Abstand hinter dem Fuhrwerk her. Denn dieser Mann war für mich eine Art Gott, einer, der undenkbar viel Auswendiggelerntes in seinem Hirn haben mußte.

Nach den Kuhseuchen kamen die Pferdezuchtbücher, die Hundekrankheiten und die Geflügelsorten, dann die Schafräude und endlich sogar die Fischzuchtwerke. Ehrgeizig waren wir Geschwister alle, und eine undefinierbare Sucht, über den anderen, über die Umgebung zu herrschen, trieb jeden von uns. Vor allem konnte es keiner von uns ertragen, weniger zu können als der andere. Was du gelernt hast, hast du, dachte ich, und vielleicht erstaunen deine späteren Lehrer über dich. Ich erinnere mich deutlich, als ich mit Maurus das Bücherlesen anfing. Wir lasen um die Wette, und es war für mich ein wohliges Triumphgefühl, wenn ich sagen konnte: »Ha, aber das hast du noch nicht gelesen! … Das ist ganz was andres.«

In der Zeitung standen die Semesterankündigungen der Landwirtschaftlichen Hochschule Pfarrkirchen. Ich kalkulierte: Da den Anfang und in der ›Veterinär-Universität‹ in München den Schluß. Veterinärschule paßte mir nicht. Das war zu wenig. Es mußte irgend etwas mit Universität darin Vorkommen. Auf dem Gang zu Kundschaften, vor dem Einschlafen, las ich laut meine Kompendien, und es war seltsam, daß mir selbst das Nüchternste zum Pathos wurde. Eine stattliche Zahl Bücher lag droben unterm Blechdach, wohlverwahrt und in eine große Pappschachtel verpackt. Immer vor dem Schlafengehen stieg ich auf den Boden, horchte herzklopfend, ob niemand die Stiege heraufkäme, zog langsam die Schachtel heraus, strich meine Bücher glatt und suchte mir eines heraus. Nie kam es vor, daß ich einschlief, ohne vorher das teure Kleinod unter die Matratze gesteckt zu haben, denn wenn so was aufgekommen wäre, hätte ich Prügel bekommen, daß ich nicht mehr hätte stehen können. Die Bücher kosteten erstens ein Heidengeld, und zweitens hatte ich seit dem mißlungenen Zitherunterricht laut Befehl Bäcker zu werden. Fertig.

Die Wochen schlichen hin. Es nagte, es bohrte. Ich mußte etwas sagen. Um 4Uhr früh kam Mutter die Stiege herunter, stellte in der Küche das Kaffeewasser auf. Immer wiederholte ich die gleiche Klage. Die Gesellen waren roh, verprügelten mich, weil ich öfters einschlief. Einer warf mir einmal einen Zweizentnersack auf den Kopf, daß mein ganzer Körper krachte. Nichts half. Max durfte es nicht erfahren. Meine Mutter weinte stets auf meine Lamentationen und sagte verdrossen: »Wenn bloß ein einziges Mal Ruhe wär’.«

Aber – es mußte doch etwas geschehen! Es mußte was geschehen! »Also heut’ sag’ ich’s dem Maxi, daß ich nach Pfarrkirchen möchte. Du mußt es ihm sagen. Ich will ganz einfach kein Bäcker werden! Ich mag einfach nicht! Jeder hat was lernen dürfen: Der Eugen ist auf die Handelsschule geschickt worden, der Maurus ist nach Karlsruhe gekommen und ist jetzt Konditor, der Lenz, den hat er einfach hinausgeworfen, und mich will er eines Tages auch los haben«, jammerte ich. Jeden Tag die gleiche Sache, zäh und verbissen.

Meine Mutter wurde ganz mürbe davon. Sie machte ein immer trübseligeres Gesicht und blickte mich hilflos an.

»Hm … ich weiß nicht! Tierarzt! … Das ist doch nichts! … Als Bäcker hast immer Verdienst … Das Fresserts geht immer«, wollte sie auf mich einreden, aber es half nichts. Bockstarr war ich. Pfarrkirchen begann am 15.September. Es war August. Ich drängte immer mehr, und Tag auf Tag verlief ergebnislos.

»Der haut dich bloß recht durch, dann hast es«, sagte meine Mutter in bezug auf Max.

»Und wenn er mich erschlägt, ich mag einfach nimmer anders«, antwortete ich starr. Indessen es geschah nichts. Mir kam ein Gedanke. Ich schrieb an Eugen. Dem konnte der Gewaltige nichts tun. Es konnte auch keine Rauferei und kein aufregender Skandal werden, denn Eugen war in Augsburg beim Militär.

Ich schrieb: ›Lieber Eugen! Weil mich keiner daheim hören will, und weil ich glaube, daß ich ein Talent habe, wenn ich studieren darf, so komme ich heute zu Dir mit der Bitte, die nur Du möglich machen kannst. Ich gehe sonst daheim unter, wenn Du mir nicht hilfst. Ich möchte nämlich am 15.September nach Pfarrkirchen in die Landwirtschaftliche Hochschule und dann nach München in die Tierarzt-Universität, weil ich Tierarzt werden will. Aber dem Max kann ich nichts sagen, das weißt Du ja. Der schlagt mich bloß recht, der Grobian. Aber ich muß Tierarzt werden, sonst gehe ich unter. Also hilf mir. Schreibe nur dem Max einen anständig gesalzenen Brief. Dich fürchtet er ja doch, aber mich schlagt er bloß. Aber sag in Deinem Brief an Max nichts, daß ich Dir geschrieben habe, sonst krieg ich wieder Schläge. Ich schicke Dir schon was zu essen, wenn Du mir hilfst. Es grüßt Dich Dein Dich liebender Bruder Oskar.‹

Etliche Wochen später – es war schon der 8.September – kam ich vom Brotaustragen heim und fragte die Mutter leise und unauffällig am Herd: »Hast Du was gesehen? Hat denn der Eugen noch nicht geschrieben?«

Mutter sagte laut, daß ich sie beschwichtigen mußte: »Wenn bloß ein einzig’s Mal Ruhe wär’! … Bleib doch ein Bäcker, da verdienst du doch dein Geld viel besser.«

Das hatte Max gehört. Er saß um diese Zeit gewöhnlich in der nebenanliegenden Stube am Schreibtisch, und die Türe war offen. »Was ist da?« fragte er barsch herein.

»Der Oskar möcht’ Tierarzt werden, und das geht jetzt an, sagt er«, antwortete meine Mutter klagevoll. Ich bebte am ganzen Körper. Eine furchtbare Spannung hatte mich erfaßt. Mein Herz klopfte laut. Wartend stand ich da, denn jetzt mußte sich etwas abspielen, das entscheidend für mein ganzes Leben war. Dazwischen malte ich mir flüchtig die Zeit in Pfarrkirchen aus, ganz deutlich, fast als ob ich mich schon dort befände, alle Tage in Sonntagskleidern von meinem Logis in die Schule ging.

Da stand auf einmal Max im Türrahmen und sagte: »Was willst du?«, machte eine drohende Geste mit dem Gesicht und schrie: »Blöder Kerl, blöder, paß mal auf! … Was hast denn davon? Der Schatzlpeter studiert heuer schon das achte Jahr umeinander und ist heut noch nichts! … Ich werd’ dir die Sachen gleich austreiben!«

Und damit war alles fertig. Ich war im letzten Grunde ja froh, daß diese Anfrage so leicht verlaufen war, ohne Prügel und Krach. Aber die Wut gegen Max packte mich zuinnerst, und ich schwor bitterste Rache.

Ich arbeitete nach wie vor wieder nachts in der Bäckerstube, schuftete am Tag und gab ganz langsam meine Tierarztinteressen auf. Sonderbar, jedes Mal nach einer solchen überstandenen Hochspannung ließ meine Energie unvermerkt nach und verflachte. Ein neues Suchen begann. Die Erfindungen lagen unterm Dachboden und verstaubten, die Tierarztbücher verloren den Reiz und vermoderten unterm Blechdach. –

II Ereignisse

Die Zeit verfloß. Winter überschüttete die Dächer der Dorfhäuser mit Schnee. Weihnachten kam näher. Ungeheuer viel Arbeit gab es. Den ganzen Tag mußte ich neben Max Mürbteig ausrollen und die Teigflächen ausstechen, auf die geschmierten Bleche richten und herausbacken. Ganze Körbe voll Zimtsterne, Nußstangen und Marzipanstücke standen abends da. Um 10Uhr konnte ich zu Bett gehen; um 12Uhr weckte mich der Geselle zur Nachtarbeit. Wie im Traum, mit dumpfem Kopf fuhr ich mit den nackten Armen in den Teig und walkte ihn. Wenn ich einschlief, gab es Stöße und Prügel. So ging es jede Nacht. Um 6Uhr früh stampfte ich mit dem gefüllten Brotkorb durch die schneeige Dunkelheit und brachte das Brot in die entfernten Dörfer. Gegen Mittag kam ich heim, vollkommen durchnäßt. Ich aß, zog mich um und mußte wieder mit Max Christbaumgebäck herstellen. So haspelten sich die Wochen ab. Einmal in der Nacht sank ich einschlafend in den Teig. Der Geselle fiel über mich her, schlug mich mit seinen knochigen Fäusten. Ich riß die Arme aus dem Teig und rannte heulend zu Max hinauf, um mich zu beklagen. Vom Schlaf aufgeschreckt, stürzte dieser aus dem Bett und schlug blindlings auf mich ein, daß ich entsetzt wieder hinunterrannte und weinend weiterarbeitete.

»Gell, der zeigt dir die Sache!« höhnte der Geselle und puffte bei der geringsten Gelegenheit weiter auf mich ein, daß ich wie ein Tier blind und verbissen weiterwalkte. So kann es dir nirgends gehen, dachte ich jede Nacht und sann auf einen Ausweg.

Am Weihnachtstag selber ruhte die Arbeit. Der Geselle fuhr in die Stadt. Punsch gab es in der Stube, und jeder bekam ein kleines Geschenk. Und schlafen konnte man die ganze Nacht.

Nach Neujahr endlich hörten die Christbaumfeiern auf. In der Konditorei gab es nicht mehr so viel zu tun. Die Tagarbeit wurde weniger. Ich mußte nun mit Max jeden Nachmittag zum Holzfällen in den Wald. Es lag überall tiefer Schnee, auf Boden und Bäumen. Max sprach wenig, aber er stieg auf die Bäume und sägte dicke Äste ab. Bei solcher Gelegenheit machte es ihm großen Spaß, wenn mir der ganze Schnee vom geschüttelten Baum hinauffiel. Er lachte dann mitunter ein wenig, wenn ich mich schlotternd schüttelte.

Ende Februar kam Maurus von Bamberg. Er übernahm nun die wenigen Konditoreiarbeiten, und ich mußte ihm helfen. Max wich ihm aus irgendeinem Grunde aus. Die beiden sprachen wenig miteinander.

So hatte ich denn am Tage einen anderen Vorgesetzten. Wir verstanden uns anfangs gut. Maurus erzählte mir wieder von Büchern, von der Fremde und ließ sich sogar manchmal herab, mit mir Dummheiten zu machen. Ich schloß mich ihm enger an.

War Max aus dem Haus, so arbeiteten wir hastiger, machten eilig alles fertig, setzten uns auf die Backstubenbank, und Maurus begann mir den ›Heinrich IV.‹ vorzulesen. Aber ich begriff diese Verse nur schwer, trotzdem er mir den Witz oft ziemlich drastisch und deutlich ausmalte und mich zeitweilig ermunterte. Um nicht Prügel zu bekommen, lachte ich oft gewaltsam, was ihn sehr freute.

Die Nachtarbeit war jetzt wenig. Der andere Geselle, welcher sehr mürrisch gewesen war, ging. Er hatte zu viel Brot gestohlen. Ein alter, grauer Gehilfe war aus der Stadt gekommen, der die meiste Zeit betrunken war. Aber er buk gutes Brot, und weil er mich sehr selten anrührte, ging ich ihm gut zur Hand. Er nannte mich jeden Tag anders und trieb allerhand Späße mit mir. Wenn er einen Rausch hatte, begann er alte Reservistenlieder zu singen. Oft lag er in der Ofengrube und grölte, als spräche er einem Pferd gut zu: »E-e-eha! E-eha! … Langsam, Vogl, ganz langsam!« Dann half ich ihm auf, und er küßte mich, sein rußiges Gesicht zeichnete sich auf meinen Wangen ab, und wankend stand er da und rief laut und heiser: »Hier steh’ ich! … Major Vogl! General Vogl! Ritter hoher Orden! Inhaber des Max-Rindvieh-Ordens! Hoch! Hoch! Hoch!« Das Haus erdröhnte davon. Er umschlang mich gerührt und dankte mir, weil ich so gut zu ihm war.

»Oskarl« oder »Siegfriedl« oder »Aloisl« sagte er stets: »Ich vergeß dich nie! Du bist ein braver Bursch!« Und das berührte mich menschlich. Ich arbeitete alsdann wie ein Wilder und tat alles, was ich für Vogel nur tun konnte. Es waren schöne Nächte. Während der Vesper- und Gärpausen schnarchte der Geselle auf der Bank, und ich las Indianergeschichten und Reisebeschreibungen und weckte ihn, wenn es Zeit war. So gegen vier Uhr, wenn die Mutter kam, waren wir meistens fertig. Die Magd kam herunter und besorgte die Stallarbeit. Wir tranken Kaffee, und um sechs Uhr mußte ich mit Anna fort zum Brotaustragen.

Dieses Beisammensein auf der freien Landstraße war unsere schönste Zeit. Auf dem Heimweg erzählten wir uns erfundene Geschichten, in denen wir – die Hauptfiguren – auf einem Riesenschiff auf dem Großen Ozean lebten, umgeben von märchenhaftem Reichtum und einer unausdenklichen Bequemlichkeit. Die Erzählungen wurden auch manchmal dramatisch. Es gab Kampf mit feindlichen Seeräubern, die wir sodann besiegten und mit einer rätselhaften Grausamkeit bestraften. Haßten wir im Dorf wen, so wurde er in die Geschichte hineinverwoben und auf irgendeine Weise gefangen. Dann kam ein entsetzliches Rachegericht.

An den schönen Sonntagnachmittagen fuhr Maurus mit mir auf dem Rad fort, suchte ein ungestörtes Sonnenplätzchen im Walde auf und las mir aus Büchern vor. Ibsens Dramen, Kleists Novellen und vor allem immer wieder Shakespeare lernte ich dadurch immer genauer kennen. Dann kamen die Russen, Tolstoi hauptsächlich, und Heine und Lessing. Maurus brachte die Stücke warm heraus, und meine Begeisterung, das Wettlesen und das Triumphieren über den anderen, wenn man etwas kannte, was dieser noch nicht gelesen hatte, begann von neuem. Nunmehr bewog ich auch Anna dazu, Bücher zu lesen, und unsere Brotgänge wurden immer länger. Sehr oft gab es dann Prügel von Max.

Als wir einmal heimkamen, stritten sich Maurus und Max. Warum, wußten wir nicht. Immer lauter schrien sie und kamen auf einmal in ein Handgemenge. Ein furchtbares Raufen begann, und erst als Maurus blutig an der Wand lehnte, ließ Max von ihm, ging hinauf und zog sich an, denn es war Dienstag, und er mußte in die Gesangstunde des Gesangvereins. Gesiegt hatte trotzdem keiner. Anna und ich gingen zu Maurus, sahen ihn vielsagend an und ballten die Fäuste: »Das muß er büßen, der Hund!«

Vor Wut schluchzte Maurus laut auf, faßte sich dann und wusch sich am Brunnen. Am selben Abend noch fuhr er zur Stadt, und lange kam keine Nachricht von ihm. Max war nun wieder Alleinherrscher und verstand es, alle unbequemen Geschwister aus dem Haus zu drängen. Eugen fuhr nach seiner Militärentlassung nach Amerika, und meine Schwester Theres machte es wie Emma. Sie erlernte ebenfalls in der Stadt den Modistinnenberuf.

Das Hausbild hatte sich geändert. Außer Mutter, Anna und mir war eine Magd da, der Geselle Vogel und Max, dessen Befehle fast willenlos vollzogen wurden.

Auch den General Vogel erreichte eines Tages das Schicksal. Einmal fuhr er in die Stadt, betrank sich derart, daß er im Zuge einschlief und bis nach Tutzing fuhr. Dort mietete er spät nachts eine Kutsche und kam früh um zwei Uhr bei uns an. Er war nicht imstande, noch zu arbeiten, und ich allein konnte nicht alles bewältigen. Er lag da und schlief schnarchend. Ab und zu stieß er einen keuchenden Schrei aus. Ich mußte Max wecken, und wir buken das Brot. Am andern Tag wurde Vogel entlassen. Er weinte wie ein Kind, denn er war gerne bei uns. Aber es ging nicht mehr. Ein anderer Geselle wurde eingestellt. Der schlug mich wieder mehr als alle vorhergegangenen. Ich hatte keine Hilfe mehr, keinen Menschen, dem ich meine nächtlichen Qualen klagen konnte. Max durfte überhaupt nichts hören davon, Mutter antwortete auf mein Jammern mit einem leisen, hilflosen Weinen, und Anna konnte nicht helfen. Nur ein Mensch war im ganzen Hause, der manchmal auf mich einging, wenn auch fast unvermerkt, so doch fühlbar: die Magd Leni.

Einmal in der Frühe lehnte ich mit blutigem Kopf an der Anrichte in der Küche und weinte leise in mich hinein. Mutter sagte nur: »Wenn bloß ein einzig’s Mal eine Ruh’ wär’«, und ging in den Laden. Dies knickte mich noch mehr. Leni kam zur Türe herein, wollte an den Herd gehen und sah mich.

»Was hast denn, Oskar? Du blutest ja?« fragte sie nähertretend.

»Geschlagen hat er mich, daß ich ganz dumm bin«, sagte ich. Leni ging kopfschüttelnd an den Herd und sagte, mir den Rücken zugewendet: »Der Grobian!« Nur ein Wort war es. Aber es kam etwas bis dahin vollkommen Fremdes aus dem Tonfall, etwas anheimelnd Tröstendes. Als sie aus der Küche treten wollte, blieb sie wieder vor mir stehen und sagte ebenso: »Bei uns ist’s der Vater gewesen«, und verschwand. Ich ging an den Brunnen und wusch mich. Dieser letzte, kurze Satz hatte das ganze Leben eines Gleichleidenden und Begreifenden aufgedeckt. Als träte wer aus dem Dunkel der Verschwiegenheit an mich heran und sagte: »Siehe, ich hab’ auch so gelitten!« Ein Glück sprang auf in mir, eine unsägliche Tröstung.

Ich mußte täglich, wenn ich vom Brotaustragen heimkam, mit Leni Häcksel schneiden. Sie legte ein und ich trieb das Schwungrad der Maschine. Wir freuten uns jedesmal, wenn wir allein in der Tenne standen, fanden uns im Gespräch ineinander und erzählten uns gegenseitig mit einem Anflug von fühlbarer Wärme in den Worten Erlebnisse. Wir sahen uns in die Augen und schlugen sie nieder, ohne zu wissen warum. Und einmal wieder – ich weiß nicht wie – fiel ich vollkommen willenlos an Lenis Brust und umschlang sie, stöhnte unablässig: »Leni! Leni!« Und küßte sie heiß. Sie stemmte sich erschrocken und tiefernst dagegen, war aber nicht böse. Ich sah ihr rotes Gesicht, ihre Brust ging auf und nieder. Ich wollte mich am liebsten ganz in ihr verbergen, sie indessen drückte mich zurück und sagte: »Oskar? Aber Oskar?! … Was ist’s denn? … Was hast denn?« Ich ließ sie los, riß mich hastig zusammen, stand beschämt und verwirrt da und atmete tief. Sie strich mir leicht über die Stirn und sagte ruhig wie eine Mutter: »Das geht doch nicht.« Ich wußte im Augenblick nicht, was ich tun sollte und sprang auf einmal hastig an den Häckselmaschinenhebel, drehte mit noch viel größerer Schnelligkeit das Schwungrad im Kreise. Als wir fertig waren, lief ich, ohne Leni noch einmal anzusehen, eilig in die Backstube hinunter. Mittags, als wir uns am Tische gegenübersaßen, schlugen wir wieder die Augen nieder, und hernach schlich ich schleunigst hinaus. Es ereignete sich nichts mehr zwischen uns. Wir blieben gute Freunde bis zuletzt, und wenn Leni auch dreißig Jahre alt war und ein fleißiges, nüchternes, sehr frommes Wesen an sich hatte, so wußte sie doch stets um alle meine Streiche und half mir oft über die Gefahren, die mich durch Max bedrohten. Oft, nachdem ich zu Bett gehen durfte, schaute ich noch stundenlang heimlich zum Fenster hinunter, weil Leni drunten wusch. Das war meine ganze Liebe.

III Die Flucht

Maurus war fort. Er hatte seine Bücher hinterlassen. Ich las mich tiefer in sie hinein. Er schrieb um sie, und nun war mir auch diese Herrlichkeit genommen. Auch Anna oder, wie man sie hieß, ›Nanndl‹ las alles, was ich ihr gab. Es wuchs ein Drang nach jenen Welten in uns auf. Was tun?

In der Zeitung lag ein Verlagsprospekt von Bongs Klassikerausgaben. Die Bücher waren darauf abgebildet und sahen sehr bedeutend aus. Wir überlegten. Etliche Brotgänge reiften den Entschluß. Wir scharrten Geld zusammen, Nanndl ihre Trinkgelder und ich meine Wochenlöhne. Dann bestellten wir wieder an die Adresse unseres Schusters Schillers Werke, dann Lessing, Petöfi, Mörike, Lenau und Grabbe.

Alle diese Ausgaben waren rot gebunden und hatten goldene Rücken. Das zog uns an. Da wir aber fürchteten, daß Max unser Geheimnis entdecken könnte, ließen wir die Bücher vorläufig beim Schustermeister. Dort jedoch verschmierten sie die kleinen Kinder. Wir sannen auf eine Änderung und waren todunglücklich darüber.

Ich dachte an Leni. Aber Nanndl, die von all dem, was zwischen uns beiden vorgefallen, wie alle sonstigen Hausangehörigen nichts wußte, war dagegen.

Meine Erfinderader regte sich. Wie, wenn wir meinen Schrank, der in der Gesellenkammer stand, so konstruierten, daß nur wir hineinkönnten?

Das war eine Idee, die mir keine Ruhe mehr ließ. Sie mußte durchgeführt werden. Es handelte sich bloß darum, die Arbeit zu machen, wenn niemand sie bemerkte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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