Boris Meissner, Osteuropa und das Völkerrecht - Hans-Dieter Handrack - E-Book

Boris Meissner, Osteuropa und das Völkerrecht E-Book

Hans-Dieter Handrack

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Beschreibung

Die aktuelle Situation in der Ukraine hat die Wichtigkeit völkerrechtlicher Normen für das Zusammenleben von Staaten und Völkern wieder deutlich gemacht. Anlässlich des 100. Geburtstags des berühmten Ostwissenschaftlers Prof. Boris Meissner (1915-2003) beleuchten Völkerrechtler aus sieben Ländern die Probleme Osteuropas.

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Seitenzahl: 349

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Vorwort

Vom 6. - 8. November 2015 organisierte ich in Lüneburg eine internationale Tagung, die dem Gedenken an den 100. Geburtstag des berühmten Ostwissenschaftlers Prof. Boris Meissner (1915-2003) gewidmet war und sich sowohl an Völkerrechtler/innen als auch an historisch und politisch Interessierte richtete. Mit Lüneburg war Boris Meissner dadurch verbunden, dass er viele Jahre in Lüneburg zum Vorstand der Carl-Schirren-Gesellschaft gehörte, die zusammen mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen und dem Göttinger Arbeitskreis, deren Präsident er fast vier Jahrzehnte war, diese Tagung veranstaltete. Mich persönlich verband eine vier Jahrzehnte lange Bekanntschaft und Freundschaft mit Boris Meissner: er war Ehren-Präsident der Baltischen Gesellschaft in Deutschland, als ich dort Präsident war, er holte mich auch in den Göttinger Arbeitskreis; eine besondere Beziehung entstand auch dadurch, dass er als Angehöriger der Dorpater Corporation Neobaltia bis zu seinem Tode auch Mitglied der Altherrenschaft der Curonia Goettingensis war.

Referenten aus Deutschland und Osteuropa hatten den 100. Geburtstags Boris Meissners zum Anlass genommen, seine Werke und sein Wirken zu würdigen und in Beziehung zu setzen zu den aktuellen völkerrechtlichen Problemen in Osteuropa. Nicht zuletzt die aktuelle Situation in der Ukraine hat die Bedeutung völkerrechtlicher Normen für das Zusammenleben von Staaten und Völkern wieder deutlich gemacht. Die in diesem Band vereinten Beiträge sind thematisch genauso breit angelegt wie die vielseitigen Interessensgebiete Boris Meissners.

Hans-Dieter Handrack

INHALTSVERZEICHNIS

Nils von Redecker:

,,Boris Meissner und das Auswärtige Amt"

Alfred Eisfeld:

,,Boris Meissner und der Göttinger Arbeitskreis, seine Nachwirkungen in Wissenschaft und Politik"

Lauri Mälksoo

,,Boris Meissner und die baltischen Staaten: eine Würdigung"

Adrianna A. Michel

,,Polens Beziehungen zu Russland - ein Blick in die Geschichte"

Jurgita Baur

,,Litauens Nähe zu Russland - eine ständige Herausforderung"

Ernst-Jörg von Studnitz

,,Die deutsch-russischen Beziehungen der Gegenwart in der Zerreißprobe"

Aleksander Salenko

,,Das Kaliningrader Gebiet - ein Sonderfall für den Russischen Föderalismus und eine Herausforderung für die EU"

Aldona Szczeponek

,,Wirtschaftssanktionen als nationales, europäisches und völkerrechtliches Problem am Beispiel von Polen, EU und Russland"

Vadzim Samaryn

,,Belarus, ein Mittler zwischen Russland u. der Europäischen Union"

Andrij Kudrjačenko

,,Die Ukraine auf schwierigem Weg nach Europa"

Gilbert Gornig

,,Transnistrien, Abchasien u. Südossetien als nicht anerkannte Staaten"

AUTORENVERZEICHNIS

Niels v. Redecker:

Boris Meissner und das Auswärtige Amt

Boris Meissner wurde in einer Würdigung einmal als ,,Phänomen" bezeichnet. Ich selber lernte den Doktorvater meines eigenen Doktorvaters kennen, als er bereits 80 Jahre alt war. Das war vor genau zwanzig Jahren auf einer Tagung in Travemünde. Seitdem bin auch ich fasziniert vom Phänomen Boris Meissner: Seiner intellektuellen Neugier, seiner sozialen Umtriebigkeit und seiner menschlichen Anteilnahme, die auch am Ende einer großen Karriere so gar nichts Abgehobenes hatten, sondern großväterlich-bescheiden daherkamen.

Auf der einen Seite war Boris Meissner Großintellektueller, Hochschullehrer und Publizist. Ich habe diese Woche einmal in das ,,Lexikon deutschbaltischer Wissenschaftler" von Bastian Filaretow geschaut. Sein Schriftenverzeichnis ist mit Abstand das längste. Meissner war hochspezialisiert und galt über Jahrzehnte als ein führender Sowjetologe nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Zugleich war er breit gebildet. Er betrachtete seinen Forschungs-gegenstand unter ganz verschiedenen Blickwinkeln. Zum Beispiel als Völkerrechtler, Historiker, Volkswirt, Politologe und Systemforscher.

Boris Meissner war aber auch ein außenpolitischer Praktiker, der unsere Beziehungen zur Sowjetunion über Jahre hinweg prägte wie kaum ein anderer. Für seine Verdienste um die außenpolitischen Beziehungen der Bundesrepublik wurde er 1979 mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse ausgezeichnet, und anschließend noch zweimal bis zum ,,Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern" hochgestuft - ein äußerst seltener Vorgang in der protokollarischen Praxis.

Aus Anlass seines 100. Geburtstags möchte ich heute diesen letzteren Aspekt in Erinnerung rufen. Also den Diplomaten Boris Meissner. Hierfür habe ich mich ins Politische Archiv des AA begeben und die Fragen gestellt: Was zeichnete den Diplomaten Boris Meissner aus und wie verlief seine Karriere im Auswärtigen Amt? In einem zweiten Teil will ich dann auch mit einigen Thesen der Frage nachgehen: Was können wir heute von Boris Meissner lernen?

Zunächst zur Frage:Was zeichnete den Diplomaten Boris Meissner aus?

Rückblickend ist es vielleicht sein größtes Verdienst, dass er die Welt des Großintellektuellen mit der des Diplomaten in Einklang brachte. Er suchte immer den Brückenschlag zwischen beiden Welten, die er jede für sich auf das Vortrefflichste verkörperte. Er war zugleich abgeklärter Wissenschaftler und aufgeklärter Diplomat. Einerseits verlor er bei seinen wissenschaftlichen Abhandlungen nie die praktische Bedeutung seiner Erkenntnisse aus dem Blick und wusste um Möglichkeiten und Grenzen deutscher Außenpolitik zu Zeiten des Kalten Krieges. Andererseits machte er als Diplomat seinen ungeheuren Erkenntnisfundus für seinen Dienstherrn nutzbar und verwandelte ihn in konkrete Verhandlungspositionen.

Hierfür möchte ich einige Beispiele nennen:

1. Meissner wurde 1953 unter eigenartigen Bedingungen in den Diplomatischen Dienst der Bundesrepublik aufgenommen. Er war bereits ein etablierter Wissenschaftler und Russlandkenner und wurde auch als solcher behandelt. Er brachte seine private wissenschaftliche Bibliothek von ca. 3.000 Büchern und eine Kartothek von 20.000 Karten mit in den Dienst ein. 20.000 Karten - das würde heute auf einen USB-Stick passen. Damals hingegen war sein ,,Zettelkasten" in zwei großen Schränken untergebracht, hinzu kamen 100 Regalmeter Bücher. Meissner hat sich beim Eintritt in das AA ein Privatbüro in seiner Wohnung ausbedungen, für das der Arbeitgeber aufzukommen hatte. Das Auswärtige Amt akzeptierte. Ein solcher Vorgang wäre heute schwer vorstellbar, aber war auch damals eher ungewöhnlich.

Für das AA hat sich dieses Entgegenkommen mehr als ausgezahlt. Meissner legte in den folgenden Jahren den Grundstein für die Sowjet-Expertise des Hauses. Bereits wenige Monate nach seiner Einstellung wurde ihm 1954 die Leitung des Sowjetunion-Referats und damit auch das sog. ,,Ost-Lektorat" übertragen. Hier hatte er eine wahre Aufbauarbeit zu leisten. Zumal es damals noch keine Botschaften und Generalkonsulate in der Sowjetunion gab. Meisner musste sich auf andere Informationsquellen stützen. So bestellte er insgesamt 14 Zeitungen aus den Bundesrepubliken der Sowjetunion und las sie auch alle regelmäßig. Lange vor Internet und anderen technischen Erleichterungen erstellte er eine Personal- und Sachkartei zur Sowjetunion, die schon nach einem Jahr ca. 40.000 Karten aufwies. Außerdem erstellte und pflegte er eine Dokumentensammlung zum sowjetischen Paktsystem in Europa und Asien. Die neuen Einträge in seinem so genannten ,,Ostpakt-System" wurden auch im Kanzleramt mit Interesse gelesen.

2. Als weiteres Beispiel für den Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Politik möchte ich zitieren aus seiner umfangreichen und damals hochaktuellen Abhandlung zur sowjetischen Deutschlandpolitik, die im Februar 1953 gewissermaßen sein ,,Bewerbungsschreiben" für die Aufnahme ins Auswärtige Amt war. Hier beschrieb er, warum die genaue Kenntnis der sowjetischen Deutschlandpolitik und der sowjetischen Völkerrechtstheorie und -praxis so wichtig sei:

,,Die Schaffung einer dauerhaften Friedensordnung in Europa setzt eine Wiederherstellung der gesamtdeutschen Einheit voraus, die nur auf Grund eines Interessenausgleichs zwischen West und Ost erhofft werden kann. Zu einem solchen Ausgleich kann das deutsche Wissen um die Probleme und Methoden des Ostens im Rahmen eines Verhandlungsfriedens wesentlich beitragen. Möge das vorliegende Werk mithelfen, dieses Wissen zu vermehren, um auf dem Wege zu einer gesamteuropäischen Friedensregelung als zuverlässiges Orientierungsmittel zu dienen."

Anfang 1953, lange vor der Brandtschen Ostpolitik, dem KSZEProzess und den 2+4-Verhandlungen, skizzierte er den Weg zur deutschen Wiedervereinigung. Einen Weg, der eine aufgeklärte Außenpolitik erforderlich machte. Eine genaue Kenntnis des Gegenübers auf der anderen Seite des Verhandlungstisches. Und einen Weg, auf dem er selber später wesentliche Meilensteine gesetzt hat. Nicht nur als Diplomat, sondern auch als Wissen-schaftler, der zeitlebens auf das Engste mit dem Auswärtigen Amt verbunden blieb. Ich denke etwa an die von ihm initiierte Gründung des legendären BIOst, des Bundesinstituts für Ostwissenschaftliche Studien 1961, das über Jahrzehnte unser wichtigster Think Tank für Fragen des Sowjetsystems und unserer östlichen Nachbarn war.

Erklärtes Ziel war für ihn aber nicht nur die deutsche Wiedervereinigung, sondern eben auch eine ,,dauerhafte Friedensordnung in Europa", und zwar in West und Ost. Die haben wir heute immer noch nicht erreicht, auch wenn Einige sich in den 1990er Jahren hier schon am Ziel wähnten. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 und Versuche zur Destabilisierung der Ostukraine belehren uns hier eines Anderen. Meissners Plädoyer für eine intime Kenntnis der ,,Probleme und Methoden des Ostens" als Orientierungsmittel auf dem Weg zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung bleiben insoweit aktuell. Es ist kein Zufall, dass das Auswärtige Amt aktuell versucht, an die Traditionslinie des im Jahr 2000 geschlossenen BIOst anzuknüpfen und mit Bundesmitteln ein neues Institut für Osteuropaforschung aus der Taufe zu heben. Ein Blick ins Politische Archiv zeigt, dass hier noch einige Geburtswehen bevorstehen könnten. Beim BIOst dauerte die Suche nach dem ersten Geschäftsführer fast drei Jahre.

Lassen Sie mich ein letztes Beispiel für den von Meissner zeitlebens verkörperten Ansatz nennen, also für eine an Völkerrecht und Wissenschaft orientierte Außenpolitik. Für die Würdigung seines Lebenswerks ist dieses Beispiel vielleicht das bedeutsamste. Es geht um die völkerrechtliche

Nichtanerkennung der sowjetischen Annexion der drei baltischen Staaten

.

Diese Doktrin war von Meissner mit seiner Doktorarbeit aus dem Jahr 1956 nicht begründet worden. Das waren mit Blick auf die deutsche Praxis v.a. Meissners akademische und berufliche Ziehväter Rudolf von Laun und Wilhelm Grewe. Aber Meissner hat diese Doktrin, die kurz nach Gründung der Bundesrepublik zur außenpolitischen Praxis wurde, mit seiner juristischen Promotion wissenschaftlich untermauert. Und damit den Grundstein gelegt für einen Brückenschlag, der bis zur Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen mit den baltischen Staaten 1991 reichte.

Wir haben hier einen Fall einer seltenen strategischen Langlebigkeit, fast möchte man sagen: Hartnäckigkeit. Meissner hat aktiv dazu beigetragen, die Doktrin aufrecht zu erhalten und zu verhindern, dass sie Opfer politischer Opportunität wurde. Er tat dies auf der wissenschaftlichen Schiene mit zahlreichen Vorträgen und Abhandlungen. Er tat dies aber auch als Referatsleiter ,,Sowjet-union" im AA. Er war es, der darauf drang, dass bei den Verhandlungen mit der Sowjetunion über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen am 13. September 1955 ein territorialer Vorbehalt eingelegt wurde. Ein Vorbehalt, der nicht nur die deutschen Ostgebiete betraf, sondern eben auch die Annexion der baltischen Staaten. Ein Vorbehalt, der nachfolgend von allen Bundesregierungen stets berücksichtigt wurde.

Nun zur Frage:Wie verlief Meissners Karriere im Auswärtigen Amt?

Boris Meissners Karriere im Auswärtigen Amt von 1953 bis 1959 war spät, schnell und steil. Sie endete schlagartig mit seinem Wechsel zurück in die Wissenschaft, als er einen Ruf an die Universität Kiel erhielt.

Blickt man auf diese sechs Jahre im AA, so waren sie gewiss nicht die langweiligste Zeit seines Lebens. Als er im reiferen Alter von 37 Jahren am 16. Mai 1953 in den Dienst des neu gegründeten Auswärtigen Amts eintrat, wurden seine Kenntnisse auf den Gebieten der Sowjetunion, des Völkerrechts und Ostrechts sowie seine Sprachkenntnisse dringend gebraucht. Bereits wenige Monate nach Dienstantritt war er Mitglied der von Professor Grewe geleiteten Beobachter-Delegation bei der ersten Viermächtekonferenz über Deutschland. Auch an den drei Folgekonferenzen bis 1959 nahm er teil.

Anfang 1956 wurde der frisch gebackene Gesandtschaftsrat an die neu eingerichtete Botschaft Moskau versetzt. An der Botschaft arbeiteten in den ersten Monaten ihrer Tätigkeit offenbar überhaupt keine Russland-Experten. Der Botschafter schrieb sogar, er sei auf die Expertise vorübergehend in Moskau anwesender Journalisten angewiesen, z.B. auf Klaus Mehnert. Allerdings verzögerte sich der Dienstantritt des sehnlichst erwarteten Russlandkenners Meissner in Moskau zunächst ein wenig. Denn die Zentrale wollte den Sowjetunion-Experten nicht ziehen lassen.

Erst am 7. Juni 1956 trat Meissner seinen Dienst in Moskau an. Seine Familie musste er in Niederdollendorf zurücklassen, was ihm sicher nicht leichtfiel. Wie stark der Eintritt in den Diplomatischen Dienst eine existenzielle Veränderung bedeutet, zeigte sich im Fall Boris Meissner daran, dass seine Mutter aus Anlass der Versetzung ihres Sohnes nach Moskau die Sowjetzone verlassen und nach Bonn ziehen musste. 1957, also im vierten Jahr nach dem Eintritt in den diplomatischen Dienst, wurde Meissner zum Beamten auf Lebenszeit ernannt und wenig später zum Gesandtschaftsrat Erster Klasse befördert. Das entspricht nach heutigem Dienstrecht ungefähr dem Vortragenden Legationsrat Erster Klasse, also Ministerialrat (A16).

Während Meissner an der Botschaft Moskau tätig war, gab es eine intensive politische Berichterstattung. Allerdings lässt sich sein Beitrag hierzu aus den Akten schwer nachvollziehen. Anders als heute war es damals unüblich, die Verfasser der Drahtberichte zu nennen: Nur der Botschafter unterschrieb.

Politisch waren die Jahre nach Stalins Tod äußerst spannend und standen auch im Zeichen der Unruhen in den Satellitenstaaten der Sowjetunion. Einmal wurde die Botschaft von staatlich organisierten Demonstranten belagert, die Steine auf das Gelände warfen und Fenster zertrümmerten. Es war eine Reaktion auf Ausschreitungen ungarischer Demonstranten vor der Sowjetbotschaft in Bad Godesberg.

Meissner wurde bereits im März 1958 wieder zurück in die Zentrale gerufen und war bis zu seinem Ausscheiden aus dem Auswärtigen Amt Leiter der zwei Strukturreferate der Ostabteilung (Referate 703 und 704). Aus dieser Zeit sind umfangreiche politische Aufzeichnungen zur Lage in der Sowjetunion erhalten, die Boris Meissner für die Leitung des Hauses erstellte, etwa zu Wendungen der Sowjetunion in der Deutschland- und Europapolitik, zur Bildungsreform oder zur Ablösung des Primats der Innenpolitik durch eine proaktivere Außenpolitik unter Chruschtschow. In einer seiner Analysen macht Meissner 1959 z.B. drei konstante Ziele der Moskauer Deutschland- und Europapolitik aus: Neutralisierung und Herauslösung der Bundesrepublik aus dem westlichen Bündnissystem; dadurch Schwächung der Widerstandskraft des freien Teils Europas; schließlich Herbeiführung eines ,,kalten Staatsstreichs" in einer von der übrigen westlichen Welt isolierten Bundesrepublik.

Seine wissenschaftliche Tätigkeit betrieb er in seinen Jahren im AA weiter. So wurde er am 14.12.1955 an der Universität Hamburg promoviert zum Thema ,,Die sowjetische Intervention im Baltikum und die völkerrechtliche Problematik der baltischen Frage". Die mündliche Prüfung war am 13. Juni 1956. Die Dissertation wurde als Buch unter dem Titel ,,Die Sowjetunion, die baltischen Staaten und das Völkerrecht" veröffentlicht und ist seither das Referenzwerk zur Nichtanerkennung der völkerrechtswidrigen Annexion der baltischen Staaten durch die Sowjetunion. 1956 nahm er an einer Sowjetologen-Tagung in Bad Münstereifel teil, die führende Ostforscher aus der ganzen Welt versammelte. Im Juni 1957 an der Folgekonferenz an der Universität Oxford, die die Veränderungen in der sowjetischen Gesellschaft zum Thema hatte.

Am 31. Oktober 1959 schied Boris Meissner aus dem Bundesdienst aus und übernahm am Folgetag eine Professur an der Uni Kiel. Der Dienstherr war von dieser Entscheidung überrascht. Immerhin drohte der beste Kenner des Sowjetsystems dem Auswärtigen Amt an die Wissenschaft verloren zu gehen bzw. in den Schoß der Alma Mater zurückzukehren.

Bemerkenswert ist, dass Meissner einen Rückfahrschein erhielt: Das AA war, auf seine Bitte hin, bereit, ihn nach Beendigung seiner Lehrtätigkeit wieder zu übernehmen. Meissner löste diesen Fahrschein, der ihm in der neuen Verwendung eine große Unabhängigkeit gab, nie ein. Aber die Nähe zum Auswärtigen Amt behielt er zeitlebens bei. Bereits bei seinem Ausscheiden wurde eine Beratertätigkeit für die Ostabteilung des AA vereinbart - zweimal im Monat für jeweils drei Tage bei Beibehaltung der zugewiesenen Bundeswohnung sowie eines Arbeitsraums im AA und Nutzung des Sekretariats. Mit dieser ehrenamtlichen Beratertätigkeit behielt Meissner ein Bein im AA, und im Übrigen auch ein Bein im Rheinland. Außerdem blieb er persönlich eng verbunden mit seinen früheren Kollegen, nicht zuletzt mit dem späteren Staatssekretär Andreas Meyer-Landrut und mit Berndt von Staden, seinem Stellvertreter und Nachfolger als Leiter des Sowjetunion-Referats, 1981-83 ebenfalls Staatssekretär im Auswärtigen Amt.

Boris Meissner hat in den Folgejahren immer wieder zahlreiche wissenschaftliche Auftragsarbeiten für das Auswärtige Amt durch-geführt und sich auch mit eigenen Projekten um eine Förderung durch das AA beworben. Er hat auch im Auftrag des Auswärtigen Amts mehrere Studienreisen durch die Einflussgebiete der Sowjetunion durchgeführt, die ihn 1960 nach Süd- und Südostasien sowie nach Fernost und 1963 nach Schwarzafrika und in den Nahen Osten führten. Ausführliche Reiseberichte sind im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts erhalten. Sie belegen ein weltweites Netz von Kontakten über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass Boris Meissners schneller Aufstieg im AA umrahmt war von den jeweils besonderen Bedingungen seines Eintritts in den Diplomatischen Dienst und seines Abschieds auf Raten, die seiner Ausnahmestellung als Russland-kenner und seiner Doppelfunktion als Diplomat und Wissenschaftler Rechnung trugen. Meissner war aus Sicht des Auswärtigen Amts ein diplomatischer Komet, der nicht verglühte, sondern sich verwandelte in einen Fixstern am östlichen Firmament deutscher Außenpolitik.

Als Vertreter des Auswärtigen Amts möchte ich den Ausrichtern dafür danken, dass dieses Seminar ganz im Zeichen des 100. Geburtstags von Boris Meissner steht. Daher haben wir auch sehr gerne die finanzielle Förderung dieser Veranstaltung übernommen.

Zum Schluss ein paar Anmerkungen zur Frage:

,,Was können wir heute von Boris Meissner lernen?"

Diese Frage ist gewissermaßen selbstreflexiv. Hilft sie uns wirklich weiter bei den aktuellen Überlegungen, wie wir uns außenpolitisch noch besser aufstellen können? Ich denke schon - solange wir bei diesem vergleichenden Blick auf die Schaffenszeit Boris Meissners die grundverschiedenen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die völlig anders gelagerten außenpolitischen Herausforderungen in Rechnung stellen.

Die Bereitschaft zu einer solchen Selbstvergewisserung ist jedenfalls derzeit im AA sehr hoch. Unser Minister Frank-Walter Steinmeier hat letztes Jahr einen Review-Prozess auf den Weg gebracht, der bereits Früchte trägt. Wir wollen auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts angemessen reagieren können. Insbesondere Krisenprävention und Konfliktlösung mit diplomatischen Mitteln sind ständige Herausforderungen. Wir haben dafür zwei neue Abteilungen gegründet. Wir sind seit ein, zwei Jahren gewissermaßen in einer Gründungsphase, in der alte Gewissheiten deutscher Außenpolitik in Frage gestellt werden und in der wir eine Neuorientierung vornehmen. Insofern kann man die Zeit heute mit der Gründungszeit der 50er Jahre, an der Boris Meissner aktiv beteiligt war, ein Stück weit vergleichen - mit den Einschränkungen, die ich eben angedeutet habe.

Das Besondere am Review-Prozess ist, dass er partizipativ angelegt ist. Es gibt eine Atmosphäre der offeneren Kommunikation, die auch kritische Selbstreflexion zulässt. Alle Mitarbeiter können sich am Review beteiligen, aber auch die Öffentlichkeit. Wir suchen gezielt Anregung von außen, geben Studien in Auftrag und versuchen, uns noch besser zu vernetzen. Außenminister Steinmeier beginnt beispielsweise dieser Tage einen strategischen Dialog mit den privaten Stiftungen. Und wir schauen in dem Prozess der Nachjustierung nicht nur nach vorn, sondern gelegentlich auch zurück: Was hat sich bewährt? Was sollte wiederbelebt werden? Auch die geplante Neugründung eines Instituts für Osteuropaforschung mit Mitteln des Auswärtigen Amts steht in diesem Kontext.

Was können wir also aus dem Fallbeispiel Boris Meissner lernen? Hier einige Thesen als Denkanstöße und Beiträge zur weiteren Diskussion:

1.Mehr Spezialisierung zulassen: Das Generalisten-Prinzip war stets das Leitbild für die Diplomaten des Auswärtigen Amts. So ist es auch weiterhin. Allerdings zeigt das Beispiel Boris Meissner, dass mit den außenpolitischen Herausforderungen auch die Anforderungen an die Mitarbeiter wachsen. Die deutsche Außenpolitik zu den beiden damaligen Grundproblemen, zur deutschen Frage und zur Sowjetunion, wäre ohne einen solchen Sachverstand wie den von Boris Meissner flach und wirkungslos geblieben. Dies gilt umso mehr in einer hoch arbeitsteiligen und immer komplexeren Welt. Zu Zeiten des Kalten Krieges war die Welt gewissermaßen überschaubar. Alle Außenpolitik stand im Zeichen des Systemgegensatzes. Heute brauchen wir noch mehr Spezialisten als früher - mit fachlicher und regionaler Expertise für ganz unterschiedliche Gebiete. Wir werden den multiplen Krisen des 21. Jahrhunderts nur durch Generierung von und Zugriff auf jeweiliges Spezialwissen gerecht, z.B. in Sachen atomarer Abrüstung, Cyberkriminalität, Klimawandel, islamischer Terrorismus, Russland, Iran, Funktionsweise der EU oder Finanzökonomie.

2. Besseres Wissensmanagement: Wir müssen in den eigenen Reihen Fachkenntnisse vorhalten, aber auch Expertise von außen ins Amt bringen. Ein flexibleres Dienstrecht dient diesem Ziel. Das Beispiel Meissner zeigt, wie ein absoluter Experte über Jahrzehnte eng in die Arbeit des AA eingebunden werden konnte, obwohl er bei uns nur sechs Jahre als Beamter im Einsatz gewesen war. Er stellte bei seinem Dienstantritt quasi seinen gesamten Erkenntnisfundus in den Dienst des Auswärtigen Amts. Tatsächlich beschäftigt sich derzeit ein Projektteam im AA bei der Umsetzung unseres Reviews mit der Frage eines verbesserten Wissensmanagements. Hier geht es darum, das vorhandene Wissen und bestehende Fähigkeiten der Mitarbeiter zu mobilisieren. Wir wollen so eine noch bessere Basis für außenpolitische Analyse und Entscheidungsfindung schaffen.

3. Vernetzung: Wir müssen für die wachsende Zahl an Themen und Regionen, die im Fokus deutscher Außenpolitik stehen, jeweils ,,Communities" schaffen: ein stabiles Netzwerk mit persönlichen Kontakten und institutioneller Tiefe. Boris Meissner hat seinen Gründergeist nicht nur im AA zur Geltung gebracht, etwa mit dem Aufbau der politischen Abteilung der Botschaft Moskau und der sog. Strukturreferate zur Sowjetunion im AA. Er hat auch jahrzehntelang die Wissenschaftslandschaft und die ost- und außenpolitische Community mit auf- und ausgebaut. Er war z.B. Gründer des Osteuropaseminars an der Uni Köln, Gründer des BIOst, jahrzehntelanger Vorsitzender des Göttinger Arbeitskreises, Mitglied in zahlreichen Lenkungsausschüssen, Arbeitskreisen, Studiengesellschaften und wissenschaftlichen Vereinigungen. Kurz gesagt: Er hat das gemacht, was ein Diplomat beherrschen muss - Menschen zusammenbringen, Gesprächsformate schaffen, den Dialog suchen und fördern. Öffnung und Vernetzung stehen auch bei unserem Review-Prozess im Fokus.

4. Recht als Ordnungsrahmen: Das zwischen den Staaten vereinbarte Recht, also das Völker- und Europarecht, bilden einen soliden Rahmen und eine Richtschnur für unser außenpolitisches Handeln. Es zahlt sich aus, den Ordnungsrahmen, den uns das Recht vermittelt, nicht aus Gründen tagespolitischer Opportunität aufzugeben. Manchmal ist hierfür ein sehr langer Atem notwendig. Boris Meissner hat im Fall der Nichtanerkennung der Annexion der baltischen Staaten über Jahrzehnte hinweg am Anspruch auf die Geltung des Rechts festgehalten. In Zeiten multipler Krisen gilt der Grundsatz, dass an den vereinbarten Regeln festzuhalten ist, umso mehr. Er ist auf alle Krisen anwendbar, sei es die Staatsschuldenkrise, die Griechenlandkrise, die Ukrainekrise oder aktuell die Flüchtlingskrise.

Alfred Eisfeld:

Boris Meissner und der Göttinger Arbeitskreis, seine Nachwirkungen in Wissenschaft und Politik

Boris Meissner ist bekanntlich in der Familie eines deutschbaltischen Juristen in Pskov (Pleskau) zur Welt gekommen.1 Der erste Lebensabschnitt war auf das Engste mit der Stadt Pärnu verbunden, in der er das Deutsche Private Gemeinschaftsgymnasium absolvierte. Danach folge ein Studium an der Universität Dorpat (Tartu), das er 1934 mit dem Diplom in Wirtschaft abschloss. 1939 setzte er sein Studium an der Universität Dorpat fort. Er widmete sich den Rechtswissenschaften, doch die große Politik setzte der Friedenszeit schon bald ein Ende.

1939 schlossen das Deutsche Reich und die Sowjetunion den Nichtangriffspakt, teilten Ostmitteleuropa in Einflusssphären auf und leiteten einvernehmlich eine "ethnische Entflechtung" beiderseits der Demarkationslinie von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer ein. Die deutschen Minderheiten jenseits der Reichsgrenze wurden von Reichsführer A. Hitler in seiner Reichstagsrede am 6.10.1939 bekanntlich als Störfaktor in den zwischenstaatlichen Beziehungen bezeichnet, den es zu beseitigen galt.

Boris Meissner hat am eigenen Leib erleben müssen, was das bedeutet. Die Umsiedlung nach Posen und die Einberufung in die Wehrmacht, fast 5 Jahre Kriegsteilnahme (1940-1945) und die britische Kriegsgefangenschaft prägten ihn als Menschen und machten das Osteuropäische Recht zum Schwerpunkt seines wissenschaftlichen Interesses.

Seine wohl bedeutendste wissenschaftliche Arbeit aus den frühen 1950er Jahren war die 1954 erschienene Dissertation "Die Sowjetische Intervention im Baltikum und die völkerrechtliche Problematik der baltischen Frage". 1956 erschien sie in Buchform unter dem Titel: "Die Sowjetunion, die baltischen Staaten und das Völkerrecht". Dieses Werk gilt als juristischer Nachweis dafür, dass die Besetzung und Angliederung der Baltischen Staaten durch die Sowjetunion ungerecht-fertigt war und einen Bruch des Völkerrechts darstellte.

Ohne den nachfolgenden Referenten vorzugreifen, muss an dieser Stelle aber doch wenigsten erwähnt werden, dass Boris Meissner von 1953 bis 1959 in Diensten des Auswärtigen Amtes stand. Als Leiter des Referats Sowjetunion gehörte er der deutschen Beobachter-Delegation auf den Außenministerkonferenzen von Berlin (Februar 1954) und von Genf (Juli und November 1955) an. Im September 1955 gehörte er der Delegation von Konrad Adenauer an, die in Moskau über die Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen verhandelte. Im Frühjahr 1956 wurde Boris Meissner Gesandtschaftsrat an der Deutschen Botschaft Moskau.

Auf den Dienst im Auswärtigen Amt folgte von 1959 bis 1964 die Tätigkeit als Ordinarius für Ostrecht, Politik und Soziologie Osteuropas und Direktor des Seminars für Politik, Gesellschaft und Recht Osteuropas der Universität Kiel. In diese Zeit (1961) fällt auch die Berufung zum Gründungsvorsitzenden des wissenschaftlichen Direktoriums des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln.2 1964 folgte Prof. Meissner einem Ruf der Universität Köln, wurde Ordinarius für Ostrecht und Direktor des Instituts für Ostrecht der Universität Köln bis 1985.

Dies sind nur einige Stationen der beruflichen Laufbahn von Boris Meissner, doch sie verdeutlichen seine hohe wissenschaftliche Reputation und die Nähe zu politischen Entscheidungen.

Der Göttinger Arbeitskreis, zu dessen Präsidenten Boris Meissner 1965 gewählt wurde, sollte für 35 Jahre (bis 2000) zu einem seiner Instrumente des Wissenschaftsmanagements werden. Er wählte Themen für die 1966 bis 1973 jährlich in Göttingen und von 1974 bis 1996 in der renommierten Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz durchgeführten Wissenschaftlichen Jahrestagungen. Dabei ging es vor allem um die Ost-West-Beziehungen, die Deutschlandfrage und die Entwicklung in der DDR. So machte er auf der Wissenschaftlichen Jahrestagung des Göttinger Arbeitskreises 1967 den "Vorschlag eines bilateralen Friedenspaktes zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion, der die Bereitschaft der Sowjetunion zur Freigabe der DDR erhöhen sollte".3 1998 schrieb Meissner rückblickend: "Als Mitglied der Expertengruppe im Bundeskanzleramt habe ich den Vorschlag, der Sowjetunion einen zweiseitigen "Großen Vertrag" anzubieten, wiederholt. Er ist von Bundeskanzler Kohl aufgegriffen worden und hat dazu beigetragen, die Ablehnung der Sowjetführung gegen die Einbeziehung des vereinigten Deutschland in die NATO zu überwinden."4 Im weiteren Verlauf wurde am 19. September 1990 der Vertrag "Über gute Nachbarschaft, Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion" paraphiert.

Boris Meissner teilte 1996 die Entwicklung des Göttinger Arbeitskreises rückblickend in 3 Phasen ein:

Von der Gründung des Göttinger Arbeitskreises bis zu den Ostverträgen

Von den Ostverträgen bis zur Wiedervereinigung Deutschlands

Von der Wiedervereinigung und dem Zerfall der Sowjetunion bis zur Gegenwart (1996).Diese Phase kann man bis 1999 verlängern, bis nach dem Regierungswechsel in Berlin eine Neuordnung im Bereich der Forschungs- und Kultureinrichtungen, die nach § 96 BVFG gefördert wurden, begann.

Die Phase der Neuordnung des Bereichs des § 96 BVFG bis zur Gegenwart.

Nachstehend soll nicht die Anzahl und der Inhalt der Konferenzen und Publikationen5 analysiert, sondern auf die Bedeutung Meissners für die jeweilige Periode in gebotener Kürze eingegangen werden.

I. Von der Gründung des Göttinger Arbeitskreises bis zu den Ostverträgen

Das Festhalten an der Gültigkeit der Grenzen Deutschland von 1937, die Präsenz der Millionen von Heimatvertriebenen aus den ostdeutschen Provinzen und deren starke emotionale Bindung an ihre Heimat bildeten sozusagen den Boden, auf dem der Göttinger Arbeitskreis in dieser Phase seine Aktivitäten entwickelte. Der damals vorherrschende Geist kam wohl am eindrucksvollsten in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen mit dem Verzicht auf Rache und Vergeltung sowie dem Bekenntnis zum freien Europa zum Ausdruck, die im Göttinger Arbeitskreis formuliert wurde. Dank der Förderung durch das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte konnten bis zu 28 Personen hauptamtlich in Göttingen beschäftigt werden. 409 Publikationen, teils in mehreren Sprachen, waren der publizistische Ertrag. Der Göttinger Arbeitskreis hat mit seinen Publikationen ganz wesentlich dazu beigetragen, dass die Geschichte und Kultur Ost- und Westpreußens sowie Schlesiens im Bewusstsein und in der wissenschaftlichen Diskussion präsent blieben.

II. Mit den Ostverträgen veränderte sich die politische Landschaft in Deutschland. Der Göttinger Arbeitskreis wurde von Regierungsseite als überflüssig, ja störend eingestuft. Meissner schrieb darüber u.a.: "Aus dem Moskauer Vertrag mit der Sowjetunion und dem Warschauer Vertrag mit Polen von 1970 war zu ersehen, daß von der Bundesregierung der sozial-liberalen Koalition die Hoffnung auf eine Änderung des territorialen Besitzstandes Deutschlands im weiter ausstehenden Friedensvertrag mit Deutschland aufgegeben war. Damit fiel auch das bisherige Interesse an einer beratenden Funktion und den publizistischen Aktivitäten des Göttinger Arbeitskreises weg."6

Die institutionelle Förderung wurde ihm entzogen. Das Personal musste entlassen werden. Der Verein setzte seine wissenschaftliche und publizistische Tätigkeit aber in einem kleineren Rahmen fort. Er hatte in den 1960er Jahren ein Gebäude im Göttinger Ostviertel erworben und nach Ausbleiben der institutionellen Förderung eine größere Spende aus der Wirtschaft eingeworben. Das musste ausreichen, bis bessere Zeiten kamen.

Meissners Handschrift war bei der Wahl der Jahrestagungen nicht zu verkennen. 1970 war das Thema "Die Stellung der Oststaaten zu einer gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsordnung", 1972 "Die Rechtsstellung Deutschlands nach den Ostverträgen", 1975 "Die Beziehungen der beiden deutschen Teilstaaten zur Sowjetunion", 1976 "Die Beziehungen der beiden Teilstaaten zu Polen", 1977 "Die KSZE, die UN-Menschenrechtskonvention und Deutschland", 1978 "Entspannungsbegriff und Entspannungspolitik in Ost und West". Deutschlandpolitische Fragestellungen und die Ost-West-Beziehungen (bis hin zu China) führten Jahr für Jahr namhafte Wissenschaftler zu den wissenschaftlichen Fachtagungen nach Göttingen und wissenschaftlichen Jahrestagungen nach Mainz.

In den frühen 1980er Jahren wurde von der Wissenschaft und von der Politik das Thema "Deutsche in der Sowjetunion" entdeckt. In der Sowjetunion selbst, aber auch für westliche Beobachter, war das Thema allerdings schon seit Anfang der 1970er Jahre, seit den Unterschriftensammlungen von Ausreisewilligen, dem Sitzstreik im Moskauer Telegraphenamt und kurzzeitigen Protestzeichen auf dem Roten Platz oder vor der Deutschen Botschaft präsent.

1987 gelang es Boris Meissner bei der Niedersächsischen Landesregierung Personalmittel für einen Referenten zu bekommen, der sich mit den Deutschen in der Sowjetunion befassen sollte. Sein Anruf erreichte mich im Osteuropa-Institut München und war kurz. "Kommen Sie nach Göttingen, ich habe eine Stelle für Sie". Ich kam. Boris Meissner kannte mich aufgrund meiner damals noch nicht zahlreichen Publikationen und der Teilnahme an Konferenzen. Wenig später wurde Gerhard Schröder Ministerpräsident in Hannover und die Mittel wurden gestrichen. Meissner fand andere Mittel, denn das Bundesinnenministerium, u. a. zuständig für Spätheimkehrer, später auch Aussiedler genannt, hatte Informationsbedarf.

Nachdem Bundespräsident R. v. Weizsäcker eine evangelische Gemeinde in Novosibirsk aufgesucht und Bundeskanzler Kohl im Herbst 1988 in Moskau mit Vertretern der deutschen Bevölkerung zusammentraf, war das Thema endgültig in der Politik angekommen.7 Ein Jahr später hat der Vorstand des Göttinger Arbeitskreises beschlossen, ein Forschungsinstitut zu gründen. Es verging noch ein Jahr, bis die Mitgliederversammlung die Vereinssatzung verabschiedete. § 1, Abs. 3 lautete jetzt:

"Der Verein bezweckt die wissenschaftliche Erforschung der rechtlichen, politischen und sozial-ökonomischen Lage der Deutschen im östlichen Europa sowie der Probleme der Entwicklung Deutschlands und seiner osteuropäischen Nachbarn und ihrer Zusammenarbeit im gesamteuropäischen Rahmen". Das Institut bekam die Bezeichnung Institut für Deutschland- und Osteuropaforschung des Göttinger Arbeitskreises. Die Arbeit auf Basis von Projektförderung war indes nicht einfach. Jährliche Mittelbeantragung und getrennte Abrechnung der Sachkosten etwa, werden manchem noch gut in Erinnerung sein. Für Boris Meissner war das nur Ansporn. Für mich öffnete sich der weite Bereich der Sowjetunion. Meine Kenntnisse von Land und Leuten, erfreulicherweise auch die über die Deutschen in der Sowjetunion, fanden Anwendung.

Ein paar Jahre später sagte Dr. Eckart Werthebach, Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, in der Festveranstaltung anlässlich des 50. Gründungstages des Göttinger Arbeitskreises am 31.10.1996: ,,Für die großartigen Leistungen zur Erforschung der deutschen Geschichte im Osten danke ich jedem Mitglied des Göttinger Arbeitskreises ganz persönlich. - Und ich füge hinzu: Die Bundesregierung hatte in der schwierigen Umbruchsphase nach 1990 im Göttinger Arbeitskreis und besonders in Herrn Dr. Eisfeld einen kompetenten Berater, um den Russlanddeutschen heute die Bundesunterstützung zukommen zu lassen, die half, Not zu lindern und Lebensperspektiven zu geben. Gerne erwähne ich, dass zum Beispiel die erste Konzeption für Hilfsmaßnahmen von Begegnungsstätten über die Hilfen für Kindergärten, Schulen und Organisationen bis hin zu Kleinbetrieben im Bereich der Lebensmittelverarbeitung als Hilfe an die Deutschen an der Wolga, in Westsibirien und in Nordkasachstan in Zusammenarbeit mit Ihnen zustande kam. Auch in anderen Regionen, sei es in Kirgistan, in der Ukraine oder im früheren Nordostpreußen, konnte das Bundesinnenministerium auf Ihren Rat zählen".8

III. Von der Wiedervereinigung und dem Zerfall der Sowjetunion bis 1999.

Die Mühen Meissners und der wenigen Projektmitarbeiter lohnten sich. Der Göttinger Arbeitskreis bekam ab 1. Januar 1994 eine institutionelle Förderung der Bundesregierung und konnte binnen Kurzem eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit Nachwuchswissenschaftlern und Archivaren in der Russischen Föderation, in der Ukraine, in Kasachstan, Kirgisien und Aserbajdžan in die Wege leiten. Mitte der 1990er Jahre waren in Projekten des Göttinger Arbeitskreises auf Honorarbasis bis zu 25 Archivare in Saratov, Wolgograd, Engels, Dnepropetrovsk, Odessa, Baku, Almaty und Biškek, darüber hinaus Museumsfachleute in Omsk, Saratov, Doneck, Dnepropetrovsk, Cherson, Odessa und Simferopol' mit der Erschließung von Archivalien und Exponaten zur deutschen Geschichte und Kultur im Russischen Reich und in der Sowjetunion beschäftigt. Wo sich neue Projekte in Angriff nehmen lassen würden, war selten sicher vorherzusehen. Der Weitblick Meissners und meine, während häufiger Reisen gesammelten Erfahrungen, machten es allerdings leicht zu übereinstimmender Einschätzung der Lage zu kommen.

Hilfreich waren dabei Projekte zur empirischen Sozialforschung, die der Göttinger Arbeitskreis im Auftrag des Bundesinnenministeriums in Kirgisien9 und im Gebiet Omsk10 sowie auf Vorschlag des Deutschen General-Konsulats in Novosibirsk11 mit Partnern vor Ort durchführte.

Die Sichtung und Erschließung von Quellen zur deutschen Geschichte im Osten Europas konnte unter Einbeziehung von Archivkräften in der Ukraine und Russland binnen weniger Jahre bemerkenswerte Ergebnisse vorweisen.

Zusammenarbeit mit: —Akademien d. Wissenschaften

—Wiss. Hochschulen

—Archiven

—Museen

Im Gebietsarchiv Dnepropetrovsk konnte ein annotiertes Findbuch für den Aktenbestand des Fürsorgekontors für ausländische Ansiedler Neurußlands (1781-1818) erarbeitet und im Gebietsarchiv Odessa die Sichtung und Annotation des 20 000 Archiveinheiten umfassenden Bestands des Fürsorgekomitees für ausländische Ansiedler in Südrußland (1799-1876) durchgeführt werden. Bis 2010 konnten 7 der geplanten 20 Bände erscheinen, wobei die Verzögerung mit der Herausgabe des Gesamtwerks nur durch den Wegfall der Finanzierung nach der von der rot-grünen Koalition 1999 eingeleiteten Neuordnung im Bereich der Forschungs- und Kultureinrichtungen, die nach § 96 BVFG gefördert wurden, und fehlendes Interesse auf Seiten des neuen Instituts für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa zurückzuführen ist.

Parallel dazu wurden Findbücher für die Aktenbestände des Saratover Fürsorgekontors für ausländische Ansiedler und etwas später für ausgewählte Bestände der Archive in Engels, Wolgograd und Simferopol' erarbeitet. Damit konnte der Zugang zu den bis zur Auflösung der UdSSR kaum bis gar nicht genutzten Dokumenten wesentlich erleichtert werden.

1994 wurde unter maßgeblicher Beteiligung des Göttinger Arbeitskreises e. V. eine Konferenz "Die Russlanddeutschen am Don, im Kaukasus und an der Wolga" durchgeführt, auf die jährlich Konferenzen zu verschiedenen Perioden und Ereignissen der Geschichte und Kultur der Deutschen im Russischen Reich, in der Sowjetunion und in deren Nachfolgestaaten folgten. 1995 konnte die "Associacija issledovatelej istorii i kul'tury rossijskich nemcev" (Assoziation zur Erforschung der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen)12 und das Wissenschaftliche Informationsbulletin gegründet werden, das vom Auswärtigen Amt gefördert wurde.

Im Bericht der Bundesregierung über ihre Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 BVFG in den Jahren 1995 und 1996 war nachzulesen:

"Das Institut für Deutschland- und Osteuropaforschung - der Göttinger Arbeitskreis e. V. - erforscht schwerpunktmäßig die politische, wirtschaftliche, rechtliche und kulturelle Entwicklung der Deutschen im Russischen Reich, in der ehemaligen Sowjetunion, deren Nachfolgestaaten und in den baltischen Republiken. Im Berichtszeitraum wurden aus Mitteln nach § 96 BVFG u. a. die Projekte "Rechtsformen der nationalen Autonomie und des Minderheitenschutzes in den baltischen Staaten und in der Sowjetunion/GUS von 1918 bis heute in ihrer Wahrnehmung durch die Deutschen", "Die kulturelle Selbstverwaltung der Deutschen in Lettland und die gegenseitigen deutsch-lettischen kulturellen Beziehungen von der Errichtung der Republik Lettland 1918 bis zur Gegenwart", "Einwanderung in die Wolgaregion 1764 bis 1767", "Politische Bewegungen in den deutschen Kolonien an der Wolga von Februar 1917 bis November 1918" u "Deutsche in der Ukraine 1917 bis 1921" gefördert.

Mitarbeiter d. Instituts für Deutschland- und Osteuropaforschung (1996) o.R. v.L.: Dipl.-Germ. Victor Held, Sabine Eichwald, Dr. Alfred Eisfeld, Bibl.-Ass. Dipl.-Bibl. Kristina Heide, Dr. Viktor Bruhl, Detlef Henning M.A., u.R. v.L.: Ingrid Möhring, Friedrich Meyer, Marion Hanke, Dipl.Sprachmittler Norbert Kaufmann, Dr. Eva-Maria Auch

Zwei internationale Konferenzen in Göttingen galten den Themen "Deutsche in Rußland und in der Sowjetunion 1914 bis 1928" und "Lage und Perspektiven der Rußlanddeutschen in Rußland und den GUS-Republiken nach den russischen Duma- und Präsidentenwahlen".

In Zusammenarbeit mit ausländischen Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen wurden zwei Konferenzen in Rußland und eine in der Ukraine durchgeführt".13

Nicht zu vergessen das Symposium "Saratov-92", zu dem über 100 deutsche Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker mit einem Sonderflug der LH auf den Stützpunkt der strategischen Bomberflotte Russlands in Engels gebracht werden konnten. Prof. Dr. Dietrich Rauschning gelang es für die 11 thematisch sehr unterschiedlichen Sektionen Fachleute für Reaktorsicherheit, für kommunale Wirtschaft, Landwirtschaft, Umweltschutz usw. zu gewinnen. Eines der Ergebnisse dieses Symposiums war die Fortbildung der russischen Ingenieure für Reaktorsicherheit im AKW Balakovo. Die russische Seite konnte damals von vielen, durch das Symposium gebotenen Kontakten und Möglichkeiten, keinen Gebrauch machen, weil die Wirtschaft sich im Sinkflug befand. Die Idee der weitgefächerten Zusammenarbeit wurde aber überzeugend vorgetragen und kam in den 1990er Jahren auch im Wolgagebiet punktuell zur Anwendung. Zu einer engeren Kooperation zwischen dem Patenland der Wolgadeutschen, Hessen, und dem Gebiet Saratov kam es bedauerlicherweise nicht.

Deutschlandpolitische Fragestellungen und die Baltikumforschung waren ureigene Forschungs- und Publikationsfelder Meissners. Er holte aber auch junge Baltikumforscher nach Göttingen. Zwei von ihnen möchte ich besonders hervorheben:

Egils Levits, geboren 1955, Absolvent der Fakultäten für Rechtswissenschaften und politische Wissenschaften der Universität Hamburg, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität Kiel; seit 2019 Staatspräsident von Lettland.

Während der singenden Revolution im Baltikum kommentierte er fast täglich das Weltgeschehen für die lettischen Medien aus der Calsowstraße 54 in Göttingen. Von hier aus arbeitete er auch an der Reform des Justizwesens Lettlands. Sein weiterer Werdegang war kometenhaft:

Berater des lettischen Parlaments für Fragen des internationalen Rechts, des Verfassungsrechts und der Gesetzgebungsreform; Botschafter Lettlands in Deutschland und der Schweiz (19921993) sowie in Österreich und Ungarn (1994-1995); stellvertretender Ministerpräsident und Justizminister, Wahrnehmung der Aufgaben des Ministers für auswärtige Angelegenheiten (1993-1994); Schlichter am Vergleichs- und Schiedsgerichtshof innerhalb der OSZE (seit 1997); Mitglied des Ständigen Schieds-hofes (seit 2001); 1995 Wahl zum Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Wiederwahl 1998 und 2001; Richter am Europäischen Gerichtshof seit 11. Mai 2004, zahlreiche Veröffentlichungen in den Bereichen des Verfassungsrechts und des Verwaltungsrechts, der Gesetzgebungsreform und des Gemeinschaftsrechts.14 Bei der Wahl zum Staatspräsidenten der Republik Lettland reichten die Stimmen 2015 nicht für einen Sieg, jedoch 2019!

Cornelius Hasselblatt (geb. 1960 in Hildesheim), aus einer Pastorenfamilie stammend, studierte an der Universität Hamburg Finnougristik, Geschichts- und Literaturwissenschaften. Er kannte sich in Estland und Finnland aus, bevor Boris Meissner ihn im Herbst 1992 als Referenten nach Göttingen holte. Bis Oktober 1995 befasste er sich in Göttingen vor allem mit historischen Fragestellungen. Aus dieser Zeit stammen seine Monographie "Minderheitenpolitik in Estland. Rechtsentwicklung und Rechtswirklichkeit 1918-1995"15 und der mit Boris Meissner und Dietrich Loeber herausgegebene Tagungsband "Die deutsche Volksgruppe in Estland während der Zwischenkriegszeit und aktuelle Fragen des deutsch-estnischen Verhältnisses".16

Nach einem Zwischenaufenthalt an der Universität Hamburg hatte Hasselblatt von 1998 bis 2014 den Lehrstuhl für finnougrische Sprachen und Kulturen an der Reichsuniversität Groningen inne. Im Internet wird er deshalb auch als "niederländischer Finnougrist deutscher Herkunft" vorgestellt.

Über die 2006 erschienene "Geschichte der estnischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart"17 schrieb Carsten Wilms: "Cornelius Hasselblatt, Professor für Finnougrische Sprachen und Kulturen an der Rijksuniversiteit Groningen, ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Kenner der estnischen Literatur. Seine kürzlich erschienene und vor allem als Nachschlagewerk zu benutzende Geschichte der estnischen Literatur erhebt den Anspruch, eine Gesamtdarstellung der Literatur in estnischer Sprache zu geben, bei der sich ,,Lesbarkeit, Detailreichtum und Faktensicherheit" die Waage halten. Es handelt sich um die erste deutschsprachige Gesamtdarstellung der estnischen Literatur, die annähernd einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Damit wird eine Lücke geschlossen, die wieder einmal bewusstmacht, wie wenig literaturwissenschaftliche Forschung in Deutschland zu den ,,kleineren" Nationalliteraturen Europas betrieben wird". 18

Ulrich M. Schmidt schrieb über die 2. Auflage dieses Werkes u. a.: "Der Estland-Experte Cornelius Hasselblatt, der an der Universität Groningen Finnougristik lehrt, hat die wechselvolle und spannende Geschichte der estnischen Literatur kenntnisreich aufgearbeitet. Das fast 900 Seiten starke Kompendium gibt nicht nur erschöpfend Auskunft über die wichtigsten Autoren, sondern auch über die gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen ihres Schreibens. Hasselblatt setzt damit einen hohen Maßstab, seine Darstellung darf jetzt schon als Standardwerk gelten. 19

Die Tätigkeit Boris Meissners und des Göttinger Arbeitskreises in den 1990er Jahren wurde, je nach Standpunkt des Beobachters und seinem jeweiligen Weltbild sehr unterschiedlich bewertet. 1977 wurde ihm der schwedische Nordstern-Orden 1. Klasse, 1979 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, 1995 der Orden des Marienland-Kreuzes 1. Klasse der Republik Estland. 1996 wurde Boris Meissner von der Universität Tartu die Ehrendoktorwürde der Rechtswissenschaften verliehen. Im gleichen Jahr erhielt er auch das Große Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland.

Die PDS sah in der Erforschung der Nationalitäten- und Regionalprobleme, insbesondere der Lage der deutschen Minderheiten, in Verkennung von deren Bedeutung für die Entwicklung der Länder Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas, "staatlichen Pangermanismus". Boris Meissner wurde 1994 in einer Publikation des Dietz Verlags Berlin u.a. unterstellt, dass er als erfahrener "SA-Mann in Estland" bei der Erforschung der "Deutschen im Russischen Reich und im Sowjetstaat...sowohl politische als auch militärische Erfahrungen beisteuern" konnte.20

Von der auf ehrenamtlicher Basis ins Leben gerufenen "Interdisziplinäre Studiengruppe für die Deutschen aus Rußland und in der Sowjetunion" hieß es nicht nur, dass diese "unmittelbar durch die Bundesregierung bezahlt" wurde, sondern auch, dass deren Vorsitzender, Alfred Eisfeld, ein "beim Innenministerium beschäftigter Minderheitenspezialist mit Kontakten ins Lager des Rechtsextremismus" sei.21 Diese, wie auch andere, in dieser Publikation aufgestellten Behauptungen, beruhten auf Unkenntnis und sollten diffamieren. Sie zu übergehen wäre indes nicht angebracht, denn sie hatten eine weitere Entwicklung mit, wie sich später zeigen sollte, gravierenden Folgen.

Die PDS, namentlich Ulla Jelpke, richtete an die Bundesregierung eine Kleine Anfrage, in der Boris Meissner in die Nähe zum Nationalsozialismus gerückt wurde. Das Bundesinnenministerium antworte darauf für die Bundesregierung u. a. folgendes: "Professor Dr. Boris Meissner hat bei dem Aufbau der Osteuropaforschung und insbesondere der Baltikumforschung nach dem Zweiten Weltkrieg große Verdienste erworben. Er hat seine Kompetenz und Erfahrungen auch den Regierenden und Politikern in Ost und West zur Verfügung gestellt. Sein Anliegen war und ist es, die osteuropäischen Staaten auf ihrem Wegin die Unabhängigkeit zu unterstützen und die Verantwortlichen im Westen über die Veränderungen im Osten Europas in wissenschaftlich seriöser Weise zu unterrichten".22

Boris Meissner kannte, wie kein anderer, auch die seit Jahrzehnten gewachsenen Defizite der deutschen Osteuropaforschung, die sich zu Zeiten der Sowjetunion vor allem auf Moskau, Leningrad und Novosibirsk fokussierte, während die Ukraine, die kaukasischen und mittelasiatischen Republiken nur selten in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen genommen wurden. Daraus folgerte er, dass interdisziplinäre Forschungsgruppen für den Kaukasus, Sibirien, Kasachstan und Mittelasien, Weißrussland, die Moldau, den "Bereich zwischen Wolga und Ural" und den "Norden mit Karelien" ins Leben gerufen werden sollten23, um die wenigen Fachkräfte für eine Zusammenarbeit zu gewinnen, so wie dies in der von Meissner 1982 gegründeten Studiengruppe für gegenwartsbezogene Baltikumforschung erfolgreich praktiziert wurde. Unter seiner Mitwirkung konnten die Interdisziplinäre Studiengruppe für die Deutschen aus Russland und in der Sowjetunion und die Studiengruppe für gegenwartsbezogene Kaukasien-Forschung gegründet werden. Erstere wurde 1995 in die ,,Wissenschaftliche Kommission für die Deutschen in Russland und in der GUS." umgewandelt.

Boris Meissner mit den Beratern des ehem. Präsidenten der UdSSR Michail Gorbatschow Vladimir Schenajew und Viktor Kuwaldin in einer Konferenzpause in Mainz (April 1995)

IV. Die 4. Phase begann mit dem Regierungswechsel 1998.