Brain Blues - Anders Hansen - E-Book

Brain Blues E-Book

Anders Hansen

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer psychische Probleme hat, meint häufig, mit seinem Gehirn sei etwas nicht in Ordnung. Doch Ängste und depressive Gefühle sind biologisch natürliche Reaktionen – Überreste aus der längst vergangenen Zeit, als Hunger und Infektionen allgegenwärtige tödliche Bedrohungen waren. Wir sind nicht dafür gemacht, dauernd glücklich zu sein, denn sonst hätten unsere Vorfahren nicht lange überlebt.

Der Psychologe und schwedische Bestsellerautor Anders Hansen zeigt, wie menschliches Wohlbefinden funktioniert und weckt gleichzeitig Hoffnung, dass wir uns in der heutigen komplexen und vernetzten Gesellschaft durchaus wohlfühlen können. Damit das gelingt, müssen wir uns besser um unser Gehirn – und unseren Körper – kümmern und vielleicht auch aufhören, ständig dem Glück nachzujagen.

Brain Blues enträtselt die allgegenwärtige Besorgnis in Bezug auf Angst und Depression in unserer modernen Gesellschaft und verbindet neurowissenschaftliche Forschung und empirische Erfahrungen mit individuellen Anekdoten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 243

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Wenn wir psychische Probleme haben, meinen wir häufig, mit unserem Gehirn stimmt etwas nicht. Doch Ängste und depressive Gefühle sind biologisch natürliche Reaktionen – Überreste aus der längst vergangenen Zeit, als Hunger und Infektionen allgegenwärtige tödliche Bedrohungen waren. Wir sind nicht dafür gemacht, dauernd glücklich zu sein, denn sonst hätten unsere Vorfahren nicht lange überlebt. Anders Hansen zeigt, dass wir uns in der heutigen komplexen und vernetzten Gesellschaft durchaus wohlfühlen können. Damit das gelingt, müssen wir uns besser um unser Gehirn – und unseren Körper – kümmern und vielleicht auch aufhören, ständig dem Glück hinterherzujagen.

Autor

Dr. med. Anders Hansen ist Oberarzt am schwedischen Karolinska Institutet, einer der renommiertesten Forschungskliniken der Welt. Er hat zu seinen Forschungstätigkeiten bereits über 2000 Artikel für diverse Fachzeitschriften und populäre Magazine verfasst.

( auch als E-Book erhältlich)

Anders Hansen

Brain Blues

Warum unser Kopf uns mit Ängsten und Depressionen schützen will und wie es gelingt, sie zu überwinden

Aus dem Schwedischen von Leena Flegler

Die schwedische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Depphjärnan« bei Bonnier Fakta, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe September 2023

Copyright © 2021 der Originalausgabe: Anders Hansen

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Layout und Illustration: Copyright © Lisa Zachrisson 2021

Published by agreement with Salomonsson Agency

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Birthe Vogelmann

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

CH ∙ cb

ISBN 978-3-641-304263V001-4

Gewidmet

Vanja Hansen

Hans-Åke Hansen (1940 – 2011)

Björn Hansen

Vor dem Gehirn war das Universum frei von Schmerz und Ängsten.

Roger W. Sperry

Inhalt

Warum geht es uns so schlecht, obwohl es uns so gut geht?

1. Wir sind die Überlebenden

2. Warum haben wir Gefühle?

3. Ängste und Panik

4. Depression

5. Einsamkeit

6. Körperliche Aktivität

7. Geht es uns schlechter denn je?

8. Der Schicksalsinstinkt

9. Die Glücksfalle

Nachwort

Meine zehn wichtigsten Einsichten

Quellen

Register

Bildnachweis

Dank

Dieses Buch handelt von leichteren Formen der Depression und von Angststörungen, spart jedoch bipolare Störung und Schizophrenie aus. Dafür gibt es zweierlei Gründe. Der wichtigere ist, dass die genannten Erkrankungen viel zu komplex sind, als dass man sie hier mit behandeln sollte. Der zweite Grund ist, dass in unserer Gesellschaft die Häufigkeit leichterer psychischer Erkrankungen anzusteigen scheint; Fälle von Schizophrenie oder schwerere Verlaufsformen der bipolaren Störung werden hingegen nicht häufiger. Im Folgenden möchte ich unser Wohlbefinden aus einem biologischen Blickwinkel betrachten. Eine solche Sichtweise hat sich für viele Patientinnen und Patienten als hilfreich erwiesen. Wenn es Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, schlecht gehen sollte, suchen Sie sich Hilfe – denn es gibt sie durchaus. Sofern Sie wegen einer psychischen Erkrankung Medikamente einnehmen: Holen Sie kontinuierlich den Rat Ihrer behandelnden Ärztin oder Ihres behandelnden Arztes ein.

Warum geht es uns so schlecht, obwohl es uns so gut geht?

Vermutlich erleben auch Sie hin und wieder ein psychisches Tief. Vielleicht beunruhigt Sie etwas – oder aber Sie fühlen sich mitunter vor Panik wie gelähmt. Möglicherweise hat sich in einer bestimmten Phase Ihres Lebens alles so bleiern angefühlt, dass Sie kaum noch aus dem Bett kamen. Aber ist das nicht merkwürdig? Schließlich sitzt hinter Ihren Augen ein biologisches Wunderwerk, das so hoch entwickelt ist, dass es doch … na ja … mit allem klarkommen sollte.

Ihr fortdauernd veränderliches und ungeheuer dynamisches Gehirn besteht aus 86 Milliarden Nervenzellen, die über mindestens 100 000 Milliarden Synapsen miteinander verbunden sind und ausgefeilte Netzwerke bilden, die sämtliche Körperorgane steuern und den endlosen Strom aus Eindrücken Ihrer Sinnesorgane bearbeiten, deuten und priorisieren. Ihr Gehirn ist imstande, die Informationen aus rund 11 000 Bibliotheken voller Bücher abzuspeichern – so umfangreich ist das Fassungsvermögen Ihres Gedächtnisses. Und im Bruchteil einer Sekunde kann es die für einen bestimmten Sachverhalt relevanteste Information abrufen – sogar wenn Jahrzehnte vergangen sind, seit sie ursprünglich abgespeichert wurde – und sie mit einem aktuellen Erlebnis in Relation setzen.

Wenn Ihr Gehirn also all dies kann – weshalb scheitert es an einer so einfachen Aufgabe wie anhaltendem Wohlbefinden? Warum besteht es darauf, Ihrem Gefühlsleben immer wieder einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen? Dieser Umstand wird umso bemerkenswerter, wenn wir miteinbeziehen, dass wir in einem Überfluss leben, angesichts dessen den meisten Königinnen und Königen, Kaisern und Pharaonen der Geschichte die Spucke weggeblieben wäre. In weiten Teilen der Welt ist heute von Hungersnot und Krieg keine Rede mehr. Wir leben länger und gesünder denn je. Und wenn wir auch nur den Anflug von Langeweile verspüren, sind das gesammelte Wissen und alle Unterhaltung der Welt nur einen Mouseklick entfernt.

Obwohl es uns also nie besser ging, scheint es immer mehr von uns psychisch schlecht zu gehen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht vermeldet würde, dass die Häufigkeit psychischer Erkrankungen zunimmt. In Schweden beispielsweise nimmt jeder achte Erwachsene Antidepressiva ein. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass 284 Millionen Menschen auf der Welt an Angststörungen und 280 Millionen an einer depressiven Erkrankung leiden. Prognosen zufolge dürften Depressionen binnen weniger Jahre weltweit mehr Kosten nach sich ziehen als jede andere Krankheit.

Schon mein ganzes Berufsleben lang stelle ich mir die Frage, warum es uns dermaßen schlecht geht, obwohl es uns doch so gut geht. Sind tatsächlich 284 Millionen Menschen weltweit an einer Störung des Gehirns erkrankt? Mangelt es tatsächlich jedem achten Erwachsenen an Botenstoffen im Nervensystem? Erst als mir dämmerte, dass wir nicht nur miteinbeziehen dürfen, wo wir uns derzeit befinden, sondern auch, woher wir stammen, hat sich für mich eine Erklärung abgezeichnet, eine Sichtweise, die uns ein tieferes Verständnis für unser Gefühlsleben und obendrein neue Möglichkeiten eröffnet, wie wir es verbessern können.

Warum es uns so schlecht geht, obwohl es uns doch eigentlich gut geht, liegt meines Erachtens zuvorderst daran, dass wir mit der Zeit vergessen haben, dass wir biologische Wesen sind. Wir haben vergessen, was genau tatsächlich bewirkt, dass es uns gut geht. Aus diesem Grund wollen wir in diesem Buch unser Gefühlsleben und Wohlbefinden aus Sicht unseres Gehirns durchleuchten und in Erfahrung bringen, warum unser Denkapparat so funktioniert, wie er nun mal funktioniert. Aus Gesprächen mit Tausenden Patientinnen und Patienten weiß ich, wie wertvoll diese Sichtweise ist. Sie erlaubt ein tieferes Verständnis für die richtigen Priorisierungen, wenn es einem so gut wie möglich gehen soll, und hilft dabei, uns selbst besser zu verstehen und nachsichtiger mit uns umzugehen.

Hier wollen wir uns zunächst ansehen, was bei den gängigsten psychischen Leiden – bei Depressionen und Angststörungen – in unserem Gehirn vor sich geht und weshalb diese Leiden mitunter ein Hinweis auf ein gesundes Verhalten statt auf eine Fehlfunktion sein können. Daran anschließend richten wir unser Augenmerk auf Möglichkeiten, wie wir mit diesen Leiden umgehen können. Wir sehen uns an, ob es uns tatsächlich schlechter geht denn je und wie die biologische Sicht auf unser Gefühlsleben darauf Einfluss nehmen kann. Zu guter Letzt versuchen wir zu ergründen, was genau uns glücklich macht.

Aber fangen wir von vorne an – ganz buchstäblich am Anfang.

Schon mein ganzes Berufsleben lang stelle ich mir die Frage, warum es uns dermaßen schlecht geht, obwohl es uns doch so gut geht.

1. Wir sind die Überlebenden

Unser Körper ist auf Überleben und Fortpflanzung ausgelegt, nicht auf Gesundheit.

Unser Gehirn ist auf Überleben und Fortpflanzung ausgelegt, nicht auf Wohlbefinden.

Eva würde wahrscheinlich davon ausgehen, dass wir sie auf den Arm nehmen wollten. Aber wenn wir sie überzeugen könnten, dass ihre Nachfahren in den Genuss all dessen kämen, wäre sie bestimmt froh, weil ihre Mühen sich eines fernen Tages ausgezahlt hätten. Wenn wir ihr dann jedoch erzählten, dass es jedem achten Erwachsenen so schlecht ginge, dass er Medikamente nehmen müsste, hätte sie wohl nicht nur Schwierigkeiten, das Wort »Medikament« zu verstehen. Möglicherweise würde sie glauben, wir wären undankbar.

Aber sind wir das wirklich – undankbar –, weil wir nicht begreifen, wie gut es uns tatsächlich geht? Ich selbst empfinde mich mitunter wirklich so, wenn ich ohne triftigen Grund schwermütig bin. Und ich weiß nicht, wie oft mir Patienten erzählt haben, dass sie sich für ihre Niedergeschlagenheit oder für Ängste schämten, obwohl im Grunde doch all ihre Bedürfnisse gestillt seien. Aber ganz so leicht ist es nicht – wir sind nicht einfach nur undankbar. Wie bereits erwähnt, sind Sie und ich Nachfahren der Überlebenden, und womöglich war es in deren und unseren Genen nie vorgesehen, dass wir glücklich sind.

Ich weiß, es klingt frustrierend, dass wir aufgrund unserer Evolutionsgeschichte genetisch so programmiert sein könnten, dass es uns mental schlecht gehen muss, dass wir angespannt und sogar angstgetrieben sein müssen, um mit dem nackten Leben davonzukommen. Trotzdem gibt es Dinge, die wir tun können, damit es uns besser geht, und die sehen wir uns im späteren Verlauf dieses Buches auch genauer an. Zunächst jedoch untersuchen wir, warum wir überhaupt Wohlbefinden, Angst, Gleichgültigkeit, Unlust, Freude, Ärger, Apathie oder Euphorie empfinden, wenn wir doch ebenso gut als Roboter umherziehen könnten. Aus welchem Grund haben wir Menschen überhaupt Gefühle?

2. Warum haben wir Gefühle?

Wir sind keine denkenden Maschinen, die fühlen, sondern fühlende Maschinen, die denken.

Antonio Damasio, Neurowissenschaftler und Autor

Stellen Sie sich vor, Sie eilen von der Arbeit nach Hause. Draußen gießt es in Strömen, es ist pechschwarz, trotzdem verschwenden Sie keinen Gedanken an das Novemberwetter: Sie müssen dringend Ihre Tochter aus dem Hort abholen, ehe er schließt, und noch mindestens zwei Stunden Arbeit dranhängen, dann einkaufen, Wäsche waschen – denn den Waschkeller hatten Sie doch für heute Abend reserviert? Aber war nicht der Trockner kaputt? Müssten Sie außerdem nicht noch …?

Als Sie die Straße vor Ihrer Arbeitsstätte überqueren wollen, sind Sie mit den Gedanken komplett woanders. Doch plötzlich scheint eine unsichtbare Kraft Sie dazu zu zwingen, einen Schritt zurückzuweichen, und ein Bus donnert an Ihnen vorbei. Wie angewurzelt stehen Sie an der Bordsteinkante. Sie waren nur Zentimeter davon entfernt, überfahren zu werden. Das war richtig knapp. Ringsum hat niemand bemerkt, was gerade passiert ist, aber für Sie ist die Welt stehen geblieben. Der Regen vermischt sich mit Ihren Schweißtropfen, und mit rasendem Puls dämmert Ihnen, dass Sie gerade um Haaresbreite dem Tod entkommen sind. Es hätte genau hier zu Ende gehen können. Zum Glück ist es nicht so gekommen – weil irgendetwas die Kontrolle übernommen und Sie aus Ihren Grübeleien über Deadlines, Waschzeiten und Wäschetrockner gerissen hat. Irgendetwas hat Ihnen zugeraunt, dass Sie einen Schritt zurückweichen sollen.

Die unsichtbare rettende Hand ist in etwa so groß wie eine Mandel und sitzt in den zur Mitte gelegenen Teilen Ihrer Schläfenlappen. In der Sprache der Mediziner heißt sie Amygdala oder auch Mandelkern. Sie hat bei so vielen Tätigkeiten die Finger im Spiel und so viele Verbindungen zu den verschiedensten Arealen des Gehirns, dass ich sie gerne als »die Patin des Hirns« bezeichne. Eine der wichtigsten Aufgaben der Amygdala besteht darin, Ihre Umgebung auf Gefahren abzusuchen, indem sie die Informationen durchforstet, die Ihre Sinnesorgane erfassen. Seh-, Hör-, Geschmacks- und Geruchssinn speisen die Amygdala auf direktem Wege, sodass sie jederzeit weiß, was Sie gerade sehen, hören, schmecken und riechen, noch bevor diese Informationen im Rest Ihres Gehirns angelangt sind.

Das Gehirn ist nur deshalb auf diese Weise organisiert, weil es ein paar Zehntelsekunden dauert, bis Signale über den Sehnerv ins Sehzentrum im Hinterhauptlappen transportiert werden, wo Sie sich schließlich dessen bewusst werden, was Sie im Augenblick visuell wahrnehmen. In einer Gefahrenlage können diese Zehntelsekunden den entscheidenden Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. Sofern aber ein Impuls Ihrer Sinne bedrohlich genug ist, übernimmt die Amygdala die Kontrolle über das restliche Gehirn – beispielsweise wenn sich rasend schnell ein Bus nähert. Die Amygdala drückt auf den Alarmknopf, Sie treten einen Schritt zurück, und im selben Moment werden in Ihrem Körper Stresshormone ausgeschüttet. Das Ergebnis nennt sich im Englischen passenderweise emotion, weil es zugleich eine Bewegung beschreibt (engl. motion). Die subjektive Empfindung der Angst, die Sie verspüren, sobald Ihnen dämmert, dass Sie fast überfahren worden wären, nennt sich feeling – das Gefühl. Erst kommen also die Emotion und die Bewegung, anschließend kommt das Gefühl. Schauen wir uns nun genauer an, wie die Aktivierung der Amygdala dazu führen kann, dass Sie Angst verspüren, sobald Sie begreifen, dass Sie soeben um Haaresbreite dem Tod entkommen sind.

Verschmelzung der äußeren mit der inneren Welt

Wenn wir überlegen, wie unser Gehirn auf unsere Umwelt reagiert, denken wir meist an die physische Umwelt – etwa an den Bus, der auf Sie zugerast ist. Doch darüber hinaus gibt es eine Welt, die mindestens genauso wichtig ist und die unser Denkapparat ebenfalls sorgsam überwacht: unser Innenleben. Unter Stirn-, Scheitel- und Schläfenlappen versteckt liegt eines der faszinierendsten Areale des Gehirns: die Insula. Sie dient als eine Art Sammelstation und empfängt Informationen aus Ihrem Körper – die Herzfrequenz beispielsweise, Blutdruck, Blutzucker und Atemfrequenz. Sie erhält aber auch Übermittlungen der Sinnesorgane. In der Insula verschmelzen die äußere und die innere Welt – und aus dem Gemenge entstehen Gefühle.

Gefühle rollen also nicht nur deshalb über uns hinweg, weil ein Ereignis aus der Außenwelt eine Reaktion in uns auslöst. Sie werden an einer bestimmten Stelle im Gehirn überhaupt erst erschaffen, die äußere Ereignisse mit all dem kombiniert, was in uns vor sich geht. Auf dieser Basis empfiehlt das Gehirn uns ein Verhalten, anhand dessen wir überleben. Gefühle haben insofern nur eine Funktion: Sie sollen unser Verhalten steuern und auf diese Weise unser Überleben gewährleisten, damit wir unsere Gene an die nächste Generation weitergeben können.

Automatisierte Intelligenz

Ihre Augen liefern sekündlich mehr als zehn Millionen Informationen an Ihr Gehirn. Da liegt sozusagen ein dickes Superoptikkabel, das in einem fort Sinneseindrücke weiterleitet. Ähnlich dicke Kabel übermitteln Informationen ihres Gehör-, ihres Tast-, Geschmacks- und Geruchssinnes. Dazu kommen all die Informationen, die das Gehirn von Ihren inneren Organen bezieht. Es wird von Eindrücken regelrecht überschwemmt und hat schier unglaubliche Kapazitäten für die Bearbeitung. Allerdings gibt es auch eine Art Nadelöhr: Ihre Aufmerksamkeit. Sie können sich stets nur auf eine Sache konzentrieren und im Großen und Ganzen immer nur einen Gedanken auf einmal fassen. Deshalb erledigt Ihr Gehirn seinen Job auch gleichsam, ohne dass Sie es überhaupt mitbekommen – und liefert Ihnen eine Art Zusammenfassung in Form eines Gefühls. Stellen Sie sich Ihre Aufmerksamkeit vielleicht wie den Chef einer großen Firma vor: Wenn er seine Angestellten bittet, eine wichtige Frage zu klären, und diese kommen mit 15 Ordnern voller Dokumente zurück, wird der Chef vermutlich sagen: »Ich habe keine Zeit, das alles durchzusehen. Fassen Sie auf einer halben Seite zusammen, was ich Ihrer Ansicht nach unternehmen soll.« Unsere Gefühle sind genau diese Zusammenfassung, die eine Handlungsanweisung impliziert.

Ihr Gehirn sieht anders aus als meines

Genau wie Gesicht und Körperbau bei jedem von uns anders aussehen, unterscheiden sich auch unsere Gehirne, und die Insula ist einer der Teile des Hirns, die bei verschiedenen Individuen vor allem hinsichtlich der Größe voneinander abweichen. Weil die Insula wesentlich ist, um Signale aus dem Körper zu empfangen und in Gefühle umzusetzen, glauben einige Wissenschaftler, dass der Größenunterschied entscheidend dafür sein könnte, warum wir Botschaften unseres Organismus unterschiedlich stark erleben. Für einige ist der Lautstärkeregler für Signale aus dem eigenen Körper gewissermaßen hochgedreht, deshalb spüren sie etwa ein Magengrummeln, einen erhöhten Puls oder Rückenschmerzen besonders stark. Bei anderen ist der Regler eher heruntergedimmt: Sie bemerken derlei Signale kaum.

Es gibt überdies spannende Untersuchungen, die auf eine Korrelation von Größe sowie Aktivität der Insula und gewissen Persönlichkeitsausprägungen hindeuten. Neurotizismus beispielsweise – die Neigung, auf negative Eindrücke besonders stark zu reagieren – scheint mit der Aktivität der Insula zu korrelieren. Dass Größen- und Aktivitätsunterschiede zu verschiedenen Persönlichkeitszügen beitragen und sich darin niederschlagen, wie stark wir auf körperliche Signale reagieren, kann uns zu der Annahme verleiten, dass es eine »Norm« für die Insula gäbe. Doch eine solche Norm gibt es ebenso wenig wie ein »normales« Gehirn. Bei einem »Herdentier« wie dem Menschen sollen Gehirne unterschiedlich sein. Vermutlich ist für das Überleben unserer Spezies sogar entscheidend, dass in der Herde verschiedene Eigenschaften und Gefühle vorhanden sind.

Vom Bananenbaum zur Küchenanrichte

Das Gehirn produziert nicht nur Gefühle, um unser Verhalten zu steuern, wenn es uns davor bewahren will, überfahren zu werden. Es produziert Gefühle in jedwedem Wachzustand unseres Lebens. Sehen wir uns ein etwas weniger dramatisches Beispiel als das von dem Bus an: Sie haben zu Hause die Küche betreten, und auf der Anrichte liegt eine Banane. Nun überlegen Sie, ob Sie Lust darauf haben. Was passiert bei einer so alltäglichen Entscheidung in unserem Gehirn? Zunächst ruft es Informationen zum Energie- und Nährwert der Banane ab. Anschließend braucht es Informationen aus den Energiespeichern im Körper – und ob diese aufgefüllt werden sollten. Als Nächstes stellt sich das Gehirn die Frage, ob eine Banane zu letztgenanntem Zweck geeignet wäre.

Es wäre natürlich ungeheuer anstrengend, diese Rechnung jedes Mal bewusst durchzuspielen, wenn wir darüber nachdenken, etwas zu essen. Deshalb unternimmt Ihr Gehirn diese Aufgabe, ohne dass Sie sich dessen bewusst wären. Es wägt die relevanten Faktoren ab und spuckt eine Antwort aus. Und genau hier kommen unsere Gefühle ins Spiel, denn die Antwort verspüren wir als Gefühl: Sie bekommen entweder Hunger und essen die Banane, oder Sie fühlen sich satt und lassen sie liegen.

Wenn Eva, von der eingangs die Rede war, vor der Wahl gestanden hätte, einen Bananenbaum emporzuklettern, hätte auch sie unterschiedliche Faktoren abwägen müssen: Wie viele Bananen hängen dort? Sind sie schon groß und reif genug? Sind Evas Energiedepots voll, oder braucht sie dringend etwas zu essen? Ist sie überhaupt imstande, an dem Baum emporzuklettern? Außerdem muss sie die Risiken abwägen: wie hoch die Bananen hängen, wie schwierig es ist, dort hinaufzuklettern, und ob Raubtiere in der Nähe lauern.

Natürlich hätte Eva nicht Papier und Stift zur Hand genommen oder ein Excel-Sheet aufgerufen, um das Ergebnis zu berechnen. Sie hätte – genau wie Sie – die Berechnung ihrem Gehirn überlassen und das Ergebnis in Form eines Gefühls erhalten: Ist das Risiko, sich zu verletzen, nur hinreichend gering und hängt der Baum voller Bananenbüschel – oder ist ihr Energiebedarf riesig –, fühlt sie sich mutig und beschließt hinaufzuklettern. Ist das Risiko hingegen hoch und die »Beute« mickrig oder sind ihre Energiedepots gefüllt, erhält sie die Antwort in Form eines Gefühls der Angst oder Sättigung und sieht vom Klettern ab.

Auch wenn diese Rechnung im Angesicht des Bananenbaums an sich die gleiche ist wie bei Ihnen an der Küchenanrichte, gibt es doch einen entscheidenden Unterschied: Es spielt keine wesentliche Rolle, ob Ihre Rechnung in der Küche ein falsches Ergebnis erzielt, denn wenn Sie die Banane fürs Erste liegen lassen, können Sie sie später immer noch essen. Diesen Luxus hat Eva nicht: Wenn ihre Berechnung fehlschlägt und sie übermütig reagiert, indem sie es darauf ankommen lässt, riskiert sie Kopf und Kragen. Wenn ihre Berechnungen indes in die andere Richtung fehlschlagen, wenn sie übertrieben vorsichtig ist und die Gelegenheit verstreichen lässt, riskiert sie den Hungertod. Nur diejenigen unserer Vorfahren, die von ihren Gefühlen richtig angeleitet wurden – und mit »richtig« meine ich: hinsichtlich ihres Überlebens und der Fortpflanzung –, haben überlebt und ihre Gene weitervererbt. Und so haben sie Generation um Generation weitergemacht – Jahrtausend um Jahrtausend.