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"Alter warst du im Wasser?" Marcel war alles klar. "Borkumer Jungs Ausweis!" verlangte Tüdda. "Oh wird das ´ne Teeparty?" fragte Andrea. "Wieso ist´n da Blut an der Flasche?" wollte Nicole wissen. "Geil Drachenladen", freute sich Michael. "Ich bin ein Fisch", erklärte Romy. "Wir sind auch ganz brav", versicherte Sören. "Küss mich" sagte Karsten, "dann bin ich geheilt."
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Seitenzahl: 332
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Für meine Eltern
Olaf und Lena,
und auch für
Uli und Lydia
BORKUMBABY
BORKUMBABY 1
BORKUMBABY 2
Viele Personen in dieser Geschichte gibt es wirklich, bei manchen habe ich den Namen nicht geändert und hoffe, es stört sie nicht, in einem Buch aufzutauchen. Vieles andere kommt einfach so vor, wie ich es in Erinnerung habe oder wie die Borkumer es erzählten. Weder Schröder noch Joop habe ich jeh getroffen. Den Shanty-Chor „Oldtimer“ Borkum kenne ich leider nur von zwei Cds, und bei der Recherche zu Gehörlosigkeit waren Annika aus Schweden und Hugo von der Buchhandlung „Horizonte“ sehr hilfreich. Alles Russische kommt von Andreas. Gracias!
In dem dunkelroten Polsterrund saß eine Walküre und starrte auf den Monitor ihres Laptops. Die ostfriesisch gelben Haare trug sie in einem kurzen Pferdeschwanz, für den die vorderen Strähnen nicht gereicht hatten und ihr zerzaust ins Gesicht hingen. Sie klemmte sie hinters Ohr, als Karsten “Kaschi” Teepe an ihren Tisch trat um zu fragen, ob sie etwas dagegen hätte, wenn er sich hier mit hinsetzte.
“Nein, ich hab nichts dagegen.”
Sie lächelte freundlich, woraufhin Karsten seinen Rucksack zu ihr auf die Bank schob und sich selbst dann auch. Während die junge Frau ihre langen Beine ausstreckte und einmal die starken Schultern kreisen ließ um sich dann stirnrunzelnd wieder Bildschirm und Tastatur zu widmen, zog sich Karsten die Jacke aus und seine Bordlektüre aus der Rucksackseitentasche: die “Borkumer Zeitung”. Ein langsames Rütteln ging durch den Schiffskörper, alles vibrierte und ein motorisches Dröhnen aus dem Maschinenraum übertönte alle Gespräche. Die Schiffsschraube drehte sich, die Fähre hatte abgelegt. Karsten las gerne. Lokalnachrichten zur Entspannung, Juli Zeh zum Vergnügen, und Bonhöffer, um wieder auf dem Boden der Tatsachen zu landen. Probleme hatte es einzig mit der Pflichtlektüre aller Semester gegeben, die er jeweils nur mit größter Mühe zu Ende gelesen, die Bücher dafür aber mit vielen Anmerkungen und Beipackzetteln versehen hatte. Das lag nun alles weit hinter ihm. Zum erfolgreichen Abschluss des Studiums fehlte ihm lediglich die praktische Abschlussarbeit, ein umfangreiches Werk, selbstverständlich mit kompletter Partitur und Uraufführung im Beisein aller Professoren und interessierter Komilitonen. Die Borkumer Zeitung hätte er jetzt eigentlich gar nicht gebraucht, denn er fühlte sich auch so schon angenehm entspannt, wie er da neben der Walküre saß und sich nicht mehr um Bahn- oder Fährverbindungen zu kümmern brauchte. Er würde jetzt einfach auf Borkum ankommen, darum kümmerte sich schon der Kapitän. Recht schnell hatte die Fähre Fahrt aufgenommen und bahnte sich so gelassen wie zügig ihren Weg durch die Weser Ems, die erst in einer knappen halben Stunde in die Nordsee münden würde. Das Dröhnen und Rumpeln des Ablegemanövers war in ein gleichmäßiges Motorengeräusch übergegangen und die Fahrgasträume wieder gesprächsfreundlich geworden. Karsten lehnte sich so weit wie möglich zurück, um besser aus dem Fenster sehen zu können, deren sechzig Zentimeter breite Fenstersimse bereits von mehreren Kleinkindern erklettert worden waren, die ihre Nasen und Kleinkinderhände begeistert an die Scheiben drückten. Karsten beneidete sie kurz und verdrehte sich auf seinem Sitz soweit, dass er wenigstens einen Ellenbogen auf den Sims stützen konnte. Draußen zog das Ufer an ihnen vorbei, mit Kühen, Radfahrern und etwas Industrieähnlichem. Zufrieden lächelnd setzte er sich wieder gerade hin.
“Zum ersten Mal auf die Insel?”
Karsten bejahte, und sie erklärte ihm, dass man auch auf Deck sehr gut säße und dort natürlich den besten Ausblick hätte, nur wehte der Wind etwas stärker, so hätte alles seine Vor- und Nachteile. Erfreut sagte Karsten schon wieder “Ja”, und für sie wäre das wohl alles nichts Neues?
“Ich bin Borkumerin. Andrea.”
Als sie Hände schüttelten- schöne Hände mit langen, starken Fingern- ertönte eine Lautsprecheransage: “Die 1 bitte.” Und gleich darauf: “Die 2, bitte.”
Karsten guckte Andrea, die Walküre, fragend an.
“Das sind die Bestellungen vom Bordrestaurant.”
“Das guck ich mir mal an, vielleicht kann ich ja die 3 sein...”
“Darf ich solange die Zeitung haben?”
“Bitte, bitte.”
Das Bordrestaurant entpuppte sich als eine Art Kantinenthresen, vor dem alle Tische mit offensichtlich erholungsbedürftigen Kurgästen besetzt waren. Dahinter war durch eine Schwingtür die Kombüse zu erspähen. Karsten stellte sich ans Ende der kurzen Warteschlange und bat um Tee und Streuselkuchen, als er an der Reihe war. An der Kasse bekam er die 6 auf einem gelben Papierstück. Ob es sich lohnte, für Tee und Kuchen wieder zur Sitzecke zu gehen? Neugierig schlenderte Karsten mit seiner 6 zwischen den Fingern durch den Fahrgastraum, den Rauchersalon und an zwei Daddelautomaten vorbei, die zwischen Gepäckregalen, Urlaubswerbung und den Treppen zum Oberdeck Platz gefunden hatten. Er freute sich über die nie zuvor gehörte Geräuschkulisse und schwankte in der Fährbewegung grade leicht nach rechts, da wurde er aufgerufen: “Die 6 bitte!” Die Schwankrichtung ändernd eilte er zurück zum Bordrestaurant, wo er für sein Zettelchen ein Tablett erhielt.
“Oh ein Kännchen Tee!”
“Tee gibts immer nur im Kännchen.”
“Wie schön! Danksehr!”
“Bidde.”
Auch der Streuselkuchen machte einen sehr guten Eindruck, Karsten konnte das beurteilen, denn als Thüringer hatte er einiges an Kuchenerfahrung aufzuweisen. Er balancierte zurück zu Andrea.
“Das ist dann also dein erster echter Ostfriesentee?”
“Äh, ja ich denke schon!”
Karsten suchte Bändsel und Schildchen, die aus dem Teekännchen heraushingen.
“Thiele.”
“Genau.”
“Ja, ist mein erster Thiele Tee.”
“Es gibt auch noch Bünting, aber darüber scheiden sich die Geister... Thiele ist auf jeden Fall gut.”
“Zucker haben sie vergessen, aber dafür hab ich Sahne gekriegt...”
Andrea lachte.
“Da in dem Tütchen ist Kandis! Kluntje!”
Karsten sah sie groß an.
“Ach.”
Dann freute er sich und begann, unter Andreas wachsamen Augen zu mischen. Intuitiv machte er alles richtig: Erst den Kluntje, dann den Tee, dann die Sahne, und kaum gerührt.
“Was hast du auf Borkum vor, wenn ich fragen darf?”
“Ich hab ein halbes Jahr Zeit, um meine Abschlussarbeit zu schreiben. Zu komponieren. Das muss mal fertig werden. “Haus Polizeirat Bannier”, kennst du das?”
“Ja-a!”
“Ich hab ein Stipendim der Bannier-Stiftung.”
“Wie nett! Du machst also Musik? Was spielst du denn?”
“Klavier, Akkordeon, Fagott...”
“Wow... na bei Olli steht'n Klavier, glaub ich...”
“Wo?”
“Na in dem Bannier Haus. Polizeirat heißt das erst, seitdem das mit der Stiftung angefangen hat, da brauchte es'n Namen, aber eigentlich sagen alle nur “bi Olli”. Dem Olli gehört das Haus.”
“Ach so. Und was machst du so auf Borkum?”
“Nicht viel, eigentlich, meine Eltern wohnen da und möchten besucht werden, und es muss auch was am Haus repariert werden.”
“Ich finde das viel.”
Karsten rührte löffelklingend in seiner Tasse.
“Soll ich dir auch eine holen? Ich hab ja'n ganzes Kännchen voll Tee bekommen.”
“Oh da sag ich nicht Nein!”
Die angewachsene Warteschlange, in der mehrere Kinder mit ihren Eltern über Eis diskutierten und eindeutig die besseren Argumente hatten, weil sie einfach nicht auf die Preise guckten, umschlängelte Karsten kurzentschlossen und fragte gleich an der Kasse nach einer zweiten Tasse, am besten mit Kluntjetütchen und Sahne.
“Bidde, ausnahmsweise...”
“Sehr freundlich.”
Karsten strahlte die Kassendame herzlich und eine Verbeugung andeutend an, während hinter ihm dem Flutschfinger keine Chance gegebem wurde: “Cornetto Erdbeer! Nogger! Split!”
Die Fähre überholte Sportsegler und ein Plattboot, Möwen flogen ein Stückchen mit, das Ufer war auf Steuerbord schon nicht mehr zu sehen. Links lag Holland. Karsten beschloss, sich das Ganze nach dem Tee mal von oben anzusehen. Andrea hatte ihren Laptop weggepackt.
“Du hör mal, wenn du Musik studierst, singst du vielleicht auch gut?”
Karsten stellte ihr triumphierend die neue Tasse samt Zubehör hin.
“Ich war im Verbindungschor. Bass.”
Andrea seufzte glücklich, als hätte sie soeben eine Offenbahrung erlebt und goss sich Tee auf den Kandis, der entzückend knisterte und Lust aufs Umrühren machte.
“Das ist genial! Ach wie schön! Da werden die aber staunen...”
Mit dem Mund voll Kuchen und ein paar Streuseln im Bart runzelte Karsten die Stirn, und Andrea lachte.
“Im Borkumer Shanty-Chor ist grade absolut Not am Mann! Ich weiss das, weil mein Bruder da singt und mir Jammer-Emails schickt. Sie haben wohl noch an die sechs Auftritte in der Nachsaison, so für die ganz Hartgesottenen, die nicht nur wegen Sonne und Sand an die Nordsee fahren, tja und jetzt sind gleich zwei Bassstimmen schwer krank und der eine Tenor mit Blinddarmentzündung im Krankenhaus, und alles absagen können sie auch nicht – boah da kommst du ja wie die Rettung in letzter Sekunde!”
“Ich hab aber noch nie Shantys gesungen.”
“Ach Quatsch, macht doch nichts! Jetzt sag eben, darf ich meinen Bruder glücklich machen und ihm sagen, dass du mitmachst? Die kriegen auch Gage und so...”
“Wenn ich mal Zeit habe? Und wie sind die drauf, sind das alles ältere Herrschaften, so Volksmusikseebären? Obwohl, wenn dein Bruder-”
“Die sind nicht so alt!”
“Ha, na dann sag halt okey, sing ich halt mit!”
“Ja super. Du hast auch so schon eine schöne Stimme.”
“Hmm.”
Karsten brummte amüsiert und bassig. Dann entkrümelte er seinen gestutzten 10-Tage-Bart und band sich den Pferdeschwanz neu.
“Ich geh mal an die frische Luft.”
Andrea lächelte mit dem Handy am Ohr, um ihrem Bruder die frohe Botschaft zu überbringen. Karsten erklomm alldieweil eine Metalltreppe, auf der die Schritte Lärm machten und von der aus man einen Blick ins Autodeck werfen konnte, wo die Stimmung so gar nicht fahrgastmäßig sondern laut, zugig und zugeparkt war, und erreichte nach noch ein paar Stufen das Oberdeck. Eine sehr frische Brise empfing ihn, lud zum Durchatmen ein und erinnerte ihn daran, dass er seine Jacke vergessen hatte, aber daran war jetzt nichts mehr zu ändern. Er suchte einen Windschatten, fand ihn auch hinter der Kommandobrücke, in der sich unten ein Kiosk befand, und setzte sich neben einen Mann mit Schirmmütze, der eine ausgesprochen schöne Frau an seiner Seite hatte. Mit halbem Ohr hörte er noch, wie die beiden über “Jochen und die Kinder” redeten, dann schaltete er ab und genoss die Fahrt mit ausgestreckten Beinen und geschlossenen Augen. Brachte sich in Shantylaune. Nach einer Weile wäre er fast weggedöst, aber der Kopf fand keine Stütze und man selber lief Gefahr, auf den verschalten Plastikbänken nach unten zu rutschen. Schnell stemmte Karsten sich wieder in eine aufrechte Sitzposition. Es knackte in den Lautsprechern, und eine Männerstimme verkündete: “Halbe!” Das schin keine Aufforderung gewesen zu sein, kein Befehl von der Kommandobrücke, denn niemand reagierte irgendwie absonderlich, aber Karsten hatte schon immer gerne nachgefragt – den Schirmmützenmann.
“Halbe was?”
“Halbe Strecke.”
“Ach so! So ist das also!”
“In eineinhalb Stunden sind wir da, es geht leicht gegen die Strömung.”
Der Mann rollte die Rs beim Sprechen und klang herrlich norddeutsch, was Karsten freute. Er selber sprach fast akzentfrei, fast, wozu er sich eine lange Zeit gezwungen und es dann normal beibehalten hatte, denn Thüringisch brauchte man wirklich nur in Thüringen, wo Karsten aufgewachsen, zur Schule gegangen und zum Teil in Erfurt studiert hatte. Die andere Hälfte des Studium war er in St. Petersburg am Konservatorium gewesen und sprach auch ganz gut russisch, und den Zivildienst hatte er damals in Münster absolviert, wogegen er Rothenburg ob der Tauber kannte, weil die Punkband, die seine Freunde und er damals gegründet hatten, unerklärlicherweise dort hängen blieb und versiffte, ihre allererste Deutschlandtournee also ein jähes Ende fand und die Band sich nach zwei Jahren auflöste – gerade, als die Rothenburger Jugend sich an Punk gewöhnt hatte. Diese zwei Jahre waren wie ein schwarzer, dumpfer Fleck in Karstens Laufbahn, und er erinnerte sich auch nur dunkel an die Zeit, aber sie hatten positiverweise zur Folge, dass er ein für alle Mal die Nase voll hatte von Besäufnissen, Zigaretten, Schlafsäcken und Haarewaschen in der Tauber. Seine Mutter hatte ihm bei seiner Rückkehr ganz gewaltig den Kopf geschrubbt und inständig gehofft, dass er jetzt anständig würde, und Karsten hatte angefangen, anständig Musik zu machen, zu jobben und zur Uni zu gehen. Und nun wurde es eben norddeutsch, und platt! Plattdeutsch. Karsten fand das sehr symphatisch. Er schielte zu der ausgesprochen schönen Frau auf der Bank. Also so eine Sonnenbrille würde er sich auch besorgen, das sah norddeutsch windschnittig aus. Mit hinter dem Kopf verschränkten Händen schloss er nocheinmal die Augen und hörte Stimmen, ein Lachen, den Wind, Schritte auf Metalltreppen und die Nordsee, wie sie um die Autofähre schäumte. Musikalisch kaum umsetzbar.
Andrea hatte das Teetablett weggeräumt und arbeitete wieder am Computer, als Karsten nach beendetem Deckspaziergang und Toilettenbesuch im Schiffsbauch zurückkam.
“Und? Wars schön?”
“Ja, sehr schön.”
“Mein Bruder ist ganz aus dem Häuschen, du wirst sehnsüchtig auf Borkum erwartet!”
“Na wenn das man nicht zu hohe Erwartungen sind!”
Andrea grinste nur und tippte weiter.
“Arbeit?”
“Ja, ich mach Übersetzungen.”
Karsten schnappte sich die Borkumer Zeitung, die noch auf dem Tisch lag, und vertiefte sich in Anzeigen, Hochwasser- und Veranstaltunskalender sowie den Bericht über das Fest der Freiwilligen Feuerwehr. Ihm wurde klar, dass er rein gar nichts über die Insel wusste, auf der er die nächsten sieben Monate verbringen würde. Gut, das hier war Ostfriesland, einzuordnen auf der mentalen Deutschlandkarte, aber diese Informationsflut aus der Zeitung war eine Überraschung. Nordseeheilbad, Naturschutzgebiet, Lenkdrachenrekordversuch, die Fußballmannschaft Deutsche & Albaner holt den Vereinspokal... Am Ende war das kein ödes Eiland, sondern eine Kulturmetropole mit Strand! Karsten sah sich im Fahrgastraum um und die anderen Passagiere in den dunkelroten Sitzecken und Tischgruppen genauer an. Normaler Durchschnitt, nur Jugendliche fehlten. Andrea arbeitete konzentriert, und Karsten widmete sich den Artikeln zu Kurverwaltung und Rathaus. Irgendwann zog es ihn aber wieder nach draußen, wo unter zunehmend bewölktem Himmel vor allem dunkles Wasser zu sehen war. Während er an der Reeling stand und sich von den fährproduzierten Wellen hypnotisieren ließ, kam auf Backbord Land in Sicht. Bis Karsten ihr Ziel bemerkte, waren sie schon fast an der Borkumer Reede und mitten im Anlegemanöver, für das die Fähre um 180 Grad drehen musste. Vom Maschinenlärm aufgeschreckt war Karstens erster Inseleindruck kein so guter, ziemlich unspektakulär sah das hier aus, aber dort standen lachende, winkende Leute, zwei Kinder, die total ausflippten, und eine Eisenbahn. Eine Spielzeugeisenbahn für Normalgroße. Karsten beeilte sich, wieder nach unten und an den koffertragenden Passagieren vorbei zu kommen, die bereits Gänge und Treppen verstopften, und fand Andrea seelenruhig in ihrer Ecke sitzend.
“Wir sind da!”
“Ach nee.”
Karsten musste wider Willen grinsen. Manchmal benahm er sich wirklich zu albern, obwohl er das nicht wollte.
“Kannst ruhig noch sitzen bleiben! Guck, alle Insulaner sind noch hier!”
Das stimmte: Die crème de la crème packte erst jetzt zusammen, trank noch ein Bier aus und führte Gespräche im Aufstehen weiter. Karsten schulterte seinen großen Rucksack, dessen Kappe so grade eben noch den Fagottkasten umspannte, der oben herausstak, und auch Andrea war jetzt fertig zum Landgang. Sie holten ihre anderen Gepäckstücke, Karstens schwere und Andreas winzige Reisetasche, und verließen die Fähre über eine Art Fahrgasttunel. Karsten fand es ganz angenehm, dass er hier nicht alles alleine machen musste und Andrea ihm Auskunft geben konnte.
“Und die Eisenbahn?”
“Die bringt uns jetzt in die Stadt. Das ist die Borkumer Kleinbahn!”
“Einfach so? Ich meine-”
“Mit einem Dieselmotor, glaube ich... und ohne Schaffner, soweit ich mich entsinne. Die wird irgendwie über die Kurtaxe finanziert, oder das ist im Fährticket mit inbegriffen, ich weiss das gar nicht so genau.”
“Dann ist das hier nur der Hafen.”
“Genau, und die Stadt liegt auf der anderen Seite.”
Karsten ärgerte sich, dass er immer so schlecht vorbereitet war. Eeben mal Google Maps gucken wäre echt nicht so schwer gewesen. Andererseits war er der Meinung, dass allzuviel Vorbereitung die Spannung zerstörte, und deshalb folgte er nun so ärgerlich wie gespannt den letzten Insulanern aus der Fähre in die Kleinbahn, während mit Gerumpel die Autos aus dem Schiffsbauch rollten und Richtung Stadt verschwanden. Weiter durfte man auf Borkum auch gar nicht, die Insel war im Grunde autofrei, was den Privatpersonenverkehr betraf. Aber einmal von der Reede zur Stadt, dort ausladen und dann auf dem großen Parkplatz verstecken, das ging. In Erfurt hatte Karsten sich, seit er achtzehn war, immer ein Auto mit seinem besten Freund Tobi geteilt. Sie reparierten es gemeinsam, quälten die Karre alljärlich durch den TÜV und respektierten die Autokassetten des anderen, aber bloß zum Vergnügen fuhr Karsten eigentlich nie, dafür waren ihm zuviele Idioten auf den Straßen unterwegs. Die Kleinbahnwaggons waren schon halbvoll, als er mit Andrea um den hintersten bog, den gelben Gepäckwagen. Die Schiebetür stand offen und der freundliche Gepäckwagenmensch fragte, ob das da mit rein sollte? Er meinte Karstens eklig schwere Reisetasche, und ehe der sichs versah, ward sie auch schon hoch geschwungen und verschwand im Wageninneren.
“Jou.”
“Okey Danke!”
Der Mann tippte sich grinsend an die Mütze und setzte sich beinebaumelnd in die Türöffnung. Andrea war ebenfalls verschwunden, weshalb Karsten schnell in den vorletzten Waggon kletterte. Jeder hatte vorn und hinten eine kleine umrandete Plattform, auf der man sitzstehen konnte, eifrige Hände schlossen die schwarzen Metallklapptüren der Umrandung, und eine Tür mit Glasfenster öffnete sich zu den Sitzplätzen. Karsten quetschte sich durch und nahm den erstbesten freien Platz und den Rucksack zwischen die Knie. Er saß umgeben von älteren Damen und fülligen Mittvierzigern, Frauen mit roten Gesichtern, grobporiger Haut und Arbeitsschuhen aus Gummi. Am anderen Ende des Waggons sah er den Schirmmützenmann und die schöne Sonnenbrillenfrau, dann ruckte es, die Kleinbahn pfiff und setzte sich in Bewegung. Karsten kam sich vor wie auf einer Weltreise. All diese Verkehrsmittel... wenn es jetzt noch einen Pferdetrack vom Bahnhof zum Polizeirat gäbe! Während der Kleinbahnfahrt gab es vor allem weites Watt, Schafe auf Grün, vereinzelte Fahrräder und drumherum flache Natur. Das Meer war nicht mehr zu sehen. Beim ersten Halt in der Kibitzdelle, bestehend aus ein paar Einfamilienhäusern, zwischen denen sich ein Drittel der Passagiere entfernte, war Karsten schon ziemlich durchgerüttelt, außerdem knurrte sein Magen. Pfeiffen, Anrucken, “Jakob-van-Dycken-Weg” konnte man auf einem Schild am Bahnsteig lesen. Das Vorstadtambiente hielt an, und nur wenig später kam die Kleinbahn dieselschnaufend am Borkumer Hauptbahnhof zum Stehen. Im Vergleich zur Kibitzdelle herrschte hier ein reges Gewimmel, und es gab soviel zu sehen, dass Karsten beinahe vergessen hätte, seine Reisetasche aus dem Gepäckwagen zu holen. Schließlich stand er aber doch an Rücken und Schulter schwer beladen da und machte den ersten Schritt – wohin wusste er nicht, dreißigjährige Stipendiaten wurden nicht abgeholt, die gingen selbst, wohin sie wollten, logisch. Da fragte er eben in der Touristeninformation nach dem Weg. Der wurde ihm auch sofort beschrieben. Kurze Beschreibung, kurzer Weg, und Karsten marschierte dankend los, die Bismarckstraße hoch, vorbei an Läden, Eisdielen und dem Postamt, dann an der Kreuzung rechts, da kam er in die Göthestraße. An dieser Ecke lagen eine riesige rote Boje und ein gewaltiger Admiralitätsanker, der von drei schmollmundigen Mädchen als Selfiehintergrund benutzt wurde, und Karsten grinste allwissend, weil vor dem Souveniergeschäft ein Planwagen mit zwei Pferden stand. Dann steuerte er zielstrebig das rote Backsteinhaus an, welches in circa hundertfünfzig Meter Entfernng an der nächsten Kreuzung zu sehen war. “Neben der Kirche, vor der Litfassäule, das können sie gar nicht verfehlen”, hatte die Dame von der Turisteninformation gesagt, und richtig, so war es. Die autofreien Straßen hatten hier keine Bürgersteige, alles war durchgehend mit hellroten, fünfeckigen Granitpflastern bedeckt, durch die sich ein graublauer Pflasterstreifen schlängelte, was auf der großen freien Kreuzung um die Litfassäule mehrere Kinder zum Spielen und Nachlaufen einlud. Vier Telefonzellen bildeten hier einen Block neben ein paar Sitzbänken, dahinter erhob sich ein hohes, weißes Gebäude, das nicht nach Wohnung aussah – die Kurverwaltung. Von der Kirche war vor lauter Bäumen nur die Fassade zur Straße und der Turm zu sehen, und Karsten wusste, er war am Ziel.
“My sedes, skasal Nikita, no ne snajen gde.”
Er zitierte Tolstoi. Wir sind am Ziel, sagte Nikita, wissen aber nicht, wo. Haus Polizeirat Bannier war von einer weiß-roten Gartenmauer umgeben, die aussah, als hätte man einen Zaun mauern wollen, dahinter ein zwei Meter breiter Grasstreifen und rechter Hand ein richtiger Garten mit Büschen und Bäumen zur Kirchseite hin. Soviel sah Karsten auf den ersten Blick, auch einen verschnörkelten Rosenstock, der zum Erker strebte (“Gruß aus Hannover”, so hieß das Pflänzchen, wie Karsten später erfuhr, und unbegründete Abneigung empfand), und er öffnete die Gartenpforte, die er hinter sich wieder zuhebelte und dabei ordentlich Krach machte. Das lockte allerdings niemanden heraus, weshalb er Rucksack und Tasche auf die Eingangsstufen hiefte und nach einer Klingel suchte, die es an der Hauswand schonmal nicht gab. Weil die Tür unverschlossen war, suchte Karsten im Vorraum weiter.
“Vestibül. Schönes Wort. Wo issi denn.”
Karsten hatte im Laufe des Studentenlebens gemerkt, dass Reden beim Suchen half, anfeuernd und bestätigend zugleich wirkte und auch diesmal erfolgreich war: Links an der Tür zum Flur befand sich ein alter, kupferner Drehknopf. Lächelnd drehte Karsten, und drinnen klingelte es beinahe ohrenbetäubend los, denn er hatte recht herzhaft zugegriffen, und je kräftiger man drehte, desto kräftiger klingelte es. Am liebsten hätte er das gleich nochmal gemacht, beherrschte sich aber und wartete gespannt. Nichts geschah, niemand kam, diese Tür blieb zu.
“Tja.”
Konsterniert aber nicht entmutigt setzte er sich draußen auf die oberste Stufe, um nachzudenken. Also Polizeirat war sein Urgroßvater auch gewesen, so ein langer, dünner Kerl mit beachtlichem Schnurrbart und Pickelhaube, der auf den uralten Familienfotos immer so ausgesehen hatte, als würde er im nächsten Moment losplatzen über einen eigenen Witz. Wie hieß der gleich – Wilhelm. Richtig. Und der Pickel auf der Haube war dazu da gewesen, dass die Säbelhiebe der anderen daran abrutschten und nicht gleich Helm und Kopf spalteten. So war es, Karstens Vater hatte ihm das vor Ewigkeiten mal erzählt, als er noch dachte, Urgroßvater Wilhelm hätte seine Gegner mit gesenktem Kopf aufspießen wollen. All dieses unproduktive Nachdenken hatte lediglich dazu geführt, dass Karsten jetzt gerne mal die Toilette vom Polizeirat Bannier benutzt hätte, und er drehte doch nochmal entschlossen an der Klingel, denn von drinnen waren plötzlich Geräusche zu hören, und über ihm ging sogar ein Fenster auf. Bevor Karsten aber ärgerlich werden konnte, kam klappernd und pechschwarz lackiert die Rettung von der Straße: Ein älterer Mann hielt mit dem Fahrrad vor der Pforte, “Oh! Moin!”, kam an den Hauseingang und sagte, Karsten wäre wohl der zweite Stipendiat?
“Ja, hallo, ich bin Karsten.”
Hände schütteln.
“Olli. Wartest du schon lange?”
“Nee eigentlich nicht, und ich hab auch geklingelt.”
Olli stutzte kurz, lachte dann und meinte “Ja nee”, das brächte nichts. Das Fahrrad schob er am Eingang vorbei zu einem Schuppen in der Ecke des Gartens. Pfeifend kam er zurück.
“Ich geh eben hinten rein und mach dir auf.”
Karsten konnte nur weiter warten, allerdings schon leicht irritiert ob der Mitbewohner, die nicht aufmachten, des Hausherren, der hinten rein ging, und eigentlich konnte er nur noch an die Toilette denken – da schloss Olli von innen die Tür zum Flur auf. “Nur immer rein!”
Karsten bepackte sich und folgte der Aufforderung, ganze fünf Meter weit.
“Olli, Verzeihung, die Toilette?”
“Ah, gleich da!”
Klo, endlich Klo, Klofensterchen, Duschkabine, Minimalwaschbecken, Spiegel, und links und rechts davon zwei Keramikfische mit Haken für Händehandtücher, wobei der eine kränklich gelbgrün war und Karsten vorwurfsvoll anglotzte. Der wusch sich die Hände, glotzte zurück und nahm dem Kranken das Handtuch weg. Er rubbelte sich über das Gesicht, fuhr sich durch die Haare und war erleichtert wieder er selbst. Jetzt war er bereit für Olli und das Haus. Der hatte nicht auf ihn gewartet, und Karsten ging den Geräuschen nach in die Küche. Die Nachmittagssonne schien durch ein großes Fenster auf die Spühle, wo Olli grade den Wasserkessel füllte, und beleuchtete auch den mit Einkäufen vollgestellten Küchechenarbeitstisch in der Mitte des angenehm riechenden und warmen Raumes.
“Oh diese Küche gefällt mir!”
Karsten sah sich hier in Gedanken sofort frühstücken und Zeitung lesen, allerdings fehlten dafür die Stühle, wie es schien... “Ich mach eben Tee und dann setzen wir uns mit Romy in die Veranda und ich erklär euch ein bisschen.”
Olli setzte den Kessel aufs Feuer.
“Vorher bringen wir die Sachen hoch, ich zeig dir dein Zimmer.”
“Ja gut. Romy ist?”
“Aus Segeberg. Die hat Zimmer 4.”
“Und hört nicht, wenn man klingelt.”
“Romy ist taub.”
Karsten ließ seine Tasche fallen.
“Im Ernst?!”
Olli hatte den Rucksack einseitig geschultert und zuckte mit der freien Seite.
“Macht doch nichts. Ist doch nicht so schlimm.”
“Na mir macht das nichts, aber obs schlimm ist, kann ich nicht beurteilen.”
“Ja hast Recht.”
Sie stiegen die Treppe hoch in den ersten Stock. Die war ganz gerade, aus altem Holz mit neuen Stufenteppichstücken und knarzte unter ihren Schritten. Auf einem Zwischenabsatz drehte das Geländer eine Schnecke, vor einem Buntglasfenster mit Rattansofa davor ging es nach rechts nochmal vier Stufen hoch, dann waren Türen zu sehen, die von dem geräumigen Treppenhaus abgingen. Flure gab es in diesem Haus eigentlich nicht, Flure waren immer irgendwie lang, aber hier warem sie geräumig wie eine Halle, in der problemlos Platz für einen dunklen Holzschrank, zwei Sesselchen und eine Kommode war.
“Da vorne links, Zimmer 3, ist das Atelier, 4 ist Romy, daneben die 5 bist du.”
Die Kommode von annodazumal stand genau zwischen Zimmer 4 und 5, über ihr ein gerahmtes Schiff im Sturm und auf ihr eine Kupferskulptur, die ein kleines Mädchen darstellte, das eine Gans im Arm hatte, worüber die nicht besonders glücklich schien, aber Karsten lachte vor allem deshalb, weil die Mädchenskulptur eine coole, rosa Kindersonnenbrille auf der Nase hatte. Die rumpeligen Geräusche, die er schon von draußen gehört hatte, kamen eindeutig aus Zimmer 3, dem Atelier. Olli kümmerte das nicht weiter, er stellte Karstens Rucksack gegen die Kommode, meinte, Karsten fände sicher alles, in einer halben Stunde also unten zum Tee und er sagte eben noch Romy Bescheid. Karsten nickte nur, “Alles klar”, und fragte sich, ob der Hausvater wohl die ganze Zeit da wäre, ob der auch hier wohnte und ob er das gut fände... erstmal Tee konnte aber nicht schaden. Er hatte es noch nie gemocht, wenn man ihm Zeiten aufdrückte – pünktlicher Anfang der 6. Stunde, Seminarbeginn Punkt 13:20 Uhr, in zehn Minuten Treffen im Park – und das hatte sich auch in seinen Kompositionen gezeigt, da gingen die Tempi wild durcheinander und wurde ein adagio wie freejazz gespielt. Zur Verzweiflung einiger metronomliebender Professoren, aber Karsten lebte sich so richtig aus, wenn er nach eigener Zeit und Rhytmus Akkordeon spielte. Oder Klavier, oder Fagott. Beim Singen riss er sich zusammen, gerade im Chor. Zimmer 5 hatte einen Schrank, Tisch, Stuhl, Bett, Nachttisch und ein Waschbecken, und Karsten fing an, auszupacken und zu benutzen. Soviel wie er eben in einer halben Stunde schaffte, wobei ihm der Gedanke an eine taube Mitbewohnerin nicht aus dem Kopf ging. Als er nebenan eine Tür ins Schloss fallen hörte, beendete er sein Denken und Packen, verfrachtete eben noch den leeren Rucksack oben auf den Schrank und ging runter in die Veranda, eine Art Wintergartenzimmer mit zwei Seiten komplett Fenstern, dumpf quietschendem Linoleumboden und mehreren kleinen Sofa-Sessel-Ecken. In der Mitte ein Esstisch, darauf Tee, und daran Olli und Romy. Dann saß auch Karsten, lachend, grinsend, wie vor den Kopf geschlagen, er konnte nicht anders: diese Romy sah ja genauso aus wie er! Ihr Pullover war genauso grau wie seiner, sie hatte dieselbe Augenfarbe, genausoviele Sommersprosen und dieselben Haare wie Karsten, nur trug sie ihre offen. Grinsen musste sie nun auch, und sie strich sich über das Kinn, denn einen Bart hatte sie natürlich nicht, das war ja klar.
“Hallo ich bin Karsten.”
“Romy.”
Sie schüttelten sich über den Tisch hinweg die Hände und hätten Olli beinahe alles umgeworfen, der mit Teekanne, Teesieb und Tassen handwerkte und gar nicht mitbekommen hatte, was so witzig war. Er verteilte die vollen Tassen und begann mit seiner Willkommensrede, die er allen neuen Stipendiaten halten musste, das heißt, er redete über das Wetter, den Strand, den besten Bäcker, erwähnte nebenbei eine Putzfrau, die einmal pro Woche erscheinen würde, erinnerte sich an den chaotischen Studenten mit dem Literaturstipendium, den er letztes Jahr im Haus gehabt hatte, ermahnte zu Sparsamkeit an Klopapier, Strom und Wasser, bat nachts abzuschließen und die Küche sauber zu halten, und alles andere regelten sie bestimmt untereinander, nicht wahr? Romy hatte ihm die ganze Zeit auf den Mund gestarrt und tat leicht genervt, als ob sie mit ihrem Teelöffel auf dem Tisch schreiben würde, und Olli verstand den Wink. Ja, er würde gleich ein paar Punkte aufschreiben.
“Es gibt doch ein Klavier?”
Karsten hatte schon zwei Tassen getrunken und nibbelte an einem Keks, jetzt dachte er praktisch. Wenn es ein Atelier gab, was gab es dann für ihn?
“Ein Klavier gibt es, im Musikzimmer - “
“Genial.”
“Und du brauchst auch ein Akkordeon? Hepp wi all. Kannst du gleich mal gucken, was da noch so alles steht. Die Tür links vom Eingang. Am besten, ich führ euch gleich mal rum.”
Romy hielt ihn am Arm fest. Erst aufschreiben.
“Ach ja, ja gut.”
Und Olli krikkelte eine erste Liste auf einen alten Einkaufszettel, den er in der Tasche hatte: Strand, Bäcker Nabrotzky, Putzfrau Frau Blume 1x Woche, Klopapier und Wasser sparen, Küche sauber. Romy schnappte sich die Liste, aber nur, um sie Karsten zu geben.
“Schreib dei-nen Namen.”
Sie sprach langsam und bemüht deutlich, was Karsten faszinierte, denn was ging bloß in ihrem Kopf ab? Sie konnte sich ja selbst nicht hören, oder gab es da irgendeinen Wiederhall, ein inneres Gehör? Beim Lesen bewegte sie konzentriert die Lippen, “Kars-ten”, und man verstand sofort, weshalb sie seinen Namen lieber schriftlich haben wollte, denn der sprach sich ja fast bewegungslos und war nur mit Lippenlesen sicher kaum verständlich.
“Karsten. Olli.”
Romy lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und hub an mit einer kleinen Rede, bestehend aus Mimik und rasant schnellen Gebärdenfolgen. Überrumpelt guckten ihr beide zu, die plötzliche Stille, die von Romy ausging, als ob ihre Bewegungen auch Geräusche erforderten, die aber nicht kamen, diese Stille war fast greifbar, und Olli und Karsten schreckten kurz hoch, als Romy die Hände auf den Tisch legte und leise lachte, zufrieden mit der Vorführung und sich selbst.
“Na Karsten, du lernst hier vielleicht noch Gebärdensprache, aber ich bestimmt nicht.”
Olli stand auf.
“So Kinder, dann zeig ich euch jetzt mal das Haus.”
Karsten streckte ihm stumm den Daumen der linken Faust hoch.
Am nächsten Tag war es windig und der Himmel wolkenverhangen. Olli verabschiedete sich von seinen Stipendiaten, auf der Fähre würde es sicher schön schaukeln, hängte den Haustürschlüssel bei der Klingel am Türrahmen auf und ging durch die Küche hinten raus. Romy und Karsten standen allein in der Eingangshalle, als warteten sie gespannt darauf, dass etwas passieren würde.
“Ich glaube, ich gehe auch hinten raus.”
Karsten wedelte mit dem Hintertürschlüsselbund, das Olli ihnen eben übergeben hatte. Ein roter Plastikfisch baumelte daran, der eigentlich in eine Badewanne gehört hätte, und ein Stück Band, das sich ständig in den Schlüsselringen verhedderte. Romy nickte gedankenverloren, dann schüttelte sie die rotblonden Haare zurück.
“Einkaufen. Ich gehe jetzt einkaufen.”
Sie war garantiert eine der ganz wenigen auf der Insel, die sogar das zweite T von jetzt aussprachen, während andere Konsonanten eher verschluckt blieben, vor allem die tonlosen wie zum Beispiel das H von gehe, was für Karsten zunächst behindert klang, wofür er sich aber sofort schämte und in Gedanken rügte. Sei du mal gehörlos und sprich perfekt! Den roten Fisch mit den Schlüsseln versteckten sie nach dem Abschließen genau nach Ollis Anweisungen im Toilettenfensterchen, obwohl er da nicht besonders gut versteckt sondern noch sichtbar war, und Romy schlenderte davon Richtung Stadtmitte, während Karsten sich den Strand ansehen wollte. Man ging um die Ecke und eine Straße hoch, schon war man auf der Strandpromenade, wo Karsten beinahe umgeweht worden wäre, so bließ der Wind hier um die großen Kurhotels, die die Promenade säumten. Jetzt hatte er soviel Strand, wie er wollte, kilometerweit, und dazu Dünen, Strandzelte und die Nordsee, aufgewühlt, schaumspritzend und heute nur für einheimische Windsurfer geeignet. Karsten sah ihnen eine Weile zu, dann verzichtete er auf nackte Füße in Wasser und Sand und wanderte nach links, dem Wind entgegen. Plötzlich kam ihm ein altes Funny van Dannen Lied in den Kopf und er summte vor sich hin. Rechterhand rollten die Nordseewellen gegen die Buhnen, die den Strand festhalten sollten, links vom Promenadenweg beschützte eine halbkonvexe Mauer wie von einer Skateanlage die Insel vor Hochwasser. Die Bänke davor waren von winderprobten Rentnerpaaren in wetterfesten Allzweckjacken besetzt, immer zweimal dieselbe Jacke, für ihn wie für sie, was Karsten total absurd und abartig fand. Partnerlook war modisch das Letzte, was er tragen würde. Eins der Rentnerpaare hatte sogar einen Hund in der dazupassenden Hundeallzweckjacke. Schnell schüttelte er das Unbehagen ab und guckte nur noch nach vorn, was außerdem viel interessanter war: zehn Meter weiter machte ein Mann in auffallend gelber Regenjacke einen einarmigen Handstand seitlich gegen die Hochwassermauer und bekam Applaus von einer jungen Frau in angenehmem weiß-rot-grün, farblich ein echter Höhepunkt auf dieser windigen Promenade! Geradeaus war auch ansonsten besser, sonst hätte er womöglich die Fahrradfahrerin nicht gesehen, die ihm entgegenkam wie der geölte Blitz mit dem Wind im Rücken. Eine eindrucksvoll große Fahrradfahrerin, die dem Wind ordentlich Angriffsfläche bot und deshalb wirklich einen Affenzahn drauf hatte, worum Karsten sie sofort beneidete. Olli hatte gesagt, sie dürftem die Räder aus dem Schuppen gerne benutzen, und Karsten freute sich, als ihm das einfiel. Dann wurde er im Vorbeifahren freudig von Andrea angeschrien, “Hey Karsten wie gehts tschüß!”, und windschnellweg war sie, Karsten hatte nur Zeit für ein “Eyhallo” gehabt. Er blieb stehen, um sich kurz zu sammeln, Funny van Dannen war von Andrea verscheucht worden und machte überraschend Platz für deutsche Volkslieder; Karsten beschloss also, “Wenn ich ein Vöglein wär” summend nur noch bis zur nächsten Buhne zu gehen. Dort gab es eine Treppe in der Skatermauer zu einem Dünenweg, wo es sofort windstill war. An der ersten Weggabelung ging er nach links, denn rechts würde er bestimmt sonstwo landen und verloren gehen, und das wollte er wirklich nicht gleich am ersten Tag, vielmehr hatte er Lust auf Kuchen oder Thüringer Rostbratwurst. Oder Wurstbrot, er war ja nicht anspruchsvoll. Während er so an Essen denkend und von Vöglein summend durch die Borkumer Südstranddünen marschierte, bewährte sich mal wieder sein guter Orientierungssinn, der ihn schnurstracks zu Gezeitenland und Kulturinsel führte. Karsten verlief sich fast nie, er wusste so gut wie immer, wohin es ging, auch ohne Stadtplan. Kein Wunder, dass er zu wenig Geduld für Google Maps hatte. Vor Augen hatte er nun zwei moderne Gebäudekomplexe, von denen man auf den ersten Blick und zudem von hinten nicht sagen konnte, wozu sie da waren, und Karsten runzelte befremdet die Stirn. Das sah ja hässlich aus. Wie Rehaklinik auf dem Dorf. Als er sich das ganze aber von vorne angeguckt hatte, war er äußerst angetan von seiner Entdeckung: ein Gebäudekomplex war das sogenannte Kulturhaus, der andere die Schwimmhalle mit allem Pipapo, sogar Wellenzeiten gab es! Karsten fühlte in der Jackentasche nach, ob er sein Portemonnaie dabei hatte, und besorgte sich kurzentschlossen eine Halbjahreskarte. Er liebte schwimmen, und wenn die Nordsee weiterhin so aufgewühlt und kalt sein würde, was für Herbst und Winter ja vorauszusehen war, ginge er einfach ins Wellenschwimmbad. In den Sauna-Wellness- und Erlebnisbereich lieber nicht, das klang in seinen Ohren nach Stress. Hochzufrieden besah er sich noch die historischen Eisenbahnwaggons, die die Borkumer Kleinbahngesellschaft hier ausstellte, dann hatte er zu allen Essensgelüsten auch noch Durst bekommen und lief schnell nach Hause zum Polizeirat.
In der Küche traf er auf Romy, die die Speisekamer inspizierte und ihre Einkäufe dazu stellte.
“Hi, hier guck mal, was es auf der Insel gibt!”
Stolz hielt Karsten ihr seine Halbjahreskarte vors Gesicht. Romy las kurz, dann lächelte sie.
“Ich will auch eine.”
Vier abgehackte Wörter.
“Ja? Cool. Bisschen teuer, aber ich glaube, es lohnt sich.”
Romy rieb Finger und Daumen der rechten Hand aneinander.
“Teuer.”
Karsten nickte und zuckte mit den Schultern.
“Egal.”
“Schwimmen ist gut für den Gleichge-wichts-sinn.”
Romy teilte lange Wörter in Silben auf.
“Ja? Und bist du gut? Kraulst du?”
Karsten verdeutlichte das mit Armbewegungen und Romy lachte.
“Alles. Ich bin ein Fisch.”
Sie vollführte eine irre Armbewegungsfolge von Kraulen über Brustschwimmen zu Schmetterling, und Karsten musste auch lachen.
“Ah, ganz neuer Stil. Machen wir mal ein Wettschwimmen, gehen wir zusammen hin!”
Zusammen war einfach mit Gesten darzustellen. Nachdem er sich mit den Resten, die Olli dagelassen hatte, ein paar Scheiben Brot geschmiert und auch ein angebrochenes Glas saure Gurken im Kühlschrank gefunden hatte, setzte er sich zu Romy an den Küchentisch, die dort ihren zweiten Jogurt löffelte. Es gab nämlich doch Stühle in der Polizeiratsküche, zwei an der Zahl, die links und rechts neben der schönen, großen Anrichte gewartet hatten. Der Arbeitstisch erwies sich allerdings als nicht sehr sitzfreundlich, denn er hatte auf Knöchelhöhe eine Abstellfläche, vollgestellt mit Plastikwannen und -schüsseln aller Art, weshalb man beim Sitzen nicht so recht wusste, wohin mit den Füßen, es war eben ein richtiger Arbeitstisch. Karsten hätte sich zu gerne normal mit ihr unterhalten, einfach um zu wissen, mit wem er hier das Haus teilte, aber er wusste nicht, wie er das anfangen sollte, was genau sie konnte oder verstand oder wie auch immer.
Die Verständigung ohne Worte klappte auf jeden Fall hervorragend, Karsten musste schon wieder grinsen, weil er sich optisch so in Romy wiederfand. Zweimal rotblond gewellt, das war ja unnatürlich! Er zog sich das Haargummi heraus und Romy war mit Kichern an der Reihe. Sie nahm eine ihrer Strähnen und hielt sie an Karstens Haare, die sogar länger waren als ihre eigenen.
“Du hast schöne Haare.”
“Und du auch!”
Romy nickte zufrieden und Karsten beschloss, einfach so zu tun, als wäre sie nicht taub, mal sehen, wie das endete.
“Was machst du eigentlich oben im Atelier? Was studierst du?”
Es war umöglich, einfach so zu tun als ob. Unwillkürlich hatte er mit den Augen nach oben gedeutet und mit der Hand auf dem Tisch herum gemalt, andeutungsweise. Romy war alles andere als blöd und verstand sofort.
“Ich male. Ich habe ein Kunst-sti-pendi-um von der Emil Nolde Akademie.”
“Musst du was abliefern? Ein Abschlusswerk, ein super Bild oder so?”
Schon wieder hatte er in der Luft gemalt und mit den Armen großen Umfang angedeutet.
“Ja! Ich habe eine Aus-stellung im April.” Ihre Hand zeigte ihm top-class, erste Sahne, mit Ring aus
Daumen und Zeigefinger, die anderen Finger abgespreizt.
“Deine Gesten sind super Kars-ten!”
Der ergriff die Gelegenheit und fragte alles, was ihm einfiel, auch wenn er sich dabei zum Teil dumm vorkam. Romy schob ihm Stift und Papier hin, Karstens Fragen waren zuviel Text auf einmal gewesen. Danach fing sie an, zu erzählen, Frage für Frage abhakend. Zu manchen Themen schien sie vorgefertigte Sätze zu haben, die sie wahrscheinlich schon oft hatte sagen müssen, bei anderen stockte sie und formulierte mühsam, bemüht, keinen Buchstaben zu verschlucken. Mit sieben Jahren hatte sie einen schlimmen Unfall gehabt und das Gehör verloren. Lesen und Schreiben konnte sie schon mit fünf, und weil sie bis zu dem Unfall ja auch normal gehört und gesprochen hatte, konnte sie auch weiterhin alles aussprechen und sich die Aussprache von allen neuen Wörtern vorstellen, aber es steckte viel Training dahinter. Gebärdensprache und Lippenlesen konnte sie ebenfalls.
Und schwimmen und reiten und stricken.
“Leute wie ich bekommen immer alle mög-lichen Thera-pien damit wir uns besser fühlen.”
“Stricktherapie? Reittherapie?”
Karsten zeigte beides mit großer Schauspielkunst, da sie ihn ja scheinbar so gut verstand...
“Zu Hause habe ich ein Pferd das versteht mich ganz ohne Worte.”
Kommas waren nicht ihre große Stärke, aber Karsten staunte nur, wie gut sie sprach.
“Und was kannst du Kars-ten?”
“Ich kann auch schwimmen, und Auto fahren, Klavier, Fagott, Akkordeon, dann kann ich noch Russisch und Englisch.”
Beide starrten sich gedankenverloren in die gleichfarbigen Augen. War es das? War man das, was man konnte?
“Eine Frage noch: Hörst du dich selbst, wenn du sprichst? Hörst du dich im Kopf?”
Er kritzelte die Frage auf den Fragezettel, und Romy wiegte den Kopf hin und her.
“Da ist etwas aber nicht richtig.”
Karsten nickte. Er fand Taubheit inzwischen wahnsinnig interessant, grade auch deshalb, weil es so gegenteilig zu dem war, was er machte. Musik ohne Hören wäre schlecht!
“Romy, ich kann noch was: Kochen. Ok? Ich koche heute.”
Rühren und pfannenschwenken in der Luft. Romy grinste, da vibrierte ihr Handy, sie winkte Karsten damit zu, “Mutter”, und verschwand tippend in die Veranda. Logisch, telefonieren war Mist, aber chatten funktionierte.