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Von Hamburg nach Leipzig, vom "Max" in die "Blechlampe", von Alexa zu Ines - und dann kommen der Euro, unfreundliche Rechte, ein Onkel aus Rumänien, der eigentlich eine Tante sein sollte, und viele gothics. Und gegrillt wird auch noch.
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Seitenzahl: 354
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Einige der Figuren in diesem Buch sind frei erfunden, andere gibt es wirklich, bei wieder anderen habe ich nur den Namen geändert und hoffe, dass das kein Problem ist. Niemand wird beleidigt oder schlecht gemacht, und falls es jemandem doch so vorkommen sollte: es war nicht meine Abbsicht und ich bitte um Verzeihung.
Leipzig habe ich so beschrieben, wie es in meiner Erinnerung ist und nur beim Pilsener Urquell absichtlich geschummelt – ich weiss natürlich, dass es nicht in Reudnitz ist.
I.H., Montevideo, September 2016
John 1
John 2
John 3
John 4
John 5
John
Die verdammten Meerschweinchen haben schon wieder auf meine Tastatur geschissen. Das geht zu weit, ich weiss, aber ich brings echt nicht übers Herz, die Biester abzuschaffen.
John war furchtbar schlecht darin, etwas zu ändern, und je grundlegender die Veränderungen aussahen, desto schlechterund unfä higer war er darin, sie anzupacken. Er war ein herzensguter Mensch, weshalb die Meerschweinchen weiterhin in seinem Zimmer wohnen durften, zwischen Kabeln, Steckern, Aschenbechern und Klappstühlen. John machte sich seufzend mit Küchenpapier an die Arbeit, damit er danach den Skript für Wolf zu Ende programmieren konnte.
"Verpiss dich Alter", murmelte John, als einer der pelzigen Mitbewohner der Enter Taste gefährlich nahe kam. Sein jahrelanger Auftraggeber Wolf war ungefähr so wölfisch wie eine freundliche Zahnarzthelferin und hätte, seiner Frisur nach zu urteilen, allenfalls Fuchs oder Wildpferd heißen können. Wenn Wolf ihn also auch noch nie zähnefletschend angefahren hatte, so legte er doch Wert auf Pünktlichkeit, und John hatte nicht vor, ihn zu enttäuschen. Es war gerade mal 17 Uhr, in einer Stunde würde er den Skript geschafft haben und dann mit Sepp ein Bier trinken gehen. Oder die anderen im Park treffen, oder im Park ein Bier trinken, bei dem schönen Sonnenschein... Muss mein Single Dasein ausnutzen, solange Alexa noch in Italien ist, dachte John und haute gutgelaunt in die Tasten.
John saß auf dem Dach wie eine große schwarze Krähe. Er war vor einer Woche von Hamburg nach Leipzig umgezogen und fühlte sich schon fast wie zu Hause. Ines hatte ihm diese Dachwohnung besorgt, die kleinere der beiden, bestehend aus Wohnschlafzimmer, Klo auf halber Treppe und einer abgefahrenen Duschkabine in der ohnehin schon winzigen Küche. Klo und Dusche waren gewöhnungsbedürftig, meine Herren! Zudem hatte der Vormieter eine geblümte Gardine von außen rund um die Duschkabine angebracht, weshalb sich John jedesmal als Hippie fühlte, wenn er nackt hinter den Blumen verschwand.
Fehlte nur noch´n Joint, dachte John, aber wer raucht schon beim Duschen, irgendwo muss auch mal Schluss sein.
Vom Treppenhaus konnte man durch eine Luke aufs Dach klettern, und dort saß John und kam sich zur Abwechslung mal vor wie der alleinige Herrscher der Welt. Das Dach gehörte ja praktisch zu seiner Wohnung, und niemand sonst kam auf die Idee, sich mit dem Rücken gegen den Schornstein auf die roten Schindeln zu setzen.
Noch nicht mal der Typ, dem die zweite Dachwohnung gehörte. John holte sein Zippo aus der Hosentasche und freute sich. Stiegen die Leute in Hamburg auch aufs Dach? Na höchstens sich gegenseitig, und in seinem alten Haus bestimmt nicht. Während er eine Abendzigarrette paffte, wurde ihm so recht bewusst, wie froh er war, dem ganzen Scheiß entronnen zu sein, und er seufzte behaglich. Ja. Ines war cool. Gut, dass sie an ihn wegen der Wohnung gedacht hatte. Und Sepp war ein Idiot, dass er sie damals hatte gehen lassen. "Also wenn ich so eine Freundin hätte", sinnierte John, "hä tte ich mich ein bisschen mehr um sie bemüht. Hätte ich."
Er verscheuchte eine Fliege, die auf seinem Knie beharrte, und dachte an seine eigene Freundin, von der er sich kurz vor dem Umzug getrennt hatte. Diesmal ganz bestimmt endgültig, solange sie nicht hier auftauchte und er wieder schwach wurde. Es war ein Elend mit der Beziehung zu Alexa, die John seit drei Jahren wie eine chronische Krankheit verschleppte. Er kam einfach nicht von ihr los. Bis letzte Woche.
Da war Alexa energiegeladen und erfüllt von Kunst, Geschichte und Antipasti aus Italien wiedergekömmen, wo sie in Rom für zwei Semester studiert hatte, um jetzt an der Hamburger Uni ihr Lehramtsstudium fortzusetzen, zu beenden, zu arbeiten, ihr Leben zu gestalten, zu genießen, Schüler wachzurütteln, eine Aufgabe zu haben - und er, John, was hätte er das Jahr über gemacht? John saß bloß da, überfahren von dieser geballten Portion Alexa und in dem Bewusstsein, dass ihr Leben genauso verlaufen würde, wie sie es sich vorstellte, und er sagte: "Nichts. Ich hab nichts gemacht." Alexa ging ihm fast an die Gurgel. Er mache sie wahnsinnig, schrie sie, er könne doch nicht immer so lethargisch sein, er müsse doch was aus seinem Leben machen, so eine Verschwendung, "Jetzt raff dich doch mal auf, Kerl!" rief sie am Ende, woraufhin John, der sowieso einen absolut schlechten Tag hinter sich hatte, genau das tat: Er raffte sich auf und machte Schluss mit Alexa, noch bevor er erst wieder mit ihr anfangen konnte.
Gottseidank sind wir nicht gleich in die Kiste gestiegen, dachte John dabei. Danach fühlte er sich so gut, als hätte ihm jemand 1000 Mark in die Hand gedrückt, mit denen er nun machen könnte, was er wollte. Alexa stand auf und knallte die Tür zu, und dann klingelte das Telefon. Ines sagte, sie wäre gerade in Hamburg, ob John Lust auf ein Bier im Max hätte. "Jo", sagte John, "warum nicht!" Danach saß er noch eine ganze Weile still im Sessel. Lethargisch, dachte er, klingt besser al träge, und genoss es, dass alles um ihn herum passierte, ohne dass er sich groß darum bemühen geschweige denn bewegen musste. Eigentlich hab ich bloß die Tür auf gemacht und den Hörer abgenommen, dachte John, und schon hat mein Dasein eine andere Perspektive.
Das war ein schöner Gedanke. Und Dasein klang auch viel besser als Leben.
John nahm die Fahrt gerne in Kauf. Von Bergedorf bis Sankt Georg war man mit der S-Bahn gut eine halbe Stunde unterwegs, und vom Hauptbahnhof musste man dann nochmal fünf Minuten bis zum Max & Konsorten laufen. Unterwegs las John in den Bild Zeitungen seiner Mitreisenden die überschriften, bewertete vorbeiflitzende Graffities - unbewusst, denn er machte sich eigentlich nichts aus dieser ganzen Sprayer-Kiffer-Dosenklauer-Gemeinde, aber der kleine Bruder von Sepp hing daürnd über einem Zeichenblock und probierte und malte und kiffte, schlich mit anderen schwarzkapuzten Zwergen auf Abstellgleisen herum, um Züge zu verschönern, oder stapfte nachts durch die Büsche und setzte seine tags so, dass vorüberfahrende S-Bahnfahrer wie John sie gut auf der Strecke sehen konnten.
Hat auch schonmal besser gezeichnet, dachte John und freute sich, dass der Tag allem Anschein nach schön zu Ende ging. Es hatte bestimmt nicht danach ausgesehen, weiß Gott nicht! Morgens spät aufgewacht, weil er nachts zu lange am Rechner gesessen hatte, kein Frühstück gefunden, weil er das Einkaufen vergessen hatte, Ärger mit Muttern gekriegt, die eine Etage unter ihm wohnte, der kleine Halbbruder hatte nervenaufreibend gebrüllt und sich seine Neurodermitis aufgekratzt, und nach Halloumi als Frühstücks- und Mittagsersatz hatte sein Vermieter ihm mit Rausschmiss gedroht, falls dieses und falls jenes, woraufhin John ausfallend geworden war, was er jetzt auf dem Weg ins Max nicht mehr so gut fand.
Später noch der Stress mit Alexa... es war wirklich ein Tag gewesen, der ihm zuviel Schlechtigkeit beschert hatte. Aber ich bin immer noch da, dachte John und stieg aus. Da war auch Ines. Sie saß mit einem halbvollen Weizen im Halbdunkel des Max, hatte fast gar nicht auf John zu warten gebraucht und ein rundum angenehmer Abend begann.
Das Max wurde schnell noch dunkler und die Kerzen heller, die große Arbeiterskulptur aus Messing auf dem Weinfass, das als Tisch diente, reflektierte matt den Kerzenschein an den Stellen, wo sie noch blank war und war wie das Götzenbild der Kneipe. Hinten wurde Billiard gespielt und Erbseneintopf gegessen, das einzige, was es nach Küchenschluss noch gab, und John und Ines tranken ein zweites Weizen als Ines sagte, John bräuchte vielleicht einen Orts- und Tapetenwechsel.
"Geh doch weg, wenn alles Mist ist! Hamburg ist ja nicht die einzige Stadt!"
"Bist du deshalb auch nicht mehr hier oder was?" fragte John, der wusste, dass Ines in Leipzig wohnte.
"Nö, da bin ich wegen dem Studium hingezogen.
Berlin wär auch gegangen oder Bonn, aber das eine war mir zu groß und das andere zu klein.
Leipzig ist cool."
"Was studierst du nochmal?"
"Sport und Germanistik auf Magister, voraussichtlicher und angestrebter Abschluss 2000, oder 2001", leierte Ines herunter.
"Prost."
"Komm doch auch nach Leipzig! Laipsch."
"In´n Osten."
"Bah! Sei doch nicht so affig, das ham die aus meiner Volleyballmannschaft auch gesagt, was willst du denn bei den Ossis. Sowas blödes, echt."
John sah Ines an, die ihr Weizen austrank, guckte zur Theke, zu den Sitzabteilen aus dunklem Holz an der Fensterfront und wieder auf ihren eigenen Tisch, denn viel konnte man vom Max gar nicht sehen, es war alles kneipenschummrig und voller Menschen, die froh waren, im Max zu sein. John fühlte sich gut aufgehoben, regelrecht geborgen, und er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
"Aber so cool wie Hamburg ist Leipzig bestimmt nicht."
"Du musst schon wissen, was du willst." Ines zuckte mit den Schultern. "Wenn du hier zuviel Stress hast... kannst ja nicht ewig im Max sitzen bleiben. Ich denke, du arbeitest am Computer, und auch noch von zu Hause aus? Da bist du doch geradezu predästiniert für einen Umzug! Schnapp den Computer und schließ ihn woanders wieder an!" "Warum willst du bloß, dass alle immer umziehen! Nur weil du weg gezogen bist!" "Ich musste auch mal aus allem raus, da kam das mit dem Studienplatz gerade recht. Die Beziehung zu Sepp war auch echt Mist, das ging nicht mehr."
"Ah! Daher weht der Wind! Du bist nach Leipzig gezogen, weil du dich von Sepp trennen wolltest!" "So würde ich das nicht nennen."
"Klingt für mich aber so."
"Quatsch!"
"Ist das da im Osten so´ne Art Nest für gebrochene Herzen oder was!"
"Oh Mann John, ich bin schon seit drei Jahren da, und es ist immer noch gut! Und, aber, haste nicht gesagt, du hättest mit Alexa Schluss gemacht? Dann passt du ganz toll dazu! Theoretisch. Na vielleicht reden wir besser von was anderem."
"Gehn wir Billiard spielen?"
"Ok."
Wieso ist Ines eigentlich nichts für mich? überlegte John, während er zusah, wie Ines den Billiardtisch umkreiste, sich vorlehnte und mit dem Qüü die weiße Kugel anvisierte. Am Nachbartisch beugten sich ein paar Jeans-Holzfällerhemd-Typen in unmöglichen Posen über das grüne Tuch, streckten ein Bein nach hinten, spielten mit dem Queue im Rücken, lachten sich kaputt und strichen lange Haarsträhnen hinters Ohr.
Also wenn Frauen Billiard spielen, ist der Anblick schöner, sinnierte John und wandte den Blick ab, um wieder Ines zu zu gucken. Und dabei ist Billiard auch noch voller sexueller Konnotationen, man darf gar nicht dran denken. Man muss sich bücken, man muss stoßen und einlochen - ach du scheiße das ist doch ein Mistspiel. Voll primitiv.
"Du bist dran", sagte Ines.
Jeh, nun muss ich da durch, seufzte John in Gedanken und war froh darüber, dass er so schlecht spielte, wobei man vom primitiven Billiardspielen natürlich nicht auf andere Fähigkeiten schließen sollte, schlecht im Billiard, schlecht im Bett oder was - weiß prallte auf blau, blau schoss sonstwohin, und Ines war wieder an der Reihe. John rauchte, hielt sich am Queue fest und beschloss, dass Ines nichts für ihn war, weil sie zu sportlich war.
Aber ansonsten ist sie ja nett, dachte John, sieht auch gut aus, überdurchschnittlich sogar, aber für mich zu sportlich.
Er entspannte sich. Die Holzfäller verzogen sich, eine Schar fröhlicher Popper-Mädchen übernahm den frei gewordenen Tisch, und es war beinahe schade, dass Ines ihre Partie schon gewonnen hatte, denn jetzt war hier im Hinterraum vom Max alles voll mit engen Hosen und ausgefüllten H&M Tops in verrenkten, vorgebeugten Billiardposen.
"Willst du noch zugucken", grinste Ines.
"Nee muss nicht sein", grinste John zurück.
Vier Tage später hatte Ines ihren Rucksack voll gepackt mit Sachen aus der elterlichen Hamburger Wohnung und war mit der Bahn zurück gefahren bis in den größten Kopfbahnhof Europas, zurück nach Leipzig. Fünf Tage später klingelte bei John das Telefon.
"Hi."
"John, hallo hier´ s Ines, du, bei uns im Haus ist die Dachwohnung frei geworden! Willst du die nicht haben! Jetzt oder nie!" John, der in den letzten drei Tagen wieder absolut nichts getan hatte, war von dieser grundlegenden Aufforderung (oder war es als Frage gemeint?) vollkommen überfordert. Er war unausgeschlafen, hatte Kopfschmerzen, und sollte in diesem Zustand über seine Zukunft entscheiden, augenscheinlich sofort... Wenn er "nie" sagte, hatte er für alle Ewigkeit bei Ines verschissen, so klang sie jedenfalls, und wenn er die Alternative "jetzt" wählte, könnte das furchtbar anstrengende Konsequenzen haben...
"Ich helf dir auch beim Umzug!" jubelte Ines, die ein "nie" gar nicht erst in Erwähgung zog.
"Nächste Woche kutschiert ein Kumpel von mir eine Ladung football-Ausrüstung nach Leipzig, da packst du deinen Kram einfach mit dazu!" "Nächste Woche?!" fragte John stirnrunzelnd.
"Ja, sonst ist die Wohnung weg."
"Kostet?"
"Zweihundert Mark warm, Gas extra."
"Ok", sagte John und konnte kaum glauben, was er da gerade gesagt hatte.
"Du musst dich abmelden", sagte Johns Mutter, nachdem er ihr von dem bevorstehenden Umzug berichtet hatte.
"Wo denn eigentlich?" fragte John, der mit seinem kleinen Bruder auf dem Teppich hockte und beim Bob der Baumeister - Puzzle half.
"Auf dem Bezirksamt, glaube ich. Ist hinter der Kirche. Und wie kommst du dahin, nach Leipzig?" "Ich werd abgeholt."
"Das ist ja richtig gut organisiert!" Johns Mutter stemmte verwundert die Hände in die Seiten.
"Und was ist mit deinem Viehzeugs? Zieht das auch mit um?"
John hatte den Bagger fertig gepuzzelt, während sein kleiner Bruder den Puzzleteilen mit zuviel Gewalt zu Leibe ging. Aber, erinnerte sich John, zu den Meerschweinchen war er immer sehr lieb.
"Also eins schenke ich euch", verkündete er, "das fette braune."
"Dickie?" Sein kleiner Bruder strahlte, John nickte, und bevor seine Mutter protestieren konnte, hatte er gleich noch eine gute Idee.
"Ozzy behalte ich, und die anderen setz ich bei Hagenbeck aus!"
"Du bist verrückt. Das schaffst du nie!"
"Doch", nickte John grinsend, "ich frag Johanna und Timo und die anderen, ob sie mir helfen."
Die Abmeldung auf dem Bezirksamt war ein Kinderspiel, womit John nicht gerechnet hatte, und wo er gerade so gut in Schwung war, rief er auch gleich bei der Telekom, seiner Krankenversicherung, den Hamburger Wasserwerken und seinem Onkel Helge an, mit dem er sich immer gut verstanden hatte. Schwieriger dagegen erwies sich das Gespräch mit Wolf, der irgendetwas gegen Leipzig hatte und sich erst beruhigte, als John ein fiktives Datum nannte, an dem er garantiert mit Telefon- und Internetanschluss ausgestattet sein würde. Wolf glaubte, ohne ein gewisses Maß an Verkabelung schwebte der Mensch haltlos im Universum, und das wäre ja gar nicht gut. Nach diesen so geistig erschöpfenden wie abgehakten Anstrengungen riss John das Fenster seiner Noch-Wohnuung auf und drehte sich in der Abendsonne einen Joint. Bin´n echter Naturbursche, dachte er, aber nicht mal sich selbst konnte er belügen. Anschließend klemmte er sich erneut hinters Telefon.
Sein Hilfeanruf war, wenn auch langwierig, so doch sehr erfolgreich und trommelte für Freitag eine Truppe zusammen, die John seine besten Freunde nannte. Mit Johanna hatte er eine geschlagene Stunde telefonieren müssen, denn Johanna redete viel und gerne und lachte laut und ansteckend, und sie war mit Timo zusammen, den brauchte er also nicht extra anzurufen. Julia, Gerri, Frank, Markus und Anett waren schneller organisiert, die quatschten alle nicht so lange.
Anett rief allerdings gleich wieder zurück, sie hatte sich im Datum geirrt, am Freitag arbeitete sie ganztags, aber Markus wäre in Topform, der gelte fast für zwei. "Ist o.k.", sagte John grinsend zum Telefonhörer. Anett wachte mit Argusaugen über das Aussehen und die Fitness ihres Freundes, wobei sie sich allerdings auch einiges an Schweiss abverlangte, aber Markus schien Spaß daran zu haben. "Sie will einen Adonis zum Freund", hieß es von den beiden. Aber selbstverständlich würde Adonis zwei Meerschweinchen tragen können! Am Abend stand plötzlich Frank bei John vor der Wohnungstür.
"Hast du Sepp angerufen?" fragte er.
"Oh nee, den hab ich vergessen, den ruf ich morgen an."
"Du sollst deine Mitmenschen nicht vergessen!" rügte ihn Frank, hob den tätowierten linken Arm und machte ein Kreuz in die Luft. "Amen."
"Was is´n mit dir los." John wollte keine Heilszeichen in seiner Wohnung, schon gar nicht von einem tätowierten Krankenpfleger mit Schnurrbart, halbrasiertem Schädel und Birkenstockpantoffeln. Mit Sportsocken.
"Schon gut, John, is nix. Haste noch was da?"
"Nee ich hab vorhin den letzten geraucht."
"Na dann bis Freitag."
John hatte keine Lust, sich über Franks Seelenheil Gedanken zu machen, klar war nur, dass Frank nicht mehr so klar sah, seitdem er nicht mehr mit Julia zusammen war. Aber deshalb konnten ihm trotzdem alle beide bei der Hagenbeck Aktion helfen. Planlos fuhr er sich mit den Händen durch die schwarzen Haare, bis er genauso aussah wie Ozzy, das Rosettenmeerschwein, schlurfte zur Anlage, schob die alte "Violator" CD von Depeche Mode rein und ging schlafen, damit der Tag zu Ende wäre. Vorher Zähneputzen - John putzte immer die Zähne. Zum einen hatte er wahnsinnige Angst vor dem Zahnarzt beziehungsweise dessen Eisenbahnbohrer, zum anderen bildete er sich was auf seine ungewöhnlich weißen Zähne ein.
Hab ja sonst nicht so viel, dachte er noch beim Schaumausspucken, und dann hatte er endlich Ruhe für Depeche Mode und sein Bett.
Tatsächlich besaß John so wenig, dass all seine Besitztümer in drei Kartons passten, die er bei Aldi ergattert hatte. Ein Karton für Klamotten und Schuhe, einer für Bücher und CDs, und einer für Kleinkram und oben drauf Bettwäsche und Handtücher. Computer und Anlage extra. Anschließend inspizierte seine Mutter die Wohnung.
"Und die Küche?"
"Was?"
"Na die Küche! Du musst wohl mindestens Topf und Pfanne mitnehmen, oder meinst du, im Osten wird dir alles nachgeschmissen?"
"Oh Mann, Kochsachen... voll vergessen. O.k.,
dann pack ich noch was in´ne Tüte."
"Möbel brauchst du wohl nicht?"
"Nä! Die neue Wohnung ist halb möbliert! Stehen nur halbe Möbel drin! Na Quatsch. Sind schon Sachen da, gut was?"
Seine Mutter zog anerkennend die Nase kraus, was eigentlich beides heißen konnte: Versiffte Matratze vom Vorgänger oder Oh, echtes Schnäppchen geschlagen!
"Und wo willst du heute schlafen? Hast ja schon alles abgebaut und eingepackt!" John grinste. "Bei euch auf´m Sofa, geht doch."
"Na du bist witzig! Schmarotzer bist du!" "Ach Mutter die eine Nacht. Nachher kommen die anderen wegen den Meerschweinchen und morgen früh bin ich dann auch weg, dann fährt der Typ mit dem Lieferwagen hier vorbei."
"Na ist schon gut. Trinken wir noch´n Bierchen zusammen. Und ich mach Frikadellen zum Abendbrot."
"Super."
Johns Mutter war nur achtzehn Jahre älter als er.
Freitagmittag ging John Halloumi essen und besorgte bei Aldi noch einen großen Karton, den er dick mit alten Zeitungen auslegte. Auf dem Nachhauseweg rupfte er ein paar Grashalme ab, ließ beim Obststand einen Apfel mitgehen und war richtig stolz auf den Meerschweinchentransportkäfig. Vor seiner Haustür stand Gerri, ebenfalls ausgerüstet mit einem Karton.
Schuhkarton, dachte John entrüstet. "Hi!"
"Hi John", sagte Gerri, "gib mal eins von den Viechern rüber, ich will schon los."
"Hä? Wieso?"
"Ey ich fahr doch nicht S-Bahn, ich bin doch nicht verrückt, mit all den Assis da drin. Ich fahr Rad, der Karton hier passt genau in den Rucksack."
"Bis du da bist ist es dunkel!" "Ich hab´n Kumpel bei Hagenbeck, Claas, dem geb ich den Karton über´n Zaun und fertig."
John brachte seinen Karton nach oben und kam mit einem Meerschwein und einem zerrissenen T-shirt wieder. Beides kam in den luftlöchrigen Schuhkarton, der kam in den alterslöchrigen Rucksack und weg war Gerri. Wenn das man gut geht, dachte John mit Unbehagen, der Idiot hat noch nicht mal´n anständiges bike, bloß so´n stinknormales Herrenrad - wenigstens hatte er keine Bierdose auf dem Gepäckträ ger klemmen.
Aber Johns Sorgen waren unbegründet. Gerri war ein unerschütterlich gut gelaunter und zuverlässiger Typ, dessen Hemden nie zu den Hosen passten, die er trug, aber das störte niemanden in dem Seniorenpflegeheim, wo er als Gärtner und Hausmeister arbeitete.
Von den anderen trudelte etwas später Sepp als erster ein. Groß und schlaksig, unscheinbare Brille, lange rote Haare, Klamottenfarbe schwarz. Sie rauchten auf den Eingangsstufen.
"Ich bring eben das bike in´n Keller", sagte Sepp.
"Jo", sagte John und überlegte, ob er Sepp sagen sollte, dass er nach Leipzig ziehen und in demselben Haus wie dessen Ex-Freundin wohnen würde.
"Warum sollen die Viecher überhaupt weg?" erkundigte sich Sepp, als er wieder hoch kam.
Je nun, dachte John, raus mit der Sprache! Also erzählte er kurz, was anlag, und betonte mindestens dreimal, dass er nicht wegen Ines nach Leipzig zöge, die wäre überhaupt nicht sein Typ und da liefe rein gar nichts.
"Du musst dich doch nicht rechtfertigen, Alter", meinte Sepp achselzuckend, "vielleicht will sie ja was von dir!" "Ach nee." John erschrak. So ein Hin und Her und Vielleicht lag ihm nicht. "Nee so´ne Tratschgeschichte, echt Sepp, so ist das nicht. Jetzt sei mal´n Kumpel und nimms einfach so hin, wies ist."
"O.k. John", sagte Sepp und sie rauchten weiter.
Zehn Minuten später waren noch fünf Mountainbikes in den Keller gewandert und Frank, der als letzter kam und mit meckerndem Lachen eine quietschende Halbkurvenbremsung hinlegte, fragte, wieso sie nicht gleich eine Fahrradtour gemacht hätten. "So wie Gerri?" meinte John, nachdem er den Transportkarton mit den acht Tieren aus der Wohnung geholt hatte. "Und wer trägt das hier dann?" Bis sie sich geeinigt hatten, was besser und angenehmer gewesen wäre für Mensch wie für Tier, waren sie zu Fuß am S-Bahnhof Bergedorf angelangt und eine weitere Diskussion erübrigte sich, denn jetzt konnten sie auch genauso gut einsteigen. "Gerri ist schon cool drauf", brachte Sepp das Gerede auf einen Punkt, gegen den es keine Einwände gab. Während der Fahrt breitete sich ein wohliges Zusammengehörigkeitsgefühl aus. Alle saßen im selben Wagen, Johanna alberte herum und stritt sich mit Timo und Sepp, zum Spaß, die Schweine im Aldikarton scharrten und stießen gegen die Wände, und Frank meinte, wenn schon keine Fahrradtour, dann eben eine Klassenreise, das wäre doch auch was Feines. Sie mussten in die U-Bahn umsteigen und rauchten auf dem Bahnsteig.
Julia kaufte Schokolade. Neben dem Hagenbeckparkhaus stellte John den Karton hinter einen Busch und verteilte die Insassen: Jeder einen und er zwei.
"Ooch meins ist ja so klein, das setz ich mir auf die Schulter wie´ne zahme Ratte und häng die Haare drüber!" freute sich Julia, sicherte das Schweinchen noch mit ihrem Halstuch und tat sächlich schien das zu funktionieren. "Vielleicht behalte ich´s auch..." überlegte sie.
"Lass uns das bloß schnell erledigen", sagte Johanna, die ihren Gast in die Umhängetasche gestopft hatte, "sonst pisst der mir noch alles voll."
"Gut dann spendier ich jetzt ´ne Gruppenkarte", sagte John und sah in die Runde. "Alles klar?" Sepp, Frank und Timo sahen an verschiedenen Stellen merkwürdig ausgebeult aus, je nachdem, wo sie ihr Meerschweinchen hingesteckt hatten, in den Jackenärmel, die Innentasche, in die Kapuze im Nacken... Nur Markus war unglücklich mit dem Tier unterm T-shirt, das sich normalerweise eng um seine Muskeln spannte und jetzt keinen Zweifel daran ließ, wen er da unerlaubt im Kleintiergehege aussetzen wollte.
"Bei dir erstickt es ja!" rief Johanna. Timo und Sepp haten angefangen, zu lachen, Julia bewegte sich nur noch in Zeitlupe, um ihren neuen Schulterbewohner nicht zu gefährden, einzig Frank war hilfreich und lieh Markus seine Schirmmütze. Der erwies sich als erstaunlich patent, klappte die Mütze über dem Meerschweinchen zusammen und behauptete, das wäre jetzt eine Herrenhandtasche. "Mann jetzt lacht doch nicht so!" fuhr er Sepp und Timo an, die schon ganz rote Köpfe hatten. John, der einfach seinen Gürtel ein Loch enger gezogen und zwei Meerschweinchen oben in den Overall gesetzt hatte, Jacke drüber, fertig, kam mit der Gruppenkarte wieder und einem legitimen Eindringen in den Zoo stand nichts mehr im Wege. Timo jammerte noch, der alte Eingang mit den Elefantenköpfen wäre viel schöner gewesen, da waren sie auch schon durch den neuen chinesischen Tempel gegangen und suchten auf dem Orientierungsplan nach dem richtigen Gehege. In diesem Moment verdüsterte sich der Himmel, ganz Hagenbeck wurde schattig, und John fand, dass auch sie ein ziemlich düsterer Haufen waren, schwarz überwog 4:3. Nur Timo, Markus und Frank waren grau-weiß-grün. John selbst trug seit Jahren nichts anderes als strapazierfähige schwarze Overalls, sommers wie winters ("Strampelanzug", wie Alexa missbilligend sagte), und dazu Springerstiefel. Das ließ sich mit beliebig vielen Kleidungsschichten kombinieren und man konnte das Overall-Oberteil auch leicht über den Gürtel nach unten klappen, dann lief er oben ohne, falls es in Hamburg mal heiß sein sollte.
Na ja, sind wir halt besser getarnt, schoss es ihm noch durch den Kopf, denn den Eindruck einer fröhlichen Klassenreise mit unschuldigen Absichten machten sie nun wirklich nicht.
Am Kaninchen- und Meerschweinchenfreigehege waren weder Zoowärter noch Besucher zu sehen, weshalb die Aussetzung Johns tierischer Mitbewohner erfreulich sang- und klanglos von Statten ging. Sie sahen sich kurz um und verschwanden dann im Gewusel ihrer Artgenossen. Timo schüttelte kommentarlos ein paar braune Knicker aus seinem Jackenärmel. Merkwürdig unschlüssig und verloren standen danach alle da.
"Gehn wir - äh - gehn wir Cornetto essen und gucken wir uns die Schlangen an!" schlug Johanna in die Stille vor, und sechs Meerschweinchenfreunde trotteten hinter ihr her.
Später, kurz vor Ende der Besucherzeit, hatten der Zoo und seine Tiere schwarz wie grau-weißgrün Gekleidete gleichermaßen friedlich gestimmt, und sie stießen auf der gutbürgerlich-eleganten 60er Jahre Sonnenterrasse am Flamingobecken auf Johns Umzug an. Einzig Johanna war bei Eis geblieben, die anderen tranken Bier, freuten sich über die Gläser, richtige Biertulpen, manche Tiere schrien, manche äugten zu ihnen herüber, die Zebras zum Beispiel, und John fand, dass die teure Gruppenkarte eine sehr gute Investition gewesen war.
"Wahrscheinlich werd ich dich sogar vermissen", erklärte Timo plötzlich. Julia und Johanna warfen mit Bierdeckelkonfetti, und Sepp meinte: "Jo, lass mal aufbrechen."
"Wars schön im Zoo?" fragte Johns Mutter abends, als sie am Küchentisch um eine Schüssel Frikadellen saßen, während Johns Freunde bei Sepp eingefallen waren und dort das Sofa besetzten. Sein kleiner Bruder spielte Angeln im Glas mit der letzten Silberzwiebel, John quetschte Senf auf den Teller und meinte "Ja", wär schön gewesen, die Meerschweinchen würden sich da bestimmt wohl fühlen.
Und ich mich in Leipzig? dachte er und seine Mutter stellte prompt dieselbe Frage, woraufhin John spontan feststellte, er wäre ja anpassungsfähig, außerdem müsste er mal seinen Horizont erweitern. Seine Mutter lachte und glaubte ihm weder das eine noch das andere. "Wird schon schief gehen Baby!" "Schief ist auch ein Zustand", konstatierte John seufzend, "und eigentlich ist so ein Umzug ganz cool, ich hab schon richtig Spaß dran. Endlich passiert mal was. Und falls Alexa auftaucht, was ich bezweifle, aber für alle Fälle: Sag ihr nicht, wo ich bin. Sag, ich bin nicht da. Stimmt ja auch."
Seine Mutter lachte mit vollem Mund. "Hast recht, Umzug macht Spaß."
Am nächsten Morgen schaute sie bewundernd auf den Umzugshelfer ihres Sohnes. Ines´ Bekannter und Lieferwagenfahrer Mike war fast zwei Meter groß, durchtrainiert und sonnenstudiobraungebrannt. Mit Leichtigkeit trug er zwei Kartons auf einmal nach unten, und John kam sich neben ihm klein, blass und mickrig vor. Im Handumdrehen saßen sie im Auto, in dem auch noch Platz für Johns Fahrrad gewesen war, ein Schuhkarton mit Ozzy stand zwischen Johns Füßen, eine Cypres Hill Kassette rutschte ins Kassettenfach, es ging los. Johns kleiner Bruder winkte, seine Mutter rauchte. Ab Magdeburg machten sie die Musik aus, der Lieferwagen rollte auf den Parkplatz einer desolaten Raststätte, zu deren ungunsten Mike seine Provianttüte hervor holte, sie aßen selbstgeschmierte Brötchen und tranken Saft.
Jeder eine ganze Flasche, auf Ex. John kämpfte, wollte sich vor Mike jedoch keine Blöße geben.
"Säft, für die Kräft", grinste Mike, und setzte die uncoolste Sonnenbrille auf, die John jeh gesehen hatte.
"Boah was is´n das für´n Teil!" "Nicht gut?" Mike nahm die Brille wieder ab. "Hat meine Freundin mir geschenkt."
"Na solange man nicht von der Brille auf die Freundin schließen kann..."
Mike gab Vollgas, sie schossen zurück auf die Betonplatten-DDR-Autobahn, Ozzy quiekte erschrocken und Mike meinte, seine Freundin hätte rein gar nichts mit einer uncoolen Sonnenbrille gemein.
"Schon gut Mann", sagte John beschwichtigend, "Meine Ex-Freundin hat mir mal´n Playboy Kalender geschenkt, da hatte auch eins nichts mit dem anderen zu tun."
"Oder eine nichts mit den anderen?" warf Mike ein. "Und wer war dabei uncool?" "Na meine Ex natürlich", stellte John klar.
"Playboy ist aber auch nicht wirklich cool", schüttelte Mike den Kopf, "also meine Freundin ist auf jeden Fall cooler als Playboy."
"Beneidenswert! Dann ist es ja auch egal, ob sie uncoole Sonnenbrillen verschenkt oder nicht!" "Yeah", sagte Mike und warf die Brille aus dem Fenster. Sofort fuhr krachend ein LKW drüber.
Beide grinsten zufrieden, John schraubte seine Rückenlehne nach hinten und hätte am liebsten die Füße hoch gelegt, aber Mike war nicht der Typ, in dessen Lieferwagen man soetwas durfte.
"Woher kennst du Ines?" erkundigte er sich stattdessen.
"Die Ine? Die ist bei mir in Sporttheorie. Und wie kennt ihr euch?"
"´N Freund von mir ist ihr Ex. Wir trinken ab und zu mal´n Bier zusammen, wenn sie in Hamburg ist, oder war, jetzt bin ich ja weg. Man kann ganz gut mit ihr reden. Sie ist so nett! Das kommt ja selten vor bei Frauen."
"Stimmt. Und jetzt wohnt ihr sogar in demselben Haus."
"Da ziehe ich aber nicht wegen ihr ein, wieso denken das bloß alle."
"Och, wär doch verständlich. Soviel ich weiß, ist die Ine aber in einen aus der Uni-Hockeymannschaft verknallt."
"Jo." Mehr gab es im Moment nicht dazu zu sagen.
Später tauchte Leipzig vor ihnen auf, ziemlich unspektakulär von der Zufahrstraßenseite aus betrachtet, und dann waren sie in der Stadt Lessings und Goethes, wo es Auerbachskeller gab und den Thomaner Chor in der Bachkirche, das massige Völkerschlachtdenkmal und das Gewandhaus, die Stadt, wo der LFC spielte und wo 1989 mit den Montagsdemonstrationen die Deutsche Wiedervereinigung ins Rollen gebracht worden war. Und es gab die Leipziger Universität, eine der allerältesten Deutschlands.
"Studierst du eigentlich dasselbe wie Ines?" fragte John, als sie am Neuen Messegelände vorbei fuhren.
"Fast. Sport, Sportwissenschaften und Soziologie.
Kann ich Coach mit werden. Oder Vorsitzender, oder Trainer der 2. Jugendmannschaft von Hinterfurzhausen. Ey wir sind gleich da. Die Uni ist im Zentrum. Dein neues Viertel ist hier im Nordosten. Hat sogar ´n eigenen Ratskeller. Im Rathaus natürlich. Im Sommer ist da Biergarten."
"Schön."
Nordosten, Biergarten, Sport - John guckte aus dem Fenster und sah bloß Stadt, und konnte keinen Vergleich zu Hamburg herstellen. Sieht so aus wie? Nein, ging nicht. Das war also Leipzig.
Eine schrottige Mischung aus Dorf und Metropole? überlegte John, als er die bröckelnden Fachwerkfassaden neben einer brandneuen Filiale der Deutschen Bank sah. "And here we are!" freute sich Mike und parkte am Bürgersteig.
John stellte erleichtert fest, dass es in seiner neün Straße nichts Dörfliches mehr gab. Stattdessen unverschnörkelte Gründerzeit und alle Stile, die danach kamen, ohne Baulücken, überwiegend grau-dunkelrot und an die fünf Stockwerke hoch.
Die ganze breite Straße ein Tunnel ohne Dach - John guckte um die Ecke - und die Nebenstraßen auch.
"Ist´n ganz cooles altes Viertel", bemerkte Mike, wä hrend er die Hintertür des Lieferwagens öffnete und Johns Kartons herauszog. "Und auch nur vereinzelt pastellfarben."
"Hä?" Mike lachte. "In manchen Vierteln ist schon alles durchsaniert worden, alle Häuser pikobello renoviert und gestrichen, in hellgrün, hellblau, hellbeige, hellrosa mein Gott! Die Leipziger lachen schon darüber. Alles pastellfarben. Total sanft und schick und so. Na hier ist nur teilsaniert - siehste ja. Aber von Innen sind die Wohnungen ok."
John stellte den Karton mit Ozzy auf den Bürgersteig und half beim Entladen. In einer Minute waren sie fertig.
"Falls du in die football-Mannschaft willst", sagte Mike und kritzelte auf eine alte Rechnung, "hiers meine Nummer."
"O.k. Danke, dann machs gut", verabschiedete sich John, der ein mulmiges Gefühl im Bauch hatte, so inmitten seiner Habseligkeiten, von aller Welt verlassen, da drückte Mike zehntausend Mal auf die Hupe, brauste davon und aus der Hofeinfahrt kamen eine alte Dame und Ines.
Gerettet! dachte John.
Frühstück. Die beste Zeit des Tages. Noch war die Welt still und neu und die Luft frisch und sauber. John drückte das Dachfenster fünf Zentimeter auf und setzte sich wieder an den Küchenklapptisch vor seinen Kaffeebecher und das Glas Marmelade, das Frau Matthes, die Hausbesitzerin, ihm zum Einzug geschenkt hatte.
Selbstgemacht, natürlich, gelb, und aus - John las das adrette Etikett nochmal, obwohl er es längst wusste - Spillingen. Nie gehört das Wort. Er hatte es auch noch unberührt gelassen, sein Einzugsmarmeladenglas, denn er aß zum Frühstück Nutella. Brot mit Nutella, Kaffee und danach Orangensaft. Bei der feierlichen Schlüssel- und Marmeladenübergabe hatte John Frau Matthes sofort in Gedanken den Treüeid geschworen, weil sie so überwältigend großmütterlich war und so blaue Augen hatte. Sie sprach, wenn sie überdurchschnittlich aufgeregt war, ein sehr starkes Sächsisch, von dem fast alle Hausbewohner nur ein Drittel verstanden, aber John hatte sich trotzdem von ihr willkommen gefühlt, gelächelt und weiße Zähne gezeigt, Frau Matthes hatte ihn einen "symphatischen, jungen Mann" genannt, Ines hatte sich lachend umgedreht, und nun saß er frühmorgens unter dem noch dunklen Leipziger Himmel, der durchs Fenster in den schrägen Küchenwänden zu ihm hereinguckte, und fand sich selber komisch, weil er sich mit Spillingen hatte kaufen lassen. Man soll Treueeide nicht vorschnell leisten, dachte John und schob das Marmeladenglas etwas weiter weg, obwohl es bisher ja nicht verkehrt gewesen ist. Ines hatte ihm erzählt, dass Frau Matthes für alle Bewohner ihres Hauses die Großmutter war. Alle passten sie ein bisschen auf die alte Dame auf, deren Mann vor Jahren gestorben und deren Kinder kurz nach Mauerfall in den Westen gezogen waren, was ihnen die Mutter bis heute verübelte. Und Frau Matthes passte natürlich auf ihr Haus und auf alles auf, was darin kreuchte und fleuchte.
"Sie ist aber ganz lieb und nicht aufdringlich oder so", sagte Ines. "Mann wieso hast´n du Marmelade gekriegt!" KATJA "Hi Hecki. Hi. Wie - nee, nein, alles o.k. Du ich wollte dir nur sagen, du brauchst die Wohnung nicht mehr anzupreisen. Gestern ist hier so´n neuer Typ eingezogen. Freund von Ines. Ich kling überhaupt nicht komisch! Ach... Wann? Ja, gut.
Na schräg eben. Nur schwarze Sachen, Nasenpiercing, und dann hat der sein bike in die Wohnung hochgeschleppt, weil die Matthes vergessen hat, ihm den Keller zu zeigen hihi... Nein ich beobachte den überhaupt nicht! Du bist echt bescheuert Hecki. Ich und Ines haben beim Einzug geholfen, so ist das! Was - nee der hatte gar kein Bett. Ich hab bloß so´n Schuhkarton getragen, ich wette, da war ´ne zahme Ratte drin! Was? Nee sein Drogenvorrat nicht, der hätte sich ja nicht bewegt, Drogen bewegen sich doch nicht... Hihihi ey ja... Logo. Ja, geb ich ihm. Also übermorgen im Prager Frühling. Chau...
FRAU MATTHES
Ein reizender junger Mann. Er hat sich sogar für die Marmelade bedankt! Ich weiß das zu schätzen, manche junge Leute sind heut zu Tage so unhöflich. Dabei kostet es gar nichts, auf kleine Gesten zu achten. Also ich achte da sehr drauf.
Ich muss jetzt daran denken, dass ich den Treppenhausputzplan erneuere! Alles muss seine Ordnung haben, dann kann jeder tun und lassen, was er will. Die jungen Leute aus dem Westen haben so etwas Frisches, so etwas Individuelles, würd ich mal sagen... Vom äußeren auf die Person zu schließen habe ich mir ja ganzabgewöhnt. Die Mädchen werfen mir zwar vor, ich wäre zu gutgläubig, aber ich denke, viel wichtiger als das Aussehen ist doch die Körperpflege.
Wenn jemand hier ankommt und unangenehm riecht, ja wenn er stinkt, ungepflegt aussieht, dann kann er gleich seine Sachen packen, so einer kommt mir nicht ins Haus! Und der Bekannte von der Ines, dieser John, der hatte nun wirklich blendend weiße Zähne! Und gestunken hat er auch nicht, da ist es mir ganz egal, was er sonst mit sich anstellt oder wie er aussieht. Dass er gleich die Miete für ein halbes Jahr im Voraus gezahlt hat, will ich ihm auch hoch anrechnen. Ja, ich denke, er hat die gute Spillingemarmelade verdient. Ach je und ich habe ihm gar nicht den Keller gezeigt! Das ist das Alter, jünger wird man ja leider nicht.
John
Mich laust der Affe. "Halb möbliert" bedeutet: drei Garderobenhaken, Klapptisch und Klappstuhl, und ein selbstgebautes Regal, das an der Rückseite mit dermaßen vielen unterschiedlichen Streben und Leisten zusammengehalten wird, auch mit Brettern, einem grünen und einem lackierten, dass es beinahe künstlerischen Wert hat. Wenn ich meine Sachen da reinstelle, fängt die ganze Konstruktion garantiert an zu wackeln, und ich muss auch irgendwo ein verstärkendes Brett an nageln - Wahnsinn! Jeder neue Mieter hinterlässt eine Spur an diesem Mistregal, wann hat das bloß angefangen? Vielleicht liegen hier sogar Hammer und Nägel rum... Das Dumme ist nur: es gibt kein Bett. Oh und Moment, die Küche ist möbliert. Kühlschrank, Gasherd und Spühle sind da. Richtige Möbel sind das ja aber eigentlich keine. Na ich will nicht meckern. Mir steht eine harte Nacht bevor, auf dem roten Dielenboden...
Nee das bring ich nicht. Bin nicht so´n Survival-Typ, was tu ich bloß... Ah! Genial! Ich schmeiße alle Klamotten auf den Boden, die paar Handtücher auch, und baue mir ein Nest. Bin´n Nestbauer.
Als John eine Woche später bei Wolf anrief, sah es in seiner Wohnuhng schon etwas anders aus.
John war hervorragend im Verkabeln und hatte es geschafft, sich binnen kürzester Zeit mit Telefon- und Internetanschluss auszustatten. Zwar standen Telefon, Computer und Anlage noch immer auf dem Dielenboden, alles andere im Grunde auch, und John schlief auch noch immer in seinem Klamottennest, aber dafür hatte er nun einen neuen Programmierauftrag. Der merkwürdigen Regalkonstruktion seiner Vormieter traute er keine rechte Belastbarkeit zu, aber das Bord in der Küche war stabil, weshalb John es schnell mit seinen wenigen Kochutensilien, Nutella, Nescafe und allem anderen überlebenswichtigen vollgestellte, was er in dem Laden eine Straße weiter entdeckte. "Ein Konsum ist gleich um die Ecke", hatte Frau Matthes ihm erklärt, und John war auf gut Glück hingegangen, denn unter Konsum konnte er sich herzlich wenig vorstellen.
Der winzige Supermarkt, der sich in einem Genossenschaftbacksteinbau versteckte, vesorgte ihn dann aber tatsächlich mit vielen erschwinglichen Konsumgütern, und die nette Kassiererin konnte außerdem noch weiterhelfen:
"Ein Schlachter ist rechts um die Ecke."
John grinste und sagte, mehr zu sich selbst: "Hiers wohl alles um die Ecke..."
"Wie meinen?"
"äh, in diesem Viertel gibt es wohl alles?" Die Kassiererin starrte ihn erst groß an, fügte dann aber verträumt hinzu: "Also eine Tierhandlung gibt es leider nicht..."
"Ach Tiere sind auch das letzte, was ich brauche, ´n Tier hab ich schon."
"Oh Sie haben? Was für eins denn?"
Schon halb zur Tür raus antwortete John: "Ein Rosettenmeerschwein", und wunderte sich zehn Minuten später, dass er noch immer mit der Dame an der Kasse quatschte, die ihn schließlich mit stark geschminkten Augen anplinkerte und gehen ließ. "Chaui, bis die Tage!" Oh mein Gott wie grausam, hat sie das wirklich gesagt? Sagen das hier etwa alle so? John wäre fast über seine Konsumeinkaufstüte gestolpert, rette sich rechts um die Ecke und bewunderte das fette Schwein, das über dem Schaufenster des Schlachters hing und ein Messer im Rücken stecken hatte.
"Deutsches Qualitätsfleisch, boah watt´n Zungenbrecher", las John, als er die Tür aufdrückte und beim nun wahrnehmbaren Duft sofort Stammkunde wurde. Mittagessen gab es hier auch! Einkaufen machte wahnsinnig hungrig, und John bestellte dasselbe, was die Bauarbeiter löffelten, die um den einen der Stehtische standen.
"Eine Soljanka, bitteschön, dazu Brot?" "Ach ja, bitte", antwortete John, trug seine dampfende Plastikschüssel zum zweiten Stehtisch und nahm sein Brot entgegen. Toastbrot.
Egal. Soljanka, noch ein neüs Wort! Anderes Bundesland, andere Sprache, dachte John, und anderes Essen! Wurstsuppe. Ja genau, wenn da Wurst drin war, war es Wurstsuppe. John war nicht wirklich Fleischfan, aber diesen Schlachter liebte er und kaufte, bevor er ging, ein halbes Pfund Salami und drei Frikadellen. Dann stand er wieder vor seinem Haus. Hierher konnte man die Leute auch um die Ecke schicken. Zum Bä cker nämlich, der sich links im Erdgeschoss befand. Rechts waren der Eingang und die Hofeinfahrt, links um die Ecke der Bäcker. Es war ja ein Eckhaus. John stand mit seinen zwei Tüten an der Straßenkreuzung und fühlte sich wie das Zentrum des Universums. Ein kleiner Punkt inmitten seines neuen Viertels, der Stadt, des Landes, der großen weiten Welt... in Gedanken sah er sich sekundenschnell zu Satellitenhöhe aufsteigen, raste wieder zurück und war John vor der Bäckereifiliale, in sich ruhend, zufrieden und gelassen.
Gefällt mir hier, dachte er und nahm sich vor, beim Konsum nie wieder geschnittenes Brot zu kaufen.
Ines und ihre Mitbewohnerin Katja aus Potsdam hatten es sich in Johns Schlaf-Wohnzimmer gemütlich gemacht. Sie saßen mit dem Rücken gegen die Wand auf dem Fußboden, zwischen sich eine mitgebrachte Flasche Rotwein und zwei Gläser, quatschten und lachten, als Ozzy über ihre ausgestreckten Beine sprang.
"Also doch keine zahme Ratte", sagte Katja, "und Drogen auch nicht, oder hat der Kleine alles aufgefressen, was in dem ominösen Schuhkarton war?"
"John nimmt doch keine Drooogen, der weiß gar nicht, was das ist, trinkt ja noch nicht mal Rotwein..." Ines sah kopfschüttelnd zu, wie Ozzy in der Küche verschwand. "Braucht er keinen Käfig?"
"Doch, doch er hat einen", erklärte John, der sich über den Mädchenbesuch amüsierte. "Für diese wunderschöne neue Wohnung hab ich ihm exra einen Käfig aus drei Obstkisten gebaut. Man kann die so ineinander stecken, hat mich selbst überrascht, wie gut das ging. Aber er darf auch mal rumlaufen, sonst wird er noch zu fett und das ist ja gar nicht gesund."
"Wie´n Gesundheitsfanatiker siehst du aber nicht aus", stellte Katja zweifelnd fest.
"Ich fahr doch Rad!" entrüstete sich John.
"John ist Informatiker. Richtig?" fragte Ines.
"Mhm."
"Informatiker", grübelte Katja, "das sind doch alles kranke Typen". Sie hatte Johns CDs neben der Anlage entdeckt und ließ stirnrunzelnd die Hüllen klacken. "Was is´n das für´n Zeug. Chevy Devils.
Banda Bassotti. The Burial, The Maytals, The Skatalites. Ah, Depeche Mode, Nine Inch Nails - Böse Onkelz! Das ist doch scheiße, die sind doch echt daneben - ey was sind denn das hier für Bands! Freiwild. Hörsturz. Broilers!" "Du kannst meinen Kram auch in Ruhe lassen", befand John.
"Stehst du auf rechts oder was." Katja trank ihr Glas leer und stand unbeholfen im Zimmer.
"Nee auf links", sagte John, "und jetzt ist der Besuch zu Ende, ich muss noch arbeiten."
"Schweinehund", grinste Ines und stand auf. "Die Gläser kannste behalten, Einzugsgeschenk."
"Oh, vielen tausend Dank, Rotweingläser haben mir noch gefehlt in meinem Sortiment..."
"Tschüß", sagte Ines, "Chau", sagte Katja, dann waren sie weg und John jagde Ozzy in seinen Käfig.
"Alter du köttelst mir die Bude voll, hier herrschen andere Sitten als in Hamburg, gewöhn dich dran!" Dann spühlte er artig die Gläser ab und setzte sich vor den Rechner.