Brandgefährlich - Markus Nierth - E-Book

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Markus Nierth

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Beschreibung

Markus Nierth, evangelischer Theologe und parteiloser Bürgermeister von Tröglitz, sieht sich plötzlich fremdenfeindlicher Hetze und persönlichen Angriffen ausgesetzt, als Flüchtlinge in den kleinen Ort in Sachsen-Anhalt kommen sollen und er sich für diese einsetzt. Bürger aus der Mitte der Gesellschaft marschieren gemeinsam mit Rechtsextremisten auf. Als schließlich eine Demonstration, die bis vor sein Privathaus führen soll, von der Behörde zugelassen wird, entschließt er sich zum Rücktritt. Die Medien berichten, die Bedrohungen für ihn und seine Familie nehmen massiv zu, die geplante Asylunterkunft wird angezündet, Täter werden nie gefunden. Was Markus Nierth lebendig und anschaulich erzählt, spielt sich so oder ähnlich vielerorts in Deutschland ab. Fast jeder zweite Bürgermeister ist bereits beschimpft, beleidigt und bedroht worden, weil er sich für Flüchtlinge engagiert hat. Konkrete Beispiele aus Baden-Württemberg und Bayern werden von Juliane Streich im Buch näher vorgestellt. Den Autoren geht es um die Hintergründe, die dazu führen, dass sich derzeit so viele Menschen rechts positionieren. Das Buch geht auf die Biographien der Enttäuschten und Zurückgelassenen ein, benennt vermeidbare Fehler in der Politik und zeigt Lösungsansätze auf.

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Markus Nierth · Juliane Streich

Brandgefährlich

Markus Nierth · Juliane Streich

Brandgefährlich

Wie das Schweigen der Mitte die Rechten stark macht

Erfahrungen eines zurückgetretenenOrtsbürgermeisters

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, September 2016

entspricht der 1. Druckauflage vom September 2016

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Covergestaltung unter Verwendung eines Fotos von der im Juni 2015 abgebrannten geplanten Asylunterkunft in Tröglitz (Foto: Jan Woitas/dpa)

eISBN 978-3-86284-353-4

Inhalt

Vorwort

1Keine Auskunft

Fehlende Informationen über die Ankunft der Flüchtlinge verstärken die Sorgen der Bürger. Die Fremdenfeinde von NPD und AfD nutzen die Schwäche der Verantwortlichen aus.

2Brief an verunsicherte Menschen

Ein Schreiben an die Bürger von Tröglitz soll die Debatte um die Flüchtlinge versachlichen und der NPD das Thema entreißen. Das Ergebnis ist ernüchternd.

3Hetze im Netz

Im virtuellen Wohlfühlraum einer abgeschotteten Gemeinschaft wähnen sich auch die Tröglitzer Fremdenfeinde als Teil der Mehrheit des Volkes. Auf Facebook können sie sich gegenseitig in ihren Vorurteilen bestätigen.

4Neonazis marschieren auf

Schnell stacheln Rechtsextreme den Bürgerprotest an und setzen sich an die Spitze des Protests, nur wenige der Demonstranten stören sich daran. Sie fühlen sich endlich beachtet und aufgewertet.

5Der Rücktritt

Die Neonazis wollen vor dem Haus des Ortsbürgermeisters demonstrieren, die Behörden wollen es zulassen. Dieses Versagen forderte eine klare Reaktion.

6Lügenpresse?

Die Medien unterdrücken Fakten, interpretieren Statistiken falsch, verdrehen Aussagen und pflegen ein »Meinungsdiktat« – behaupten die Rechten. Das ist nicht wahr.

7Politiker sind auch nur das Volk

Müssen Politiker bessere und engagiertere Menschen sein als das Volk? Viele Volksvertreter sind es und reiben sich zwischen moralischem Anspruch und Machtspielen auf.

8Bühnen für Rassismus

Auf Informationsveranstaltungen versuchen Fremdenfeinde, die Diskussion mit Provokationen zu bestimmen. Wie geht man mit Pöblern und Hetzern richtig um?

9Der Brandanschlag

Am Osterwochenende 2015 brennt die geplante Asylunterkunft. Haben die Fremdenfeinde gesiegt?

10Soko »Kanister«

Alle Ressourcen will Ministerpräsident Haseloff einsetzen, um die Täter zu finden. Trotz intensiver polizeilicher Ermittlungen gelingt das nicht.

11Heino wäre weggezogen

Fäkalien in der Post, Schmähbriefe und Morddrohungen: Nach wie viel Hass darf man aufgeben? Dürfen wir den Rechten die Dörfer und Kleinstädte überlassen?

12Freund und Helfer

Allgemeine Schelte tut vielen engagierten Polizisten Unrecht und schwächt auch die Demokratie. Denn die Beamten sind für deren Schutz unabdingbar.

13Tröglitz ist überall

Auch in Westdeutschland kommt es im Streit um Flüchtlinge zu Morddrohungen. In Reutlingen tritt deswegen ein Bezirksbürgermeister zurück, in Zorneding bei München ein Pfarrer.

14Woher kommen die Wutbürger?

Euro- und Flüchtlingskrise, aber auch private Probleme und das Ende der DDR mit ihren gewohnten Strukturen nähren eine allgemeine Politikerverdrossenheit. Rechtspopulisten nutzen das aus.

15Was die Ereignisse lehren

Um Radikalismus und Rassismus den Boden zu entziehen, müssen wieder verbindliche Werte gelten. Und die Abgehängten brauchen eine Perspektive.

16Die Flüchtlinge sind da

Einige Tröglitzer haben die Neuen mit großer Hilfsbereitschaft empfangen. Sogar unter den Demonstranten von gestern ist heute zu hören: »Die sind ja ganz harmlos und freundlich.«

17Rechtsaußen im Parlament

Die Wahlerfolge der AfD sind ein kleinbürgerlich-proletarischer Aufstand der Frustrierten. Mit der Partei eint sie nur die Ablehnung der Flüchtlinge. Wohin diese Partei geht, weiß sie selbst noch nicht.

18Abschließende Überlegungen

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Dank

Anmerkungen

Über die Autoren

Für Finja Katharina, Lydia Johanna, Jelka Kristiana,Mirja Paulina und Silas Johannes.Ich bin stolz, dass ihr aufrechte, mutige, weiseMenschen mit großen Herzen seid.Miteinander mussten und haben wir in dieserfürchterlichen Zeit gelernt, unsere Ängste zu überwindendurch unser Vertrauen auf Gott. Lasst uns das nie vergessen.Durch euch und eure Freunde haben wir gelernt,dass es begründete Hoffnung in der nächsten Generation gibt,weil ihr weltoffener groß werdet und globaler denkt und lebt.So hoffe ich, dass eure Generation reifer undgroßzügiger sein wird als vorherige und, dass für euchFremdenfeindlichkeit und Rassismus wirklich zu etwasfurchtbar Fremden werden.Und für David und Tabea, um euch über diese schwere Zeitrückwirkend Einblicke und vielleicht auch Einsichtenzu schenken.

Vorwort

Auslöser, dieses Buch zu schreiben, waren die Ergebnisse der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im März 2016. Mit mehr als 30 Prozent bekam die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) die meisten Stimmen im Wahlkreis Zeitz, das Direktmandat erhielt André Poggenburg mit 31,6 Prozent der Erststimmen, der dem rechtsnationalen Flügel der Partei zuzurechnen ist. In unserem Ort, Tröglitz in der Gemeinde Elsteraue, fiel der Erfolg der Rechtspopulisten noch deutlicher aus: 32 Prozent für die AfD, 35,9 Prozent für Poggenburg. Auch die NPD durfte sich freuen, sie erhielt 4 Prozent der Zweitstimmen, in Tröglitz sogar 5,5. Insgesamt also fast 40 Prozent für die Rechten.

Das hätten wir, meine Frau Susanna und ich, nicht für möglich gehalten. Als in Tröglitz die Demonstranten gegen die Zuweisung von Flüchtlingen aufmarschierten und das geplante Flüchtlingsheim schließlich brannte, nahm ich die Tröglitzer in Schutz. Mein Mantra lautete: Tröglitz ist keine Hochburg der Rechten, Tröglitz ist kein braunes Nest.

Und nun das! Meine Frau und ich standen vor der schockierenden Erkenntnis, dass unser Ort, trotz der schrecklichen Ereignisse, so stark rechts gewählt hatte – mit einem Spitzenwert im Landesvergleich. Nach dem ersten Schock beruhigten wir uns mit der Einschätzung, dass die Zahlen Ergebnis von großem Protest gegen die etablierte Politik sind und bei den meisten Wählern nicht Ausdruck einer stramm rechten Überzeugung. Aber einige Fragen ließen uns nicht mehr los: Wo ist denn die Grenze, wie soll das weitergehen? Wohin kann das führen? Wissen die Leute nicht um die Gefahr für unsere Demokratie, wenn radikale Parteien die Mehrheit erringen? Ist ihnen das inzwischen egal? Ist das, was in Tröglitz geschah, ein übergreifendes oder ein spezifisch ostdeutsches Phänomen? In Österreich hätte auch niemand geglaubt, dass bei der Präsidentenwahl fast 50 Prozent für den rechten FPÖ-Kandidaten stimmen. Daraus kann schnell eine komplette Machtübernahme folgen.

»Tröglitz ist überall«, sagte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff, nachdem das Feuer in der geplanten Flüchtlingsunterkunft gelöscht war. Er wies darauf hin, dass fremdenfeindliche Anschläge kein ostdeutsches, sondern ein »bundesweites Problem« seien, ähnlich dem ausgelebten Hass in den 90er Jahren. Die folgenden Monate zeigten, dass rassistische Demonstrationen, Äußerungen und Übergriffe im ganzen Land immer größere Dimensionen erreichten, und dass geplante Flüchtlingsunterkünfte in Ost und West, Süd und Nord brannten.

Aber der Mikrokosmos Tröglitz ist repräsentativ für viele andere Orte in Deutschland, die Eskalationsstufen gleichen sich: zurückhaltende Informationspolitik der Behörden über den bevorstehenden Zuzug von Flüchtlingen, Vereinnahmungsstrategien der Rechten, gesteuerte Verbreitung von Hass und Hetze im Netz, wachsende Ängste der Bürger, Schweigen der Mitte, untaugliche Erklärungsversuche der Politiker und manchmal zweifelhafte Berichterstattung der Medien.

Wenn man versucht, die psychologischen Mechanismen und das Wachsen von Strukturen nachzuvollziehen, kann man dem Problem eines Extremismus aus der Mitte der Gesellschaft näherkommen: Wie ist dieser Hass in den Menschen entstanden? Wieso richtet er sich gegen die Schwachen und Fremden? Und vor allem: Wieso schweigt die sogenannte Mitte? Schweigt sie nur aus Desinteresse und Trägheit oder ist sie im Geiste bei den Fremdenfeinden? Wieso ist die AfD besonders im Osten so stark?

Meine Frau Susanna hatte Monate vor der Landtagswahl gesagt: »Wenn die Rechten hier 20 Prozent kriegen, müssen wir weg, dann kippt die Stimmung.« Nun war das Ergebnis sogar doppelt so hoch. So begann ein Ringen, ob wir tatsächlich aufgeben und wegziehen sollen, und daraus erwuchs ein existenzielles Fragen und Suchen nach den Ursachen, um die tatsächlichen und realistischen Gefahren einzuschätzen, die sich aus diesem Wahlausgang ergeben.

Wer sind die Menschen hinter diesen 40 Prozent? Wie viel wirkliche Ängste und Sorgen und wie viel echte Fremdenfeindlichkeit, Rassismus oder gar gefestigte rechte Grundüberzeugungen verbergen sich hinter dieser Zahl? Und wie kam es dazu?

Ich stamme aus dieser ehemals industrialisierten und dann schwer gebeutelten Gegend. Ich mag und bewundere meine Landsleute mit ihrem meist einfachen, aber von Herzen freundlichen und offenen Wesen, die tapfer, fleißig und ohne viel fassadenhaftes Gehabe ihren Alltag in einer sich ständig ändernden Welt meistern.

Was die Menschen in Tröglitz tief im Innern bewegt und beschäftigt, konnte ich in den vergangenen 20 Jahren ziemlich direkt erfahren und erleben, ich durfte in die Herzen der Menschen hineinblicken, als Seelsorger, Bauleiter, Trauerredner und Ortsbürgermeister. Für mich ergab sich die Frage, welche der mir bekannten Lebensgeschichten möglicherweise zu diesem unerwarteten Wahlverhalten gehörten.

Ich kannte viele der Menschen, die sich zu Beginn der Proteste gegen ein Asylheim von der NPD einfangen ließen und gemeinsam mit weiteren Rechten aus der Umgebung durch den Ort marschierten. Das tat weh, weil ich sehen musste, dass Menschen, mit denen ich eine gemeinsame Geschichte hatte, die mir ans Herz gewachsen waren, nun plötzlich im Geiste der Menschenfeindlichkeit mitmarschierten und mir dadurch fremd wurden. Sie demonstrierten gemeinsam mit Rechtsradikalen, um ihren Unwillen nicht nur über die aktuelle Politik auszudrücken, sondern zunehmend auch persönlich gegen mich und meine Familie. Schließlich gipfelte ihr Protest im Plan einer Kundgebung gemeinsam mit Neonazis vor unserem Privathaus.

Was uns aber den Boden unter den Füßen wegzog, war das Ausbleiben einer spürbaren Unterstützung aus dem Ort: das Schweigen der Mehrheit. Warum verhallten meine Aufrufe und Informationsschreiben ohne sichtbare, deutliche Reaktion? Wie fremd waren ich und meine Familie plötzlich mit unserem doch so anderen Denken und Handeln? Und wie viel Heimat blieb für uns noch übrig?

Dieses Ringen hat weit mehr als eineinhalb Jahre gedauert und in uns deutliche Spuren hinterlassen. Wir haben uns monatelang fragend vorwärtsgetastet und sind immer wieder von neuem Geschehen überrollt worden. Auf einige dieser für uns existenziellen Fragen haben wir Antworten gefunden, einiges entwickelt sich noch, sucht immer noch nach der richtigen Ausdrucksform und mag durchaus noch etwas unausgegoren klingen.

Die folgenden Beschreibungen der Ereignisse, die Erklärungen und Lösungsansätze sind von meiner Sicht als Mensch, als Christ und Theologe geprägt, und wenn ich mich dabei auch soziologischer oder psychologischer Ansätze bediene, dann nur, weil die theologische Sprache, nicht aber deren Inhalt, für viele Menschen lebens- und alltagsfremd geworden ist.

Dieses Buch ist keine Abrechnung, wir möchten keinen Menschen kränken, verletzen oder zu Unrecht beschuldigen. Aber um Verletzungen, die wir zuhauf davongetragen haben, zu verarbeiten und in einem geistlichen Prozess zu vergeben, muss das Geschehene noch einmal klar benannt werden. Vor der Heilung muss der Schmutz gründlich entfernt, müssen die Wunden gereinigt werden, auch wenn dies beiden Seiten noch einmal wehtut. Nur so kann wieder echter Frieden zwischen den Menschen entstehen. Nur so hat unser Ort eine Chance auf eine gute, friedliche Zukunft.

1Keine Auskunft

Fehlende Informationen über die Ankunft der Flüchtlinge verstärken die Sorgen der Bürger. Die Fremdenfeinde von NPD und AfD nutzen die Schwäche der Verantwortlichen aus.

Seit ein paar Wochen geistert das Gerücht durch den Ort: Asylbewerber werden kommen. Im November 2014 bestätigen es ein paar Kreisräte: Ja, Flüchtlinge sollen in Tröglitz untergebracht werden. Mehr Informationen gibt es nicht. Wann, wie viele, wohin genau? Behörden und Politiker schweigen. Der hauptamtliche Bürgermeister der Gemeinde Elsteraue, zu der Tröglitz gehört, weiß auch Ende des Monats lediglich, dass sich das Landratsamt im Ort nach leeren Wohnungen in Tröglitz umsieht. Doch manche Einwohner scheinen schon eingeweiht zu sein: »Da werden Schwarzafrikaner kommen, alleinstehende Männer!« Wer dieses Gerücht unter die Leute gebracht hat, bleibt unklar.

Einen Monat später tagt der Gemeinderat der Elsteraue. In dieser nichtöffentlichen Sitzung wird bestätigt, dass die Verwaltung des Burgenlandkreises 60 Flüchtlinge in Wohnungen in Tröglitz unterbringen will. Vertreter des Landratsamts sind gekommen und erklären, dass man zwei Wohnblöcke anmieten möchte und in Verhandlungen mit den Eigentümern steht. Ein Mitarbeiter einer Securityfirma soll für die 60 Asylbewerber abgestellt werden und rund um die Uhr für Sicherheit sorgen; auch ein Sozialarbeiter soll sich tagsüber um die Geflüchteten kümmern und deren Integration unterstützen. Weitere Informationen wird es erst in ein paar Monaten geben – nach dem dazugehörigen Kreistagsbeschluss, der Anfang März anberaumt ist. Denn der Landrat werde die Einwohner erst dann zu einem Informationsabend einladen, wenn alle Fakten beisammen sind.

»Das könnte aber knapp werden«, wende ich ein. Schließlich sollen die ersten Asylbewerber dann schon sehr kurz nach diesem Informationsabend kommen, es wird also kaum Zeit und Raum geben, um auf Vorschläge oder Bedenken von Tröglitzern einzugehen. Mit einer früheren Veranstaltung könnten Gerüchte und Ängste entkräftet werden. Mit Hinweisen auf den bisherigen Umgang mit dieser Problematik in anderen Gemeinden ging der Gemeinderat wohl im Glauben auseinander, dass der Zeitplan und das Vorgehen vernünftig und ausreichend seien.

Der Gemeindebürgermeister und die Gemeinderäte sehen es auch nicht als ihre Pflicht, die Tröglitzer zu informieren oder die Unterbringung vorzubereiten. Dass Fremde kommen werden, betrachten sie offenbar nicht als ihre Angelegenheit, die Unterbringung der Flüchtlinge ist schließlich »von oben« verordnet. Also sagen sie nichts, obwohl die meisten ahnen, dass das Empörung und Erregung im Ort hervorrufen wird. So bleibt der Plan bestehen, der Bevölkerung erst in mehreren Monaten reinen Wein einzuschenken. Aber Jörg Pampel, der für die NPD im Gemeinderat sitzt, schreibt eifrig mit.

Die Vermutung liegt nahe, dass jemand die Neuigkeiten nach der nichtöffentlichen Sitzung gezielt weitergegeben hat. Und so kommt es, dass bei der folgenden Demonstration Mitglieder der NPD den Einwohnern beweisen können, dass ihre Partei die einzige ist, welche die Ängste der Bevölkerung wahrnimmt und sie ohne Geheimniskrämerei ehrlich und offen informiert.

Dass das Landratsamt oder in anderen Fällen auch höhere Verwaltungen Informationen zurückhalten, die noch nicht hundertprozentig sicher sind, liegt wohl in dem Ziel einer selbstbestimmten Kommunikation. Der Landrat will selbst die Deutungs- und Informationshoheit behalten. Aber auch bei mir entsteht wieder einmal der Eindruck, die Politik verheimliche dem Volk möglichst lang ihre Pläne, um es dann vor vollendete Tatsachen zu stellen.

Die offenen Fragen der Einwohner sind meistens ganz konkret: Wie viele sind es wirklich? Werden noch mehr kommen? Wer kümmert sich um die Neuen? Wer erklärt ihnen, wie und wo man einkauft? Wer hilft bei Problemen kultureller oder religiöser Art? Kommen Übersetzer, wenn die Neuen nur ihre Landessprache sprechen? Ist dann die Praxis des Hausarztes noch voller? Und wie soll das in der Schule laufen? Über solche Fragen hätte sich auch der Bürgermeister informieren und die Antworten weitergeben müssen. Schließlich hatte der Landrat seine Pläne offenbart und der Bürgermeister nun die Pflicht, auf der lokalen Ebene »seine« Bevölkerung vorzubereiten.

Dass der Tröglitzer Fall so eskalierte, lag auch daran, dass sich zwischen mir als ehrenamtlichem Ortsbürgermeister und dem Landrat in der Kette der politischen Verantwortung gleich mehrere Glieder total ausgeklinkt haben. Warum sich der hauptamtliche Bürgermeister und der Gemeinderat auf das Verwalten beschränkten, kann ich mir nur so erklären, dass sie die politische Arbeit nicht als ihre Aufgabe ansehen oder dass ihnen das Thema Unterbringung von Flüchtlingen schlichtweg zu heiß war, weil sie sich nicht bei Teilen der Einwohner unbeliebt machen oder vielleicht sogar selbst keine Flüchtlinge aufnehmen wollten. Stattdessen entzogen sie sich ihrer politischen Verantwortung, die zu übernehmen sie gewählt waren.

Dass Flüchtlinge mit einer Quote dem Burgenlandkreis zugewiesen werden, war längst per Gesetz festgelegt, aber für die Entscheidung, sie dezentral unterzubringen, nahm der Landrat ganz bewusst die Kreistagsvertreter in die Pflicht, um eine große Transparenz und Mitbestimmung zu erreichen. In einem Telefonat erklärte er uns, dass es ihm wichtig ist, dass die Entscheidung von einer breiten Mehrheit der gewählten Vertreter mitgetragen wird, obwohl er das auch allein hätte entscheiden können.

Doch hat er nicht damit gerechnet, dass das Volk sich durch die gewählten Vertreter eben meist nicht mehr vertreten sieht. 2006 schlug sich das in einer rekordtiefen Wahlbeteiligung von 44,4 Prozent nieder, die erst bei der Landtagswahl 2016 wieder stieg, weil die AfD mehr als 100 000 Nichtwähler mobilisieren konnte. Wohl auch, weil sie ihnen das Gefühl gab, Dinge auszusprechen, die andere Politiker sich nicht zu sagen trauen.

Doch wenn die Einwohner keine Antworten auf ihre Fragen bekommen oder sie sich nicht erkundigen können, nährt das die eigentlich unbegründeten Sorgen. Die Bürger fühlen sich bevormundet und haben das Gefühl, dass »die da oben« ja sowieso machen, was sie wollen. Zudem können sie die Änderungen, die auf sie und ihr tägliches Leben zukommen, nicht einschätzen und befürchten daher, in ihrem Alltag gestört und benachteiligt zu werden.

NPD und AfD schaffen es immer wieder, diese Gefühle und Ängste für sich zu nutzen und zu verstärken. Durch ihre oft gezielt verdrehte Informationspolitik und propagandistische Stimmungsmache erreichen sie die Leute und vermitteln den Eindruck, nur NPD und AfD nähmen die Ängste der Bevölkerung wahr und seien ehrlich und offen zu ihr. Sie können sich so als Aufdecker inszenieren, welche die Wahrheit ans Licht bringen.

Doch wenn die Aufklärung über das Kommen der Fremden den Fremdenfeinden überlassen wird, weil sonst niemand informiert, führt das dazu, dass aus Befürchtungen, die mit konkreten Antworten hätten ausgeräumt werden können, eine tiefsitzende und künstlich aufgebauschte Angst vor den Fremden wird, dass sich aus dem Gefühl der Ohnmacht und dem Gefühl, keine Stimme zu haben, immer mehr Wut aufstaut, woraus sich Hass gegen die Fremden und gleichzeitig gegen die Etablierten »da oben« entwickelt.

Gerade in Gegenden, in denen es bisher kaum oder gar keine Fremden gab und daher auch keinen gewachsenen Umgang und keine Erfahrung mit ihnen, ist die Angst vor dem Unbekannten am größten, und mit ihr auch der Erfolg von fremdenfeindlichen Parteien. So ist praktische und konkrete Aufklärung hier am notwendigsten. Bei jeder Unterbringung von Flüchtlingen in größerem Stil darf die Politik vor Ort es daher nicht verpassen, die Bevölkerung schnellstmöglich und offen zu unterrichten.

Der Landrat räumte im Nachhinein bald ein, dass es ein entscheidender Fehler gewesen sei, das Informationstreffen so spät anberaumt zu haben. In anderen Ortschaften im Burgenlandkreis hat er danach früher über die Unterbringung informiert. Am Ende kam der Landrat auf 20 Informationsabende, an denen er versuchte, den Bürgern durch Informationen die Ängste zu nehmen; gleichzeitig stand er als Blitzableiter zur Verfügung, damit die Angst- und Frustrationsenergie nicht von der NPD ausgenutzt werden konnte. Das war eine gute und mutige Schlussfolgerung, auch wenn ein Teil der Einwohner wie in Bad Kösen enthemmt und lautstark gegen den Landrat oder die Polizeiführung pöbelte, um sie nicht zu Wort kommen zu lassen. Dort wollten Teile der Bevölkerung die Argumente und Informationen der zuständigen Behörden gar nicht mehr hören. Daher kann ich Bürgern in Orten, in denen Flüchtlinge aufgenommen werden sollen, vor allem raten, sich Verbündete zu suchen und Netzwerke zu gründen, in die auch bekannte und beliebte Personen des öffentlichen und sozialen Lebens eingebunden werden. Danach ist es wichtig, möglichst schnell mit möglichst breiter Front an die Öffentlichkeit zu gehen, um Raum zu gewinnen, bevor ihn die Rechten besetzen. Gerade die politisch Verantwortlichen sollten möglichst offen informieren, ohne zu spekulieren, das heißt alle vorhandenen Fakten offenlegen, Gerüchte schnell dementieren, weiterführendes Wissen zu Asyl und Flucht zur Verfügung stellen und Themenabende anbieten, an denen Menschen aus anderen Orten von ihren Erfahrungen berichten. Nur so kann verhindert werden, dass ein sich selbst überlassenes Gerücht von Menschen mit bösen Absichten missbraucht und so ein Ort mit seiner Gemeinschaft zerrüttet wird.

2Brief an verunsicherte Menschen

Ein Schreiben an die Bürger von Tröglitz soll die Debatte um die Flüchtlinge versachlichen und der NPD das Thema entreißen. Das Ergebnis ist ernüchternd.

Vor Weihnachten 2014 beschließe ich als Ortsbürgermeister, einen ausführlichen Brief an die Bürger zu schreiben und ihn im Blickpunkt, dem »Informations- und Heimatblatt der Gemeinde Elsteraue«, zu veröffentlichen. Sehr offen schildere ich meine eigenen Ängste und Bedenken, fordere die Tröglitzer aber dazu auf, die Vorurteile zu überwinden, den Flüchtlingen eine Chance zu geben, sich in deren Situation hineinzuversetzen und sie mit offenen Herzen zu empfangen. Nach einleitenden Gedanken zur Weihnachtszeit schrieb ich:

Es wurde jetzt vom Landrat bestätigt, dass der Burgenlandkreis in den nächsten Monaten etwa 50 Asylbewerber in leerstehenden Wohnungen in der Thälmannstraße in Tröglitz unterbringt. Von den ca. 170 000 Asylsuchenden, die allein schon in diesem Jahr nach Deutschland gekommen sind, werden 2,6 % (nach dem Königsteiner Schlüssel sind es am Ende 2,8 %, Anm. d. A.) in Sachsen-Anhalt (im Vergleich Nordrhein-Westfalen: 23 %) untergebracht, davon eben ca. 50 in Tröglitz (0,06 %). (Rechnerisch sind 50 Flüchtlinge sogar nur 0,03 Prozent, ich hatte mich beim Schreiben des Briefes verrechnet, Anm. d. A.)

Ich möchte Ihnen heute ganz offen schreiben, was diese Nachricht in mir und bei uns zu Hause ausgelöst hat, ich möchte Sie teilhaben lassen an unseren Gedanken und Ängsten, an unseren Wünschen und Einstellungen, an den inneren Konflikten und Hoffnungen und an unserem Ringen, Vernunft, Angst, Erfahrungen und Herz zusammenzubringen.

Dies ist für mich eine Nachricht, die automatisch alle möglichen Stimmen in mir wachruft und mir auch Angst macht …

Mir ist bewusst, dass ich mich damit heftiger Kritik aussetzen könnte, weil vermutlich nicht alles, was ich Ihnen jetzt schreibe, den Anspruch der »politischen« Korrektheit in sich trägt.

Aber ich habe mich entschlossen, Ihnen mein inneres Ringen zwischen meinen eigenen vielfältigen Erfahrungen, meinem Glaubensgrundsatz und meinem guten Leben in dieser modernen, offenen Welt aufzudecken, weil ich vermute, dass ich ein echter »Tröglitzer« bin und viele ähnliche Gedanken und Ängste teilen. Und, weil wir alle zusammen eben auch herausgefordert sein werden, mit dieser neuen Situation umzugehen und sie zu gestalten, damit wir nicht von ihr gelebt und überrumpelt werden oder uns ihr ohnmächtig ergeben müssen.

Ich traue mich, Ihnen von meinem Innersten zu erzählen, weil ich glaube, dass wir offen miteinander umgehen müssen, unsere Ängste nicht einfach nur runterschlucken und verschweigen können, unsere Ideale nicht verraten dürfen und uns von unseren Ängsten nicht regieren lassen sollen.

Ich bin überzeugt davon, dass die Aufgabe, vor die wir als Tröglitzer jetzt gestellt werden, nur gelingen kann, wenn wir diese Herausforderung mit all ihrem Für und Wider gemeinsam durchdenken, vorbereiten und angehen. Denn gemeinsam sind wir stärker, können wir auf unserem Weg aufeinander aufpassen, uns unterstützen und auch, wenn notwendig, leichter (er)tragen.

Mir ist deutlich geworden, dass ich mich sehr verbunden fühle mit Tröglitz und seinen Menschen und auch aus diesem Grund gern Ortsbürgermeister bin. Wir leben deshalb so gern in Tröglitz, weil wir die Menschen hier schätzen gelernt haben: ihre Geduld, ihre Herzlichkeit und Herzenswärme, ihre Freundlichkeit, ihre Ausdauer und ihr Durchhaltevermögen, ihr Mitgefühl und ihre Anteilnahme, ihre Kontaktfreudigkeit und Offenheit. Nein, bitte nicht lachen oder zweifeln, wir haben schon genug andere Gegenden in Deutschland und der Welt kennengelernt, hier ist all das uns wirklich begegnet.

Ich gebe zu, wir fühlen uns in dieser Situation auch ein wenig innerlich zerrissen und hören in uns sehr viel Für und Wider. Im Moment vergeht kein Tag, an dem meine Frau und ich nicht darüber reden oder dafür miteinander beten.

Eine der Stimmen in uns sagt: wir möchten eigentlich keine Asylanten hier in Tröglitz haben, weil wir die bisherige soziale Struktur schon durch einheimische Kriminelle und sich unsozial benehmende Menschen genügend überanstrengt sehen.

Wir ahnen, das wird Probleme geben. Tröglitz könnte mit ca. 50 Asylanten überfordert sein, weil wir keine gewachsene soziale Struktur und auch nicht die (schützende) Anonymität einer größeren Stadt wie Zeitz haben.

Es könnte sein, dass bei vielen unter uns Tröglitzern die Angst vor den Fremden in Herzenskälte und spürbare Ablehnung umschlägt.

Dann werden »Einheimische« und »Fremde« sich auf der Straße begegnen, man wird sich kritisch und misstrauisch beobachten und jeder wird vermutlich noch etwas mehr von seiner inneren Herzenswärme verlieren, Vorurteile und Wut konnten sich weiter breitmachen, weil jeder das Schlechteste vom anderen denkt. Und keiner ist mehr glücklich.

Es ist möglich, dass sich künftig auch in Tröglitz (politische) Kräfte mobilisieren, die diese Ängste weiter schüren und die Stimmung gegen die Fremden aufheizen, Hass und Neid groß machen, damit dann eine aufgewiegelte, gewaltbereite Masse die Flüchtlinge bedrohen und einschüchtern soll.

Eine menschliche Gesellschaft, die durch friedliche Revolution ihre Freiheit bekommen hat, darf dies nicht dulden. Denn Menschen, die in Wut- und Hasstiraden andere erniedrigen müssen und immer neidisch sind, fehlt eigentlich nur eines: aufrichtige Liebe und Anerkennung, weil sie selbst wohl als Kinder zu wenig Liebe und Aufmerksamkeit mitbekommen haben und nun um »Gerechtigkeit« für sich kämpfen.

Wie wir mag mancher Tröglitzer auch Angst davor haben, dass die Kriminalität zunimmt: dass die »Ausländer« dann auch klauen oder gar mit Drogen dealen, weil sie keine andere Perspektive sehen, weil das ihr einziges »Arbeitsangebot« ist, das ihnen »gemacht« wird. Dass sie, geprägt durch andere Werte und Normen und ein völlig anderes Weltbild, vielleicht mit unseren Töchtern und Frauen unanständig oder gar schändlich umgehen.

Und womöglich könnte es auch sein, dass wir vergessen und dann vieles, was bei Diebstahl und Verwüstung bisher wohl auf das Konto von einheimischen, meist drogensüchtigen Jugendlichen ging, dann zusätzlich den Asylanten angelastet wird. Wer wird dann unterscheiden, wie viel Prozent der Asylanten wirklich Straftaten begehen und wie viele einfach nur versuchen, sich gut zu benehmen, um eine Chance auf Asyl und ein besseres Leben in Deutschland zu haben?

Wenn ich darüber nachdenke, wird folgender Gedanke sehr, sehr laut: »Ich habe bereits genügend (eigene) Probleme und möchte, dass unsere Kinder in Ruhe und ohne unnötige Konflikte aufwachsen können.« Aber was können wir tun?

Spätestens dann, und besonders jetzt in der Weihnachtszeit, in der wir täglich wunderschöne, wahre und einsichtige Satze hören oder lesen, die uns vorbereiten sollen auf dieses friedliche, besinnliche Fest der Liebe, fängt dann die andere Stimme in uns an, zu reden, und ich denke: »Wenn ich, Markus, einer von diesen jungen Männern wäre und zu Hause einfach keine Perspektive habe, hätte ich dann nicht auch alles darangesetzt, als »Wirtschaftsflüchtling« in ein sicheres und reicheres Land zu kommen? So wie ich damals als 15-Jähriger am Ostseestrand stand, sehnsüchtig auf die hellen Lichter von Lübeck, »drüben im Westen«, guckte und von Freiheit und einem leichteren Leben träumte?«

Und die Stimme mahnt mich: »Markus, du darfst nicht von vornherein dein Herz dichtmachen und alle Asylbewerber in den »Wirtschaftsflüchtlings«-Topf werfen, weil darunter auch Flüchtlinge sein werden, die wir ja im Fernsehen gerade noch bemitleidet haben. Also Menschen, die offensichtlich über längere Zeit sogar fürchterlichen Ängsten und Lebensbedrohung ausgesetzt waren, die erlebt haben, wie einem ihrer Lieben Gewalt angetan wurde, und die ganz sicher nicht von zu Hause wegwollten, aber um ihr Leben und ihre Familie zu retten, einfach, ohne irgendetwas, fliehen mussten.

Mit welchem Recht darf ich diesen Leuten, gerade jetzt vorm Heiligen Abend, die Tür und mein Herz vor der Nase zuschlagen? Was verliere ich wirklich, wenn ich Flüchtlingen, die ohne eigene Schuld alles verloren haben oder eben auch den »Wirtschaftsflüchtlingen«, die die Armut nicht länger ertragen wollten und konnten, etwas von dem Vielen, was ich habe, abgebe? Auch an Zeit und Gastfreundschaft, so wie ich in fremden Ländern oft auch überraschend gastfreundlich in Familien empfangen wurde?«

Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es nicht mehr so viele Menschen, die vor Krieg und Terror fliehen müssen: über 50 Millionen sind es, die meisten davon wurden inzwischen von wirklich armen Ländern wie dem Libanon, Pakistan, Iran und der Türkei aufgenommen. 1,3 Millionen geflüchtete Syrer hungern derzeit in der blanken Wüste bei Minusgraden, weil die Geberländer das an die UNO zugesagte Geld nicht mehr zahlen. Keiner will sie. Ich eigentlich auch nicht. Aber sie sind einfach da.

Und dann redet unsere innere Stimme weiter und wir fangen an uns vorzustellen, dass es auch sein könnte, dass wir gemeinsam allen Mut zusammennehmen und alle Vorurteile zur Seite schieben und wir Tröglitzer den Asylanten und Flüchtlingen offen und freundlich begegnen.

Dass wir erst einmal zuhören, bevor wir »Nein« und »Hau ab« schreien, dass wir unseren Horizont erweitern und uns die Lebensgeschichten der »Neuen« anhören und unsere eigenen Geschichten erzählen und so ein wirkliches Kennenlernen und ein Austausch stattfindet und beide Seiten daraus vielleicht sogar etwas lernen. Wir haben zu Hause überlegt, was passieren kann, wenn wir Tröglitzer uns schon vor der Ankunft der Asylanten für einen Moment, in ihre Lage versuchen zu versetzen und uns versuchen vorzustellen, wie es ihnen wohl gehen mag?

Malen wir uns doch einmal aus, dass wir in diesem Bus sitzen und hier ankommen … was hättest du für Ängste, was für Hoffnungen, was für Kummer, was für Wunsche und Träume?

Was würde wohl geschehen, wenn wir Tröglitzer einfach, unserer Art nach, freundlich sind, damit unser schwächeres Gegenüber sich zu lächeln traut?

Könnte vielleicht Vertrauen auf beiden Seiten entstehen und ein friedliches, ja fröhliches Miteinander möglich sein? Das wüssten wir erst, wenn wir es ausprobieren würden …

Ich möchte Ihnen deutlich machen, dass ich hier nicht von »heile heile Multikulti« rede, daran glauben wohl nur noch Menschen, deren Wohnhäuser weit weg von Asylantenheimen stehen, wir nicht. Die Realität ist ja oft eine andere, leider auch unserer eigenen Erfahrung nach.

Es wird sicherlich unter den Asylanten auch die geben, die schon abgehärtete Herzen haben, nur an sich denken und Gesetze übertreten, so wie wir davon schon einige »geistesverwandte« Einheimische in Tröglitz haben, die auch lieber kriminell und unsozial den Tag begehen. Ja, es wird auch dort Unbelehrbare und vielleicht Radikale geben, denen klar die Grenzen aufgezeigt werden müssen, die sie möglicherweise dennoch überschreiten und vor denen wir dann geschützt werden müssen.

Aber wir wissen im Moment nicht, wer das ist, und wir müssten die »Neuen« erst einmal unvoreingenommen kennenlernen, um das einzuschätzen. Und das ist, wie immer bei »Beziehungen«, ein Wagnis, denn es birgt Enttäuschungspotenzial.

Aber ich denke dann, wenn z. B. meine Frau und ich, nach unseren ersten gescheiterten Ehen, so gedacht hätten und, weil es einmal völlig danebengegangen ist, uns immerfort geschützt und »zu« gemacht hätten und uns auf nichts Neues mehr hätten einlassen wollen, dann würden wir nicht an diesem schönen Ort so ein fröhliches und wundervolles Weihnachtsfest feiern, wie wir es seit sieben Jahren erleben dürfen und wir alle, meine Frau, meine Kinder und ich, wären definitiv erheblich ärmer!

Diese eigene, persönliche und sehr ermutigende Erfahrung, die mich in der Adventszeit immer besonders tief berührt und dankbar macht, bestärkt mich, Sie alle in dieser besonderen Jahreszeit um etwas Besonderes zu bitten: Liebe Tröglitzer, geben Sie »den Fremden« eine Chance, schon um unseretwillen, denn sonst verliert Tröglitz womöglich!

Wir können viel Kraft verwenden, uns dagegen zu wehren, können versuchen, die Gemeinde kämpfen zu lassen, aber das wird dauern und kaum Aussicht auf »Erfolg« haben. Fest steht, dass »die« dann schon längst da sein werden. Alle leerstehenden Wohnungen in der Elsteraue sind erfasst worden und da, wo es möglich wird, werden die Mietverträge unterschrieben, denn »sie« sind schon da, in unserem Land – und demnächst auch hier bei uns in Tröglitz.

Also, lassen Sie uns unseren Blick auf die Situation richten, dass wir alle, Tröglitzer wie Fremde, jetzt schon zusammen in EINEM Boot sitzen. Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, wie wir die Situation »entschärfen« können, was wir (auch schon vorher) dazu beitragen können, dass ein Leben in Tröglitz gut, friedlich und schön bleibt.

Ich hoffe, Sie wissen, wie sehr mir und meiner Familie Tröglitz und seine gute Gemeinschaft am Herzen liegt und wie wichtig es uns ist, dass sich möglichst viele Tröglitzer in unserem Ort wohlfühlen. Ich mochte unser Zusammenleben hier am Ort nicht in Streit, Hass und Verbitterung enden sehen und darum bitte ich Sie, sich zu überlegen, wo Sie persönlich sich trauen, die »Neuen« kennenzulernen, was Sie sich vorstellen oder umsetzen können.

Erste Ideen sind schon gesammelt worden und so suchen wir ca. 30 Paten, es dürfen auch gern mehr sein, die sich jeweils für eine Wohneinheit von 2 Personen zuständig fühlen, den Kontakt suchen und von Ihren Erfahrungen in gemeinsamen Treffen erzählen.

Dann kann dort zusammen überlegt werden, ob einzelne Asylanten hier und dort vielleicht auch in Vereinen und Gruppen Anschluss finden oder mitmachen können. Vielleicht gibt es auch ein paar Leute, die ihr Englisch und/oder Französisch wieder ein wenig auffrischen mögen, dann hatten Sie hier eine gute Gelegenheit, sich auszuprobieren!

Wir würden uns auch freuen, wenn jemand unter Ihnen Vorschläge hätte, wie wir unsere »Neuen« ganz konkret begrüßen und willkommen heißen könnten … vielleicht könnten wir auch gemeinsam im Frühjahr unser neues Miteinander »einweihen« und zusammen feiern? Das tun wir Tröglitzer doch so gern!

Und selbstverständlich werden der Ortschaftsrat und ich uns auch ihre Bedenken anhören und wollen mit Ihnen im Gespräch darüber sein.

Ich hoffe von Herzen, dass wir uns gemeinsam dieser Herausforderung stellen, damit das Leben in unserem Ort gut bleibt und wir nicht nur in der Weihnachtszeit, sondern weit darüber hinaus, ein Stück weit zeigen können, wie viel Herz Tröglitz hat, weil es (auf beiden Seiten) um Menschen mit ängstlichen Herzen geht, die in der kommenden Zeit an (unsere) Herzenstüren klopfen.

Ihr/e Markus und Susanna Nierth

Mit diesem Brief wollte ich den verunsicherten Menschen sagen, dass es wichtig sei, sich die eigenen Befürchtungen bewusst zu machen, um sie überwinden zu können. Vor allem wollte ich an die Hilfsbereitschaft und Gutmütigkeit appellieren, die ich bisher bei vielen Menschen erlebt hatte. Das erschien mir wichtig.

Viele der verängstigten, sorgenvollen Einwohner sind meiner Bitte gefolgt, nicht der NPD nachzulaufen, sondern abzuwarten und dem Landrat zu vertrauen. Dutzende Menschen sagten mir in den folgenden Wochen, dass dieser Brief ihnen sehr geholfen habe, er habe ihnen aus dem Herzen gesprochen. Weil alles offen angesprochen war, was die Menschen beschäftigte, alle Gedanken und Gefühle, all das Für und Wider, hat sich ein Großteil der Bevölkerung beruhigen lassen. Vor allem fühlten sie sich ernst genommen. Es gab deutlichen Zuspruch, Anrufe und erste Angebote zur Mithilfe von Einwohnern, die auch tatkräftig anpackten, als die ersten Flüchtlinge dezentral untergebracht wurden.

Aber es gab auch diejenigen, die sich wunderten, dass ich mich so nachdrücklich für die Flüchtlinge einsetzte, obwohl ich in dem Brief doch geschrieben hatte, keine Fremden im Ort zu wollen. Offenbar hatten sie den Brief nicht bis zum Ende gelesen oder bewusst falsch verstanden. Sie hatten nur das wahrgenommen, was sie hören wollten.