Brasilien - Ursula Prutsch - E-Book

Brasilien E-Book

Ursula Prutsch

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Beschreibung

Brasilien: 500 Jahre komplexe und spannende Kulturgeschichte. Fußball, Copacabana, Karneval, Favelas, Amazonas - was steckt hinter den üblichen Bildern? Die Geschichte Brasiliens ist viel umfassender - von der portugiesischen Kolonialherrschaft bis zur aufstrebenden Großmacht. Der Band liefert erstmals eine umfassende Kulturgeschichte des vielfältigen Landes, das seit 200 Jahren eine Sonderstellung beansprucht. Er hinterfragt offizielle Erzählungen und bietet ungeschönte Einblicke. Sie zeigen eine Gesellschaft mit vielen Widersprüchen, die Ordnung und Fortschritt auf ihre Staatsflagge geschrieben hat.

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Seitenzahl: 407

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Brasilien: 500 Jahre komplexe und spannende Kulturgeschichte. Fußball, Copacabana, Karneval, Favelas, Amazonas – was steckt hinter den üblichen Bildern? Die Geschichte Brasiliens ist viel umfassender – von der portugiesischen Kolonialherrschaft bis zur aufstrebenden Großmacht. Der Band liefert erstmals eine umfassende Kulturgeschichte des vielfältigen Landes, das seit 200 Jahren eine Sonderstellung beansprucht. Er hinterfragt offizielle Erzählungen und bietet ungeschönte Einblicke. Sie zeigen eine Gesellschaft mit vielen Widersprüchen, die Ordnung und Fortschritt auf ihre Staatsflagge geschrieben hat.

Ursula Prutsch (Prof. Dr.) lehrt Geschichte Lateinamerikas und der USA an der Universität München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Brasilien und Argentinien.

WWW: Prutsch

Enrique Rodrigues-Moura (Prof. Dr.) lehrt am Institut für Romanistik der Universität Bamberg und forscht im Bereich der iberoromanischen transatlantischen Beziehungen.

WWW: Rodrigues-Moura

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook transcript Verlag, Bielefeld 2013

© transcript Verlag, Bielefeld 2013

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Covergestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Coverabbildung: Ursula Prutsch: Mulheres na orla de Copacabana (bearbeitete Digitalfotografie). Rio de Janeiro, 2009.

Lektorat: Ursula Prutsch, Enrique Rodrigues-Moura

Konvertierung: Michael Rauscher, Bielefeld

ePUB-ISBN: 978-3-7328-2391-8

http://www.transcript-verlag.de

Ursula Prutsch, Enrique Rodrigues-Moura

Brasilien

Eine Kulturgeschichte

Inhalt

Vom Stolz auf das Vaterland und von tiefer Traurigkeit – Vorwort

Entdeckungen – Brasil-Holz und Edle Wilde

Wahrhaftige Historien von Kannibalen

Hugenotten und Holländer im Garten Eden

Zuckerwelten, Sklaven und Jesuiten

Salvador, das »schwarze Rom« und der Quilombo von Palmares

Gold und Barock in Minas Gerais

Revolten gegen die ferne Königsmacht: Jesuiten und Tiradentes

Der König in seinem Exil – Versailles in den Tropen

Die österreichisch-bayerische Brasilienexpedition

Neue Heimaten: Europäer gegen Indigene

Der Kaffeeboom: Einwanderer als Sklavenersatz

Zwischen Rio, Philadelphia und Karlsbad: Dom Pedro II.

Der Paraguaykrieg und die Suche nach Ordnung und Fortschritt

Das Ende der Sklaverei und der Traum vom Weiß-Werden

Gründungswirren einer Republik

»Zivilisation und Barbarei«: Der Krieg von Canudos

Ein Opernhaus am Amazonas – Der Kautschukboom

Die Entdeckung der Indios

Eine Insel auf dem Kontinent – Außenpolitik im Schatten der USA

Stadtleben um 1900: Cafés, Autos und Flugpioniere

Jogo Bonito? – Die Anfänge des brasilianischen Fußballs

Ein Japaner ist wie Öl auf Wasser – er vermischt sich nicht

Arbeiterleben in São Paulo, Henry Ford und der Erste Weltkrieg

Tupi or not Tupi – Der Modernismus der Kannibalen

Populismus durch Gewalt: Getúlio Vargas

»Wir sind kein Botokudenland« – Kultur unter Vargas

Capoeira, Karneval und candomblé – Schwarzsein im Estado Novo

»Rassendemokratie« und Herzenskultur

Brasilien – ein Neu-Deutschland der NSDAP?

Exil in den Tropen – Hitlerflüchtlinge in Brasilien

Donald Duck trifft Zê Carioca – Brasilien im Zweiten Weltkrieg

Feindpolitik – die Internierung von Deutschen und Japanern

Das Erbe des Krieges – Die Amerikanisierung Brasiliens?

The Girl from Ipanema und die Aufbruchstimmung der fünfziger Jahre

Brasília – der »verchromte Urwald« und der Tropicalismo der Sixties

Die Diktatoren

Fußball, TV und Telenovela: Kultur in der Diktatur

Widerstand, Black Power und ein anderes Brasilien im Exil

Übergänge – beharrende Clans und mutige Bürger

Der Armut entfliehen: Politikversprechen, Bürgersolidarität, Evangelikale

Von Rennfahrern, einer Währungsreform und einer Simpsons-Folge

Favela-Welten

Aufbrüche – Lula und Dilma

Das Ende der »Rassendemokratie«, Aufarbeitungen

Indio-Welten und die Ressource Natur

Ausblicke

Abbildungen

Ausgewählte Literatur

Vom Stolz auf das Vaterland und von tiefer Traurigkeit – Vorwort

Im Jahr 1990 war Brasilien nahezu bankrott. Zwanzig Jahre später gilt Lateinamerikas größter Staat als energische Supermacht, die sich anschickt einen Platz im Olymp der Industrienationen zu erkämpfen. Ist dies ein zufälliges Zusammenspiel eigener und globaler Entwicklungen oder wurde Brasilien vielleicht aus europäischer Sicht unterschätzt und bestenfalls als Schwellenland schubladisiert? Wir stellten uns die Frage, warum Portugals vormals größte Kolonie nach außen so selbstsicher auftritt. Ist dies das Resultat einer kurzen Entwicklung oder vielleicht eines langen historischen Prozesses?

Dass der portugiesische Thronfolger mit seinem Gefolge vor Napoleon nach Brasilien floh und sich das Machtverhältnis zwischen Zentrum und Kolonie deshalb umzudrehen begann, ist weltweit einzigartig. Im Gegensatz zum spanischen Kolonialreich löste sich Brasilien nicht durch jahrelange Revolutionen vom Mutterland und zerfiel dabei in Republiken. Es blieb intakt – als Monarchie, als Kaisertum, das Revolten und Autonomiebedürfnisse blutig niederschlagen ließ. Bereits im 19. Jahrhundert beanspruchte Brasilien eine Sonderstellung in den Amerikas. Es präsentierte sich als »Koloss im Süden«, der den USA zwar nicht ebenbürtig war, wohl aber den zweiten Rang für sich reklamierte. Gleichzeitig hielten seine Eliten an der menschenverachtenden Sklaverei bis zum Jahr 1888 fest. Und verschrieben sich der Philosophie von »Ordnung und Fortschritt« derart, dass sie Ordem e Progresso sogar auf ihre gelb-grüne Flagge heften ließen, eines der stärksten Symbole des südamerikanischen Staates.

Seine territoriale Ausdehnung, die gerettete politische Einheit und eine lange Tradition pragmatischer Außenpolitik sind wesentliche Gründe für Brasiliens heutige Machtposition. Nationale Einheit wurde lange mit kultureller Einheitlichkeit gleichgesetzt. Deshalb ging die Nationswerdung auch mit der Bekämpfung und Verfolgung afrikanischer und indigener Kulturen einher, deren »Rückschrittlichkeit« von Rassentheoretikern »wissenschaftlich bezeugt« wurde. Trotzdem überlebten regionale Lebensweisen und -welten, jene der Gaúchos im Süden, der nordestinos im Nordosten, der Afro-Brasilianer gerade in Bahia und der Indios, nicht nur am Amazonas.

Das Interesse an Brasilien ist im deutschsprachigen Raum deutlich gestiegen. Es zeigt sich zum einen in politikwissenschaftlichen Untersuchungen über Chancen und Risiken des rasanten politischen Aufstiegs. Zum anderen bestimmen Reiseerzählungen über Samba, Karneval und die Gefährlichkeit von Favelas, aber auch viele und zu Recht alarmierende Berichte über Umweltzerstörung und die Bedrohung indigener Lebensräume das gegenwärtige Brasilienbild. Die Gesellschaft ist noch immer von Mangel und Privilegien geprägt. Die Metropole São Paulo mit ihren 25 Millionen Einwohnern glänzt als bedeutendes Bankenzentrum. In der Flugzeug- und Satellitenindustrie, bei der Ethanol-Erzeugung ist Brasilien führend, doch der Mindestlohn beträgt gerade einmal 200 Euro. Zwischen der (Un-)Möglichkeit des sozialen Aufstiegs und der Hautfarbe besteht noch immer ein enger Zusammenhang. Trotzdem hielt sich der Mythos der »Rassendemokratie«, vom konfliktfreien Schmelztiegel indianischer, afrikanischer und europäischer Elemente, sehr lange.

Diese Gegensätze spiegeln sich auch in zwei großen Erzählungen wider, die stets präsent sind: dem Optimismus künftiger Größe, angetrieben vom Motor der Ordnung und des Fortschritts, und dem Pessimismus des drohenden Scheiterns – angesichts der Kluft zwischen Großstadt und Hinterland, zwischen vielen hehren Vorsätzen und manch korrupter Praxis. Der Flugpionier Santos Dumont und der Formel 1-Held Ayrton Senna, die Meister des Fußballs Garrincha und Pelé, die künstlerischen Avantgarden nähren die Erzählung vom »Stolz auf das Vaterland«. Diese kippt umso rascher in tiefe kollektive Trauer: wenn die Fußball-WM verloren wird, Ayrton Senna tödlich verunglückt, wenn politische Korruption und Drogen-Gewalt unerträglich werden. Dann wird Brasilien zum »Land ohne Eigenschaften« und die literarische Figur des Macunaíma zum »Held ohne jeden Charakter«.

Bislang existiert keine Kulturgeschichte Brasiliens auf dem deutschsprachigen Buchmarkt, die seine kulturelle Vielschichtigkeit in den Vordergrund stellt und den Avantgarden in Wissenschaft, Kunst und Kultur Rechnung trägt. Dazu zählt der von Sklaven geschaffene Kolonialbarock Bahias. Dazu gehört die »kannibalische Bewegung«, deren Vertreter ironisch mit ihrer Forderung »Tupi or not Tupi«, das sei die Frage, dazu aufriefen, Europa nicht mehr zu kopieren. Wir legen dar, warum schwarze Fußballer in noblen Clubs zunächst mit weißgeschminkten Gesichtern spielen mussten und warum candomblé und Capoeira lange verboten waren, bevor sie in die Nationalkultur integriert wurden. Wir wollen zeigen, dass Favelas keineswegs nur Orte sind, in denen Gangs und Drogen zirkulieren, sondern ein global vernetzter Mikrokosmos, der inspirierende Musik und Literatur hervorbringt.

Der vorliegende Band bietet eine Kulturgeschichte Brasiliens, die Mythen hinterfragt und die Vielfalt des Landes beschreibt. Sie basiert zum Großteil auf eigenen langjährigen Forschungen und Publikationen. Wir sind uns bewusst, dass der Beginn unserer historischen Erzählung, die Entdeckung Brasiliens durch portugiesische Seefahrer, ein sehr klassischer ist. Gerade Anthropologen würden uns dafür kritisieren. Wir wissen, dass Brasilien vor 1498 nicht geschichtslos war; doch würden wir uns mit der Geschichte davor auf ein Terrain begeben, für dessen Analyse uns die Kompetenzen fehlen. Wir halten es nicht mit Stefan Zweigs Bemerkung, der sagte: »Nichts ist so sehr typisch für den Brasilianer, als daß er ein geschichtsloser Mensch oder zum mindesten einer mit einer kurzen Geschichte ist«. Im Gegenteil, 515 Jahre sind eine lange Geschichte.

Ursula Prutsch und Enrique Rodrigues-Moura

München und Wien Bamberg und Porto Alegre im Sommer 2013

Entdeckungen – Brasil-Holz und Edle Wilde

Im Jahre 1498 sah Duarte Pacheco Pereira von seinem Schiff aus Land. Es war das heutige Brasilien. Der portugiesische König Dom Manuel hatte den versierten Seefahrer ausgesandt, um das Gebiet zu erkunden, das ihm nach dem Vertrag von Tordesillas vier Jahre zuvor zugewiesen worden war. Dieser wahrscheinlich erste europäische Blick auf Brasilien kommt bislang in der offiziellen Geschichte des Landes nicht vor. Als sein Entdecker galt bis heute Pedro Álvares Cabral. Seine Flotte von 13 Karavellen ankerte am 22. April des Jahres 1500 in einer weitläufigen Bucht des heutigen Bundesstaates Bahia.

Portugal, der exponierteste Staat in Europa, hatte sich im 15. Jahrhundert unter der Regentschaft von Heinrich »dem Seefahrer« zur führenden Seemacht mit modernen nautischen Kenntnissen entwickelt und Lissabon in den Rang einer europäischen Handelsmetropole erhoben. Dort sammelte der deutsche Kartograph Martin Beheim Daten für seinen ersten Globus. Man wusste nicht erst seit Kolumbus, sondern schon seit dem Hochmittelalter, dass die Erde rund und keine Scheibe ist, allerdings unterschätzte man noch ihre Größe und hatte unterschiedliche Auffassungen von ihrer Beschaffenheit.

Um Handelsrouten nach Asien, um Faktoreien und Gewürzmonopole wurde ein zäher Wettbewerb geführt. In den europäischen Seemächten hatte Portugal früh ambitionierte Konkurrenten. Dass mit Christoph Kolumbus ein Genuese im Dienst der spanischen Könige 1492 auf Hispaniola landete (heute die Dominikanische Republik und Haiti), störte die machtpolitischen Ambitionen der portugiesischen Herrscher. Sie protestierten gegen den spanischen Anspruch auf »Indien«, ohne es auf diesem Wege schon selbst erreicht zu haben. Kolumbus wollte übrigens zeitlebens nicht wahrhaben, dass er Gebiete eines bis dahin unbekannten Kontinents betreten hatte. Um den Konflikt zwischen Spanien und Portugal beizulegen, wurde der Papst um einen Schiedsspruch gebeten. Und Portugal fühlte sich aufgrund anderer Entscheidungen des Heiligen Stuhls und eines Vertrags mit Spanien im Recht.

Denn Heinrich »der Seefahrer« war der Großmeister einer Christusmiliz gewesen. Ihr hatte Papst Eugen IV. alle entdeckten und noch zu entdeckenden Inseln auf dem Weg nach Indien zugesprochen. Die Portugiesen waren auf Madeira, Porto Santo, den Azoren, São Tomé und den Kapverden gelandet; 1486 hatte Bartolomeu Dias das afrikanische Kap der Guten Hoffnung umfahren. Die Motive für die Expeditionen und Landnahmen waren vielfältig. Es war der Geist der Reconquista, der Wiedereroberung christlicher Territorien, die an die Araber, die Mauren, gefallen waren. Dazu kamen wissenschaftliche Neugierde, die Suche nach handelstauglichen Waren, nach Gold und Getreide, nach bebaubarem Land, das für Zuckerplantagen geeignet wäre.

Die politischen und wirtschaftlichen Gründe wurden mit der Christianisierung von »Heiden« verbunden. Deren Expansionsbestrebungen galt es zu unterbinden. Und durch einige Papstbullen hatten die Portugiesen schon im Vorhinein den höchsten christlichen Segen für ihre Ambitionen erhalten. Mit ihren Fahrten entlang der afrikanischen Küste erarbeiteten sie sich binnen kurzem ein profundes Wissen über Navigation und Standortbestimmungen, über die Beschaffenheit der damals bekannten Welt, das sie an manchem Wissen, wie es die Bibel vermittelte, zweifeln ließ. Die Wahrnehmung der äußeren Welt war komplex geworden.

Als die Portugiesen erstmals den Äquator passierten, war eine Orientierung nach dem Polarstern nicht mehr möglich. Wenn sie ihn nicht mehr sahen, nahmen sie die Sonne zum Fixstern ihrer atlantischen Berechnungen. Dafür benützten sie das arabische Astrolabium, das sie für ihre Zwecke grundlegend weiterentwickelten. Es wird astrolábio náutico genannt. Nur war die Standortbestimmung auf dem unruhigen Meer sehr fehleranfällig, weshalb die Seefahrer an der afrikanischen Küste immer wieder an Land gingen, um ihre Position nach dem jeweiligen Sonnenstand möglichst exakt zu bestimmen. Dies sollte dann auch Cabral in Brasilien tun. Er vermaß sich nach heutigen Gesichtspunkten nur wenig.

Mit seiner Kunst des Navigierens war Portugal nicht allein, sondern hatte in Kastilien (später Spanien) einen Konkurrenten. Beide hatten sich mehr als ein Jahrzehnt vor Kolumbus’ Überquerung des Atlantiks durch den Vertrag von Alcáçovas das Meer aufgeteilt, das sie kannten. Madeira, die Azoren und die Kapverden gehörten Portugal, die kanarischen Inseln dem Königtum Kastilien. Dieses versprach, nicht weiter südlich gegen Afrika zu segeln als bis zum 27. Breitengrad. Das bedeutete allerdings für die Indienfahrten, dass Christoph Kolumbus’ Entdeckungen portugiesisches Territorium sein konnten. Als der Genuese von seiner spektakulären Reise zurückkehrte, landete er mit einem seiner beiden Schiffe in Lissabon. Vom portugiesischen König ehrenvoll empfangen, wurde er darüber informiert, dass diese Leistung und das neue Land Portugal zustünden. Das zweite Schiff von Kolumbus ankerte allerdings in Galizien, das zu Spanien gehörte, und brachte den Katholischen Königen rasch die erfolgreiche Nachricht, er habe einen anderen Weg nach Indien gefunden. Sofort überdachten die Katholischen Könige ihren alten Vertrag mit Portugal und wandten sich an den Papst, einen geborenen Spanier. Es war ein Heimvorteil. In einer Reihe von fünf Bullen bot er ihnen eine Teilung des Atlantiks zugunsten Spaniens an.

Die Entscheidung wollte Portugal nicht akzeptieren, weil es für seine geplanten Indienfahrten die atlantischen Winde nur ausnutzen konnte, wenn es ab der Höhe des afrikanischen Guinea in einem ausgedehnten Bogen Richtung Südwesten segelte, die sogenannte volta do Brasil. Zwar war die Strecke nach Seemeilen länger, aber dank der günstigen Winde zeitlich um vieles kürzer. In der Höhe des Kaps der Guten Hoffnung steuerten die Seeleute dann wieder Richtung Osten, um es direkt zu umfahren. Der politische Nachteil dieser Route war, dass die Portugiesen nach den päpstlichen Entscheidungen durch spanische Gewässer gesegelt wären.

Nach einer zähen einjährigen Debatte einigten sich die beiden iberischen Mächte schließlich im Jahr 1494. Sie unterzeichneten den Vertrag von Tordesillas. Die Grenzlinie verlief 370 leguas westlich der Kapverdischen Inseln von Norden nach Süden. Das ist ungefähr der 46. Längengrad. Der westliche Teil – praktisch der gesamte amerikanische Kontinent – sollte Spanien gehören und nur ein kleiner östlicher Teil, der etwa einem Drittel des heutigen Brasilien entspricht, den Portugiesen. Dennoch war es eine zufriedenstellende Lösung für Portugal. Es wollte eine möglichst effiziente Reiseroute nach Indien finden, ohne seine eigenen Gewässer verlassen zu müssen. Dass die Linie durch einen neuen Kontinent gehen würde, war damals weder den Spaniern noch den Portugiesen bewusst.

Drei Jahre nach der Unterzeichnung des Vertrags von Tordesillas erkundete Vasco da Gama den Seeweg nach Indien. Vermutlich hatte er kein Festland gesehen, als ihn die volta do Brasil knapp an Brasilien vorbeiführte. Vielleicht gab es Anzeichen von Landnähe. Denn ein Jahr später sandte Dom Manuel den Seefahrer Duarte Pacheco Pereira aus, damit er herausfinde, wie die Gewässer beschaffen seien, die Portugal gehörten. Womöglich, so vermutete man, gebe es ja auch dort Land. Der Navigator schrieb seinen Bericht Esmeraldo de Situ Orbis an den König erst ein paar Jahre später nieder, auf Portugiesisch:

Im dritten Jahr Eurer Regentschaft, im Jahr 1498, als Ihre Hoheit mich beauftragte, den westlichen Teil zu entdecken, auf die andere Seite des breiten Ozeans zu segeln, wo ein so großes Festland gefunden und gesehen wurde, mit vielen und großen Inseln […] und diese Größe erweiterte und verlängerte sich noch sehr, dass weder das Ende der einen Seite noch der anderen Seite in Sicht war.[1]

Zu jener Zeit konkurrierten zwei Sichtweisen über die Welt. Die eine stellte sich die Erde als eine riesige von Wasser umspülte Landmasse vor. Die etwas neuere hingegen hielt sich an die Interpretation von Ptolemäus. Er behauptete, dass inmitten einer unregelmäßigen Landmasse das Meer liege. Duarte Pacheco Pereira glaubte an diese zweite. Nach seiner Entdeckung meinte er sie sogar wissenschaftlich zu beweisen. So schrieb er überzeugt: »Die Erfahrung, die die Mutter der Dinge ist, befreit uns und zwar von jedem Zweifel, der uns plagt.«[2] Somit lagen beide, Christoph Kolumbus wie Duarte Pacheco, falsch. Der erste starb im Glauben, dass er einen Teil Indiens betreten hatte. Der zweite glaubte am Ende der Welt gewesen zu sein.

Pedro Álvares Cabral, der offizielle Entdecker Brasiliens, kam mit seiner Flotte auf dem Weg nach Indien wohl nicht, wie lange angenommen, vom geplanten Kurs ab und driftete zufällig immer weiter in Richtung Südwesten. Seine Flotte nahm einen, Duarte Pacheco ähnlichen, Kurs und erreichte am 22. April 1500 Brasilien. Rasch kam die Mannschaft mit den ersten Indios ihres Lebens in Kontakt. »Von Bord aus konnten wir Menschen am Strande erkennen, vielleicht sieben oder acht«, notierte sein Zahlmeister Pero Vaz de Caminha. »Braun, nackt, ohne irgendwie die Schamteile zu verdecken, hielten sie in den Händen Bogen und Pfeile. So liefen sie geradewegs auf das Boot zu.«[3] Die Indios attackierten nicht, eine sichere Anlegestelle für die Flotte war bald gefunden und Porto Seguro benannt. Ein paar Tage später feierten die Abenteurer ihre erste Messe und tauften das Territorium »Land des Wahren Kreuzes«. Vaz de Caminha, der in Indien sein Leben verlieren sollte, hinterließ mit seinem Brief vom 1. Mai 1500 das Gründungsdokument Brasiliens:

[Ob] sich darin Gold oder Silber, irgendein Metall oder Eisen findet, können wir heute noch nicht wissen, auch sahen wir es nicht. Jedoch hat das Land eine ausgesprochen gute Luft […] Gewässer gibt es auch viele, unendliche. Und deshalb ist es erfreulich, dass, wenn man es nutzen will, sich hier alles findet, wegen der Gewässer, die es hat. Doch der beste Nutzen, den man ihm bieten kann, scheint mir die Rettung dieser Leute zu sein. Und dies sollte das erste Samenkorn sein, das Ihre Hoheit in ihm pflanzen möge.[4]

Rasch rafften die Portugiesen indianische Gerätschaften, Meerkatzen, Papageien und exotische Hölzer zusammen, beluden ein Schiff und sandten es nach Lissabon zurück. Die anderen setzen ihren Weg nach Indien fort. Was die indigenen Brasilianer von diesem Verhalten hielten, ist nicht überliefert. Denn ihre Kulturen und Erzähltraditionen kannten keine Schriftlichkeit. Das Land des Wahren Kreuzes, ein paar Jahre später nach dem ersten Exportprodukt, dem Brasil-Holz, benannt, war um 1500 von etwa fünf Millionen Indios bewohnt. Skelettfunde und Feuerspuren in Höhlen lassen auf eine 30.000-jährige Siedlungsgeschichte schließen. Im Gegensatz zu den Hochkulturen in Mexiko und im Andenraum sind jedoch weder Spuren monumentaler Baukunst noch schriftliche Aufzeichnungen erhalten.

Die Indigenen Brasiliens waren Ackerbauern und verlegten aufgrund ihrer Anbaumethoden regelmäßig ihre Wohnsitze. Sie lebten in kleinen politischen Einheiten mit Gemeinschaftseigentum und Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen. Indigene Völker tauschten auch Frauen, Objekte und Wissen mit anderen Stämmen. Das bedeutet, dass auch ihre Kulturen sich immer wieder veränderten. Ihre Gesellschaften hatten hierarchische Strukturen mit Häuptlingen und Schamanen, ihren religiösen und heilkundigen Autoritäten. Ihnen war das Tragen der bunten »Federkronen« vorbehalten, der begehrten Sammelobjekte europäischer Adeliger. Die Tupinambá und Tupiniquin – sie gehörten beide zur Tupi-Guarani-Sprachfamilie – waren die ersten indigenen Völker Brasiliens, mit denen die Europäer Kontakt aufnahmen.

Vaz de Caminha zeichnet einen wahren Garten Eden, ein tropisches Paradies nackter Unschuld und indianischer Harmonie zwischen wohlgestalteten Menschen. Historiker hoben angesichts vieler Berichte über kannibalische »Wilde« die außergewöhnlich kulturelle Offenheit des Autors hervor. Er begründet mit seiner überschwänglichen Erzählung einen kulturellen Topos über Brasilien, der sich bis ins 21. Jahrhundert zieht: Entweder ist alles fantastisch oder alles miserabel.

Mittlerweile ist bekannt, dass Paz de Caminha an seine Schilderungen die ungewöhnliche Bitte knüpfte, den nach São Tomé in Afrika verbannten Schwiegersohn zu begnadigen, weshalb er dem König eine solche Schilderung bot. Sein Brief blieb jedoch lange Zeit unveröffentlicht. Es waren Berichte von Amerigo Vespucci, Hans Staden und vielen anderen, die ein gegensätzliches Bild vermittelten, das nachhaltig die europäischen Vorstellungen von der Neuen Welt prägte: vom exotischen Kannibalen-Land.

Bereits ein Jahr nach Cabrals folgenreicher Expedition sandte der portugiesische König zwei weitere Flotten über den Atlantik nach Brasilien. Die eine ankerte in der Bucht von Guanabara, die fälschlich für eine Flussmündung gehalten und deshalb Januar-Fluss (Rio de Janeiro) genannt wurde. Die zweite hatte den Florentiner Amerigo Vespucci an Bord. Nach ihm benannten Matthias Ringmann und der Kartograph Martin Waldseemüller den neuen Kontinent auf ihrer berühmten Globussegmentkarte. Sie hatten verstanden, dass sich zwischen Europa und Indien eine eigene, riesige Landmasse befand. 1507 gedruckt, wird die Karte gelegentlich auch als »Geburtsurkunde Amerikas« bezeichnet.

Vespucci meinte angesichts der spektakulären Landschaft in einem irdischen Paradies zu sein, bis er in Kontakt mit dem Stamm jener Indios kam, die wegen ihrer Lippen- und Ohrpflöcke (botoque = Spund) von den Kolonisatoren Botokuden genannt wurden. Im Laufe der Jahrhunderte sollte sich diese Bezeichnung bei europäischen Siedlern als Synonym für »eingeborene Wilde« durchsetzen.

1501 belud die portugiesische Expedition gleich eine Karavelle mit Holz, dessen tiefroter Farbextrakt den Indios zur Körperbemalung und Textilfärbung diente. Es wurde Brasil-Holz genannt. Für die Etymologie des Namens »Brasilien« gibt es mehrere Erklärungen. Er könnte von brasa, einem offenen Feuerkessel, stammen oder vom gälisch-irischen Brysail, einer mythischen Insel im Atlantik, oder aber von einem roten Holz aus dem Orient, das im Mittelalter brasile und brisilli genannt wurde. 1511 wurde es erstmals auf einer Landkarte festgeschrieben.

Die Krone stellte rasch den Handel mit dem neuen Färbemittel unter Monopol und verpachtete die Nutzungsrechte an Kaufleute wie Fernando de Noronha, Namensgeber eines großen, Brasilien vorgelagerten Archipels im Atlantik. Während des gesamten 17. Jahrhunderts erlangte das wertvolle Brasilholz an der Amsterdamer Börse Höchstpreise, bevor es wegen modernerer Färbemethoden an Bedeutung verlor. Die Bestände wurden allerdings so dezimiert, dass die Pflanze heute zu den bedrohten Baumarten gehört.

Das Schlägern, Transportieren und Verladen des Pau Brasil war nur mit Hilfe der indigenen Bevölkerung möglich, weil es keine Lasttiere gab. Die lokalen Tupinambá und Tupiniquin arbeiteten jedoch nur kurze Zeit für einen Lohn von Glasperlen, Kleidern und Werkzeug für die Händler und Matrosen, die sie bald zu versklaven begannen und damit zu Feinden machten. Mit der erzwungenen Verschiffung einiger Tausend Tupi-Gefangener in die spanische Karibik war gutes Geld zu verdienen, denn dort hatten Kolumbus’ Konquistadoren die indigene Bevölkerung durch Kriege und Keime rasch ausgerottet. Noch bevor das portugiesische Königshaus aus dem Sklavenhandel und dem Brasil-Holz nachhaltigen Profit schlagen konnte, erhielt es durch französische Händler Konkurrenz, die 1503 Brasilien erreichten.

Der französische König Franz I. hatte die Autorität des Papstes, die Neue Welt zwischen zwei europäischen Mächten aufzuteilen, durchaus in Frage gestellt und provokant gefragt, ob denn Adam, der biblische erste Mensch, ein Testament hinterlassen hätte. Frankreich, England und Holland beanspruchten ein frei zugängliches Meer und schickten deshalb ihre Flotten über den Atlantik. Die Franzosen handelten sogar erfolgreicher mit dem Brasil-Holz, weil sie klüger mit den Indios kooperierten. Damit verletzten sie freilich die Territorialsphäre der portugiesischen Krone, die nun Flotten mit dem Auftrag in die Kolonie sandte, befestigte Handelsplätze anzulegen und mit den Einheimischen sensibler umzugehen. Dieser Wettbewerb förderte eine für die Neue Welt nicht ungewöhnliche Art der Kooperation durch Rivalität. Die Franzosen verbündeten sich mit den Tupinambá, die im Hinterland von Rio de Janeiro lebten, die Portugiesen mit den südlicher lebenden Tupiniquin, die wiederum mit den Tupinambá verfeindet waren. Diese Verflechtungen spielen in vielen Reiseberichten eine Rolle. Nur durch die Hilfe der Tupinambá brachten die Franzosen ein Fort zustande, das sie in der Bucht von Guanabara bauten.

Auch im Nordosten errichteten sie später kurzlebige Handelsstützpunkte. Der bedeutendste war São Luís do Maranhão. Um dem Expansionsdrang der Franzosen und jener Spanier entgegenzuwirken, die gerade den Rio de la Plata (Silberstrom) auskundschafteten und die portugiesische Kolonie vom Süden her bedrohten, betraute König João III. den Seemann Martim Afonso de Sousa mit dem Kommando über fünf Schiffe. Sie steuerten mit 500 Soldaten und Kolonisten, Haustieren, Pflanzen und Gerätschaften beladen nach Brasilien. Rechtlich gehörte die Mündung des Rio de la Plata zwar Spanien, doch war sie kartographisch ebenso wenig exakt vermessen wie die Linie von Tordesillas. Deshalb setzte sich die Praxis durch, erst zu erobern um dann zu verhandeln.

Martim Afonso de Sousa erkundete die Küste von Pernambuco hinab bis zum Rio Uruguay. Er sandte Expeditionen ins Hinterland und gründete zwei Ortschaften: das nach dem Patron von Lissabon benannte São Vicente und São Paulo de Piratininga, das heutige São Paulo. Was Afonso de Sousa zugute kam, war sein Kontakt mit schiffbrüchigen und deportierten Portugiesen, die seit Jahren unter Indigenen lebten. Sie waren, nach heutigen Worten, die ersten interkulturellen Vermittler Amerikas.

Der berühmteste unter den Schiffbrüchigen war Diogo Álvares Correia, von den Tupi Caramuru genannt. Er war in Bahia gestrandet. Caramuru passte sich an und heiratete Paraguaçu, eine Indio-Frau vom Volk der Tupinambá. Der Legende nach soll er sie sogar nach katholischem Ritus in Frankreich geheiratet haben. Getauft hieß sie fortan Catarina und ging als besonders gläubige Konvertitin in die brasilianische Geschichte ein. Der Portugiese half den Franzosen, den Verbündeten der Tupinambá, das begehrte Brasil-Holz zu finden; er half den eigenen Landsleuten aber auch als Dolmetscher.

Angesichts der Größe Brasiliens und der europäischen Konkurrenz verstand die Krone, dass ihre Ressourcen und ihre Marine von 300 hochseetüchtigen Schiffen zur Verteidigung und Ausbeutung ihres Gebietes nicht ausreichten. Deshalb wählte sie ein Modell, das sich schon auf den Atlantikinseln bewährt hatte: die Landstücke in Form erblicher Lehen an Günstlinge zu übertragen. Als läge es auf einem Reißbrett, wurde Brasilien in 15 Kapitanien (capitanias) zergliedert und zwölf verdienten Adeligen oder Bürgern (donatários) verliehen, mit der Auflage, die Landstücke zu erschließen und wirtschaftlich zu nutzen. Martim Afonso de Sousa erhielt wegen seiner kolonisatorischen Leistungen den größten Anteil.

Wirtschaftlich erfolgreich waren zunächst nur die leichter erreichbaren nördlichen Kapitanien Brasiliens, über die sich bald Zuckerplantagen, Baumwollfelder, Tabak- und Maniokpflanzungen erstreckten. Diese Landschenkungen konnten den donatários wieder entzogen werden, falls sie die königlichen Auflagen nicht erfüllten. Um sich gegen Europäer und Indigene zu verteidigen, hielten sich die donatários private Milizen, deren oberster Offizier amtlich Capitão-mor, inoffiziell Coronel (Oberst) genannt wurde. Denn die virtuell aus der transatlantischen Distanz gezogenen Grenzlinien der Kapitanien wurden verschoben und von jenen zurechtgebogen, deren lokale Autorität am größten war. Der coronelismo ist bis heute als Ausdruck für die autoritäre Macht wohlhabender Großgrundbesitzer gebräuchlich, die meist auch politische Ämter ausübten.

Wenige Portugiesen wagten in der Mitte des 16. Jahrhunderts Siedlungsexperimente in Brasilien, weil mit indischen Gewürzen viel schneller Macht und Reichtum zu erwarten war. Portugals größte Kolonie war vielmehr ein Verbannungsort für getaufte Juden, »Neuchristen« genannt, und für Verbrecher, die man nicht mehr verköstigen wollte und jenseits des Atlantiks sich selbst überließ: »Ich bezeuge Eurer Hoheit und schwöre bei meiner Todesstunde«, klagte der Lehensträger von Pernambuco 1546 seinem König, »daß die Deportierten dem Land keinen Vorteil und nichts Gutes bringen, aber viel Böses. Möge Eure Hoheit mir glauben, diese Leute sind hier im Lande schlimmer als die Pest, deshalb bitte ich um Gotteswillen, mich in Zukunft mit solchem Gift zu verschonen.«[5]

Die spanischen Konquistadoren waren auf gut organisierte indigene Hochkulturen und reiche Edelmetallvorkommen gestoßen. Das führte zu völlig unterschiedlichen Entwicklungen in den spanischen und portugiesischen Kolonien. Erst nachdem sich die Portugiesen in Brasilien festgesetzt hatten, sahen sie sich durch den Vertrag von Tordesillas im Nachteil. Deshalb versuchten sie ihn im Laufe von 250 Jahren auszuhöhlen. Dies gelang, weil die Andenkette für die von den Pazifikküsten nach Osten siedelnden Spanier zunächst fast unüberwindbar schien. Zweitens war die Linie von Tordesillas nach den damaligen Vermessungsmethoden im Inland schwer auszumachen. Und drittens wurde sie von den portugiesischen Siedlern völlig ignoriert, als Portugal zwischen 1580 und 1640 in einer Personalunion mit Spanien vereint war. Der transatlantische Seeweg der Portugiesen war um einiges kürzer und ungefährlicher als die Route jener Spanier, die den Andenraum und die Westküste der heutigen USA erreichen wollten. Der Nordosten Brasiliens lag, in Segeltagen gerechnet, Europa am nächsten.

Trotzdem schien es, als seien die portugiesischen Kolonisierungspläne durch Kriege, Tropenkrankheiten, Schiffbrüche, Gesetzesübertretungen und Korruption zum Scheitern verurteilt. Nur etwa 5.000 Europäer sollen um 1550 in der Kolonie gelebt haben. Deshalb griff der König ein und erwarb die Kapitanie Bahia, ein Zentrum der Farbholz- und Zuckergewinnung, für die Krone. Sie erhielt nicht nur die Rechts- und Finanzaufsicht, sondern auch eine königliche Küstenflotte.

Ein weiterer Grund für die geringe Motivation, nach Brasilien auszuwandern, lag wohl am Image eines Landes, das manchen als Garten Eden, als irdisches Paradies edler Wilder, galt, vielen jedoch als Land der Kopflosen und Kannibalen, auch deshalb, weil sich letzteres Bild besser verkaufte.

Anmerkungen

1 | Duarte Pacheco Pereira, »Esmeraldo de Situ Orbis« (Livro I, Capítulo 2), in A Travessia do Mar Oceano. A viagem ao Brasil de Duarte Pacheco Perreira em 1498, ed. Francisco Contente Domingues (Lisboa: Tribuna, 2011), 92.

2 | Luís Filipe Barreto, Descobrimentos e renascimento. Formas de ser e pensar nos séculos XV e XVI (Lisboa: Imprensa Nacional-Casa da Moeda, 1982), 244.

3 | Pêro Vaz de Caminha, Carta a El-Rei D. Manuel. Edición de Manuel Viegas Guerreiro (Lisboa: Imprensa Nacional-Casa da Moeda, 1974).

4 | Vaz de Caminha, Carta a El-Rei D. Manuel.

5 | Zit. nach Gerhard Pfeisinger, »Die portugiesische Kolonie Brasilien und das brasilianische Kaiserreich 1500-1889«, in Lateinamerika 1492-1850/70. hg. von Friedrich Edelmayer, Bernd Hausberger und Barbara Potthast (Wien: Promedia, 2005), 65.

Wahrhaftige Historien von Kannibalen

Zunächst also zu den Menschen: Wir fanden in jenen Regionen eine so große Menge Menschen, die niemand zählen konnte (wie es in der Apokalypse heißt) – und zwar Menschen, die sanft und umgänglich sind. Alle, beiderlei Geschlechts, laufen nackt umher, ohne irgendeinen Körperteil zu bedecken; und wie sie aus dem Leib der Mutter kommen, so gehen sie bis zu ihrem Tod […].[6]

Nicht nur Amerigo Vespucci, der diese Zeilen 1503 im Mundus Novus niederschrieb, einem frühen Bestseller der Reiseliteratur, war fasziniert von der Nacktheit der Indios, besonders der Frauen. Er pries ihre Schönheit und kritisierte ihre ungezügelte Wollust. Aus dieser permanenten Blöße könne sich, so schloss er, nichts anderes als promiskuitives Leben, Inzest und Respektlosigkeit vor der Ehe ergeben. Nur einen Absatz später wendet er sich dem Kannibalismus zu.

Sie pflegen nämlich einander (und besonders die Sieger die Besiegten) aufzuessen, und Menschenfleisch ist bei ihnen eine allgemein übliche Speise. Auch mögt Ihr dieser Nachricht wohl glauben schenken, denn man hat schon gesehen, daß ein Vater seine Kinder und sein Weib verspeiste; und ich selbst kenne einen Mann, mit dem ich auch gesprochen habe, über den man berichtete, er habe von mehr als dreihundert menschlichen Leibern gegessen. Weiters war ich einmal siebenundzwanzig Tage in einer Stadt, wo ich in den Häusern das Menschenfleisch eingesalzen an den Balken hängen sah.

Vespucci versichert seinen Lesern nicht nur, authentisch zu berichten, sondern den Indigenen auch das Versprechen abgerungen zu haben, ihren bedenklichen Brauch aufzugeben. Doch dann habe er resigniert.

Charakteristisch für alle Reiseberichte jener Zeit ist ihr Bezug auf die Bibel, das damalige wissenschaftliche Referenzwerk par excellence. Die biblische Erwähnung der Anthropophagie, des Verzehrs von Menschenfleisch als Gottesstrafe, hat das frühneuzeitliche Denken beeinflusst. Zudem kam Kannibalismus in der antiken Mythologie vor. Kronos, der Herrscher über den Sternenhimmel, verschlang seine Kinder. Eine gewisse ideengeschichtliche Verwandtschaft ist in der christlichen Eucharistie, dem symbolischen Verzehr des göttlichen Leibes, angedeutet, und verweist auf die gemeinschaftsstiftende und kraftspendende Wirkung. Die Begegnung mit Brasilianern, die Kannibalismus tatsächlich zu einem Bestandteil ihres Zeremoniallebens gemacht hatten, beeindruckte die europäischen Kolonisatoren zutiefst. Dass er nur eine rituelle Funktion hatte, sparten ihre Reiseberichte meist aus. Im Gegenteil. In ihrem Buhlen um eine breite Leserschaft stehen Abenteuer und Sensationalismus im Vordergrund. Während Vespuccis Berichte an seine Geldgeber ethnographisch durchaus nüchtern gehalten sind, bieten jene für das breite Publikum eine Prosa der Übertreibung, gespickt mit exotischen Merkwürdigkeiten und bizarren Bräuchen. Die Auflagen gaben ihm Recht. In nur drei Jahren erzielte der Mundus Novus 22 lateinische Ausgaben. Eine Basler Edition leistete sich sogar einen der ersten Holzschnitte mit Darstellungen der Indigenen. Zwanzig Jahre später zirkulierten 66 Ausgaben der Neuen Welt in sechs weiteren Sprachen.

Die Portugiesen, die Besitzer des Landes der »Kannibalen«, hinterließen vergleichsweise wenig gedruckte Reiseerzählungen. Die Korrespondenzen über die nautischen Erfahrungen wurden nicht immer archiviert und waren oftmals praktischer Natur, keine literarischen und ethnographischen Erzählungen für ein größeres Publikum. Landkarten wurden durchaus gedruckt. Doch zerstörten das Erdbeben und der große Brand von Lissabon des Jahres 1755 viele Dokumente. Die Portugiesen waren humanistische Pragmatiker, die ihre Er-Fahrungen nach dem Prinzip des »learning by doing« gestalteten. Die große Leistung Portugals für das Wissen der Renaissance war die Empirie.

Die im deutschsprachigen Raum bekannteste Schilderung des brasilianischen Kannibalismus hinterließ der Hessische Landsknecht Hans Staden. Was in seiner Warhafftig Historia unnd beschreibung einer Landtschafft der Wilden / Nacketen / Grimmigen Menschfresser Leuthen / in der Newen welt America gelegen besonders beeindruckt, ist die reiche Bebilderung mit 54 Holzschnitten. Staden schiffte sich 1547 auf einem portugiesischen Schiff als künftiger Kämpfer gegen Indigene und Franzosen nach Brasilien ein. Nach seiner Rückkehr nach Europa heuerte er auf einem spanischen Schiff an, das dann in São Vicente (bei Santos) ankerte. Dort geriet er in die Gefangenschaft der Tupinambá. Die indianischen Verbündeten der Franzosen sahen den Deutschen als Portugiesen und somit als Feind.

Darauf führten sie mich nackt zu dem Franzosen hinein. Es war ein junger Mann, den die Wilden Caruatá-uára nannten. Er redete mich französisch an, und ich konnte ihn nicht verstehen. Die Wilden standen um uns her und hörten uns zu. Wie ich ihm nun nicht antworten konnte, sagte er ihnen in ihrer Sprache: ›Tötet und eßt ihn, den schlechten Kerl; er ist ein richtiger Portugiese, euer und mein Feind.‹ Das verstand ich gut und bat ihn deshalb um Gotteswillen, er möchte ihnen doch sagen, daß sie mich nicht äßen. Er antwortete aber: ›Sie wollen dich essen‹. Da dachte ich an den Spruch Jeremiae, im 17. Kapitel, wo es heißt: ›Verflucht ist der Mann, der sich auf Menschen verläßt‹.[7]

Stadens erzählerischer Duktus ist von antiken Heldensagen geprägt und enthält viele Elemente von Komik und Satire, wie sie im Zeitalter der Religionskriege in Mode gekommen waren. So heißt es an einer Stelle: »Der Sohn des Häuptlings Cunhambebe band mir die Beine dreimal übereinander, und ich mußte so mit zusammengepreßten Füßen durch die Hütte hüpfen. Darüber lachten sie und riefen: ›Da kommt unser Essen hergehüpft‹.«[8] Als seine versuchte Flucht auf ein französisches Schiff scheitert, weil dessen Mannschaft ihn in letzter Minute zurückweist und erneut den Indios überlässt, schreibt er: »Als ich an Land kam, waren die Wilden fröhlich und riefen: Nein! Da kommt er zurück!«

Das Leitmotiv ist die Angst vor der Verspeisung. Ständig wird der Hesse mit den indigenen Ankündigungen, bald tot zu sein, bedroht. Seine Kreativität, die Tupinambá etwa durch Wettervorhersagen zu beeindrucken, und »Gottes Hilfe«, das heißt eine große Portion Glück, sichern ihm das Überleben, während seine Erzählung in der detaillierten Beschreibung eines kannibalischen Aktes gipfelt – allerdings im ethnographischen Teil.

Denn Staden ging es ebenso um Wahrhaftigkeit wie anderen Autoren. Seine Historie gliederte er in zwei Teile, das emotional geschilderte Abenteuer und die versucht nüchterne wissenschaftliche Abhandlung. Anders als Vespucci betont er, dass Kannibalismus keine Form der Nahrungsaufnahme, sondern ein Ausdruck von Hass und Feindschaft gewesen sei. So lautet die wohl berühmteste, im ethnographischen Teil des Buches platzierte, Episode:

Wenn ihm die Haut abgeputzt ist, nimmt ein Mann ihn und schneidet ihm die Beine über den Knien und die Arme am Leibe ab. Dann kommen die vier Frauen, nehmen die vier Stücke, laufen um die Hütten und machen vor Freuden ein großes Geschrei. Danach trennen sie den Rücken mit dem Hintern vom Vorderteil ab. Das teilen sie unter sich. Das Eingeweide behalten die Frauen. Sie sieden es, und mit der Brühe machen sie einen dünnen Brei, Mingáu genannt, den sie und die Kinder schlürfen. […] Wenn alles verteilt ist, gehen sie wieder nach Hause, und jeder nimmt sich sein Teil mit. Derjenige, der den Gefangenen getötet hat, gibt sich noch einen Beinamen, und der Häuptling der Hütte kratzt ihm mit dem Zahn eines wilden Tieres oben in die Arme. Wenn es geheilt ist, sieht man die Narben, und die gelten als ehrenhafter Schmuck. Während dieses Tages muß der Mann in einer Hängematte stilliegen. Man gibt ihm einen kleinen Bogen mit einem Pfeil, mit dem er sich die Zeit vertreiben soll, und er schießt auf ein Ziel aus Wachs. Das geschieht, damit ihm die Arme vor dem Schreck des Totschlages nicht unsicher werden.[9]

Hans Staden kam schließlich durch französische Händler frei. Sie kauften ihn los und er kehrte in seine Heimat zurück, wo er drei Jahre später seine Wahrhaftige Historie veröffentlichte. Allein im Erscheinungsjahr 1557 erlebte sie vier Auflagen. Ausgaben in Antwerpen und Amsterdam folgten rasch. Für die erfolgreiche Verbreitung sorgte auch die Wahl der Sprache. Im Gegensatz zu Vespucci schrieb Staden, der Protestant war, in der Volkssprache Deutsch.

Nach den Erkenntnissen der modernen Anthropologie praktizierten die brasilianischen Indios gelegentlich kannibalischen Ritualmord an Feinden. Er nahm weit weniger Raum ein, als die europäischen Reiseberichte vorgaben. Die historische Forschung der 1960er Jahre zweifelte solchen Zeremonial-Kannibalismus insgesamt an. Doch Stadens detaillierte Schilderungen sind zu genau, um nur das Produkt einer europäisch-kolonialen Phantasie zu sein. Überdies weisen sie viele Parallelen mit Kriegsritualen anderer indigener Kulturen auf.

Die Reisebeschreibungen des Portugiesen Vaz de Caminha, des Florentiners Vespucci, des Hessen Hans Staden haben Parallelen, nicht nur in der Schilderung des Kannibalismus, sondern auch des indigenen Lebens. Detailliert zeichnen sie Körperbemalung und Federkronen nach, die durchstochenen Wangen und Lippen, an denen Schmucksteine befestigt waren, die Art und Weise, wie bunte Federn mit klebrigen Lösungen an Körper geheftet wurden. Die erzählerische Phantasie überschritt oftmals die Grenzen des Realen. Der französische Protestant André Thevet berichtete von den guten Tupinambá, die er kennenlernte, und fürchtete die unbekannten Kannibalen, die im Schatten der dichten Wälder lebten. Vom spanischen Konquistador Francisco de Orellana übernahm er die Sagen vom kämpferischen Frauenbund der Amazonen, den Kriegerinnen, die jeden Versuch der spanischen Annäherung mit Pfeilschüssen stoppten.

Die Ursprünge dieses Mythos bleiben bis heute unklar, doch er war wirkmächtig genug, um dem Amazonas seinen Namen zu geben. Da sich die europäische Phantasie die absurdesten Wesen, Kopflose, Ganzkörperbehaarte ausdachte, widerlegten manch Reisende diese Vorstellungen von der Tierheit der Eingeborenen. Gottesglaube oder eine Religion, die zu respektieren wäre, gestand ihnen kein Abenteurer zu. Es waren die Reiseberichte aus der Karibik und aus Brasilien, die europäische Vorstellungen von der Neuen Welt prägten. Sie flossen in literarische und wissenschaftliche Texte ein, sie inspirierten Gravierungen und Gemälde, lange bevor die Briten in Nordamerika ihre ersten Kolonien gründeten.

Anmerkungen

6 | Robert Wallisch, Der Mundus Novos des Amerigo Vespucci (Text, Übersetzung und Kommentar) (Wien: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2002), 19, 21.

7 | Hans Staden, Zwei Reisen nach Brasilien 1548-1555. In die Sprache der Gegenwart übertragen, mit einem Nachwort und Mit Erläuterungen versehen von Karl Fouquet (Marburg an der Lahn: Trautvetter & Fischer Nachf., 1995), 63.

8 | Staden, Zwei Reisen nach Brasilien, 67.

9 | Staden, Zwei Reisen nach Brasilien, 144-146.

Hugenotten und Holländer im Garten Eden

Die französischen Händler brachten nicht nur das begehrte Brasil-Holz nach Europa. Sie verschleppten auch Tupinambá. Im Jahr 1550 waren sie sogar der Höhepunkt eines Festes für den französischen König Heinrich II. und seine Gattin, Katharina von Medici. Die Veranstalter schufen bei Rouen an der Seine eine wahre Kunstlandschaft mit nachgebauten Dörfern in tropisch angehauchter Atmosphäre. Darin platzierte man 50 Indios, verschiedene Papageienarten und Affen. 250 Matrosen und Prostituierte wurden als Komparsen engagiert und nach europäischen Vorstellungen als Indios bemalt. Die Tupinambá waren eine solch exotische Attraktion, dass hohe Geistliche und Botschafter es sich nicht nehmen ließen, sie zu begaffen. Vor allem aber sollten die Schätze der Natur die französische Krone anspornen, damit sie sich an künftigen Brasilien-Reisen finanziell beteilige oder ganze Expeditionen ausstatte. Das Fest dauerte drei Tage. Es bot neben Jagd und Fischfang auch fremde Tänze, in einer Ästhetik, die an die »Wildnis« gemahnte.

Die Neugierde für Brasilien war nun auch in gelehrten Kreisen geweckt. Der französische Admiral Coligny war Protestant. Er träumte von einer hugenottischen Fluchtburg in Amerika, einem »antarktischen Frankreich«. Darüber beriet er sich mit Nicolas Durand de Villegagnon, dem Vize-Admiral der Bretagne. Villegagnon war ein Mann der Renaissance, ein Feldherr mit hoher Bildung. Seine Flotte verließ Le Havre im Mai 1555 mit 600 Personen an Bord. Ein halbes Jahr später ankerte sie in der Bucht von Guanabara. Auf einer kleinen, dem Festland vorgelagerten Insel errichtete man das Fort Coligny. Heute befindet sich dort die Marineschule, ihr gegenüber der Flughafen Santos Dumont. Finanzieren wollte man das theologische Experiment ganz profan durch den illegalen Handel mit Brasil-Holz.

Während ein Teil der Kolonisten, darunter der Chronist André Thevet, im Folgejahr wieder zurückkehrte, blieb Villegagnon vor Ort, um sein Unternehmen voranzutreiben. Er vermisste vor allem theologisch versierte Siedler für die Mission der Indigenen und der Eigenen. Deshalb schrieb er an den Genfer Theologen Jean Calvin, seinen ehemaligen Studienkollegen, und bat ihn um theologisch gebildete Verstärkung aus Europa. Während Villegagnon wartete und sein Fort ausbauen ließ, tobte an den Ufern der Bucht ein Indio-Krieg zwischen verfeindeten Stämmen. Die Franzosen hielten sich an die Praxis ihrer Vorgänger und pflegten gute Handelsbeziehungen mit den Tupinambá. Rasch lernten die Hugenotten von ihnen die Verarbeitung von Baumwolle und die Zubereitung heimischer Speisen. 1557 traf schließlich die erwartete Verstärkung von 300 Kolonisten im Fort Coligny ein. 14 Pastoren waren unter ihnen.

Villegagnon ging die kulturelle Anpassung seiner hugenottischen Männer zu weit. Denn sie drohten seine Utopie des »antarktischen Frankreich« zu verspielen, weshalb er Vergehen gegen sein Projekt bald mit drakonischen Strafen zu ahnden begann. Für sexuelle Vergnügungen mit Indio-Frauen stand schwerer Kerker oder die Todesstrafe. Dazu kamen theologische Konflikte um die Rolle der Eucharistie. Sie gipfelten schließlich in der Ermordung zweier Genfer Protestanten. Obwohl sie vor europäischen Glaubenskonflikten geflohen waren, brachten sie diese in die Neue Welt. Einige flüchteten deshalb vor dem Despoten ans Festland, um von dort bald nach Europa zurückzukehren. Villegagnon hatte nicht viel gewonnen. Im Jahr 1560 wurde das Fort Coligny von den Portugiesen zerstört und dem Kolonisator Martim Afonso de Sousa zugesprochen. Seine Truppen waren von christianisierten Tupi-Indios unterstützt worden. Der Hugenotte Villegagnon kehrte nach Frankreich zurück.

Aus Dank dafür schenkte Afonso de Sousa dem Häuptling Araribóia (Grausame Schlange) einen Landstrich in der Bucht von Guanabara. Dort gründete der Cazique Niterói, heute eine Stadt von 400.000 Einwohnern, Rio de Janeiro gegenüber. Ein paar Jahre später gründete ein portugiesischer Feldherr auf dem Festland in der Nähe des Forts Coligny die Siedlung São Sebastião do Rio de Janeiro. Ihre Festung wurde erst 1922 im Zuge der Stadterweiterung geschleift. Die größten Verluste in diesem Kleinkrieg zwischen Franzosen und Portugiesen hatten allerdings die Indios zu tragen, wegen ihrer Allianzen mit den Europäern und ihrer Feindschaften untereinander.

Das »antarktische Frankreich« vor Rio war zwar gescheitert. Im Norden Brasiliens vermochten sich die Franzosen allerdings zu halten. Kurz nach der Niederlage von Villegagnon ließen sie sich auf dem Gebiet der heutigen Stadt Cayenne nieder, erweiterten von dort aus ihr Territorium und besitzen es noch heute – als französisches Übersee-Département Guyane. Im frühen 17. Jahrhundert gründeten sie auch noch das Fort São Luís do Maranhão.

Der Schuhmacher Jean de Léry, einer jener Genfer Protestanten, kehrte nach Europa zurück. Allerdings hinterließ er einen ungewöhnlichen Reisebericht, der so bemerkenswert war, dass er Michel de Montaignes Abhandlung über den Kannibalismus, Des Cannibales (1580), beeinflusste. Denn Léry wurde Augenzeuge grausamer Gemetzel zwischen Katholiken und Protestanten. Er vergleicht sie mit den kulturellen Praktiken der Indios, die er zehn Monate lang studiert hatte. Seine L’Histoire d’un voyage fait en la terre du Brésil von 1578 war nur ein paar Jahre nach der blutigen Bartholomäusnacht verfasst, dem katholischen Gemetzel an Protestanten. Sie zollt den »Wilden«, den Sauvages, weit mehr Respekt als Staden und Vespucci.

Denn im Gegensatz zu Vespucci scheint Léry die Nacktheit der Indiofrauen natürlich im Vergleich zur verführerischen Aufmachung der Europäerinnen. Diese sei den guten Sitten weit abträglicher als selbstverständliche Blöße. Selbst die Polygamie verurteilt er nicht, weil sie das Ansehen des Mannes hebe und soziale Kompetenz voraussetze. In Europa war sie ihm allein schon deshalb nicht denkbar, weil man dort nicht einmal mit einer Frau harmonisch zu leben verstehe. Kannibalische Praktiken leugnet Léry nicht, doch erteilt er der Vorstellung, Anthropophagie sei eine spezifische Vorliebe der Indigenen, eine klare Absage. Er erkannte sie als Ritual der Abschreckung, der Rache am Feind. Und selbst in diesem Punkt schneidet Frankreich schlechter ab als die »Wilden«, weil seine »Zivilisierten« sich in Religionskriegen regelrecht massakrierten. Geiz und Profitgier waren ihm die symbolischen Formen der allgegenwärtigen Menschenfresserei. »Die Sauvages verspeisen ihre Feinde, die sie im Krieg gefangen nehmen – wenn sie tot sind. In Europa dagegen sind es die Gier und der Wucher, die die Menschen lebendig verzehren.«[10]

An Schlüsselstellen des Textes lässt der Autor die Indios selbst zu Wort kommen, fügt Gespräche ein, die er geführt haben will. Wie Staden und Vespucci setzt er auf Wahrhaftigkeit. Lérys in Genf publizierter Bericht erhielt zu Lebzeiten fünf Ausgaben, wurde ins Lateinische, Deutsche und Holländische übersetzt und galt bis weit ins 18. Jahrhundert hinein als Referenzwerk. Noch der Anthropologe Claude Lévi-Strauss, der 1935 nach Brasilien kam, pries die Histoire als bedeutendes Werk, weil sie genaue Beschreibungen von Flora und Fauna, von Religion und Gesellschaftsstruktur, von Heilkünsten und Bestattungsriten biete. Zudem hat Léry, wie viele Zeitgenossen, seine Studie in späteren Ausgaben mit anderen Reiseberichten verglichen. So bezog er sich auf Thomas Harriots Abhandlung über Roanoke, den ersten und gescheiterten Versuch der Briten, 1588 im heutigen North Carolina eine Kolonie zu gründen.

In seiner Enttäuschung über Europa entwirft Léry ein nahezu paradiesisches Gegenbild Brasiliens. Seine Sauvages brauchen kein Feld zu beackern, sind keine biblisch gefallenen Menschen, sondern leben von tropischen Früchten brasilianischer Erde in autarken Gemeinschaften, denen Luxus und Gewinnstreben unbekannt sind. Michel de Montaigne studierte Lérys Aufzeichnungen für seine Abhandlungen zum Kannibalismus, den er relativierte, auch weil er die Sensationslust der zirkulierenden Brasilienliteratur unerträglich fand. Ohne dort gewesen zu sein, war Montaigne der erste, der Kannibalismus aus ethisch-humaner Sicht bewertete und mahnte, sich selbst zu erkennen, bevor man den anderen kritisiere. Der Philosoph, dessen Diener im »Antarktischen Frankreich« gewesen war, hatte mit Hilfe eines Übersetzers Gespräche mit Tupinambá geführt. Mit seinem Werk Des Cannibales zeichnete Montaigne schon zweihundert Jahre vor Rousseau ein nachhaltiges Bild des »Edlen Wilden«. Sein Text und das exotische Fest für das Königspaar schufen in Frankreich eine wirkungsmächtige Vorstellung von Brasilien als tropisches Paradies.

Mit ihrem tropischen Mauritsstad hatten die Holländer mehr Glück. Die Zuckerstadt Salvador da Bahia, die sie 1624 besetzten, mussten sie ein Jahr später wieder räumen, doch in Nordostbrasilien, in Pernambuco, hielten sie sich dreißig Jahre. Der Angriff der Niederländer auf Territorien der portugiesischen Kolonie war zwar riskant, denn er fand zur Zeit der spanisch-portugiesischen Personalunion statt. Deren Vorteil war, dass die mächtige spanische Flotte die brasilianische Küste mitkontrollierte. Nach dem Ende des spanisch-niederländischen Waffenstillstandes im Jahr 1621 sahen die Oranjes keinen Grund mehr für kolonialistische Zurückhaltung. Im selben Jahr schufen sie die Niederländisch-Westindische Gesellschaft. Sie hatte die Amerikas im Visier. Zum Wunschterritorium gehörte natürlich die Kapitanie von Pernambuco mit ihren ausgedehnten Zuckerplantagen. Am internationalen Handel mit Zucker, seiner Verarbeitung und im Sklavenhandel waren die Holländer schon beteiligt, nun wollten sie sich auch die Produktionsgebiete des Rohstoffs sichern.

Das portugiesische Königshaus hatte gerade vom Generalgouvernement Bahia ein großes Gebiet im Nordosten ausgegliedert und es zum Estado do Maranhão erhoben, um die Region der Zucker-, Kakao- und Tabakproduktion stärker an Lissabon zu binden. Bahia mit seiner Hauptstadt Salvador hieß fortan Estado do Brasil. Das französische São Luís, von den Portugiesen rückerobert, wurde die Hauptstadt des riesigen Estado do Maranhão, dessen Geschichte und dessen transatlantische Beziehungen von der historischen Forschung bis heute vernachlässigt wurden. Er umfasste damals auch Pará, Amazonas, Teile von Ceará und Piauí.

Nachdem die Holländer vor Kuba die gesamte spanische Silberflotte gekapert hatten, eroberten sie Olinda, die Hauptstadt von Pernambuco. Sie taten es den Franzosen gleich, indem sie sich mit den Indios verbündeten. Zudem setzten sie afrikanische Sklaven als Arbeitskräfte für die Plantagen ein. Das konnten sie auch deshalb, weil sie kurzzeitig wichtige portugiesische Umschlagplätze für den Sklavenhandel in Afrika erobert hatten, Luanda und São Tomé. Es war keine Seltenheit, Sklaven in großem Stil aus Afrika zu verschleppen und vom Nordosten Brasiliens aus in die Karibik und sogar noch weiter, bis nach New York zu verschiffen, das damals Neu-Amsterdam hieß und den Holländern gehörte. Seine Wall Street, seine Docks waren durch Sklavenarbeit geschaffen worden.

Da der Aufbau einer effizienten Kolonialverwaltung an der mangelnden politischen Erfahrung der Kaufleute und am regionalen Widerstand scheiterte, wurde 1636 Graf Johann Moritz von Nassau-Siegen als Gouverneur über den Atlantik gesandt. Der Feldherr war wie der Franzose Villegagnon ein belesener Mann der Renaissance. Darüber hinaus war er ein selbstbewusster Bauherr, Städteplaner und Mäzen, offen für andere Kulturen. Auf einem Felsen vor Recife errichtete der Niederländer eine prächtige Residenz und dekorierte sie mit Gemälden seiner Hofmaler. Moritz von Nassau hatte Künstler, Wissenschaftler und Schriftsteller mitgenommen, ein Observatorium errichten lassen und Maler mit der »Abbildung« bukolischer Landschaften beauftragt. Sie dienten gleichsam als Werbeplakate für europäische Kolonisten – und als Werbung für ihn selbst. Dadurch gelang es dem Adeligen, ein nachhaltiges Image seines Erfolgs zu formen. Frans Post blieb sieben Jahre auf Mauritsstad und schuf Landschaftsbilder in nahezu fotografischer Detailtreue, menschen- und pflanzenreich, und einer Strahlkraft, wie sie für die niederländische und flämische Malerei charakteristisch war. Selbst die engenhos, die Zuckerplantagen mit ihren bunt gekleideten Sklaven, spiegeln eine helle, stille Welt vor. Trotz ihrer idealistischen Darstellungen sind die Gemälde bis heute bedeutende rare Zeitdokumente.

Moritz von Nassau dehnte die holländische Herrschaft bis ins heutige Ceará und Alagôas aus und nahm Sergipe ein. Die holländische Kolonie war gerade wegen ihrer politischen und religiösen Toleranz außergewöhnlich. Denn mit der Niederländisch-Westindischen Gesellschaft waren ebenfalls Protestanten und jüdische Händler ins Land gekommen, während im portugiesischen Brasilien nur der Katholizismus und seine Orden zugelassen waren. Dort galt die Inquisition, wenn sie auch nur äußerst lasch gehandhabt wurde und Indios und afrikanische Sklaven aussparte.