Wer war Fritz Mandl - Ursula Prutsch - E-Book

Wer war Fritz Mandl E-Book

Ursula Prutsch

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Beschreibung

Er sorgte für Skandale, Gerüchte und geheimnisumwitterte Geschichten: Fritz Mandl, der Ehemann Hedy Lamarrs und europäische „Patronenkönig“. Aus einer Wiener jüdischen Familie stammend, bekannte er sich zum Faschismus. Er bewunderte Mussolini und exportierte seine Patronen nach Deutschland, Italien und Japan ebenso wie nach Russland. Von den Nazis als „Jude Mandl“ gebrandmarkt, gelang es ihm sogar, die „Arisierung“ seines Unternehmens zu verhandeln. Im argentinischen Exil galt er als Verbindungsmann der Nazis, die Geheimdienste beschatteten ihn argwöhnisch. Erstmals erzählt Ursula Prutsch diese ungewöhnlich schillernde Lebensgeschichte, in der sich exemplarisch das Zusammenspiel von Big Business mit Diktaturen widerspiegelt.

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URSULA PRUTSCH

WER WAR FRITZ MANDL

DIE BIOGRAFIE

WAFFEN, NAZIS UND GEHEIMDIENSTE

Er verdiente sein Leben mit Patronen, bediente Kriege und wurde von Geheimdiensten observiert: Fritz Mandl.

Inhalt

Vom Leben eines Grenzgängers

Die Patronendynastie

Waffenbrüderschaften und Heimwehr

Putschpläne

Die Hirtenberger Waffenaffäre und die Zerstörung der Demokratie

High Society und Hedy Kiesler-Lamarr

Neue Kriege, neue Geschäfte

Verhandlungen des „Juden“ Mandl mit den Nazis

Geschäfte in Argentinien und den USA

Verdächtigungen und Freundschaften

Vom „Juden“ zum „Nazi“

Die Sehnsucht nach der Heimat und Konflikte mit Juan Perón

Die Rückkehr und Geschäfte mit Afrika

Der Noricum-Skandal und das Ende einer Ära

Anmerkungen

Archive und Literatur

Danksagung

Bonvivant und Genießer: Die unvermeidliche Zigarre konnte auch schon mal in einem Pfeifenhalter stecken.

„Wir werden morgen nach Toblach abreisen, um dort im Südbahnhotel zu wohnen“: Brief des zehnjährigen Fritz Mandl an seinen Lehrer Oskar Kreisky, einen Onkel Bruno Kreiskys. Auch Schwester Renée unterschrieb. Vöslau, Grand Hotel Bellevue, 31. Juli 1910.

Hirtenberg an der Triesting vor dem Ersten Weltkrieg. Im Hintergrund links vom Kirchturm die Schornsteine der Patronenfabrik. Ansichtskarte, um 1910.

Munition aus Hirtenberg: 8-mm-Mannlicherpatronen, die Standardmunition der k. u. k. Streitkräfte im Ersten Weltkrieg (links oben), Revolverpatronen und Zündhütchen, um1910 (links unten). Der Hirtenberger „Zivilkatalog“ aus dem Jahr 1930 verzeichnete das Angebot an Sportmunition (oben rechts).

Ein aufstrebendes Rüstungsunternehmen der Monarchie: die Patronenfabrik in Hirtenberg auf einer Ansichtskarte, um 1904.

Er war kein Skandal, aber eine Sensation und ein „interessantes Experiment“, das heftig besprochen wurde: Im Frühjahr 1933 kam der Film „Ekstase“ in die Kinos. Erstmals war eine Frau, gespielt von Hedy Kiesler, nackt zu sehen. Titelblatt der Zeitschrift „Mein Film“, Nr. 374, 1933.

Hedy Kiesler entsprach genau dem Frauentyp, den Fritz Mandl mochte: schlank, feine Gesichtszüge und große, ausdrucksvolle Augen. Porträt des neuen Kinostars von Edith Glogau im Gesellschaftsblatt „Die Bühne“, Nr. 347, März 1933.

Vor der großen Karriere: Hedy Kiesler mit ihrer Mutter Gertrude auf der Veranda des Elternhauses in der Peter-Jordan-Straße, Wien-Döbling, 1931. Foto: Albert Hilscher.

Gemeinsamer gesellschaftlicher Auftritt des prominenten Paars: Hedy Kiesler (links) und Fritz Mandl bei den Salzburger Festspielen 1937. Foto: Atelier Willinger, Wien.

Ab 1938 Fritz Mandls Sommer-Refugium an der französischen Riviera: das luxuriöse Château des Pins am Cap d’Antibes.

Fritz Mandls dritte Ehefrau Hertha Wrany. Die Steirerin war um elf Jahre jünger als er und ging mit ihm ins Exil nach Argentinien. Seinen geliebten Rolls-Royce (rechts) ließ Mandl nachkommen.

Die Argentinierin Gloria Vinelli, die vierte Ehefrau Mandls, mit den Kindern Renée, Alejandro und Gloria. Mandl heiratete sie 1951.

Das Castillo de Mandl. Die heißen argentinischen Sommer verbrachte die Familie in ihrem burgähnlichen Landsitz im Dörfchen La Cumbre bei Córdoba. Mandl erwarb „El Fuerte“, die „Festung“, zum Jahresende 1943, ließ die Türme schleifen und das Innere (links das Wohnzimmer) neu einrichten.

Gemeisam auf der Jagd: mit Monika, der fünften Ehefrau.

Der Nadelstreif ist dem Trachtenanzug gewichen: mit Sohn Fritz in Schwarzau im Gebirge, um 1960.

Fritz Mandl mit Familie und Freunden im Jahr 1963: mit Sohn Alejandro, Tochter Puppe, Nini Höller (?), Hedi Höller (?), Fritz Mandl Junior, Tochter Gloria, Christian Schönborn, Christl Schönborn, Ferdinand Stürgkh, Tochter Renée, Sissy Stürgkh, Wolfgang Höller (?) und Verena Schönborn (von links nach rechts).

Am Strand von Mar del Plata mit Tochter Puppe.

Noch einmal Kinderglück: Mit Tochter Marie-Louise.

Das Lieblingsfoto von Tochter Puppe (rechts im Hintergrund).

Eine Lebensgeschichte, die sich nicht in Kategorien fassen lässt: Fritz Mandl an Bord eines Schiffes unterwegs zu neuen Geschäften.

VOM LEBEN EINES GRENZGÄNGERS

Fritz Mandl wäre ein ausgezeichneter Stoff für ein Buch, schrieb Hedy Lamarr über ihren ersten Ehemann.

Er sorgte für Skandale, Gerüchte und geheimnisumwitterte Geschichten, fast sein ganzes Leben lang. Seine Patronenfabrik in Hirtenberg südlich von Wien hatte den Ruf, die einzige weltweit zu sein, die in nahezu jedem gewünschten Kaliber Patronenserien anbieten könne. Er exportierte sie nach Deutschland und auf den Balkan, nach Russland und China, Afrika und Lateinamerika. Er belieferte die Spanische Republik gegen Franco und Italien im Eroberungskrieg gegen Abessinien. Nach Argentinien emigriert, galt er als Mystery Man Mandl. Dort wurde erzählt, dass er Fahrräder herstellte, die binnen Kurzem zu Waffen umgebaut werden konnten, und dass er ein Verbindungsmann der Nationalsozialisten sei.

Unten in Argentinien arbeitet verborgen hinter diplomatischer Doppelzüngigkeit eine der finstersten Figuren der westlichen Hemisphäre. Ihr Name ist Fritz Mandl. Er ist die Bedrohung Nummer eins für den Frieden in den Amerikas. Er nennt sich selbst Flüchtling vor der Gestapo, aber ganz Buenos Aires hat gesehen, wie er einen Nazi aus Deutschland herholte, damit er ihm helfe, in Argentinien eine Munitionsfabrik zu bauen,

fantasiert Francis Rufus Bellamy.1 Er lässt seine Leser glauben, die Nationalsozialisten würden in Argentinien an einem „Vierten Reich“ bauen, weil das Dritte Reich in Trümmern lag. Und Fritz Mandl würde dabei eine Schlüsselrolle spielen.

Wer war dieser Mann, der die politische Ordnung scheinbar zu erschüttern verstand?

Fritz Mandl entstammte dem assimilierten Wiener Judentum. Er war mit Arthur Schnitzler verwandt und galt in den Zwanzigern als der reichste Industrielle im Land. Seine Hirtenberger Patronenfabrik stellte Munition her, keine Waffen. Solche ließ er nur in der Schweiz bauen, in einem Werk in Solothurn, das er mit der deutschen Rüstungsfirma Rheinmetall betrieb, da Österreich und Deutschland die Ein- und Ausfuhr von Kriegsgerät nach den Pariser Vorortverträgen von 1919 und 1920 verboten war.

Mandl trat stets in maßgeschneiderten Anzügen auf und krönte sein Erscheinungsbild mit einer bordeauxroten Nelke, die er täglich frisch in das Knopfloch seines Jackenrevers steckte. Wohl möglich, dass sie als Provokation für die Sozialdemokratie gedacht war. Die „Roten“ hielt er für unpatriotisch und sogar arbeiterfeindlich, während er sich als fürsorglicher Unternehmer verstand. Perfekt gekleidet und von Dienstboten umsorgt, pflegte er einen mondänen Lebensstil an der Côte d’Azur und in St. Moritz, in Wien und auf seinem Jagdgut in Schwarzau am Gebirge, später in Buenos Aires und in den argentinischen Bergen bei Córdoba. In Österreich war er „der Patronenkönig“ gewesen, im März 1938 war er „der Jude Mandl“, den die Nationalsozialisten um einen Gutteil seines Vermögens brachten, und 1945 wurde er vom Kriegsminister Juan Perón als „Nationalsozialist“ für ein paar Monate interniert.

Er bewunderte Mussolini und bekannte sich zum Faschismus, verachtete aber die Nationalsozialisten, wenngleich er kein Problem gehabt hätte, Geschäfte mit ihnen zu machen. Mithilfe seines Schweizer Bankiers vermochte er sogar die Arisierung seiner Fabrik zu verhandeln, was wohl einzigartig war. Er musste Österreich verlassen und wählte das argentinische Exil. Aber auch dort war er antisemitischen Attacken ausgesetzt und von den Briten und Amerikanern beargwöhnt, als seine Rüstungspläne sie zu stören begannen.

Auch sozialistische Flüchtlinge mieden ihn, weil er Mussolini unterstützt und großzügige Geldspenden entgegengenommen hatte, um die Sozialdemokratie im Heimatland zu zerschlagen. Hingegen half Fritz Mandl jenen ins Exil, die seine Weltanschauung teilten, indem er ihnen Geld schickte und ihre Schiffsreisen bezahlte: altösterreichischen Adeligen, jüdischen Freunden und Kameraden der ehemaligen Heimwehr, einem militarisierten Sammelbecken rechtslastiger Parteien. 1955 kehrte er nach Österreich zurück und bekam zwei Jahre später seine Fabrik restituiert. Zuvor hatte der vom Heimweh Geplagte Hirtenberg mit rettenden Lebensmittelpaketen versorgt.

Nach dem Ort und der Fabrik hieß der größte Rüstungsskandal der Zwischenkriegszeit. Die „Hirtenberger Waffenaffäre“ schürte in ganz Europa die Angst vor einem weiteren Weltkrieg. Und Anfang der Achtzigerjahre wäre die Hirtenberger Patronenfabrik durch eine weitere Affäre internationalen Ausmaßes fast in den Konkurs geschlittert. Österreich hatte den Irak und den Iran mit Waffen beliefert und das Neutralitätsgesetz verletzt. Diesen Noricum-Skandal erlebte Fritz Mandl allerdings nicht mehr, 1977 war er verstorben.

MEHR ALS EINE UNHEIMLICHE NEBENFIGUR

Trotz der Erfolge und Skandale, trotz seiner schillernden Persönlichkeit geriet Fritz Mandl nach seinem Tod zusehends in Vergessenheit. Mit der Wiederentdeckung der Hollywood-Ikone Hedy Lamarr rückte er wieder ins Rampenlicht, als unheimliche Nebenfigur. Hedy war seine zweite Ehefrau gewesen, er ihr erster Ehemann. Doch statt Mythen und Images über den illustren Gatten zu hinterfragen, werden immer wieder alte Zuschreibungen über den angeblichen Nazi-Agenten hervorgeholt, der Waffen und Nationalsozialisten nach Argentinien geschleust habe und mit dem autoritären, argentinischen Präsidenten Juan Perón befreundet gewesen sei. Längst haben sie ihren Weg ins Internet gefunden.

Freilich trug Hedy Lamarr zum Image ihres Ex-Mannes bei. In ihrer Autobiografie Ecstasy and Me, die ein Ghostwriter verfasste, trägt sie dick auf, schreibt von der Flucht aus ihrer Ehe und einem dämonischen Mann, der Kriege begonnen und beendet habe, der in jeder Hauptstadt der Welt bekannt und gefürchtet gewesen sei.2 Wie die Stars ihrer Zeit war sie im Hollywood-System gefangen, das Schauspielerinnen zur Ware machte und sie zum Eigentum mächtiger Studiobosse erhob. Schon damals galt der Wettbewerb um Aufmerksamkeit und damit um Profit. Dass Mandl sie dominiert und kontrolliert, dass er die junge, schöne Schauspielerin als Trophäe auszustellen versucht hatte, damit hatte sie freilich recht. Doch gleichzeitig bezeugen zahlreiche Briefe, dass er Hedy Lamarr und ihre Familie Jahre später finanziell unterstützte und mit ihrer Mutter Gertrude eng befreundet blieb.

Nazis verkaufen sich gut, ebenso Erzählungen von Gut und Böse. Aber Uneindeutigkeit und Widersprüchlichkeit bilden ein Prinzip menschlicher Existenz. Es ist lediglich schwerer vermittelbar und weniger spektakulär als die Erzählungen über dämonische oder vorbildliche Menschen. In Zeiten des besonderen Ringens um die mediale Aufmerksamkeit, in Zeiten des Wettbewerbs von moralisierenden Behauptungen, die glauben machen wollen, Menschen hätten nur eine Identität und die sei nicht wandelbar, haben scheinbar widersprüchliche Persönlichkeiten kaum Konjunktur.

Dabei steht Mandl für einen Typus, der nicht ungewöhnlich ist: für den international erfolgreichen Geschäftsmann, der Profit über Ethik stellt. Er steht für Unternehmer, die loyale Freundschaften pflegen und über Leichen gehen, die im Krieg um ihr Heimatland fürchten und gleichzeitig hoffen, er möge lange dauern, weil er ihre Kassen füllt. Die ihre Produkte an Regierungen verkaufen, deren Politik sie privat nicht gutheißen.

Gerade deshalb will dieses Buch das Wagnis eingehen, die Geschichte eines solchen Mannes zu erzählen, in dessen Lebensgeschichte sich das 20. Jahrhundert widerspiegelt, weit über Österreich hinaus, im globalen Kontext.

SECRET ODER TOP SECRET UND DOCH NICHT DIE WAHRHEIT

Bislang gibt es wenige verlässliche Arbeiten über den schillernden Patronenkönig. Herausgehoben seien hier das minutiös recherchierte Familienporträt der Wiener Gründerzeit von Marie-Theres Arnbom, die Beiträge von Georg Gaugusch und Tano Bojankin über Mandls Lebensstationen und Firmenbeteiligungen bis 1937. Den Geschäften Mandls und seinen Verstrickungen in die argentinische Politik spürten, so gut es das wenig zugängliche Material zuließ, Ronald C. Newton und Christel K. Converse, Ignacio Klich, Mario Rapoport, Andrés Musacchio und Horacio Ricardo Silva nach.

Die Familie Mandl hat mir den Nachlass, der die Jahre 1938 bis 1950 detailreich abdeckt, zur uneingeschränkten Nutzung überlassen. Er umfasst mehrere tausend Dokumente in deutscher, englischer, französischer und spanischer Sprache, oftmals mit Maschine auf hauchdünnem Durchschlagpapier getippt. Er enthält Briefe an Bankiers, Unternehmer, Militärs und Politiker in Europa, den USA und Lateinamerika. Er birgt private Schreiben von Familienmitgliedern, Freunden und Dienstboten, Telegramme, Einladungskärtchen, Gästebücher, Rechnungen über Mobiliar, Whisky und Wein, Kleidung und Schmuck. Alphabetisch geordnet gibt schon der Nachlass das Bild eines gut organisierten Mannes wieder, der zwar seine Geschäfte verschleierte, doch die kleinen Dinge des äußeren und auch inneren Lebens festhielt und ordnete.

Für eine Historikerin ist ein solcher Bestand ein wahrer Schatz, weil er nicht nur Entscheidungen nachvollziehen lässt, sondern auch Gedanken und Emotionen. Zudem ist das Rüstungsgeschäft ein Milieu, das von Geheimhaltung lebt. Aus den Dokumenten geht hervor, dass nicht nur rationales Handeln Entscheidungen bestimmt, sondern auch Neid, Gier und Rache, Loyalität und Empathie.

Fritz Mandl war ein homo oeconomicus, aber auch ein Mann, der soziales und kulturelles Kapital einzusetzen verstand, der sein Leben, seine Auftritte, sein Erscheinungsbild choreografierte, der wusste, welche Macht Macht hat. Um mich in dieses Leben hineinzudenken, sprach ich mit Mitgliedern und Freunden der Familie Mandl, mit seinen Kindern und ehemaligen Angestellten. Ihre Erzählungen über seinen Charakter, die einander ähneln, verfestigten ein Bild, das dieses Buch nachzeichnet.

Allerdings brauchte es eine Außensicht, gerade auch, weil der Privatnachlass nur einen Lebensabschnitt Fritz Mandls dokumentiert, und zwar den in Argentinien verbrachten. Zudem fehlen in den Familienpapieren manche Dokumente, die Mandls Pläne und Machenschaften belegten. Dazu gehört seine Korrespondenz mit Guido Schmidt, der während der Nazi-Zeit die Hermann-Göring-Werke in Linz leitete. Sie war aus den Papieren im Nachlass herausgenommen worden und liegt im Nationalarchiv in London.

Um die Lebensabschnitte des Industriellen Mandl zwischen 1900 und 1937 und zwischen 1950 und 1977 zu erschließen, mussten umfangreiche Archivbestände in Wien, St. Pölten, Linz, Berlin, Weimar, Bern, London, Washington, Buenos Aires und Rom durchgesehen werden. Sie brachten spannende Einsichten. Es waren gerade Berichte von Diplomaten, Journalisten und Geheimdienstlern, die manche Mythen und Gerüchte um den „Patronenkönig“ formten.

Als ich Freunden und Bekannten von Fritz Mandl erzählte, meinten sie, das wäre eine Geschichte für einen Film, für eine Serie sogar. Warum ich nicht einen Roman schreibe, wurde ich mehrfach gefragt.

Historiker sind der Suche nach Wahrheiten verpflichtet. Sie können sich nicht der Fiktion bedienen wie Drehbuchautoren und Schriftstellerinnen. Sie können Überlegungen und Mutmaßungen niederschreiben, aber nicht Figuren oder Ereignisse erfinden, um ein erzähltes Leben anschaulicher oder authentischer zu machen. Freilich müssen auch Historiker, musste ich aus der großen Dokumentenmenge eine Auswahl treffen, um die Lebensgeschichte Fritz Mandls auf 300 Seiten zu erzählen. Es ist ein ständiges Abwägen, was zitiert und was ausgespart wird, was relevant für die Nachwelt ist. Es gilt ein Maß zu finden zwischen der Privatperson und dem Geschäftsmann Mandl und den jeweiligen Hintergründen, vor denen er verstanden werden soll, in Österreich, Europa, den USA und Argentinien. Stets sind zwei Zeitebenen zu bedenken, um seine Handlungen und sein Denken zu erfassen, die heutige und die vergangene.

Dabei ist wichtig zu betonen, dass die Quellen nicht aus sich selbst sprechen.3 Deutlich wird das, wenn man die vielen Geheimdienstberichte liest. Auch sie sind Produkte ihrer Zeit und der jeweiligen Umstände. Selbst wenn secret oder top secret auf den Dokumenten steht, heißt es nicht zwingend, dass sie Wahrheiten erfassten. Gerade im Falle Mandls zeigte sich, dass ihre Verfasser Tatsachen manchmal zurechtbogen oder nicht richtig deuteten, weil sie schlecht ausgebildet waren oder weil ihr Auftraggeber, die US-Regierung, Druck ausübte, damit sie das berichteten, was Washington hören wollte.

Weil die Papiere der Familie so gut Aufschluss geben über die Art, wie er sich kleidete, welchen Wein er zum Essen trank, was sein Diener ihm vorwarf, welche Ledertasche seine Frau sich aus New York wünschte, welches Rot der Kissenbezug seines Bettes hatte, weil eine Stoffprobe in den Akten liegt, brauchte es keine Fiktion, um seine Welt zu beschreiben und sich in sie hineinzudenken. Obwohl sich so viel Fürsorgliches, Strenges, Abzulehnendes, Opportunistisches, Berechnendes, Solidarisches, Sehnsüchtiges aus diesen Dokumenten erschließt, heißt es immer wieder, größtmögliche Distanz zu wahren. Aber es lohnt sich, mit einem weiblichen Forscherblick das Denken und Handeln eines Mannes zu beschreiben, der sein Leben mit Patronen verdiente, Mussolini schätzte, Kriege bediente, von Geheimdiensten observiert wurde, fünfmal verheiratet und Frauen sehr zugetan war.

Der Patronenkönig Fritz Mandl war ein Grenzgänger. Er provozierte und suchte nach Heimat, er eckte an und wollte zugehörig sein, er half mit, die Demokratie zu zerstören, und wurde Opfer eines totalitären Regimes. Seine Lebensgeschichte ist so ungewöhnlich, weil sie nicht in Kategorien passt. Gleichzeitig ist sie – wenn man das Zusammenspiel von Big Business mit Autokratien und Diktaturen beobachtet – so aktuell. Gerade auch deshalb gilt es, sie zu erzählen.

Zuhause in der Welt des Wiener Großbürgertums: Mutter Maria Mandl mit ihren Kindern Fritz und Renée (links).

DIE PATRONENDYNASTIE

Am 31. März 1938 nahm SS-Obersturmbannführer Otto Eberhardt dem Patronenfabrikanten Alexander Mandl den Reisepass ab. Es bestehe Fluchtgefahr, drohte er. Mandl wohnte im Grand Hotel an der Wiener Ringstraße.1 In den Händen der Gestapo zu sein, war die zweite große Tragödie im Leben des 77-Jährigen. Die erste lag achtzehn Jahre zurück.

Am 18. April 1920 meldeten die Hirtenberger Fabriksirenen Feueralarm. Aus dem benachbarten Wöllersdorf, aus Wiener Neustadt und sogar aus Wien rückten die Feuerwehren an. Die Löschfahrzeuge trafen spät ein, das Benzin für den Betrieb der Pumpen war rationiert. 59 Gebäude, fast das gesamte Areal, wurden ein Raub der Flammen. Die Polizei machte mehrere Brandherde aus. Von Brandstiftung war auch in den Zeitungen die Rede. Es gab nur einen plausiblen Grund dafür. Alexander Mandl hatte gerade nahe Warschau eine Patronenfabrik, die Pocisk AG, gegründet. Weil die Anlage noch im Bau war, wurden aus Hirtenberg Kisten voller Patronen nach Polen geliefert: für den Grenzkrieg des jungen Staates mit der Sowjetunion. Kommunistische Arbeiter in Hirtenberg wollten wohl ihren russischen Brüdern beistehen. Sie legten an mehreren Stellen des Geländes Feuer und nahmen in Kauf, dass 1.500 Arbeiter betroffen waren.2 Der Brand war ein schwerer Schlag für die vom Nachkriegselend geprägte Region. Und für Alexander Mandl eine solche psychische Belastungsprobe, dass er seinen Sohn Fritz in die Firma holte. Dieser war gerade zwanzig Jahre alt geworden.

Alexander Mandl kam aus einer angesehenen und schillernden Großbürgerfamilie jüdischer Herkunft. Die Mandls waren begütert, sie hielten Salon, genossen Kunst und Kultur. Sie gehörten zu jenen jüdischen Familien aus den Kronländern der Monarchie, die es in Wien zu Wohlstand gebracht hatten und sich assimilierten.

Die Familie stammte aus dem Marktflecken Triesch (Třešt) in Mähren. Leopold Mandl, dort 1796 geboren, hatte eine Stelle als Arzt in Veszprém, Westungarn. Schließlich zog er nach Wien. 1867 hatten die Juden in der Habsburgermonarchie volle und gleiche Bürgerrechte erhalten. Die fünf Söhne Leopold Mandls – Ludwig, Ferdinand, Bernhard, Ignaz und Sigmund – machten als Ärzte, Kaufleute und Getreidegroßhändler Karriere. Sein Sohn Ludwig war durch seine Ehefrau Irene mit dem Schriftsteller Arthur Schnitzler verwandt. Doch Schnitzler hinterließ ein zwiespältiges Bild des angeheirateten Onkels:

Irene, harmloser und gutmütiger von Natur, wurde die Frau eines Getreidehändlers namens Ludwig Mandl, der, auch im Börsengeschäft wohlerfahren, bald als der reichste Mann in der Familie dastand, ohne es eigentlich merken zu lassen. Er trug sich salopp, ja schäbig, fuhr auf der Eisenbahn in der dritten Klasse und freute sich, wenn er die Bahnverwaltung gelegentlich um eine Abonnementkarte beschummeln konnte […]. Übrigens beschränkten sich seine Reisen fast nur auf Fahrten zwischen Wien und Vöslau.3

In Bad Vöslau, einem beliebten Kurort im Süden von Wien, hatte Ludwig eine Villa als Ferienwohnsitz gekauft. Die Schnitzlers und die Mandls wohnten zunächst in der Leopoldstadt, dem zweiten Wiener Gemeindebezirk. Es war damals noch ein vornehmes Viertel, durchzogen von der eleganten Praterstraße und bekannt für das Carltheater, bis immer mehr orthodoxe Shtetl-Juden aus Galizien, dem Armenhaus der Monarchie, nach Wien zogen und die Leopoldstadt bevölkerten. Die Familien Schnitzler und Mandl hatten mit den Neuankömmlingen nichts gemein. Sie wichen aus und wohnten fortan in der Innenstadt. Als Teil der noblen Wiener Gesellschaft blickten sie auf die Shtetl-Juden mit dem Argwohn der Elite herab, die sich ihren Platz im Zentrum der Macht erkämpft hatte.4 Diese armen Zuzügler aus dem Osten hausten in Massenunterkünften im zweiten Bezirk. Ihr „Anderssein“ nährte den wachsenden Antisemitismus in der Stadt, deren Bevölkerung mittlerweile auf zwei Millionen Menschen anwuchs. Nach London und Paris war Wien die drittgrößte Metropole in Europa, knapp vor Berlin.

Ignaz Mandl, Ludwigs Bruder, verstand aus Politik geschickt Kapital zu schlagen. Der streitbare Arzt saß für den Deutsch-Demokratischen Verein im Wiener Gemeinderat. Er sah sich als Kämpfer gegen Monopole und Korruption in der bürgerlich-liberalen Elite der Stadt. Im intellektuellen, aber demagogischen Mandl fand der aufstrebende Politiker Karl Lueger einen hilfreichen Lehrer. Beide forderten für die „kleinen Leute“ mehr politisches Mitspracherecht. Denn wählen durften nur jene Männer, die eine bestimmte Steuerleistung von zehn Gulden erbringen konnten. Mandl und Lueger wollten die Summe herabsetzen. Sie prangerten lautstark die Verschwendung von Steuergeldern an und führten einen neuen Stil in die politischen Debatten ein, aggressiv, polternd, hemdsärmelig.

Lueger erkannte das politische Potenzial des Antisemitismus. Als er es für seine Zwecke nützte, kam er freilich mit dem jüdischen Ignaz Mandl in Konflikt, mit dem er darüber wetteiferte, wer mehr für die Modernisierung der Millionenstadt tat, für die Gasbeleuchtung, die Tramway oder die Stadtsparkasse. Nachdem Lueger Bürgermeister geworden war, ging er als „der schöne Karl“ und der „Herrgott von Wien“ in die Geschichte ein, aber auch als jener, der den Antisemitismus salonfähig machte. Er war Österreichs erster Populist, einer, der eine kleinbürgerliche Protestbewegung zur christlich-sozialen Massenpartei ausbaute. Kaiser Franz Joseph weigerte sich zwei Jahre lang, den antisemitischen Katholiken im Bürgermeisteramt zu bestätigen. Seine Politik hat auch den jungen Adolf Hitler geprägt, der von Linz nach Wien zog und in der Vielvölker-Metropole seinen Deutschnationalismus und Antisemitismus auslebte. Über viele Buchseiten hinweg pries Hitler in Mein Kampf den 1910 verstorbenen Bürgermeister als eines seiner Idole.5

Ignaz Mandl, der den Tod Luegers nicht mehr erlebte, hatte einen ebenso außergewöhnlichen Neffen namens Julius Otto Mandl, der ganz andere Wege ging. Zunächst brachte er das elterliche Vermögen durch, war Automobil-Vertreter und Rennstallbesitzer, bis er seine Berufung in Berlin in der Welt des Stummfilms fand. Unter dem Künstlernamen Joe May drehte er in manischem Fleiß Dutzende Filme, fantastische und exotische, Detektivgeschichten und Melodramen. May, der auch Fritz Lang entdeckte, gefiel sich in Gigantomanie. Kein Aufwand war ihm zu groß, um Menschenmassen und Elefantenparaden vor spektakuläre Kulissen zu schieben. Seine Ehefrau, die Wienerin Hermine Pfleger, war Schauspielerin und unter dem Pseudonym Mia May von ihm häufig engagiert.

EINSTIEG INS GESCHÄFT MIT DEM KRIEG

Zurück zu Ludwig Mandl, Joe Mays Onkel und Ignaz’ Bruder. Den Getreidegroßhändler faszinierte das Patronengeschäft. 1883 kaufte er zusammen mit seinem jüngeren Bruder Sigmund Anteile an einer Wiener Munitionsfabrik. Damit war der Grundstein für den Aufstieg der Familie Mandl als Patronenkönige gelegt. Mit ihrer „Wiener Jagdhülsen-Patronen und Zündhütchen Fabrik L. Mandl & Co“ versorgten sie den inländischen Markt und konnten bald Munition ins Ausland verkaufen.

Die Firma florierte. Nur vier Jahre nach ihrem Einstieg ins Kriegsgeschäft erwarben die Gebrüder Mandl Anteile an einer Patronenfabrik in Hirtenberg, einer Marktgemeinde dreißig Kilometer südlich von Wien. Vom Schwaben Serafin Keller im Jahr 1860 gegründet, war der Betrieb rasch gewachsen. Ihr Besitzer durfte sich „k.k. Hof-Lieferant“ nennen und war als guter Arbeitgeber beliebt. Kurz bevor die Brüder Mandl als Miteigentümer firmierten, war der erste Großauftrag eingelangt. Serbien hatte fünf Millionen Gewehrpatronen bestellt.6

Die Hirtenberger Fabrik war nicht nur ein geschätztes „Etablissement“, wie es damals hieß, sondern am Eingang des Triestingtals auch günstig gelegen. Das Wiener Becken gehörte mit seinen Metallgießereien, Pulverwerken, Steinkohleminen, Baumwollspinnereien und Textilfabriken zu den florierenden Industrieregionen Europas. In Wöllersdorf, dem „Raketendörfl“, wurden Feuerwerkskörper, Raketen und Munition erzeugt. In Berndorf ließen Alexander Schöller und Alfred Krupp Metallwaren herstellen. Ihre sozialen Arbeitersiedlungen waren besonders geschätzt. Sozial gesinnt waren auch die Besitzer der Baumwollspinnerei in Marienthal, von der das ganze Dorf lebte. Später erreichte es durch die Studie von Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel Die Arbeitslosen von Marienthal traurige Berühmtheit. In Pottendorf war die erste große Maschinenspinnerei des europäischen Kontinents entstanden. Die Pulverfabrik Blumau konnte den Bedarf der Monarchie mit Sprengstoffen decken. All diese Fabriken lagen in der Nähe der Südbahn. Ihre Streckenführung durchschnitt, nicht weit von der ungarischen Grenze entfernt, das Wiener Becken und verband die Hauptstadt mit dem Hafen Triest.

Die Patronen- und Metallwarenfabrik Serafin Keller um 1885. Abbildung aus dem „Industriellen Welt-Blatt“ vom 15. August 1885.

Dr. Alexander Mandl, der Vater Fritz Mandls, war von Beruf Chemiker und trat 1894 in die Firma ein. Bald machte sich das Unternehmen in Hirtenberg bei in- und ausländischen Waffenkonstrukteuren einen guten Namen.

Nach der Brandkatastrophe vom 18. April 1920: Weite Teile der Patronenfabrik sind vollständig zerstört.

Kaum ins Geschäft eingestiegen, zog die Familie Mandl einen Großauftrag aus dem Deutschen Reich für 120 Millionen Patronen an Land. Zwar war Deutschland der Habsburgermonarchie in der Menge an hergestellten Waffen weit überlegen, sah sich jedoch nicht in der Lage, nach der Einführung eines neuen Gewehrsystems den benötigten Vorrat an Kriegsmunition herzustellen. Beliefert wurden freilich auch die k. u. k. Landarmee und das Marinearsenal in Pula.

Der Betrieb expandierte, seinen weiteren Aufstieg aber erlebte Ludwig Mandl nicht mehr, er starb 1893. Ein Jahr später stieg sein Neffe Alexander, der Vater von Fritz Mandl, in die Firma ein. Der im rumänischen Iași Geborene hatte Physik und Chemie studiert – eine für die Patronenbranche sinnvolle Fächerkombination. Dank großzügiger Anleihen der Wiener Creditanstalt erweiterte er seine Fabrik und seinen Kundenkreis. Die Bank ging mit den Aktien bald an die Börse, über Jahrzehnte blieb sie eine Großaktionärin der Patronenfabrik.7

Um 1900 stellten 2.600 Arbeiterinnen und Arbeiter pro Tag bereits eine halbe Million Patronen her; dazu kam eine Filiale in Ungarisch-Altenburg, heute Mosonmagyaróvár. Das Werksgelände in Hirtenberg umfasste zahlreiche Fertigungshallen und Pulverdepots, Arbeiterhäuser für 44 Familien, Dusch- und Wannenbäder und ein Epidemiespital.8

Obgleich zur Aktiengesellschaft erhoben, machte die Fabrik ihre Geschäfte unter einem neuen, aber nicht einfacheren Namen, der allerdings Jahrzehnte überdauerte: Hirtenberger Patronen-Zündhütchen-Metallwarenfabrik AG.

Mandl konnte das Unternehmen auch deshalb zu einem der führenden der Habsburgermonarchie ausbauen, weil er sich mit der Firma Steyr in Oberösterreich zusammentat. Steyr gehörte damals neben Krupp und Schneider-Creusot zu den großen Rüstungsfabriken Europas und erhielt laufend lukrative Aufträge für seine neuen automatischen Waffen. Diejenigen Staaten, die Gewehre von Steyr erwarben – Mexiko, Kolumbien, Venezuela, Chile, Bolivien, Peru, Siam (Thailand) und China, Persien (Iran) und Abessinien (heute Äthiopien und Eritrea) –, kauften die dazu passenden Hirtenberger Patronen.

DER WETTLAUF UM DIE RÜSTUNGSAUFTRÄGE

Es mag gerade aus deutscher Sicht ungewöhnlich erscheinen, die Habsburgermonarchie als Rüstungsexporteurin wahrzunehmen. Wohl war sie keine Kolonialmacht und produzierte etwa ein Zehntel der Menge, die deutsche Betriebe herstellten.9 Sie hatte zudem seit 1848 jeden Krieg verloren, nicht zuletzt aus taktischem Unvermögen. Aber noch immer herrscht der Mythos vor, die Monarchie sei ein unzeitgemäßes und dem Tode geweihtes Gebilde gewesen, mit Bewohnern, die sich eher in Heurige und in ihre Walzerseligkeit zurückgezogen hätten, als bei technischen Erfindungen Schritt zu halten.

Dieser Mythos wurde freilich auch von österreichischen Schriftstellern wie Stefan Zweig, Peter Altenberg und Joseph Roth mitgeprägt. Vermutlich wussten die Herren im Wiener Salon und im Kaffeehaus nicht, wohin Großbetriebe wie die Österreichische Waffenfabriks-Gesellschaft in Steyr, die Wöllersdorfer Werke, Škoda in Pilsen, Manfréd Weiss in Budapest, Alexander Mandl in Hirtenberg exportierten und durch welche Kanäle ihre Waren die Bestimmungsorte erreichten. Viele Rüstungsgüter aus Österreich-Ungarn wurden nicht über den Hafen Triest verschifft, sondern über deutsche Nordseehäfen, sodass man sie in Übersee oft als „deutsche Fabrikate“ wahrnahm.

Den begehrten Aufträgen im Kriegsgeschäft gingen harte, trickreiche Wettbewerbe voraus. Es war ein Spiel mit Gespür dafür, wem zu trauen und zu misstrauen war, wie man verschleierte, wer bestochen wurde und wo man sich beschwerte, wenn man übervorteilt war. Darin hatte Alexander Mandl noch einiges zu lernen. 1897 reiste er nach Konstantinopel (Istanbul). Er wollte der deutschen Regierung bei der Neubewaffnung des Osmanischen Reiches zuvorkommen und zählte dabei auf die Unterstützung der österreichisch-ungarischen Gesandtschaft vor Ort.10

Das Osmanische Reich führte gerade Krieg gegen Griechenland und hatte große Mengen an deutschen Mauser-Gewehren gekauft. Doch scheinbar taugte die dazu passende Munition der Karlsruher Patronenfabrik nicht. Mandl schrieb deshalb im Mai 1897 an die österreichisch-ungarische Gesandtschaft und bat um Unterstützung. Er beklagte sich, dass die Deutschen den Auftrag nur bekommen hätten, weil sie Preisabsprachen getroffen hätten, bei denen er leer ausgegangen war. Auch die Spanier hätten Patronen in Karlsruhe gekauft, erklärte Mandl, und zwar für ihren Krieg gegen die USA, den sie um Kuba führten. Weil die deutschen Patronen aber beschädigt gewesen seien, habe Spanien schnell überall Munition besorgen müssen, auch in Hirtenberg. Sein Werk produziere nun 600.000 Patronen täglich. Die Karlsruher würden aber zu billig fertigen, klagte Mandl, seine Firma führe hingegen ein Buch mit Qualitätskontrolle. Da er deshalb „gewisse moralische Rechte“ erworben habe, müsse die österreichisch-ungarische Gesandtschaft den Sultan Abdülhamid II. bewegen, ihm doch den Auftrag zu erteilen. Er wäre bereit, den Preis zu senken. Solche Argumente, dass Munition der Konkurrenz schlecht sei und das Pulver minderwertig, waren nicht unüblich im umkämpften Markt.

Einen Monat später erfuhr Alexander Mandl, dass der Sultan mit der Karlsruher Firma einen neuen Auftrag für 220 Millionen Patronen vereinbart hatte. Höchst verärgert schickte Mandl seinen Agenten Fulvio de Pedrelli, der in Konstantinopel lebte, mit einer undankbaren Aufgabe zum Sultan: Er solle darauf dringen, dass man diese „gänzliche Abweisung“ nicht hinzunehmen gedenke.

Die Temperamentsäußerungen des Herrn Mandl seien nicht sehr hilfreich gewesen, hieß es in den Räumen der österreichischungarischen Gesandtschaft, und die Nerven des Sultans seien so abgehärtet, dass ihn leere Drohungen nicht beeindruckten. Besser wäre gewesen, billigere Offerte zu machen, so wie Deutschland. Mandl kenne eben das schwierige Terrain hier nicht, er habe keine erfahrenen Agenten und müsse in der Frage des Bakschischs, des „Gefälligkeitsbetrages“, noch von den Deutschen lernen. Deren Militärattaché habe eben geschickter verhandelt.

Den Auftrag bekam Alexander Mandl nicht. Wütend und vergeblich verlangte er von seiner Gesandtschaft zu klagen. Doch Abdülhamid II. wollte keine Patronen aus einem anderen Land, und die deutsche Regierung war bereit, den Schaden, der durch die schlechte Munition aus Karlsruhe entstanden war, gut zu machen. Ohnehin glaubte der Herrscher am Bosporus, das Deutsche Reich sei das einzige Land, von dem er etwas zu erhoffen, aber nie etwas zu fürchten brauche. Zudem war der Besuch des deutschen Kaisers Wilhelms II. für Oktober in Konstantinopel geplant: eine Genugtuung für den Sultan, dessen Krieg gegen Griechenland international heftige Kritik erfuhr.

Solch ein symbolisches Kapital konnte ein Alexander Mandl nicht bieten. Er gab sich freilich nicht geschlagen. Denn zwei Jahre später wollte der Sultan nicht nur österreichische Waffen, sondern auch Maschinen für Munition erwerben und fähige Techniker engagieren, die ein eigenes Werk für ihn aufbauen würden. Wieder antichambrierte der Agent Pedrelli. Die Hirtenberger Fabrik erhielt einen Auftrag für ein paar Maschinen, begleitet von versierten Technikern. Zwei tüchtige sollten reichen, meinte der Sultan. Mit dieser Notiz endet der Bericht über die Türkei-Geschäfte.

EIN KIND DES JÜDISCHEN GROSSBÜRGERTUMS ALTÖSTERREICHS

An militärischen Auseinandersetzungen mangelte es nicht. 1904 und 1905 führte das Kaiserreich Japan Krieg gegen Russland, mit Patronen der Hirtenberger Fabrik. Auch die wachsenden Konflikte auf dem Balkan schlugen sich in Patronenverkäufen nieder. Rumänien, Bulgarien und Griechenland bestellten bei Mandl Munition in Millionenhöhe. 1910 reiste eine Kaiserlich Chinesische Kommission in den kleinen Ort Hirtenberg und schien beeindruckt gewesen zu sein. Damit er nicht vergessen werde, sandte Mandl eine Musterkollektion Patronen nach Peking. Er dürfte aus der Türkei-Erfahrung gelernt haben. Denn China bestellte 120 Millionen Stück. Die Firma Krupp durfte Mandl dort auch vertreten.11 Von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg verkaufte die Hirtenberger Patronenfabrik geschätzte 1,4 Milliarden Patronen in alle Welt. Dafür bekam Mandl das Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens verliehen.12

Alexander Mandl agierte anders als die Familien Krupp und Thyssen, die ihre familiären Netzwerke ständig erweiterten und gezielt in großbürgerliche sowie adelige Kreise einheirateten. Er blieb lange kinderlos und war neununddreißig Jahre alt, als sein Erstgeborener Friedrich (Fritz) am 9. Februar 1900 in der Giselastraße 2 (heute Bösendorferstraße) im ersten Wiener Gemeindebezirk geboren wurde – als uneheliches Kind. Während der vermögende Alexander konfessionslos war, gehörte die Mutter, die knapp 27-jährige Maria Mohr, Tochter eines Lederers, der katholischen Kirche an. Sie war in der Grazer Idlhofgasse im ärmlichen Bahnhofsviertel aufgewachsen, wo zahlreiche Gerbereien für die „Welt-Schuhfabrik“ arbeiteten. Wo er sie kennenlernte, ob sie Schauspielerin war, wie in den Erinnerungen der Familie Mandl vermutet, ist nicht zu eruieren.

1901 kam die Tochter (Renata) Renée zur Welt. Beide Kinder wurden katholisch getauft. Der Pate von Fritz war Fulvio de Pedrelli, der Agent seines Vaters in Konstantinopel. Die sozialen und konfessionellen Barrieren zwischen Alexander Mandl und Maria Mohr waren wohl nicht leicht zu überwinden. Erst am 9. Juli 1910 schlossen sie den Bund der Ehe. Und erst eine Woche später, am 16. Juli, erschien Alexander Mandl mit zwei Zeugen im zuständigen Amt im ersten Wiener Gemeindebezirk und beglaubigte seine Vaterschaft. Seine Frau, die man Marie rief, passte sich an und trat aus der Kirche aus. Sie hinterließ in der Familiengeschichte keine weiteren Spuren. Am 12. April 1924 verstarb sie nach einem Schlaganfall in Hirtenberg.13

Auch an Fritz Mandl schienen die Herkunft und die Umstände seiner Geburt zu kleben. Zeitlebens blieb die Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu Menschen vornehmer Geburt. Stets umgab er sich mit Mitgliedern des österreichisch-ungarischen Adels, in Wien, an der Côte d’Azur, in New York und Buenos Aires. Die Verbundenheit mit (Alt)-Österreich, dem Kulturraum Zentraleuropa machte seine Identität aus. Die jüdische Herkunft besprach er kaum, und wenn, dann spielte er sie herunter, oder betrachtete sie – den Nationalsozialisten gegenüber – als Last.

Ob ihm die Stellung des Vaters in der Schule half, ist schwer zu sagen. Im Sommer 1910 bedankte sich der Schüler Fritz bei Oskar Kreisky, einem Onkel von Bruno Kreisky, der als Lehrer im Radetzkygymnasium wirkte, mit einer Postkarte in sauberer Kinderschrift.14 Kreisky schien aber sein Privatlehrer gewesen zu sein, wie im Schulkatalog des Akademischen Gymnasiums vermerkt wurde. Dorthin wechselte er im selben Jahr. Es war das älteste der Stadt, die Eliteschmiede des Großbürgertums, und brachte eine Vielzahl bedeutender Persönlichkeiten hervor: Paul F. Lazarsfeld, der eine Klasse unter ihm war, Hans Kelsen, Erwin Schrödinger, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Otto Wagner, Ludwig von Mises, die Physikerin Lise Meitner und Elise Richter, die erste Universitätslehrende im deutschsprachigen Raum.

Die Noten des Schülers Mandl ließen aber zu wünschen übrig, wie der Schulkatalog seines ersten Schuljahres dort beweist. In Mathematik, Naturgeschichte und Schreiben waren sie „genügend“. Noch schlechter sah es 1916/17 aus. Da gab es nur „genügend“, selbst in Religion, „entsprechend“ war das Betragen.15 Wäre Fritz Mandl an der Schule verblieben, hätte er das Jahr wiederholen müssen. Deshalb wechselte er im Herbst 1917 in das Piaristengymnasium in Krems. Einige Monate lang, bis Ende Februar 1918, bezog er eine kleine Mietwohnung im Konvent, für die sein Vater 200 Kronen (heute etwa 400 Euro) pro Monat auslegte. Mit einem Pater verstand sich Fritz Mandl gut. Er sollte später ihn und Hedy Kiesler trauen. Da Fritz als Einjährig-Freiwilliger im Krieg dienen wollte, durfte er in Krems die Matura am 1. März 1918 vorzeitig ablegen. Das Zeugnis verzeichnet keine Noten, sondern bietet nur den schlichten Kommentar, dass der Schüler „reif mit Stimmenmehrheit“ sei.16

Nach Familienerzählungen hätte Fritz die Schule nur deshalb erfolgreich abgeschlossen, weil Vater Alexander dem Gymnasium großzügig Geld für Renovierungsarbeiten spendete. Von solchen Zuwendungen ist in den Rechnungsbüchern nichts zu finden. Vielleicht zog man es vor, die Spenden nicht zu deklarieren.

DIE GESCHÄFTE BLÜHEN – DER ERSTE WELTKRIEG

Am 28. Juni 1914 hatte der Serbe Gavrilo Princip den Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie von Hohenberg in Sarajevo ermordet. Das Attentat und die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien waren unmittelbare Auslöser für einen Krieg, dem ein jahrelanges Wettrüsten europäischer Großmächte, undurchsichtige Entscheidungen und diplomatisches Versagen vorausgegangen waren; man verlor sich in einem „Wirrwarr aus Versprechungen, Drohungen, Plänen und Prognosen“.17 Die Habsburgermonarchie spielte in diesem fatalen Wettrüsten aktiv mit. Die Gründe dafür lagen auch an ihren zahlreichen Problemen.

Im Vielvölkerstaat hatte nach 1900 keine Regierung mehr lange gehalten. Der Reichsrat und das Kaiserhaus scheiterten daran, es den 16 Kronländern und den zehn „Nationalitäten“, die miteinander und nebeneinander lebten, recht zu machen. Statt die besonders benachteiligten Volksgruppen zu stärken, beharrte die Politik auf starren Hierarchien, an deren Spitze die deutschsprachigen Katholiken standen und an deren Ende die muslimischen Bosnier. Der Plan, die „Vereinigten Staaten von Großösterreich“ zu schaffen, wurde nicht umgesetzt. Immer mehr Untertanen verlangten das allgemeine Wahlrecht. Genau diese politische Teilhabe, so befürchtete man in Wien, würde den Nationalismus erst recht entzünden. Und dann würden die Tschechen, Slowaken und Kroaten die deutschsprachige Gruppe überstimmen.

Wien war eine pulsierende Stadt der Moderne, ein Experimentierfeld für Wissenschaften und Kunst, deren Reichtum aber auf Heerscharen von Arbeiterinnen und Arbeitern beruhte, die in Elendsquartieren lebten. Das liberale Bürgertum beklagte die starre Bürokratie, manch deutschsprachiger Großunternehmer das Fehlen von Kolonien. Hochadelige aus allen Teilen der Monarchie warben um die Gunst des Kaiserhauses und hielten an feudalen Strukturen fest. In den ärmsten Kronländern, in Dalmatien, Galizien und der Bukowina, kam das Geld aus Wien für Straßen und Schulen nie an. Dreieinhalb Millionen Menschen verließen ihre Heimat, um sich in Nord- oder Südamerika eine neue Existenz zu schaffen. Mit der Zahl ihrer Auswanderer lag die k(aiserliche) u(nd) k(önigliche) Monarchie im europäischen Spitzenfeld. Robert Musil, einer der großen Chronisten des k. u. k. Universums, findet für dieses „Kakanien“ vor dem Ersten Weltkrieg brillant ironische Worte:

Es nannte sich schriftlich Österreichisch-Ungarische Monarchie und ließ sich mündlich Österreich rufen […]. Es war nach seiner Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig. Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bürger. Man hatte ein Parlament, welches so gewaltigen Gebrauch von seiner Freiheit machte, daß man es gewöhnlich geschlossen hielt; aber man hatte auch einen Notstandsparagraphen, mit dessen Hilfe man ohne das Parlament auskam, und jedesmal, wenn alles sich schon über den Absolutismus freute, ordnete die Krone an, daß nun doch wieder parlamentarisch regiert werden müsse.18

Die Nationalitätenkämpfe spitzten sich zu. 1913 schrieb Hugo von Hofmannsthal seinem besten Freund, dem Diplomaten Leopold von Andrian, weitsichtig: „Wir müssen es uns eingestehen, Poldy, wir haben eine Heimat, aber kein Vaterland – an dessen Stelle nur ein Gespenst. Daß man für dieses Gespenst vielleicht einmal das Blut seiner Kinder wird hingeben müssen, ist bitter zu denken.“19

„Wir haben den Krieg angefangen, nicht die Deutschen u. noch weniger die Entente – das weiß ich“, schrieb der Freund „Poldy“ Andrian später in sein Tagebuch. Er sei ins Ministerium des Äußeren geholt und in die geheimen Pläne eingeweiht worden.

[M]an sei entschlossen, durchzusetzen, dass Serbien vollständig zu Kreuz krieche, oder aber ihm den Krieg zu machen. Der Kaiser habe sich großartig benommen, ohne irgend eine Schwierigkeit in diese neue Politik der Entschlossenheit eingewilligt. Der Accord mit Deutschland sei vollzogen. Unser Kaiser habe einen Brief an Kaiser Wilhelm gerichtet, in dem er die Nothwendigkeit einer entscheidenden Demüthigung Serbiens dargelegt habe – mit Waffen oder ohne Waffen - u. Kaiser Wilhelm habe sich völlig einverstanden erklärt.20

Leopold von Andrian gehörte zu jenen Beamten, die glaubten, dass Krieg das einzige Mittel sei, um den „unreformierbaren“ Habsburgerstaat auf neue Beine zu stellen. Er dachte an ein paar rasche und erfolgreiche Schlachten, die zu Österreich-Ungarns Gunsten entschieden würden. Der Krieg aber endete für die Mittelmächte vier Jahre später mit einer verheerenden Niederlage.

Den Rüstungsindustrien bescherte er dennoch üppige Gewinne. Er spülte Millionen Kronen in die Kassen der Hirtenberger Patronenfabrik. 4.200 Arbeiterinnen und Arbeiter schufteten, teils im Zweischicht-Betrieb von zwanzig Stunden täglich, für die Armee. Pro Tag fertigten sie bis zu 1,4 Millionen Patronen und Sprengkapseln mit hochgiftigem Knallquecksilber. Entwickelt hatte die tödliche Ware Arnold Nabl, der Bruder des Schriftstellers Franz Nabl, der für die Fabrik als Chemiker arbeitete. Auch das Zweigwerk in Ungarisch-Altenburg lief mit seinen 3.500 Arbeitern auf Hochtouren.

Im dritten Kriegsjahr wurden Buntmetall und Lebensmittel Mangelware. Galizien, in Friedenszeiten die wichtigste Getreidekammer der Monarchie, war Frontgebiet. Ungarn konnte zwar die Armee mit Brot versorgen, aber seine Bevölkerung nicht.

Alexander Mandl erwarb Anteile an den Grünbacher Steinkohlewerken. Trotzdem drohte die Produktion einzubrechen, weil viele Arbeiter an die Front mussten. Ihre Plätze nahmen Frauen ein. Die Akkordarbeit, der Schlafmangel und die schlechte Ernährung ließen sie früh altern.

Im Juni 1917 flog ein Munitionsdepot in der Nähe von Hirtenberg in die Luft, im September des folgenden Jahres kamen 423 Mädchen und Frauen in den Wöllersdorfer Werken ums Leben. Sie verbrannten oder wurden zertreten, als Röhrenpulver zu brennen begann und die einzige Ausgangstür der Halle von fliehenden Menschen blockiert war. Im Januar 1918, nach einem harten Winter, begannen 30.000 Arbeiterinnen und Arbeiter im Wiener Neustädter Becken zu streiken und setzten etwas bessere Löhne und weniger Sonntags- und Feiertagsarbeit durch.21

Im letzten Kriegsjahr entwickelte die Hirtenberger Patronenfabrik als eine der ersten weltweit noch die elektrische Zündung von Patronenmunition. Den Ausgang des Krieges beeinflusste sie damit nicht mehr, erzielte aber Rekordgewinne. Die Munitionsfabriken Österreichs, hieß es in Berlin, seien zu Großgesellschaften emporgestiegen: „Nach dem Krieg werden sie neue Gebiete benötigen und werden eine gefährliche Konkurrenz für bestehende Firmen sein.“22Von den gewaltigen Einnahmen blieb Alexander Mandl jedoch wenig, denn er hatte in Kriegsanleihen investiert und Millionen Kronen verloren. Seine Fabrik geriet in die Hände von Banken.23

DAS NEUE GESCHÄFTSUMFELD: DIE REPUBLIK

Im Oktober 1918 ließ Kaiser Karl I. die Abgeordneten des österreichischen Reichsrates zusammentreten und erklärte ihnen, dass er im Voraus mit einer neuen Staatsform einverstanden sei. Am 12. November 1918 wurde die kleine Republik Deutsch-Österreich ausgerufen, nachdem recht seltsame Namensideen wie „Deutsches Bergreich“, „Deutschmark“, „Deutsches Friedland“ verworfen worden waren.24

Damit war das Ende eines jahrhundertealten Staatsgebildes, des zweitgrößten in Europa besiegelt. Die Monarchie zerfiel in unabhängige Nationalstaaten. Wien, vormals im Zentrum eines Reiches mit 54 Millionen Untertanen gelegen, befand sich nun mit seinen fast zwei Millionen Einwohnern plötzlich am nordöstlichen Rand eines Kleinstaates, dessen Bevölkerung nur mehr 6,4 Millionen Menschen betrug. Die alten Verkehrswege waren durchschnitten, der Industrie fehlten Rohstoffe, die Rüstungsbetriebe waren überdimensioniert, viele Grenzregionen umkämpft. Ungarn wollte das Burgenland (das ehemalige Westungarn) nicht verlieren, die neugegründete Tschechoslowakei beharrte auf dem Sudetenland, Italien begehrte Südtirol, der neue SHS-Staat (Jugoslawien) Teile der Südsteiermark und Kärntens, bayerische Milizen um Erich Ludendorff arbeiteten auf den „Anschluss“ Westösterreichs an Deutschland hin. Teile Vorarlbergs wiederum wollten freiwillig der Schweiz zugehören.

Die Habsburgermonarchie sei ein „gut synchronisierter“ Staat gewesen, erinnerte sich Fritz Mandl später; Ungarn habe Weizen und Vieh gehabt, Österreich Holz, Eisen, Mineralien und eine starke Industrie, das Gebiet der späteren Tschechoslowakei Kohle und Galizien Erdöl. Nun war dieses Gefüge zerbrochen.25 Tausende ehemaliger k. u. k. Offiziere kehrten in das alte „Zentrum“ zurück, auch junge Veteranen, die keinen Beruf erlernt hatten außer zu kämpfen. In Lemberg (Lwiw), Prag (Praha), Agram (Zagreb) und Laibach (Ljubljana) stationierte Beamte strömten nach Wien und vergrößerten das Heer der 130.000 Arbeitslosen im Land. Zur selben Zeit erreichte die Spanische Grippe, die weltweit viele Millionen Opfer forderte, Österreich.

Die große Mehrheit der Bevölkerung war damals überzeugt, dass dieser „Rumpfstaat“ nicht überlebensfähig sei. Deshalb gab es einen politischen Konsens, dass ein „Anschluss“ an Deutschland das Sinnvollste wäre. Viele Christlichsoziale hofften trotzdem auf eine Donauföderation nach dem Vorbild der alten Monarchie. Den besonders Europamüden versprachen Auswanderervereine, die wie Pilze aus dem Boden schossen, einen Neubeginn in Übersee.

Politisch aber verlief der Übergang von der Monarchie zur Republik moderater als in Ungarn oder Deutschland. Trotz des Elends, trotz der Grenzkonflikte und der Debatten um die politische Zukunft schuf die Koalitionsregierung zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokraten rasch einen modernen Sozialstaat mit einer Verfassung, die (mit Unterbrechungen freilich) heute noch in Kraft ist. Im Februar 1919 durften erstmals Frauen wählen, und bald zogen auch die ersten weiblichen Abgeordneten in das Parlament ein.

Radikaler als in Deutschland ging man mit Adel um. Alle Titel und Vorrechte der Aristokratie wurden abgeschafft, allein schon aus Angst vor einer Restauration der Monarchie. Das war nicht unbegründet, fuhr doch der ehemalige Kaiser Karl I. zu Ostern und im Oktober 1921 nach Westungarn und versuchte von dort aus erfolglos die Monarchie wieder zu errichten. Die Familie Mandl beeindruckte die Abschaffung der Adelstitel wenig, im Aufsichtsrat der Hirtenberger Patronenfabrik lebten sie weiter: Emil Prinz zu Fürstenberg, Graf Kasimir Esterházy, Graf Barthold Stürgkh. Die Aristokratie blieb namentlich auf dem Land und in den Salonblättern der Stadt erhalten, wenn es um Charity-Bälle und Autokorsos im Prater ging, wo auch Fritz Mandl mit einem blumengeschmückten Rolls-Royce defilierte.

AUCH IM FRIEDEN KANN MAN MIT PATRONEN GELD MACHEN

Die Hirtenberger Patronenfabrik blieb auch nach Kriegsende im Mandlschen Besitz, nicht aber das Zweigwerk in Ungarisch-Altenburg. Es lag im strittigen Grenzgebiet zwischen Österreich und Ungarn und war für die Familie verloren. Die Rohstoffe wurden verteilt, die Maschinen zerlegt und nach Budapest transportiert.26

Kleinere Munitionsfabriken in Österreich aber kränkelten. Weil die Regierung Streiks, Plünderungen und Revolten fürchtete, stünden Menschen ohne Arbeit auf der Straße, wurden viele Firmen verstaatlicht und stellten Möbel, Sägen und Pflüge her. Die Waffenfabrik in Steyr sattelte teils auf Autos, Traktoren und Fahrräder (die „Waffenräder“) um. Die Munitionswerke in Wöllersdorf wurden in Staatliche Industriewerke umbenannt.

Im September 1919 unterzeichnete die österreichische Delegation im Pariser Vorort St. Germain-en-Laye den Friedensvertrag, oder den „Diktatfrieden“, in der Rolle eines Statisten, weil die Monarchie ein Hauptverursacher des Krieges gewesen war. Wie Deutschland wurde Österreich zur Zahlung hoher Reparationen verpflichtet. Später wurden sie gestundet, weil das hochverschuldete, so vieler Ressourcen beraubte Land sie nie hätte zahlen können, ohne sich an Deutschland anzuschließen, was ihm verboten war. Für Rüstungsfabriken galten mit dem Friedensvertrag nun neue Regeln. Österreich, Deutschland und Ungarn durften nicht mehr aufrüsten, Ein- und Ausfuhr von Kriegsgerät war künftig verboten. Österreich bekam ein Berufsheer, das keine schweren Waffen, keinen Generalstab, keine Luftwaffe und nur bis zu 30.000 Soldaten haben durfte. Fortan galt es, „für den Frieden“ zu arbeiten. Da der Vertrag aber erst im Juli 1920 in Kraft treten sollte, wurden Waffen und Munition hin und her verschoben. Denn die am Weltkrieg Beteiligten horteten noch immer erbeutetes Kriegsgut, das sie rasch zu Geld machen wollten.

Zwar sollten Waffenschmieden und Patronenfabriken ihre Bestände zählen, auflisten und der Inter-Alliierten Militärkontrollkommission melden. Jeder Transport wurde registriert, jeder Waggon versiegelt, der Inhalt überprüft, jede Verschiebung über Grenzen gemeldet – theoretisch. Aber es gab Schlupflöcher, Nachkriegsnot und Überlebenskämpfe. Österreich blieb ein militarisiertes Land. Kriegsheimkehrer gaben ihre Waffen nicht ab und taten sich zu Bauern- oder Arbeiterwehren zusammen.

Weil die Hirtenberger Patronenfabrik weiterhin Aufträge bekam, bewahrten ihre Arbeiter Stillschweigen darüber, wie viel sie produzierten. Sie verheimlichten, dass sie Kisten vollgefüllt mit Patronen nachts in den Weinbergen neben dem Firmengelände versteckten, bevor sie, falsch deklariert, abtransportiert wurden.27 Immer wieder tauchten Meldungen über Waggons mit Munition auf, über deren Bestimmung die Behörden rätselten. Am 14. Januar 1920 meldete der Landesbefehlshaber der Volkswehr (des Bundesheeres) in Innsbruck, dass zehn Millionen Mauser-Patronen aus Italien eingetroffen seien. Sie wurden auf 26 Eisenbahnwaggons verladen und in ein Depot gebracht. Auf den Frachtbriefen der Kisten war die Hirtenberger Patronenfabrik als Adressat genannt.

Ein paar Wochen später, am 1. März 1920, meldete der Bahnkommissär Karl Knoll der Polizeidirektion in Wien, dass die Hirtenberger Patronenfabrik mehrere Waggons fertiger Gewehrmunition über die Aspangbahn nach Polen gesandt habe. Sie sollte über den Wiener Nordbahnhof gehen. Die Sendungen wurden als „Messing in bearbeitetem Zustande“ deklariert. Zwei Waggons waren aber einige Tage zuvor in Aspang gesichtet worden, das in der entgegengesetzten Richtung liegt. Ein Magazineur öffnete sie, weil die Tür eines Waggons einen Spalt breit offenstand und die Plombierung verletzt war. Statt des Messings, wie im Frachtbrief vermerkt, fand er Gewehrmunition. Eigentlich hätte er die beiden Waggons in Richtung Wiener Nordbahnhof senden sollen, aber ein Arbeiterrat namens Schreiber, der sich gerade am Bahnhof Aspang aufhielt, beschlagnahmte die Fracht, weil er Munitionsschieberei vermutete, und ließ sie von einem Mitglied der Volkswehr bewachen.

Nun meldete sich Alexander Mandl beim Stationsvorstand und verlangte, dass man die Waggons sofort Richtung Wien abschicke. Der bewaffnete Wächter aber, der die Ladung im Auge behielt, weigerte sich, sie freizugeben. Er wäre sogar bereit, seine Waffe zu gebrauchen, drohte er. Weil die Ausfuhrbewilligung für die Patronen aus Österreich fehlte, wurde die Munition ins Arsenal nach Wien gebracht. Der größte Teil der Fracht gelangte schließlich doch nach Polen.28

Diese Belege über die Munitionsschiebereien im Winter und Frühjahr 1920 stärken die Mutmaßung, in der Mandlschen Fabrik hätten kommunistische Arbeiter am 18. April Feuer gelegt, weil das Unternehmen die Polen (und Ukrainer) mit Patronen versorge, die gegen die Sowjetunion gerichtet seien. Ebendies gab Franz Nabl, dessen Bruder Arnold Sprengstoffe entwickelte, in seinem Theaterstück Schichtwechsel wieder.29

Noch Jahre später hielten sich polnische Agenten in Österreich auf, um Transporte von Hirtenberg in ihr Heimatland zu begleiten. Mit dem Wissen österreichischer Behörden sandte die Familie Mandl jedes Jahr Munition an die Waffenindustrie SEPEWE, die dem polnischen Generalstab unterstand. Pensionierte Offiziere der polnischen Armee vermittelten die Käufe und besserten sich durch den Waffenhandel ihre Pensionen auf, indem sie mit alten russischen, österreichischen und deutschen Waffen handelten. Die Gewinne flossen in die Kassen des polnischen Verteidigungsministeriums. So lebte der polnische Major Sanocki, der im Kriegsministerium seines Landes tätig war, monatelang in Österreich, wo er Munitionslieferungen aus Hirtenberg und dem nahegelegenen Enzesfeld nach Polen überwachte.30

Im Juli 1920 war der Friedensvertrag von St. Germain für Österreich in Kraft getreten. Er regelte nicht nur Rüstungsfragen. Aus Sorge, Österreich wolle sich an das Deutsche Reich angliedern, war im Vertrag auch ein Anschluss-Verbot festgelegt worden. Der Sozialdemokrat Otto Bauer hatte als Außenminister an den Verhandlungen teilgenommen; doch aus Protest gegen diese Bevormundung, wie er meinte, trat er zurück.

Seine Partei behielt den Wunsch nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland bis Oktober 1933 bei, was ihr Fritz Mandl zeitlebens vorwerfen sollte. Er hielt die Sozialdemokratie für verräterisch und unpatriotisch. Für die christlichsoziale Unternehmerfamilie Mandl war sie ohnehin der Klassenfeind. Und nach dem Brandanschlag im April 1920 war Fritz Mandl „alles Linke“, egal, ob sozialdemokratisch oder kommunistisch, verachtenswert. Ein Unternehmer habe wie der Vater einer Werksfamilie zu sein, dachte er. Zahlte man gute Löhne, seien Streiks unnötig.

Alexander Mandl hatte der große Brand seiner Fabrik zermürbt. Dazu kam die galoppierende Inflation. Der Wert der Krone stürzte ins Bodenlose, bis sich die Regierung der Kontrolle des Völkerbundes und Frankreichs unterwarf und den Schilling im Jahr 1924 als neue Währung einführte. 1924 übergab der mittlerweile 63-jährige Alexander Mandl seinem Sohn Fritz die Geschäfte. Im selben Jahr wurde Alexander Witwer.

Mit 24 Jahren leitete Fritz Mandl als neuer Direktor die Hirtenberger AG. Er erbte eine hochverschuldete Fabrik, die nur mit großzügigen Anleihen zweier Wiener Banken am Leben blieb.31 Vom Geschäft des Verschleierns und vom Spiel mit der Politik wusste er sehr viel. Ein Jahr zuvor hatten die Mandls noch mit einem deutschen, einem österreichischen und einem Schweizer Rüstungsunternehmen einen wegweisenden Deal eingefädelt. Er sollte sich als sehr einträglich erweisen.

Selbstmord im Hotel Herzoghof in Baden bei Wien: die Filmschauspielerin Eva May, Großcousine und Geliebte Fritz Mandls. Foto: Becker & Maass, Berlin, Künstlerpostkarte, um 1923.