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Dieses Buch ist das erste und vorerst einzige umfassende theoretische und praktische Werk über die Tradition des brasilianischen Candomblés. Auf knapp 900 Seiten werden die Konzepte, die Organisation, die Mythologie, die Rituale, die Begriffe dieser Jahrhunderte alten mystischen und magischen Tradition erörtert. Ein Buch für alle, die sich für die Traditionen der brasilianischen Candomblé und Umbanda, sowie auch der kubanischen Santeria und Palo interessieren. Das Buch wendet sich zudem an diejenigen, die sich in der Praxis mit diesen Traditionen beschäftigen und konkrete Hinweise für die traditionskonforme rituelle Umsetzung in Europa suchen.
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Seitenzahl: 1459
Veröffentlichungsjahr: 2021
BRASILIANISCHERCANDOMBLÉ
Prinzipien, Organisation, Rituale undBegriffe des brasilianischenCandomblés
Copyright: © 2021: Tilo Plöger
Umschlag: Erik Kinting
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
978-3-347-26368-0 (Paperback)
978-3-347-26369-7 (Hardcover)
978-3-347-26370-3 (e-Book)
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
DEFINITION UND GESCHICHTE
DEFINITION
DIE ENTSTEHUNG DER YORUBISCHEN TRADITION VON IFÁ
GESCHICHTLICHE UND KULTURELLE HINTERGRÜNDE VON YORUBALAND
DIE VORPHASEN DES CANDOMBLÉS
DIE ENTSTEHUNG DES CANDOMBLÉS IM ENGEREN SINN
DIE ANERKENNUNG ALS TRADITION UND RELIGION
DER SYNKRETISMUS
DIE NATIONEN DES CANDOMBLÉS
DREI PHASEN DER ENTWICKLUNG
DIE ENTSTEHUNG DER TERREIROS
EXKURS: DER BEGRIFF „YORUBÁ“
DER TERREIRO
DER AXÉ
TERREIRO – CASA DE CANDOMBLÉ – ILE AXÉ
DIE CUMEEIRA AUF DEM TERREIRO
DAS VERHALTEN DER MITGLIEDER IM CANDOMBLÉ
DIE BEZIEHUNGSZUSAMMENHÄNGE AUF EINEM TERREIRO
DIE FORMEN DER BEGRÜßUNG
DIE KLEIDERORDNUNG
NACKTE FÜßE
DIE FIOS DE CONTA
EINWEIHUNG, TRANCE, INKORPORATIONEN
DIE EINWEIHUNG
ORGANISATION IM CANDOMBLÉ
DIE PRINZIPIEN DER HIERARCHIE
DIE CUIA
DIE ÄMTER
DIE BABALORIXÁS UND DIE IYALORIXÁS
DIE BABALOSSÂINS
DIE ALABÁS
DIE BABALAÔS
DIE OLUÔS
DIE OGÃS
DIE EKEDIS
DIE EBÔMIS
EINWEIHUNG
DIE WEIHE
DIE ABIÃS
DER YAÔ UND DIE EINWEIHUNG
DIE ORIXÁS UND DER MENSCH
EINLEITUNG
DIE IRUNMONLÉS
DIE QUALITÄTEN VON ORIXÁS
DIE „CORTE DE ORIXÁS“
DER ORIXÁ DE AMPARO.
DER ORIXÁ DO ORI
DER ORIXÁ DO ADJUNTÓ
DER ORIXÁ DO ETÁ
DER ORIXÁ DE HERANÇA
DIE ORIXÁS DER EINWEIHUNG
DER ORI
DIE BEDEUTUNG DES ORIS
DIE ASPEKTE DES ORIS
DIE GEISTIGE FÜHRUNG DES MENSCHEN
DIE STRUKTUR UND VERBINDUNGEN DES ORIS
DER ORI UND DIE BESTIMMUNG
ORIS BEZIEHUNGEN ZU DEN KÖRPERTEILEN
DER INDIVIDUELLE UND DER KOLLEKTIVE ORI
DER ORI IN DISBALANCE
DIE PFLEGE DES ORIS
DIE MYTHOLOGIE DES ORIS
GESÄNGE UND GEBETE FÜR DEN ORI
DIE EBÓS
EINLEITUNG
EINIGE FORMEN VON EBÓS
DIE EBÓS BEI DER EINWEIHUNG
BEISPIELHAFTE EBÓS AUS DEM MERINDILOGUN
IGBÁ – DIE HEILIGEN SCHREINE
EINFÜHRUNG
DIE VERSCHIEDENEN SCHREINE IM CANDOMBLÉ
DIE SCHREINE AUF EINEM TERREIRO
DIE SCHREINE DER ORIXÁS
DER YAÔ UND DIE EINWEIHUNG
EINLEITUNG
RAHMENBEDINGUNGEN FÜR DIE KLAUSURPHASE
DER IGBÁ
DER RONDÊMI, ARIAXÉ ODER RONCÓ
DIE WEIßE KLEIDUNG
DIE MATTE AUS PALMENBLÄTTERN
DIE XAORÔ, CONTRA-EGUM, UMBIGUEIRA UND MOKÁN
DER INHÃ, ILEQUÊ
REGELN UND VERBOTE
DER BOLONÃ, ODAÊ ODER ADARRUM
DAS RITUAL DES RASIERENS DES KOPFES
DIE CURAS BZW. DIE INCISÕES
DIE TIEROPFER BEI DER EINWEIHUNG
DIE IMOLAÇÃO UND SUNDIDÉ
DIE ROLLE DER PERLHÜHNER
DIE ROLLE DER TAUBE
DIE ROLLE DES CHAMÄLEONS
DIE ROLLE DER GROßEN SCHNECKE
DIE ROLLE WEITERER TIERE
DIE SASSANHA
DER QUELÊ
DER SARAPOCÃ
DER ICODIDÉ
DIE BEMALUNG DES YAÔS
DIE DREI FARBEN DES CANDOMBLÉS
DER OXU
DER IKOMOJADÈ
DER ORUNKÓ
DER ORUPÍ
DER PANÃ
DIE „FAMILIÄREN“ VERHÄLTNISSE AUF EINEM TERREIRO
DAS ERBITTEN VON SEGEN
EIN PAAR ERGÄNZUNGEN
DIE KÜCHE UND DIE LEBENSMITTEL
EINFÜHRUNG
DER AJEUM
DER ADIMU
DEN ORIXÁS SPEISEN GEBEN
DIE ÜBERGABE DER OPFER AN DIE ORIXÁS
DIE BEHÄLTER DER SPEISEN
EPÔ PUPÁ – DAS ROTE PALMÖL
EPÔ FUNFUN – OLIVENÖL
ADIM – DAS WEIßE ÖL
OYÍN – DER HONIG
OWIKI – DER ZUCKER
IYÓ – DAS SALZ
OMI – DAS WASSER
DIE ALKOHOLISCHEN GETRÄNKE
DIE PIMENTA-DA-COSTA
DIE SPEISEN DER ORIXÁS
BASISREZEPTUREN FÜR DIE SPEISEN DER ORIXÁS
WICHTIGE SYMBOLE DES CANDOMBLÉS
DER EBÔ
DER ACAÇÁ
DAS EI
DER OBI
DER OROBÔ
DER ATIM
DIE COWRIES (BÚZIOS)
DIE PALHA DA COSTA (RAFFIA STROH)
DER MARIÔ (BLÄTTER DER PALME DES PALMÖLS
DIE MATTE (ESTEIRA)
DIE SEIFE (SABÃO-DA-COSTA)
DIE BAUMWOLLE
DIE KERZEN
DER STEIN OKUTÁ (OTÁ)
DIE QUARTINHA
EMÍ – DER ATEM
VERSE, GEBETE, GESÄNGE, BEGRÜSSUNGEN
DER ORÍM
DIE ORIQUÍS
DIE ADURÁS
DER OFÓ
DER ORÔ
DIE ITÃS (ITAN)
DER KÉ
DER FORIBALÉ (BATER CABEÇA)
DER DOBALE UND DER ICÁ
DER PAÓ
VERBOTE UND UNVERTRÄGLICHKEITEN
DIE QUIZILA (EWÓ)
DIE XIMBA
REINIGUNGSRITUALE
DER OSSÉ
DER ABÔ
DER OMIERO
DIE SASANHA
AMULETTE
BESONDERE PERSONEN IM CANDOMBLÉ
DIE ABIKUS
DIE ABIALÁS
DIE ABIAXÉS
DIE SALACÓS
DIE XEREGUNS
DIE XERODUS
KLEIDUNG UND GEWÄNDER
DER PANO-DA-COSTA
DIE CAMISU
DER CALÇOLÃO
DER OJÁ
DER SINGUÊ
DIE BATA
DER ALACÁ
DIE FIOS-DE-CONTA
KULTE IM CANDOMBLÉ
DER KULT DER UMBANDA
DER KULT DER GELEDÊ
DER KULT DER EGUNGUN
DER KULT DER OGBONI
DER KULT DER ELECÓ
DER KULT DER OXÔS
MUSIK UND INSTRUMENTE
EINLEITUNG
DER ADJÁ
DER AGOGÔ ODER GÃ
DER AGUIDAVÍ
DER ASSANGUÊ
DER OGUÊ
DIE ATABAQUES
DER BATÁ
DER BABALAJÁ
DER CALACOLÔ
DER CAXIXI
DER XEQUERÉ
DER XÉRE
OGAN SUSPENSO & CONFIRMADO
DIE RHYTHMEN UND TÄNZE
BOLAR VS. BOLONAN
ADOXU VS. OXU
DER XIRÊ
RITUELLE INSTRUMENTE UND SYMBOLE
DER ABEBÉ
DER ALÁ
DER ATORÍ
DER BILALA
DER BRAJÁ
DER HELM
DER IBIRÍ
DER IRUEXIM
DER IRUQUERÊ
DER OFÁ
DER OGÓ
DER OPAXORÔ
DER OXÊ
DER PILÃO UND DIE MÃO-DE-PILÃO
DAS SCHWERT
DER TACARÁ
DER XAXARÁ
HEILIGE BÄUME
DER APAOCÁ
DER ACOCÔ
DER IROKO
DER DENDEZEIRO
DER OBÓ
HEILIGE VÖGEL
IKODIDÉ
AGBÉ
ALUKÓ
LEKE LEKE
MYTHEN
AXAWO
IGUN
APARÓ
OWIWI
AWODI
MYTHOLOGIE – DIE ENTSTEHUNG DER WELT
DIE ENTSTEHUNG DES UNIVERSUMS
DER ENTSTEHUNG DER MATERIELLEN WELT
DER MENSCH ZWISCHEN GEISTIGER UND MATERIELLER WELT
DIE ODUS
EINLEITUNG
DIE GRUNDLAGE DER ORAKEL
DIE MYTHOLOGISCHE ENTSTEHUNG DES MERINDILOGUN
ABGRENZUNG
DIE ÜBERSICHT DER ODUS
OGBE
OYEKU
IWORI
ODI
IROSUN
OWONRIN
OBARA
OKANRAN
OGUNDA
OSA
IKA
OTURUPON
OTURA
IRETE
OSE
OFUN
DIE ORIXÁS UND WEITERE GOTTHEITEN
EINLEITUNG
EUÁ (IYEWA)
EXÚ
IANSÃ – OYÁ
IBEJI
LOGUNEDÉ
NANÃ
OBÁ
OGUM
OMOLU – OBALUAIYÊ
OSSAIM
OXALÁ
OXÓSSI
OXUM
OXUMARÉ
XANGÔ
YEMANJÁ
WEITERE ORIXÁS UND GEISTIGE WESEN
ODUDUA
AGBONI
BROSIA
BROMU
OLORUM
IROKO
OKO
ERÊ
ONILÉ
ERINLÉ
ORUNMILÁ – IFÁ
BABÁ OLOKUM
OSUN
ODÉ
IKU
IYAMÍ OXORONGÁ
BABÁ EGUN
DIE WOCHE AUF EINEM TERREIRO
AUFTEILUNG DER WOCHE
WOCHENTAGE UND ZUGEORDNETE ORIXÁS
JÄHRLICHER FESTTAGSKALENDER
DIE RITUALE
VOR DEN FEIERLICHKEITEN
BEGINN DER FEIERLICHKEITEN
EBÓ UND SACUDIMENTO
OBI D’ÁGUA
REFORÇO DE ORI
DER BORI
BORI EJÉ – BORI DES BLUTES
ONJÉ DUNDUN – COMER DOCE
BORI DE SAÚDE – BORI ERAN
BORI DE EQUILÍBRIO – BORI DES GLEICHGEWICHTES
EINWEIHUNG
IPADÊ
AXEXÊ
DIE GROSSEN FESTE
RODA (FOGUEIRA) DE XANGÔ
ÁGUAS DE OSHALÁ
IPETÊ (BALAIO) DE OSHUM
FESTA DE YEMANJÁ
OLUBAJÉ
BIBLIOGRAPHISCHEN ANGABEN
EINLEITUNG
Das vorliegende Buch ist das erste umfassende Werk über den brasilianischen Candomblé. Es ist ein Buch zum Nachschlagen, zum Vertiefen und für die praktische Anwendung. Sinnvoll für alle, die mit dem brasilianischen Candomblé, der kubanischen Santeria, sowie den an diese angelehnten Umbanda und Palo arbeiten. Das Buch ist nicht als wissenschaftliche Arbeit gedacht und erhebt keinen Anspruch auf Richtigkeit, Vollständigkeit. Es ist eine Mischung aus einer Zusammenfassung umfangreicher Recherchen, persönlichen Erfahrungen im Austausch mit erfahrenen Anhängern und geistigen Führern dieser Traditionen sowie persönlicher Ansicht. Es ist als ein Rahmen gedacht für all jene, die die Tradition besser verstehen möchten, die vielleicht in der einen oder anderen Weise selbst damit in Berührung kommen und diese praktizieren.
Vor 500 Jahren gelangten die Wurzeln dieser Traditionen über den Sklavenhandel auf die neuen Kontinente, insbesondere in Brasilien und Kuba. Diese 3.000-5.000 Jahre alte Kultur aus dem afrikanischen Gebiet des heutigen Nigeria, Benins, etc. passte sich über die Jahrhunderte der neuen Umgebung an – sie erhielt eine neue Form, neue Inhalte, angepasste Rituale und Sprache. Dabei verlor sie nie ihre Essenz und es ist erstaunlich, wie gut der Kern erhalten wurde. Die Wurzeln dieser Traditionen liegen in Afrika und diese wiederum vermutlich im sehr alten Ägypten mit späteren arabischen Einflüssen – auch damals über die Route der Sklaven in die „tieferen“ Gebiete Afrikas getragen und dort neu verortet. Candomblé und Santeria sind heute eigenständige Traditionen mit afrikanischen Wurzeln, und es der neuzeitliche Versuch diese Traditionen wieder zu „afrikanisieren“ erscheinen mir sinnlos. Denn ihre Stärke besteht gerade darin, dass sie sich weiterentwickelte und sich dabei in vielen Dimensionen den indianischen und europäischen Traditionen bediente.
Die Globalisierung der Lebensräume führt derzeit dazu, dass sich überall Anhänger, Interessierte, Praktizierende der afrobrasilianischen und afrokubanischen Traditionen des Candomblés, der Umbanda, der Santeria und des Palos wiederfinden. Auch im deutschsprachigen Raum etablieren sich diverse „Arbeitsgruppen“, die auf das Wissen dieser Kulturen zurückgreifen. Gleichzeitig für die Globalisierung der Information dazu, dass sich der regionale Candomblé gerade weiterentwickelt, denn die für diese Tradition typischen Gruppen beginnen sich verstärkt mit ihrer Geschichte auseinander zu setzen. Der Austausch mit Afrika und Kuba führt dazu, dass sich diese drei regionalen Ausdrucksweisen einer gemeinsamen spirituellen Basis neu vermischen.
Auch im deutschsprachigen Raum werden sich mittelfristig eigenständige Ausprägungen dieser Traditionen entwickeln. Dieser evolutionäre, von innen heraus sich entwickelnde Ansatz ist diesen Traditionen immanent. In Afrika waren es mehr oder weniger freie Städte oder stammesartige Strukturen, in Kuba und Brasilien sind es voneinander unabhängige Gruppen, die sich von Generation zu Generation weiterentwickeln. Die Grundlage dieser Entwicklung ist das Wissen um die Wurzeln der Tradition sowie die Assimilation der neuen lokalen Gegebenheiten. In Brasilien und Kuba wurden die Sklaven bewusst vermischt, das heißt Familien und regionale Wurzeln wurden bewusst auseinandergerissen und neu zugeordnet, um auf den Feldern das Risiko von Widerständen zu reduzieren. Die unterschiedlichen Kulturen mussten sich also vor Ort jeweils neu strukturieren und sich auf einen gemeinsamen Nenner einigen. Zudem mussten viele Rituale angepasst werden, weil es naturgemäß an den Rohstoffen mangelte. Hier kamen den Afrikanern das umfangreiche indigene Wissen zugute. Auch der Synkretismus spielte aus der Not heraus eine herausragende Rolle, denn die Kulte mussten über Jahrhunderte im Verborgenen durchgeführt werden. So entstand irgendwann eine Parallelwelt der Bezeichnungen – die Orishás, die Rituale, usw. erhielten teilweise christliche Bezeichnungen, um den Anschein zu erwecken, dass die Missionierung Erfolg zeige.
Die Entwicklung des Candomblés sowie der anderen afro-brasilianischen und afro-kubanischen Traditionen in Europa folgt einem ähnlichen Muster. Zwar müssen diese Kulte hier nicht verheimlicht werden, doch sie müssen der Kultur und den Gegebenheiten angepasst werden. Die Pflanzenwelt, das große Thema der Tieropfer, die räumlichen Anforderungen, die sprachliche Übersetzung muss überdacht und vorsichtig angepasst werden.
Bei diesem Prozess hat Europa und im speziellen der deutschsprachige Raum einen großen Vorteil und einen großen Nachteil. Der Vorteil: Völlige Freiheit der Ausübung, der Informationsbeschaffung, der Ausgestaltung, des Austausches. Der Nachteil: Der Mangel an Wissenszugang.
Candomblé ist eine sehr komplexe Tradition – sowohl in der Mythologie wie auch in der rituellen Praxis. Und jenseits wenig hilfreicher historischer Darstellungen und Dissertationen sowie Studien von Menschen, die sich nur wenige Monate in einer Gruppe aufgehalten haben und wenig Erfahrung mitbringen, gibt es kaum etwas, worauf man sich stützen könnte. Denn die Traditionen waren stets eine Tradition einer bildungsarmen Bevölkerung, verbunden mit den Prinzipien der zu verbergenden Mysterien und einer vollkommen auf orale Weitergabe von Wissen um Philosophie und Praxis ausgelegte Kultur. Es existieren also de facto selbst in den Ausgangssprachen kaum umfassende Werke über die Tradition. Und die wenigen wirklich guten Werke sind teilweise sprachlich schwer zugänglich, denn sie sind gespickt mit Fachwörtern und diese häufig in einem modifizierten Yorubisch, Indianisch, Altkubanisch, usw.
Um Candomblé und Santeria wirklich zu verstehen und zu kennen braucht man vermutlich Jahre und Jahrzehnte. Erst recht, wenn alles Wissen über Mitwirken und Erzählung vermittelt wird. Dies erschwert es enorm, die Traditionen in Europa zu vermitteln und umzusetzen. Vor diesem Hintergrund habe ich mich dieses Themas angenommen und dieses Buch konzipiert. Es ist explizit nicht als Handlungsanweisung oder Kochbuch gedacht und geeignet. Es ist auch keineswegs fehlerfrei und vollständig, denn auch ich musste viele Quellen interpretieren, auslegen, verkürzen, auswählen, und mich auf eine Mischung von glaubwürdigen Quellen, persönlicher Erfahrung und gesundem Menschenverstand verlassen. So gesehen ist das Buch also eher eine „zusammenfassende, systematisierende Quelle“ für das persönliche Verständnis und ggf. für die individuelle Umsetzung.
Wie bei allen Traditionen, die Raum und Zeit unterliegen, gibt es nicht den Candomblé, die Santeria, die Umbanda, den Palo. Es existieren sehr viele Inkonsistenzen, unterschiedliche Auslegungen von Ritualen und Mythen, usw. Dies ist aber nicht notwendigerweise ein so großes Problem. Denn es ist ohnehin das Verständnis dieser Traditionen, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt. Was aber in diesen Traditionen sehr tief verankert ist, das ist die Vorstellung, dass alles eine Bedeutung hat – jeder Handgriff, jedes Instrument, jedes Wort. Wirklich alles hat im Candomblé eine Bedeutung, nichts ist zufällig oder beliebig. Und alles wird auf die Mythologie und die Grundsätze der Natur und der spirituellen Entwicklung zurückgeführt.
Es heißt im Candomblé, das Wichtigste sei der Akt, also das Tun mit einer entsprechenden verbundenen Absicht. So sollten man sich also auch diesem Buch nähern. Die Darstellungen und gelegentlichen „Anleitungen“ sind allgemeine Rahmen, die dem Verständnis der Hintergründe und Prinzipien dienen. Rituale sind im Candomblé sowie der Santeria heilige Akte mit hoher magischer Wirkung. Einweihungen, der Aufbau von Schreinen, usw. sind alles andere als reine Formsache. Sie haben eine sehr große Kraft und müssen deswegen sehr akribisch umgesetzt werden. Der Mensch in der Rolle des geistigen Führers von Ritualen muss also genau wissen, was er wann, weshalb, warum, für wen tut. Kennt er die Prinzipien der Rituale und aller Instrumente, kann er sie auch vorsichtig den Notwendigkeiten und Gegebenheiten anpassen. So also dienen die sehr vereinfachten Anleitungen eines Schreines sowie der teilweise detaillierten Beispiele bei einzelnen Qualitäten von Orixás lediglich als Musterbeispiele und Rahmen für das Verständnis, was ein Schrein überhaupt ist und wie er in gewissen Traditionen umgesetzt wird. Der Versuch aus einem Rahmen oder Beispiel eine standardisierte Vorlage zu machen muss scheitern. Diese Traditionen funktionieren nicht nach Rezeptbuch, doch sie haben eine strenge innere Ordnung und folgen in sich schlüssigen Konzepten.
Dieses Buch ersetzt nicht Erfahrung – in den jeweiligen Traditionen und in der persönlichen spirituellen Entwicklung. Insofern ist ein über das Buch hinausgehender Austausch mit erfahrenen Candomblecistas, Santeros, Umbandistas, Paleiros, etc. unbedingt zu empfehlen.
Abschließend noch ein Kommentar zu den Quellen und zu den Schreibweisen. Ich verzichte auf allzu detaillierte Quellenhinweise. Weil sie das Buch unlesbar machen würden und weil dies Großteils nicht machbar ist. Viele Quellen sind einfach nicht mehr zuzuordnen, weil sich eine auf die andere bezieht und leicht anpasst. Im Anhang sind aber die wesentlichen Quellen genannt. Auch werden innerhalb der Ausführungen relevante Quellen bei Übersetzungen genannt.
Insbesondere bei den Qualitäten der Orixás stützt sich das Buch auf kubanische Quellen. Hier ist zu beachten, dass die Tradition der Santeria vielfach sehr dem Candomblé ähnelt. Doch sie ist in der rituellen Umsetzung an vielen Stellen auch sehr unterschiedlich. Bei der Aufstellung der Schreine ähneln sich beispielsweise die Grundprinzipien sehr, doch die konkrete Umsetzung als Schrein sowie innerhalb eines Ablaufes des Rituals ist sehr unterschiedlich. Ich habe dennoch immer mal wieder konkretere Beispiele übernommen, um den Charakter zu beschreiben. Bei einer Umsetzung innerhalb des Candomblés muss alles im Detail entsprechend angepasst werden.
Bei den Schreibweisen und Sprachen habe ich mich für ein Kolorit entschieden aus den diversen Sprachen und Schreibweisen. Dies mag auf den ersten Blick das Lesen erschweren, auf der anderen Seite besteht bei Übersetzungen aus dem Yoruba oder den regionalen Sprachen (Brasilien, Kuba) das Risiko von Fehldeutungen. Und für Leser, die dieser Sprachen mächtig sind, erleichtern die diversen Ausdrucksformen die spätere eigene Recherche mit den manchmal nicht einfachen Zuordnungen von Begriffen. Soweit möglich wurden spanische und yorubische Begriffe erläutert. Vor allem bei der Erläuterung einzelner Elemente der Rituale und Schreine wurden sie jedoch teilweise in der Originalsprache belassen, um wesentliche Begriffe nicht zu verfälschen, denn sie haben häufig im Candomblé oder der Santeria eine sehr genaue Bedeutung, die eine leichtfertige Übersetzung nicht wiedergibt. Einschlägige Wörterbücher dieser Traditionen können da im Zweifel und bei Bedarf weiterhelfen. Für die Mehrheit der Leser ist das ohnehin eher von allgemeinem und weniger von rituellem Interesse.
Dieses Buch ist als Standardwerk des Candomblés gedacht und wird laufend ausgebessert und ergänzt. Weiterführende Bücher zu Spezialthemen sind auf dem Markt und werden noch erscheinen. Auszüge sind auch auf der Webseite www.candomblé.com einsehbar. Eine Kollektion zu den hier nur kurz angerissenen 10.000 Versen von Ifá ist in Planung.
Tilo Plöger im Frühjahr 2021