Bremer Rundschau - Eckhard Stengel - E-Book

Bremer Rundschau E-Book

Eckhard Stengel

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Beschreibung

Welcher Bremer Bürgermeister stotterte als Kind und wollte schon damals „Landesfürst“ werden? An welcher „Piepmatzaffäre“ zerbrach die Ampelkoalition? Weshalb galt Bremen als „Hauptstadt des organisierten Erbrechens“? Woran scheiterte der Vulkan-Konzern? Wie hat der Bremer Murat Kurnaz seine Haft im US-Lager Guantanamo Bay verkraftet? Warum starb der kleine Kevin? Was wurde aus Deutschlands berühmtesten Schulverweigerern? Wer wollte nackte Frauen im Dom auftreten lassen? Was fällt im Fallturm? Warum hielt sich der „Weser-Kurier“ ein Redaktionsschwein? Wie lustvoll ist die Arbeit in einer Sexartikel-Fabrik? Solche Fragen und noch viele mehr beantwortet dieser Sammelband des freiberuflichen Journalisten Eckhard Stengel, der seit 1989 als Bremen-Korrespondent für verschiedene Medien in ganz Deutschland arbeitet – anfangs vor allem für die „Süddeutsche Zeitung“, ab 1993 für die „Frankfurter Rundschau“ und andere große Tageszeitungen. Das Buch enthält seine interessantesten Artikel und Fotos. Es ist ein zeitgeschichtliches Dokument, das vor allem die politische und wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen drei Jahrzehnte in Bremen und Bremerhaven nachzeichnet; aber es beleuchtet auch kleinere Randereignisse, teils informativ, teils amüsant. Selbst Alteingesessene werden darin noch Unbekanntes entdecken. Zugereisten kann es dabei helfen, sich mit den Besonderheiten und der Vielfalt des armen, aber bunten Zwei-Städte-Staates vertraut zu machen. Und Auswärtige finden darin auch Themen von überregionaler Bedeutung, die nur zufällig in Bremen spielen. Kurz: ein Geschichts- und Geschichtenbuch, ein Werk zum Stöbern und Staunen.

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Bremen und Bremerhaven

seit 1989 aus Sicht eines Zeitungskorrespondenten

Eckhard Stengel

Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek registriert.

Die bibliografischen Daten können online angesehen werden:

http://dnb.d-nb.de

Impressum

© 2., leicht überarbeitete Auflage 2021 Klaus Kellner Verlag, Bremen

Inhaber: Manuel Dotzauer e. K.

St.-Pauli-Deich 3 • 28199 BremenTel. 04 21 - 77 8 66

[email protected] • www.kellnerverlag.de

Lektorat und Satz: Isabelle Drewes

Fotos: Eckhard Stengel

Umschlag: Jennifer Chowanietz

Gesamtherstellung: Der DruckKellner, Bremen

ISBN 978-3-95651-319-0

„Soviel ich weiß, hat kein namhaftes Journal einen stehenden Korrespondenten in Bremen, und man könnte aus diesem Consensus gentium leicht schließen, daß von hier aus nichts zu schreiben wäre, dem ist aber nicht so.“

Friedrich Engels, 1839

Moin!

Lesen Sie bloß nicht dieses Vorwort! Beginnen Sie lieber mit dem letzten Kapitel „Vermischtes“ – so, wie Sie vielleicht beim Frühstück Ihre Zeitung von hinten nach vorne durchblättern, weil am Ende die bewegenderen oder amüsanteren Themen stehen, mit denen Sie lieber den Tag beginnen als mit den trockeneren Politik- oder Wirtschaftsthemen auf den vorderen Seiten.

Aber gut, es kann auch nicht schaden, wenn Sie doch zunächst dieses Vorwort lesen. Denn dadurch erfahren Sie, was in den folgenden Kapiteln auf Sie wartet – und was nicht.

„Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern“, lautet eine alte Medienweisheit. Mag sein. Aber die Zeitungen von vorgestern und vorvorgestern sind manchmal doch recht spannend. Als ich für dieses Buch in meinem Archiv gestöbert habe, war ich nachträglich selber erstaunt über die unglaubliche Themenfülle, die das kleinste Bundesland zu bieten hat.

Meine Text- und Fotosammlung zu Themen aus Bremen und Bremerhaven beginnt mit dem Wendejahr 1989. Es war auch für mich eine Wende: Nach 15 Jahren als Freier Journalist in Göttingen wollte ich in eine Landeshauptstadt wechseln, um dort (ebenfalls freiberuflich) als Korrespondent für verschiedene Tageszeitungen und andere Medien zu arbeiten. Ich entschied mich damals schnell für Bremen – wegen seiner überschaubaren Größe, seiner Schönheit, Vielfalt und Lebendigkeit, aber vor allem auch wegen seiner Liberalität und Weltoffenheit.

Seitdem war ich in den meisten Jahren der einzige „stehende Korrespondent“, der wirklich hier lebte, statt nur von Hamburg oder Hannover aus gelegentlich den Blick Richtung Weser schweifen zu lassen.

Für dieses Buch habe ich meine interessantesten Hintergrundberichte, Features, Reportagen, Porträts und Glossen nebst einigen Fotos zusammengestellt. Sie zeichnen die politische und wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen drei Jahrzehnte in Bremen und Bremerhaven nach, bieten aber auch einen Blick über den Tellerrand, da sich in der Hansestadt gelegentlich Bundes- oder Weltpolitik abspielt. Auch um Verbraucherthemen habe ich mich hin und wieder gekümmert. Was bei meiner Auswahl auf keinen Fall fehlen durfte: die vielen randständigen und manchmal kuriosen Themen, mit denen ich zum Beispiel die Rubrik „Ländersplitter“ der „Frankfurter Rundschau“ beliefert habe. Kurz: Ich serviere Ihnen hiermit ein Bremer Allerlei aus großen und kleinen Geschichten, aus Wichtigem und Nebensächlichem, aus Traurigem und Witzigem, mal sachlich, mal bissig formuliert – sozusagen ein Geschichts- und Geschichtenbuch.

Die Älteren werden bei der Lektüre manchmal mit dem Kopf nicken: „Stimmt, so war das damals – hatte ich schon ganz vergessen.“ Aber vielleicht staunen sie auch darüber, was sie alles noch nicht über ihre Heimat wussten. Denn manche der von mir behandelten Themen standen gar nicht oder zumindest nicht so in der Lokalpresse. Bremen-Neulinge wiederum bekommen einen Eindruck davon, warum das kleinste Bundesland so wurde, wie es ist.

Allerdings erhebt dieses Buch keinen Anspruch auf Vollständigkeit, denn über einige Themen habe ich nur nüchterne Nachrichten geschrieben, die sich nicht für einen solchen Sammelband eignen. Außen vor bleiben ebenfalls die Höhen und Tiefen von „Werder Bremen“: Für Sport bin ich nicht zuständig, auch nicht für Theater- oder Konzertrezensionen.

Trotz dieser Einschränkungen ist das Werk hoffentlich auch für Zeithistorikerinnen und -historiker eine Fundgrube. Allerdings werden sie sich gelegentlich die Haare raufen, denn die hier versammelten Texte sind nicht immer ganz identisch mit den erschienenen Originalartikeln: Manche Manuskripte von früher habe ich nachträglich gekürzt oder um einzelne Aspekte erweitert. Hin und wieder habe ich mehrere Artikel zu einem zusammengefasst, um Platz zu sparen und um unnötige Wiederholungen zu vermeiden, die durch Rückblenden entstehen können. Ganz ohne Wiederholungen geht es allerdings nicht, denn die einzelnen Texte sollen auch dann verständlich bleiben, wenn das Buch nicht von vorne bis hinten gelesen wird.

Innerhalb der einzelnen Kapitel sind die Themen meist chronologisch angeordnet. Damit sich das Buch auch als Nachschlagewerk eignet, endet es mit einem ausführlichen Personen- und Sachregister.

Falls Sie schon häufiger Artikel von mir gelesen haben, werden Sie sich manchmal über Fehler geärgert haben. Die stammten allerdings nicht immer von mir, sondern oft von den gestressten Redaktionen. Sie kürzen gerne mal sinnentstellend, bauen eigene Wertungen ein oder verlängern Texte eigenmächtig, wobei sie dann zum Beispiel den Senat zur Bürgerschaft machen oder umgekehrt. In diesem Buch, das kann ich Ihnen garantieren, stehen nur meine eigenen Fehler. Falls Sie welche entdecken, seien Sie bitte so gut und schicken mir einen Hinweis an [email protected].

Vielleicht ärgert es Sie, dass ich mehr Kritisches als Positives über Bremen und Bremerhaven geschrieben habe. Das liegt schlicht daran, dass Medienleute so ähnlich wie Klempner arbeiten: Sie kümmern sich vor allem um schadhafte Stellen. Sollte sich der eine oder die andere Kritisierte unfair behandelt fühlen, bitte ich nachträglich um Verzeihung. Es wird nicht wieder vorkommen. Denn ich ziehe mich jetzt altersbedingt aus dem aktuellen Journalismus zurück – jedenfalls was das Schreiben betrifft; fotografieren werde ich weiterhin.

Nun aber auf zum Streifzug durch das kleinste Bundesland, das noch bunter und spannender ist, als ich es 1989 erwartet hatte. Wenn nicht schon Berlin den Slogan „Arm, aber sexy“ in Beschlag genommen hätte, könnte er auch für Bremen gelten. Wie wäre es stattdessen mit „Arm, aber bunt“?

Bremen, im September 2021

Eckhard Stengel

1

Überblick

Zwei Städte – Ein Land

Stolz und frei

Über den Bremer an sich und die Bremerhavenerin als solche

2003

Der Bremer an sich und die Bremerin als solche gelten zwar als weltoffen und tolerant, aber auch als etwas steif – vielleicht, weil an der Weser öfter eine steife Brise weht. Nur beim Freimarkt, ihrem Oktoberfest, werden die Hanseaten gesellig, rufen laut „Ischa Freimaak!“ („Es ist ja Freimarkt!“) und stemmen im „Bayernzelt“ Bierkrüge. Der Freimarkt wird nicht umsonst „Bremens fünfte Jahreszeit“ genannt. Die anderen vier heißen Frühling, Herbst, Herbst und Herbst. Es regnet halt viel in der Halbmillionenstadt.

„Quatsch, alles nur Klischees“, protestiert eine Eingeborene. „Der Sommer war diesmal toll, und wir sind gar nicht so reserviert. Ein Düsseldorfer hat mir mal gesagt: ‚Die Bremer sind erst etwas introvertiert, aber nachher werden sie recht anhänglich.‘“ Außerdem gebe es an der Weser durchaus auch extrovertierte Typen. Zum Beispiel? Hans-Joachim Kulenkampff (verstorbener großer Quizmeister) oder Henning Scherf (lebender großer Bürgermeister, genau 2,04 Meter).

Auf jeden Fall pflegen der Bremer an sich und die Bremerin als solche manch possierlichen Brauch:

• Wenn es kalt wird, gehen sie auf „Kohl-und-Pinkel-Tour“: Bei ortstypischem Schmuddelwetter ziehen sie mit Bollerwagen und Bierkiste ins Grüne und fallen in Landgasthöfe ein, um sich Grünkohl und sogenannte Pinkelwurst einzuverleiben.

• Sind Männer an ihrem 30. Geburtstag noch Junggesellen, müssen sie die Domtreppen fegen, bis sie von einer Jungfrau geküsst werden. Das dauert.

• Ledige Frauen müssen mit 30 diverse Türklinken putzen und auf eine männliche Jungfrau warten. Das dauert noch länger. Haben die Festgäste ein Erbarmen, akzeptieren sie statt echter Jungfrauen ersatzweise auch das Sternzeichen Jungfrau.

Der Bremer an sich und die Bremerin als solche existieren auch in der Ausführung „Bremerhavener/in“. Die Hafenstädter gehören mit zum Zwei-Städte-Staat, fühlen sich aber ständig benachteiligt. Sie gönnen den Stadtbremern nicht mal die paar Schiffe, die als Touristenattraktion an der Weserpromenade stationiert wurden. Denn: „Das zielt genau in das Marktsegment, das Bremerhaven am besten ausfüllen kann“, eifersüchtelt die Lokalpresse.

Stolz sind der Bremer an sich und die Bremerin als solche auf die Selbstständigkeit ihrer „ältesten Stadtrepublik der Welt“. Flach ist das Land, keine Burg thront über ihnen – deshalb schauen sie zu niemandem auf. Titel und Orden sind verpönt. Der Bürgermeister wird mit einem einfachen „Moin!“ begrüßt. Und die evangelische Landeskirche hat keinen „Bischof“, sondern nur einen „Schriftführer“ ohne Machtbefugnisse.

Der Bremer an sich und die Bremerhavenerin als solche glauben, so ziemlich das beste Hochdeutsch zu sprechen. Allerdings betonen sie Wörter gerne anders als im Rest der Republik: Einen Kirchweg nennen sie Kirchweg, und die zusammengebrochene Vulkan-Werft heißt hier nur „der Vulkan“.

In Bremen ist eben alles ein bisschen anders.

Fischköppe gegen Pfeffersäcke

Bremerhaven und Bremen wirken oft wie zerstrittene Geschwister /Ihre Politik-Gremien sind unterschiedlich und eigenwillig konstruiert

2004

Sie nennt sich „die freieste Gemeinde der Welt“, und ihr Stadtoberhaupt trägt einen höheren Titel als der Regierungschef in der Landeshauptstadt – aber trotzdem fühlen sich ihre Einwohner oft wie Bürger zweiter Klasse, wie Bewohner einer Kolonie. Die Rede ist von der Stadt Bremerhaven und ihrem schwierigen Verhältnis zur Schwesterkommune Bremen, mit der sie ein gemeinsames Bundesland bildet.

„Zwei Städte – ein Land“: Dieser Werbeslogan, der die Konstruktion des kleinsten Bundeslandes auf den Punkt bringen soll, klingt nach Gleichberechtigung. Aber in Wirklichkeit sind Bremen und Bremerhaven zwei ziemlich ungleiche Partner.

Historisch gesehen sind sie nicht mal Geschwister, sondern Mutter und Tochter: Bremen kaufte 1827 dem Königreich Hannover ein Gelände an der Wesermündung ab und baute dort eine Art Außenhafen – im Interesse der Bremer „Pfeffersäcke“, wie man damals die Kaufleute nannte. In Bremen selbst, 60 Kilometer flussaufwärts, waren die Kaianlagen damals kaum noch zu gebrauchen – zu versandet war der Fluss.

Aus dem neuen Seehafen entwickelte sich allmählich eine veritable Stadt, und 1947 bildete sie mit der Stadt Bremen das Bundesland „Freie Hansestadt Bremen“ (aber bitte nicht „Freie und Hansestadt“ – so nennt sich nur Hamburg).

Gigatonnen Wasser sind seitdem die Weser hinabgeflossen, und Bremerhaven wird inzwischen gerne „Fishtown“ genannt (wobei die Bremerhavener die Schreibweise „Fischtown“ bevorzugen). Aber ein Relikt aus der Gründungszeit hat bis heute überlebt: Zum großen Leidwesen der Bremerhavener gehört der Großteil ihrer boomenden Häfen noch immer allein der Stadt Bremen und nicht etwa ihnen selbst oder dem Land. Manche nennen das „Kolonialismus“. Und auch sonst fühlen sich die „Fischköppe“ (wie die Bremerhavener von den Bremern genannt werden) oft von der größeren Schwester benachteiligt – mal zu Recht, meist zu Unrecht.

Dem angeschlagenen Selbstbewusstsein hilft es nur wenig, dass Bremerhaven als „freieste Gemeinde der Welt“ gelten kann: Im Gegensatz zu anderen Kommunen durfte sich die Hafenstadt 1947 eine eigene Stadtverfassung geben; fast alle Verwaltungsaufgaben werden seitdem eigenständig erledigt – und nicht vom Land oder irgendeiner Bezirksregierung.

Das Stadtoberhaupt nennt sich Oberbürgermeister (OB) und scheint damit einen höheren Rang zu haben als der Regierungschef des Zwei-Städte-Staates, der nur Bürgermeister heißt (allerdings mit dem Zusatztitel „Präsident des Senats“). Und welchem OB ist es schon vergönnt, als Gast an den Sitzungen der Landesregierung teilnehmen zu dürfen? Der aus Bremerhaven darf das.

Natürlich entsendet „Fis(c)htown“ auch Abgeordnete ins Landesparlament, die Bremische Bürgerschaft; und natürlich sind sie dort voll stimmberechtigt, allem Kolonialismus-Verdacht zum Trotz. Mit 16 von 83 Mandaten hat die kleinere Schwester sogar ein bis zwei Sitze mehr, als ihr laut Einwohnerzahl eigentlich zustünden. Gar so stiefmütterlich wird sie also doch nicht behandelt.

Für rein kommunale Angelegenheiten wählen die Bremerhavener noch zusätzlich ihre eigene Stadtverordnetenversammlung, die wiederum einen Magistrat als Stadtregierung wählt.

In der Stadt Bremen ist die Trennung zwischen Kommune und Land nicht so scharf: Hier sind die Landtagsabgeordneten gleichzeitig Kommunalparlamentarier. In jeder Landtagssitzungswoche treffen sich die 67 Bremer Bürgerschaftsabgeordneten einen Nachmittag lang ohne die 16 Bremerhavener und entscheiden dann als sogenannte Stadtbürgerschaft über rein kommunale Themen.

Anders als Bremerhaven hat die Stadt Bremen keine separate Stadtregierung, sondern lässt sich von der Landesregierung führen, also dem Senat – einem Kollegialorgan, bei dem der Chef nur Erster unter Gleichen ist.

Verwirrenderweise heißt der Stellvertreter des Bremer Bürgermeisters ebenfalls Bürgermeister, und die Vertreter der Senatoren (also der Minister) nennen sich nicht etwa Staatssekretäre, sondern Staatsräte (früher: Senatsdirektoren).

Noch zwei Bremer Besonderheiten: Abgeordnete dürfen nicht gleichzeitig Regierungsmitglieder sein. Und die meisten Parlamentsausschüsse, nämlich die sogenannten Deputationen, sind ungewöhnliche Zwittergremien: Sie bestehen nicht nur aus Abgeordneten und sachkundigen Bürgern, sondern auch aus Regierungsvertretern.

Das klingt alles komplizierter, als es ist. Im Alltag läuft das Politikgeschäft im kleinsten Bundesland meist relativ reibungslos. Aber über allem schwebt die Eifersucht der Bremerhavener, die ständig darauf achten, bloß nicht zu kurz zu kommen. Einmal haben sie sogar trotzig beantragt, ein eigenes Autokennzeichen zu bekommen, damit sie nicht mit dem gleichen „HB“ wie die Bremer herumfahren müssen. Letztlich zog die örtliche SPD/CDU-Koalition den Antrag aber wieder zurück. Der Wille zur Einheit war am Ende doch stärker als der Lokalstolz.

Neue Hoffnung für „Fischtown“

Nach der Werftenkrise setzt Bremerhaven auf den Tourismus

2010

Es ist nur wenige Jahre her, da fühlten sich viele Bremerhavener wie Ostdeutsche nach der Wende. „Eine tote Stadt ist das“, schimpfte ein Gast im „Treffpunkt Kaiserhafen“, der „letzten Kneipe vor New York“. Der junge Schweißer war 1989 von Ostberlin an die Außenweser gewechselt. Zum Glück hatte er sich den richtigen Arbeitgeber gesucht: Die Lloyd-Werft ist fast der einzige Schiffbauer in Bremerhaven, der das Werftensterben der vergangenen Jahrzehnte überlebt hat.

Ganz anders die traditionsreiche Rickmers-Werft. 1986 musste sie für immer schließen. Für das Betriebsgelände fand sich bald ein aufstrebender neuer Nutzer: Das Arbeitsamt (heute: Agentur für Arbeit) errichtete hier einen riesigen Neubau.

Bedarf dafür gab es genug, denn der lokale Arbeitsmarkt hatte im Laufe der Jahrzehnte gleich mehrere Tiefschläge zu verwinden: nicht nur die Werftenkrise samt Vulkan-Konkurs, sondern auch das Ende der einst größten Fischereiflotte Europas und den wendebedingten Abzug von 2.000 kaufkräftigen US-Soldaten, der zugleich 1.100 Zivilangestellte überflüssig machte.

Mit nur leichter Übertreibung nannte eine Zeitung die schrumpfende Hafenstadt „Deutschlands Armenhaus“. Oberbürgermeister Jörg Schulz (SPD) rief 2004 nach Bundeshilfe für einen „Aufbau West“. Vergeblich. 2005 lag die Arbeitslosenquote schon bei 25 Prozent, ähnlich wie im Osten. Und schließlich ab 2007 die Weltfinanzkrise, die dem einst boomenden Container- und Autoumschlagshafen noch immer zu schaffen macht.

Aber „Fischtown“ – so der deutsch-englische Spitzname unter Einheimischen – versucht inzwischen, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen: Die 115.000-Einwohner-Stadt setzt mit Erfolg auf den Fremdenverkehr. Ein Teil des Fischereihafens wurde in den 1990er Jahren in eine Flaniermeile mit Kneipen, Läden, Fischkochstudio, Theater und Museumsschiffen verwandelt, das „Schaufenster Fischereihafen“. An alten Hafenbecken in der City entstanden nach und nach die „Havenwelten“, ein Ensemble aus Touristenattraktionen: Seit 2005 beleuchtet das Deutsche Auswandererhaus die Geschichte der millionenfachen Emigration via Bremerhaven in die Neue Welt. Im 2009 eröffneten Klimahaus haben bereits im ersten Jahr über 800.000 Besucher die verschiedenen Erdzonen durchwandert. Nebenan ein mediterran angehauchtes Einkaufszentrum („Mediterraneo“). Und alles wird überragt von einem Hotelhochhaus in Segelform wie in Dubai.

Etwas abseits liegt das in die Jahre gekommene Deutsche Schifffahrtsmuseum. Es soll jetzt für 100 Millionen Euro auf Vordermann gebracht werden, diesmal auch mit Bundesmitteln. Also doch ein bisschen „Aufbau West“.

Bremerhaven eine tote Stadt? Das sagen heute nicht mehr viele.

Neues Leben zwischen Deich und Hafenbecken: die „Havenwelten“.

Dorf mit Straßenbahn

Stadtporträt Bremen: die überschaubare Halbmillionenstadt

Stadtmusikanten als Illuminati: Lichtinstallation der „City-Initiative“ 2018.

2012

Esel, Hund, Katze und Hahn sind bekanntlich nie in Bremen angekommen, sondern schon im niedersächsischen Umland in einem Räuberhaus hängengeblieben. Eigentlich schade für die (Nicht-)Bremer Stadtmusikanten, denn der Marktplatz der Freien Hansestadt hätte eine wunderbare Kulisse für ihre Auftritte abgegeben: hier das Rathaus von 1410, dort die Roland-Statue von 1404 als Freiheitssymbol, beide mittlerweile Weltkulturerbe. Und wenn sich die Musikanten über ihre soziale Lage hätten beschweren wollen – kein Problem: Wer nur lange genug wartet, dem läuft irgendwann der Bürgermeister über den Weg. Obwohl Ministerpräsident eines veritablen Bundeslandes, verzichtet er meist auf Polizeischutz. Nirgendwo sonst dürfte es für Bürgerinnen und Bürger so einfach sein, mal eben einen Schnack mit einem Regierungschef zu halten, unverkrampft auf Augenhöhe. Sogar demonstriert wird hier von Angesicht zu Angesicht: Keine Bannmeile hält Demonstrationen auf Abstand zum Parlament.

Obwohl Bremen eine Halbmillionenstadt ist, läuft man immer wieder Bekannten über den Weg, sei es auf dem Marktplatz, an der Weserpromenade „Schlachte“ oder im alternativ angehauchten Ostertor/Steintor-Viertel mit seinen vielen Kneipen und stuckverzierten Altbremer Reihenhäusern. Bremen sei eben ein „Dorf mit Straßenbahn“, sagen viele.

Die überschaubare Hansestadt hat aber auch überregionale Bedeutung, denn sie sorgt für die Fortbewegung und das leibliche Wohl der Menschheit: Bremen beherbergt mit Airbus, Astrium und OHB führende Luft- und Raumfahrtunternehmen; das örtliche Mercedes-Werk ist die zweitgrößte Pkw-Fabrik des Konzerns; Kellogg, Kraft Foods, Hachez und Beck’s beköstigen die Menschheit vom Frühstück bis zum Feierabendbier.

Da wundert es nicht, dass die Hafen-, Industrie- und Kaufmannsstadt beim Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner auf Platz zwei aller Bundesländer steht. Doch der Landeshaushalt profitiert nicht recht von der hohen Wirtschaftskraft. So ist Bremen seit Jahren das Bundesland mit der höchsten Staatsverschuldung pro Einwohner und bemüht sich seit Jahren um einen strikten Sparkurs.

Eine der Folgen: Immer wieder gehen Schüler, Eltern und Lehrkräfte zum Demonstrieren auf die Straße. Denn in den Schulen fällt ständig Unterricht aus – und manchmal sogar der Putz von der Decke. Besser läuft es in der Wissenschaftspolitik: Die Universität, einst als „Rote Kaderschmiede“ verschrien, zählt neuerdings zu den deutschen „Exzellenz-Universitäten“.

Ein weiteres Dauerthema neben der Bildungspolitik ist die Entwicklung der Innenstadt. Viele Einkaufswillige fahren statt in die City lieber in den „Weserpark“ am Stadtrand oder zur neuen „Waterfront“ auf dem Gelände des gescheiterten Vergnügungszentrums „Space Park“ – oder sogar gleich nach Oldenburg. Deshalb überlegen Stadtplaner, wie sich die eher gesichtslose Fußgängerzone aufwerten ließe.

Dann kämen vielleicht auch noch mehr Menschen ins Schnoorviertel am Rande der Innenstadt: ein verwinkeltes Künstler- und Restaurant-Quartier mit schmalen Häusern aus dem 16. bis 19. Jahrhundert. Oder sie besuchen die Böttcherstraße, eine im expressionistischen Stil bebaute Gasse mit Museen, Restaurants und Werkstätten von Kunsthandwerkern.

„Das Schönste an Bremen ist die Autobahn nach Hamburg“, lästert man in der Konkurrenzhansestadt. Aber wer einmal in Bremen war, kommt bestimmt gerne wieder.

Im Land der Gegensätze

Eine Fahrt mit der Straßenbahnlinie 4 von Lilienthal bis Arsten offenbart die Kluft zwischen Arm und Reich

2016

Ein Bauernhof mit Straßenbahnanschluss – so etwas gibt es wohl nur im Bremer Vor-ort Lilienthal. Alle 20 Minuten startet in der 18.000-Einwohner-Gemeinde ein Niederflur-Gelenkzug Richtung Süden, Richtung Hansestadt. Bauer G. wohnt nur ein paar Schritte von der Starthaltestelle entfernt. Wenn er mal Großstadtluft schnuppern will, ist er mit der Linie 4 in 40 Minuten in der Bremer City. Seine Kuhweide grenzt direkt an die Straße, er könnte seinen Rindviechern aus der Bahn zuwinken.

Was für den Landwirt ein Ausflug, ist für Tausende Pendler Alltag: Sie arbeiten in der Halbmillionenstadt, wohnen aber lieber im ruhigeren Umland. Lilienthal ist nicht viel grüner als Bremen, aber die Grundstücke sind billiger. Und man sieht weniger vom sozialen Elend, wie es sich in Großstädten ballt. Dann doch lieber pendeln, mit der Linie 4 oder häufiger mit dem eigenen Auto, tagein, tagaus, stadtein, stadtaus.

Dass viele Bremer ins Umland ziehen, gefällt dem Senat überhaupt nicht – wegen der wegfallenden Einkommenssteuern. Deshalb prägte die Hansestadt schon vor Jahren das Motto „Bremer wohnen in Bremen“ und schuf neue Eigenheimsiedlungen am Stadtrand – fast schon im Grünen, aber innerhalb der Landesgrenzen.

Wenn die Linie 4 Lilienthal durchquert hat, fährt sie an solch einem Neubaugebiet vorbei: Borgfeld-West, mit Hunderten von Eigenheimen, quadratisch, praktisch, langweilig.

Drei Kilometer weiter südlich taucht ein großer Supermarkt auf. Die Betonfassade ist in die Jahre gekommen, doch dahinter lagern Köstlichkeiten: Regale und Theken voller Delikatessen. Die Käufer wohnen nicht weit weg. Denn Horn, so heißt dieses Stadtviertel, ist eines der reichsten Bremens. Hier hat der Durchschnittseinwohner siebenmal so viel Geld zur Verfügung wie sein Kollege im einstigen Hafen- und Werftarbeiterstadtteil Gröpelingen.

Die schlichte Supermarktfassade passt zum Credo der Besserverdienenden: Prot-zen ist unhanseatisch. Aber ein bisschen Prunk darf schon sein: Auf dem Weg durch den nächsten gut situierten Stadtteil, der kurioserweise Schwachhausen heißt, passiert die Linie 4 die eine oder andere Villa mit Säulenportal, einst Domizil reicher Kaufleute, heute Residenz von Anwälten, Ärzten oder PR-Agenturen.

Sobald die Bahn aber die Innenstadt erreicht, ändert sich schlagartig das Bild. Die bürgerliche Welt der Horner und Schwachhauser – spätestens am Hauptbahnhof wird sie abgelöst durch die bunte Vielfalt der Multi-Kulti-Gesellschaft. Saßen in Lilienthal fast nur weiße Urdeutsche in der Bahn, steigen jetzt auch viele Menschen mit dunklerer Haut und Frauen mit Kopftuch ein. Auf dem Vorplatz stehen mittags die ehrenamtlichen „Bremer Suppenengel“ mit einem Lastenfahrrad und versorgen Bedürftige mit etwas Wärme für Bauch und Seele. „Bremen ist ein Bundesland der extremen Gegensätze“, sagte mal der Bremer Politikprofessor Lothar Probst.

Nach einem Halbkreis um den historischen Stadtkern nähert sich die Linie 4 dem Knotenpunkt Domsheide. Rechts, unter den Arkaden eines Dom-Anbaus, suchten und fanden einst Obdachlose Unterschlupf für die Nacht. Dann ließ die Domgemeinde ein Gitter vor den Torbögen installieren: Die Stadtstreicher machten ihr zu viel Dreck.

Neben der Haltestelle kauert ein Obdachloser mit nackter Brust. Wäre jetzt Winter und Dauerfrost, dürfte er ohne Ticket mit Bussen und Bahnen kreuz und quer durch die Stadt fahren, egal wohin, Hauptsache warm und trocken. Christliche Nächstenliebe, praktiziert von der Bremer Straßenbahn AG (BSAG).

Weiter geht’s über die Wilhelm-Kaisen-Brücke auf die „falsche Weserseite“. So nannte das Bremer Bürgertum einst die ärmere Neustadt am linken Flussufer. Andere Zeiten, andere Perspektiven: Inzwischen haben linksliberale Bildungsbürger Teile der Neustadt für sich entdeckt. So befeuern sie die Mieten und Kaufpreise für die Stuck-Reihenhäuser. Handwerker, Arbeiter und Erwerbslose drohen verdrängt zu werden. Aber noch stimmt die Mischung, wie die Fahrt durch den Buntentorsteinweg zeigt: alte Klempnerbetriebe und Arbeiterkneipen in friedlicher Koexistenz mit dem Bioschlachter und der Kulturkneipe „Kuß Rosa“.

Hinter der Neustadt wird die Linie 4 zur Hochbahn. Auf Stelzen durchquert sie ein Wohngebiet mit akkurat gepflegten Gärten, um dann wieder auf dem harten Boden der Bremer Tatsachen zu landen: Kattenturm-Mitte, ein Viertel mit hoher Migranten- und Hartz-IV-Quote. Fast alle steigen aus, strömen zu den beiden 14-stöckigen Hochhäusern oder den dahinterliegenden niedrigeren Geschossbauten. Zwei Flüchtlingsfamilien ziehen Rollkoffer hinter sich her. Nur wenige Kunden verirren sich in das Mini-Einkaufszentrum „Passage Kattenturm“ mit Billigläden und Gebrauchtmöbelmarkt, die Schrankwand für 109 Euro.

Auf dem letzten Kilometer sind die Urdeutschen wieder unter sich. Büsche schirmen die Bahntrasse von modernen Kleinfamilienheimen ab. Arsten-Südwest heißt dieses Quartier, und hier endet die gut einstündige Fahrt durch zwei Bundesländer und quer durch eine sozial gespaltene Großstadt: ein Gemeinwesen mit Spitzenwerten bei Langzeitarbeitslosigkeit, Kinderarmut und Staatsverschuldung – aber mit einer Millionärsdichte wie in kaum einer anderen Region. Allein zwischen 2004 und 2007 verdoppelte sich die Zahl der Einkommensmillionäre auf 164; bis 2016 wuchs sie auf 184.

„Das Team der BSAG wünscht Ihnen noch einen schönen Tag“, sagt ein Ansager vom Band, gefolgt von ein paar Takten Musik. Nur wenige Schritte, und man landet im Grünen. Fast wie am Ortsrand von Lilienthal, nur ohne Kühe.

Ab nach Niedersachsen?

Bremens Finanznot und die Vor- und Nachteile der Eigenständigkeit

Bremen liegt als Insel in Niedersachsen wie dieses Entenhaus in den Wallanlagen.

2017

Die Freie Hansestadt Bremen ist stolz darauf, seit dem Mittelalter selbstständig zu sein: zunächst als „unmittelbare freie Reichsstadt“, inzwischen als eigenes Bundesland, inklusive Bremerhaven. Doch mit großer Regelmäßigkeit – ähnlich wie bei den Sommerlochgeschichten über das Ungeheuer von Loch Ness – fordern Nicht-Bremer eine Fusion des extrem verschuldeten Zwei-Städte-Staats mit Niedersachsen. Oder am besten gleich die Bildung eines größeren Nordstaates.

Neue Ländergrenzen müssten allerdings per Volksentscheid beschlossen werden. So sieht es das Grundgesetz vor. Bisher war eine solche Mehrheit an der Weser nie in Sicht. Aber kürzlich hat eine Infratest-dimap-Umfrage für Radio Bremen gezeigt, dass nur noch 55 Prozent der Einwohner ihr Bundesland verteidigen. In Bremerhaven sind die Anhänger des Zwei-Städte-Staates sogar in der Minderheit. Dort fordert inzwischen eine knappe Mehrheit von 51 Prozent: ab nach Niedersachsen!

Sollte sich ihr Wunsch irgendwann mal durchsetzen, wäre das nicht nur ein Stich ins Herz traditionsbewusster Hanseaten, sondern auch ein gewisser Verlust für die Bundesrepublik. Denn die weltoffene, liberale Industrie- und Kaufmannsstadt ist ein Testlabor für politische Experimente, die sich bei Erfolg nachahmen lassen. Zum Beispiel will die rot-grüne Landesregierung die Deutsche Fußball-Liga an den Polizeieinsatzkosten bei Risikospielen beteiligen. Außerdem wirkt Bremen als Frühwarnsystem für Trends, die später auch anderenorts zu spüren sind, etwa beim ersten Einzug der rechtsextremen DVU in ein Landesparlament, 1987 an der Weser.

Fehlen würde auch manche Bundesratsinitiative aus Bremen, beispielsweise der Vorstoß, das Betäubungsmittelgesetz ändern zu lassen, damit künftig Modellprojekte zur kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene möglich werden.

Aber klar ist auch: Der Zwergstaat lebt teilweise auf Kosten anderer. Bund und Länder finanzieren ein Fünftel des Fünf-Milliarden-Etats. Was freilich nicht immer so war: Noch bis 1969 zählte Bremen zu den Geberländern beim Länderfinanzausgleich. Doch dann kam die große Finanzreform: Seit 1970 fließen Lohn- und Einkommenssteuern von Berufspendlern nicht mehr an den Arbeits-, sondern an den Wohnsitz. Und weil viele Bremer und Bremerhavener ins grüne Umland gezogen sind, zahlen sie jetzt ihre Steuern in Niedersachsen. Der Speckgürtel wird fetter, die Freie Hansestadt magert ab. Eigentlich sollte der Länderfinanzausgleich diese Einbußen ausgleichen, aber das tut er nur unzureichend.

Damit nicht genug. Hinzu kamen die Krisen in der Textil- und der Stahlindustrie, die Verlagerung der Tabakfirma Martin Brinkmann ins damals steuerbegünstigte Westberlin, der Zusammenbruch der Großwerften AG Weser 1983 und Bremer Vulkan 1996. Ganze Stadtviertel verarmten, und dem Land brachen Steuereinnahmen weg.

Dass allerdings eine Ehe mit Niedersachsen die Bremer Finanzmisere beheben würde, hält die grüne Finanzsenatorin Karoline Linnert für eine Illusion. „Das Gegenteil ist der Fall.“ Bremen bekäme keine direkten Bundesmittel mehr, sondern müsste samt Bremerhaven mit rund tausend anderen niedersächsischen Kommunen um Landesgelder konkurrieren. Wer weiß beispielsweise, ob Niedersachsen so viel wie Bremen in den fortlaufenden Ausbau des zweitgrößten deutschen Universalhafens in Bremerhaven investiert hätte? Oder: Hätte Hannover den Bau neuer Erlebnismuseen in Bremerhaven gefördert – wichtige Investitionen, die Touristen anlocken und damit einen Beitrag zur Bewältigung der Werftenkrise leisten?

Schon 1990 veröffentlichte der Bremer Senat eine Art Verteidigungsschrift mit dem trotzigen Titel: „Wir bleiben frei“. Darin findet sich auch das Argument, dass zum Föderalismus die Vielfalt von Kleinen und Großen gehöre. Manche Schweizer Kantone und US-Bundesstaaten seien sogar noch kleiner als Bremen. Und gerade das anonyme Europa brauche überschaubare Einheiten, mit denen sich die Bürger identifizieren könnten.

Statt sich ganz aufzugeben, möchte Bremen lieber enger mit den Umlandgemeinden und dem Land Niedersachsen kooperieren: Zusammenarbeit statt Zusammenschluss. Aber das ist ein zähes Geschäft. Einer der wenigen Erfolge: die Gründung des gemeinsamen Landesozialgerichts Niedersachsen-Bremen 2002.

Was bei der immer wiederkehrenden Debatte oft untergeht: Der Spareffekt einer Fusion wäre ohnehin überschaubar. Denn Bremen bräuchte (wie bisher schon Bremerhaven) auch als Stadt weiterhin eine Verwaltung und ein Parlament. Streichen ließen sich im Wesentlichen nur jene Stellen, die mit Bundesangelegenheiten zu tun haben. Außerdem könnten das Landesarbeitsgericht, das Oberlandes- und das Oberverwaltungsgericht aufgelöst werden. Aber deren Kosten sind nichts im Vergleich zum größten Haushaltsposten, den Sozialausgaben. Und die würden durch eine Länderfusion nicht sinken, denn viele Nöte Bremens sind schlicht Großstadtprobleme, die nichts mit Landesgrenzen zu tun haben. Deutlich einfacher würden allerdings die Verkehrsplanung und die Ausweisung neuer Wohn- oder Gewerbegebiete.

Egal, was die Umfragen sagen: Letztlich dürfte eine Vermählung mit Niedersachsen am Bremer Kontostand scheitern. Wer will schon jemanden heiraten, der 22 Milliarden Euro Schulden in die Ehe einbringt?

Sonder-Geld

So steif viele Norddeutsche auch sein mögen – Galgenhumor haben sie. Als Bremen 1990 einen neuen Senatssprecher bekam, musste sein Name gleich für ein Wortspiel herhalten: Bringt Klaus Sondergeld dem Bundesland mit der höchsten Pro-Kopf-Staatsverschuldung Sonder-Geld? Nein, antwortete der Neue aus Baden-Württemberg, er komme leider ohne Geld, denn „sonder“ heiße nicht „zusätzlich“, sondern „ohne“ – wie bei „sondergleichen“. Einziger Trost: Das kleinste Bundesland hat jetzt einen Steuerzahler mehr.

Bremer Politik

bis 1991

ALLEINREGIERUNG DER SPD

2

Im St.-Jürgen-Sumpf

Warum Bremens größtes Krankenhaus den Spottnamen „Schwarzgeldklinik“ trägt und was die SPD damit zu tun hat

1990

Die 3.300 Beschäftigten des Bremer Zentralkrankenhauses St.-Jürgen-Straße mussten sich in den vergangenen zwei Jahren manche Frotzelei anhören. Wenn sie von Fremden nach ihrer Arbeitsstelle gefragt wurden und wahrheitsgemäß das größte Krankenhaus der Stadt nannten, bekamen sie oft zu hören: „Ach, in der Schwarzgeldklinik?“ Und Freunde erkundigten sich schon mal: „Na, wie viel Schmiergeld hast Du denn kassiert?“

Den miserablen Ruf als „St.-Jürgen-Sumpf“ verdankt die Klinik einer Korruptionsaffäre, die mehrere Sozialdemokraten ihre Ämter gekostet hat. Seit 1988 beschäftigt sie einen Untersuchungsausschuss der Bremischen Bürgerschaft. Nach einem Jahr Beweisaufnahme hat der Ausschussvorsitzende Andreas Lojewski (SPD) jetzt seinen Abschlussbericht vorgelegt.

Der dicke Wälzer liest sich teils wie ein Krimi, teils wie ein Lehrbuch über SPD-Filz. Lojewski spart nicht mit deftiger Kritik an eigenen Genossen: Der inzwischen abgelöste Verwaltungsdirektor Aribert Galla (SPD) sei ein „Fehlgriff“ gewesen, habe Misswirtschaft betrieben, seine Dienstpflichten verletzt, sich persönlich bereichert und die Klinik „wie ein Feudalherr“ geleitet. Der damalige Gesundheitssenator Herbert Brückner (ebenfalls SPD) habe „jahrelang fast tatenlos“ zugeschaut und damit seine Aufsichtspflicht verletzt. Und Sozialsenator Henning Scherf (natürlich auch SPD) sei auf einen Kuhhandel eingegangen, um Galla nach zwölf Jahren endlich loszuwerden. Der Schlusssatz des Berichts nennt den finanziellen Schaden: „Er dürfte sich in Millionenhöhe bewegen.“

Medizinisch hat das 1.500-Betten-Klinikum nach wie vor einen guten Ruf. Aber in der Verwaltung herrschte jahrelang Chaos. Schuld daran hatte laut Lojewskis Bericht vor allem Verwaltungschef Galla. Er war offenbar der falsche Mann am falschen Platz.

Fachleute bezweifelten seine Qualifikation schon während des Bewerbungsverfahrens: Anders als einigen Mitbewerbern fehlte dem damals 31-jährigen Diplom-Ökonomen jegliche Erfahrung in der Leitung einer Klinik. Dennoch entschieden sich die zuständigen Genossen in der Gesundheitsdeputation und im Senat für ihren Parteifreund.

Die Zweifler bekamen bald recht. Beim Amtsantritt 1976 verkündete Galla zehn Führungsleitsätze, auch „Gallas zehn Gebote“ genannt. Zum Beispiel sollten Vorgesetzte Vorbild sein und eng mit Untergebenen kooperieren. Gallas eigene Praxis sah etwas anders aus: Nach dem Eindruck des Personalrats führte er das Haus wie ein Alleinherrscher nach Gutsherrenart.

Laut Untersuchungsbericht ließ er außerdem ein „organisatorisches Chaos“ entstehen, „in dem Verstöße gegen Haushaltsrecht und Beschaffungsvorschriften an der Tagesordnung waren“. Ein Beispiel von vielen: Galla habe einen 3,4 Millionen Mark teuren Auftrag für eine zentrale Essensversorgung ohne korrekte Ausschreibung an eine Firma vergeben, die damit überfordert gewesen sei. Dadurch entstanden Mehrkosten in Millionenhöhe. Geradezu harmlos erscheint da Gallas eigenmächtiger Kauf eines reparaturanfälligen Gebraucht-LKW bei einem befreundeten Autohändler für 50.000 DM. In den drei Jahren danach musste die Klinik 13.000 DM Werkstattkosten berappen.

Anstelle langfristiger Investitionsplanung richtete Galla laut Untersuchungsbericht „Graue Kassen“ ein, aus denen dann neue Geräte bezahlt wurden. Gespeist wurden die internen Geldtöpfe mit nachträglichen Gutschriften von Lieferanten: Statt in der Buchhaltung landeten die Schecks direkt im Tresor der Zahlstelle.

Für illegal hält der Ausschussvorsitzende auch einige „Koppelungsgeschäfte“: Das Zentrallabor ließ sich von Pharmafirmen kostenlos Leihgeräte liefern und musste dafür jahrelang Chemikalien dieser Konzerne beziehen, ohne zuvor Preisvergleiche anzustellen.

Sehr gut wirtschaften konnte Galla offenbar, wenn es um eigene Vorteile ging. Nach Aussagen von Zeugen hielt der Verwaltungschef bei der Auftragsvergabe an Klinikslieferanten gerne die Hand auf oder gab den Hinweis, dass die Geschäftspartner ihre Flüge doch künftig im Reisebüro seiner Frau buchen könnten. Wer zahlte, bekam laut Ausschussbericht auch bei überteuerten Preisen den Zuschlag. Nach Darstellung eines Firmenchefs wurde auch mal um die Höhe des Schmiergeldes gefeilscht: Aus Rücksicht auf die Finanzlage der Firma habe sich Galla schließlich mit 40.000 statt 100.000 DM begnügt.

Neben „Mister 10 Prozent“ (so die Lokalpresse) schwammen im St.-Jürgen-Sumpf auch noch kleinere Fische: Ein mittlerweile entlassener Abteilungsleiter ließ sich „durchschnittlich zweimal wöchentlich aus dem Proviantlager Warenpakete mit Wurst, Käse, Gemüse und Obst zusammenstellen“.

Auch der damalige Ärztliche Direktor der Klinik, Walter Henschel, wird im Untersuchungsbericht gerüffelt: Trotz wiederholter Beschwerden des Gesundheitsamtes habe der Professor versäumt, überall die nötige Hygiene sicherzustellen. Der Pfleger einer Intensivstation berichtete dem Ausschuss, „dass mit dem Essen gleichzeitig der Müll und auch die Toten transportiert wurden“.

Dass sich Galla trotz sichtlicher Inkompetenz zwölf Jahre lang als Alleinherrscher behaupten konnte, lag offenbar daran, dass er oft von „guten Beziehungen zu einflussreichen Personen“ prahlte. Wenn es doch jemand wagte, sich bei Senator Brückner über Missstände in der Klinik zu beschweren, wurden die Hinweise zur weiteren Bearbeitung ausgerechnet an Galla weitergeleitet.

Nach Ansicht des Ausschussvorsitzenden wusste Brückner spätestens seit Herbst 1983 von „erheblichen Mängeln“ in der Kliniksspitze. Doch anstatt durchzugreifen, beließ er es bei der Bestellung von Gutachten bei Wirtschaftsprüfungsgesellschaften.

Bewegung kam in den Fall erst, als Brückner zum SPD-Landesvorsitzenden gewählt wurde und deshalb Anfang 1987 sein Senatsamt aufgab. Sein kommissarischer Nachfolger, Sozialsenator Scherf, erkannte bei Galla bald eine „ungewöhnliche Form von Unfähigkeit“, glaubte aber, dass die damalige Beweislage nicht für eine Amtsenthebung ausreichte. Deshalb einigte sich Scherf mit Galla Ende 1987 auf eine „honorige Lösung“: Der Verwaltungschef beschaffte sich ein Attest, wonach er wegen Bluthochdrucks und Fettsucht „dauernd dienstunfähig“ sei, und der Senat unter Bürgermeister Klaus Wedemeier (SPD) schickte den Leitenden Regierungsdirektor mit 43 Jahren ohne amtsärztliches Gutachten in den bezahlten vorzeitigen Ruhestand.

Der Untersuchungsbericht nennt dieses Vorgehen einen durch nichts zu rechtfertigenden „Deal“. Die „längst überfällige Ablösung“ von Galla hätte durchaus per Versetzung oder Disziplinarverfahren erfolgen können. Ein vom Ausschuss nachgefordertes Amtsarzt-Gutachten hat inzwischen bestätigt, dass Galla keineswegs pensionsreif ist.

Im Februar 1988 setzte die Bürgerschaft den Untersuchungsausschuss ein – auf Antrag der CDU, aber letztlich einstimmig. Trotzdem bemühten sich einige Sozialdemokraten nicht gerade um schonungslose Aufklärung und Abrechnung. Der SPD-geführte Senat weigerte sich, seine Beratungsprotokolle herauszurücken und musste erst durch eine Klage der Bürgerschaft vorm Bremer Staatsgerichtshof dazu gezwungen werden.

Ex-Senator Brückner und sein damaliger Senatsdirektor (Staatssekretär) Hans-Helmut Euler zogen erst im November 1988 Konsequenzen aus der Kliniksaffäre. Auf Druck von Genossen legte Brückner sein Amt als SPD-Landeschef nieder, und Euler gab seinen Posten als Chef der Senatskanzlei auf.

WIE ES WEITERGING

Das Landgericht Bremen verurteilte Aribert Galla 1994 rechtskräftig zu drei Jahren und neun Monaten Haft wegen Bestechlichkeit, Vorteilsannahme und Untreue. Ein mitangeklagter Kaufmann erhielt eine Bewährungsstrafe; er hatte Galla beim Verschieben von Schmiergeldern in Höhe von 900.000 Mark (rund 460.000 Euro) auf 34 Konten einer von Galla gegründeten Briefkastenfirma auf Jersey geholfen. Strafmildernd wirkte sich aus, dass Galla den angerichteten Schaden größtenteils ersetzt habe. Bei der Urteilsverkündung kritisierte der Kammervorsitzende Kurt Kratsch die zutage getretene „parteipolitische Ämterpatronage“ und die „Vermischung von Staat und Partei“. Ermittlungen gegen die Senatoren Brückner und Scherf wegen Beihilfe zur Untreue waren bereits 1991 eingestellt worden.

Mitte 1995 floh Galla aus dem Offenen Vollzug. Ein Jahr später wurde er in der Türkei festgenommen und nach Deutschland ausgeliefert.

Das Landgericht Magdeburg verurteilte ihn 1998 zu einer weiteren mehrjährigen Haftstrafe, weil er als Geschäftsführer einer 1992 in Ostdeutschland gegründeten und später in Konkurs gegangenen Firma etliche Bilanz- und Steuerdelikte begangen habe.

Das Zentralkrankenhaus St.-Jürgen-Straße heißt inzwischen Klinikum Bremen-Mitte.

Erfrischende Streitlust

Horst-Werner Franke, SPD-Politiker mit Ecken und Kanten, tritt ab

1990

Viel Feind’, viel Ehr’: Wenn Bremens Senator für Bildung, Wissenschaft und Kunst, Horst-Werner Franke (SPD), auf Widerspruch stößt, dann läuft er zur Hochform auf und redet seine Widersacher oftmals an die Wand. Einmal trieb er die versammelte Opposition aus dem Parlamentssaal, indem er sie als „Kryptofaschisten“ beschimpfte. Umgekehrt musste auch er Schmähungen über sich ergehen lassen. Die CDU nannte ihn „Totengräber der Schulvielfalt“, und auf dem Marktplatz wurde er schon mal von Demonstranten angespuckt. Nun hat das alles ein Ende: Nach fast 15 Jahren als Bildungssenator geht der dienstälteste Kultusminister der Bundesrepublik in den vorzeitigen Ruhestand.

Zur Begründung nennt der 57-Jährige nicht nur Gesundheitsprobleme, sondern zitiert auch ein Nietzsche-Wort: „Man muss aufhören, sich essen zu lassen, wenn man am besten schmeckt.“

Franke wird von Freunden „Thomas“ genannt („Das kommt vom ungläubigen Thomas“). Er will sich jetzt in ein altes Schulgebäude zurückziehen, das er schon vor Jahren in dem niedersächsischen Dorf Windhorst gekauft und anschließend umgebaut hat. Dort möchte er, wie er sagt, „nach Landherrenart mit Pferd, Weide, Gewächshaus und Garten“ leben und seine „Sehnsucht erfüllen, noch mal freier Mensch zu sein“.

Windhorst ist für Franke schon seit dem Krieg eine Art zweiter Heimat. Der Dorfschullehrer-Sohn, der 1932 in Schlesien geboren wurde, landete nach der Vertreibung in Windhorst und machte hier eine Mechanikerlehre. Neben seiner Arbeit holte er das Abitur nach. Anschließend studierte er Germanistik, Geschichte und Politik und ging in den bremischen Schuldienst.

1967 nahm er sein erstes Mandat als SPD-Bürgerschaftsabgeordneter an. Er ging gleich in Opposition zu Fraktionschef Richard Boljahn („König Richard“), der später über einen Baulandskandal stolperte. „Ich war die Speerspitze der Anti-Boljahner“, rühmt sich Franke heute. 1975 wurde er zum Senator für Wissenschaft und Kunst gewählt. In diesem Amt blieb er bis zuletzt, wobei er 1983 noch zusätzlich den Bereich Bildung übernahm.

Als streitbarer Reformpolitiker setzte er gegen massiven Widerstand der Konservativen die Schließung eigenständiger Gymnasien und die Gründung „horizontaler Stufenschulen“ (eine Art Kooperative Gesamtschule) durch – ein System, das er noch kurz vor seinem Abgang den Reformern der DDR-Wende als Vorbild empfahl.

Im Streit um die 1971 eröffnete Bremer Reformuniversität erschien er manchen eher als Anti-Reformer: Durch eine Öffnung der Hochschule für mehr Naturwissenschaft sorgte er nach eigener Einschätzung dafür, dass die angebliche „Rote Kaderschmiede“ inzwischen „bundesweit auch bei der Wirtschaft hochakzeptiert ist“.

Politik war für ihn aber nicht alles: In seiner Freizeit tauschte er gerne die politische mit der Theaterbühne.

Zu seinem Abschied würdigte ihn der Präsident der Bürgerschaft, Dieter Klink (SPD): „Unser Parlament und die Öffentlichkeit werden künftig Ihre erfrischende Streitlust, Ihre spontane Schlagfertigkeit und Ihre nimmersatte Argumentierfreude missen.“

CDU und FDP weinen ihm allerdings kaum eine Träne nach, vor allem wegen seiner umstrittenen Schulpolitik. Mit Frankes Nachfolger Henning Scherf sind sie aber auch nicht glücklicher: Der Querdenker vom linken SPD-Flügel wirkt auf sie wie ein rotes Tuch.

Die Grünen sehen den Franke-Abschied mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Einerseits werfen sie ihm radikale Sparmaßnahmen vor, andererseits bedauern sie, „dass eine der selten gewordenen Persönlichkeiten mit Ecken und Kanten von der politischen Bühne abtritt“.

In einer seiner letzten Presseerklärungen machte er seinem Ruf, ein Senator „mit selten hohem Unterhaltungswert“ zu sein (so die linke „tageszeitung“), nochmal alle Ehre: „Ich habe im Parlament oft gedacht: ‚Mein Gott, jetzt müsstest Du Opposition sein. Wie könntest Du Dir einheizen – und dann kommen die Lahmärsche von den Oppositionsbänken.‘“ Wenige Stunden später zog er den letzten Halbsatz „mit dem Ausdruck des Bedauerns“ zurück. Vielleicht ergreift auch ihn langsam die Altersmilde.

Pfleglicher Abriss

Bremens Senatsgästehaus, eine Nobelvilla, wurde heimlich abgerissen

Eigentlich zu wertvoll für einen Abbruch: das Gästehaus des Senats.

1990

Ist unter der „pfleglichen Behandlung“ eines Gebäudes auch dessen Abriss zu verstehen? Das fragen sich empört Bürger und Politiker in Bremen, nachdem die Hotelkette „Maritim“ mit Genehmigung von Bausenator Konrad Kunick (SPD) in einer Art Nacht-und Nebelaktion das ehemalige Senatsgästehaus in der Parkallee hat abreißen lassen, um auf dem Gelände ein Appartementhaus zu errichten.

Die „Maritim“-Gruppe hatte die Jugendstilvilla für 1,5 Millionen Mark von der Hansestadt erworben. Im Kaufvertrag ließ die Stadt ausdrücklich festhalten, sie gehe davon aus, dass „Maritim“ das Gebäude „seiner historischen Bedeutung entsprechend pfleglich behandeln wird“. Doch stattdessen kam jetzt der Abrissbagger – am Freitagnachmittag, nachdem schon viele Bremer in die Osterferien oder ins Wochenende aufgebrochen waren.

Dass „Maritim“ die äußerlich gut erhaltene Nobelvilla am Rande des Bürgerparks abreißen wollte, war zwar schon länger bekannt. Da sich aber alle drei Oppositionsfraktionen für die Rettung des Bauwerks einsetzten und die Beratung im Parlament noch nicht beendet war, rechnete niemand damit, dass „Maritim“ und der SPD-Senat vorab vollendete Tatsachen schaffen würden.

Doch trotz des laufenden Diskussionsprozesses erteilte Bausenator Kunick jetzt heimlich die Abbruchgenehmigung. Seine Begründung: „Maritim“ habe wegen zu teurer Renovierungskosten auf einem Neubau bestanden, und außerdem sei „eine Besetzung des Gebäudes nicht auszuschließen“ gewesen.

Unter den wütenden Bürgern, die den Abbruch beobachteten, standen auch Oppositionspolitiker. Der FDP-Fraktionsvorsitzende Claus Jäger sprach von einer „Sauerei“ und einem „Angriff auf das Parlament“. Jäger kündigte ein politisches Nachspiel an und versprach dem Senat: „Das wird ihm noch leidtun.“

WIE ES WEITERGING

In einer Sondersitzung der Bürgerschaft stellten CDU, FDP und Grüne einen gemeinsamen Misstrauensantrag gegen Bausenator Kunick. Sie warfen ihm wegen des Hausabbruchs „arroganten Machtmissbrauch“ vor, kritisierten aber auch Kunicks „unzulängliche“ Verkehrs- und Wohnungspolitik sowie die Verdoppelung der erwarteten Baukosten für das neue Kongresszentrum auf der Bürgerweide von 50 auf rund 100 Millionen DM. Bürgermeister Klaus Wedemeier (SPD) sagte, „Maritim“ habe einen Anspruch auf Abrissgenehmigung gehabt, da eine Renovierung der Villa unwirtschaftlich gewesen wäre. Die SPD-Parlamentsmehrheit lehnte den Misstrauensantrag bei einer Enthaltung ab.

Wie Wedeklaus die große Welt genießt

Bürgermeister Klaus Wedemeier kommt aus einfachen Verhältnissen, aber sucht mehr die Nähe zum großen Geld als zum kleinen Mann

1991

Als der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth im Januar wegen industriegesponserter Urlaubsreisen sein Amt verlor („Traumschiff-Affäre“), fragten sich Bremer Journalisten, wie es denn ihr Regierungschef Klaus Wedemeier mit Kontakten zu Wirtschaftsleuten hält. Sie erinnerten sich, dass der Sozialdemokrat im Sommer 1990 mit einer Erfolgsmeldung von einem Mallorca-Trip zurückgekommen war: Er habe dort den Neu-Bremer Großinvestor Hans Grothe dazu bewegen können, für Bremerhaven ein teures Museum zu stiften und dort Werke aus Grothes privater Kunstsammlung auszustellen. Was damals allerdings nicht herausposaunt wurde: Während der Museumsverhandlungen war Wedemeier samt Ehefrau und Sohn eine Woche lang Gast in Grothes Mallorca-Villa.

Hans Grothe ist nicht irgendwer, sondern immerhin Chef einer Immobilienfirmengruppe, die in Bremen und anderswo Handelszentren und Hotelbauten hochzieht und darauf hofft, bald auch den Bremer Bahnhofsvorplatz zubetonieren zu dürfen. Wenn ein Regierungschef tagelang bei einem solchen Bauinteressenten logiert, werden Zweifel an seiner Unabhängigkeit laut.

„Wedeklaus“, wie er auch genannt wird, rechtfertigt sich so: Im Mai 1990 sei bekannt geworden, dass Grothe Teile seiner wertvollen Kunstsammlung nach Bonn geben wolle. Als Bürgermeister habe er daraufhin über einen Verbleib der Bilder in Bremen verhandeln wollen, jedoch keinen Termin mit Grothe gefunden. Schließlich habe der Unternehmer vorgeschlagen: „Wenn Sie mit mir reden wollen, dann kommen Sie doch mit Ihrer Familie nach Mallorca.“

„Was hätte Wedemeier tun sollen?“, fragt Senatssprecher Klaus Sondergeld. Hätte er die Einladung in Grothes Villa abgelehnt und sich für die Zeit der Museumsverhandlungen ein eigenes Appartement gemietet, „dann wäre das doch kleinkrämerisch und eine Beleidigung für Grothe gewesen und hätte womöglich das Museumsprojekt gefährdet“. Den Flug habe Wedemeier aber selbst bezahlt.

Inzwischen hat die öffentliche Kritik den 47-Jährigen zu der Erkenntnis gebracht, „dass er so etwas nicht noch mal machen wird“ – allerdings nicht, weil er falsch gehandelt hätte, sondern „weil seine Motive offensichtlich nicht verstanden werden“, wie sein Sprecher sagt.

Auf wenig Verständnis ist Wedemeier auch mit einer USA-Reise gestoßen. 1990 gab die Bremer Hafenbetriebsgesellschaft BLG in New York einen Werbeempfang für Hafenkunden. Wedemeier hielt dort eine Rede und besuchte zudem deutsche Diplomaten. Flug und Unterkunft rechnete er als Dienstreise ab. Seine Frau ergatterte ein Freiticket der „Werder“-Fußballmannschaft, die ebenfalls zu dem Werbeempfang flog. Nach drei Tagen New York „unterbrach“ der Bürgermeister seine Dienstreise für einen vierwöchigen Familienurlaub in den Staaten, wo sein Sohn gerade zu einem Schüleraustausch weilte. Der Rückflug von New York galt dann wieder als Dienstreise. Rein juristisch ist die Unterbrechung von Amtsfahrten zulässig. Aber dass jemand eine dreitägige Dienstreise mit einem vierwöchigen Urlaub verknüpft, dürfte ziemlich einmalig sein.

„Der Bürgermeister reist halt gern“, meint ein Senatsmitarbeiter lakonisch. Im Sommer 1990 war der Chef so selten im Rathaus, dass sich die CDU-Opposition beschwerte. Die Antwort des Senats: Die „moderne Kommunikationstechnik“ erlaube es dem Regierungschef auch auf Reisen, „sich ständig über die aktuellen Probleme Bremens zu informieren und notwendige Entscheidungen zu treffen“. Die CDU spottete daraufhin, Wedemeier solle doch nur noch Urlaub machen und bei Bürgerschaftsdebatten per Großbildschirm zugeschaltet werden.

Bei fast allen Reisen dabei ist Wedemeiers Ehefrau Ute, früher Verwaltungsbedienstete, heute Hausfrau. „Das hat manchmal einen Anflug von Familienurlaub“, berichtet ein Bekannter. Bei offiziellen Besuchsreisen fährt die „First Lady“ auf Staatskosten mit, wie es auch anderswo üblich ist.

Aber auch ihre Eltern durften schon mal im Dienstwagen nach Danzig mitkommen. Sie seien von Bremens Partnerstadt eingeladen worden, weil sie von dort stammten, erklärte die Senatspressestelle. Ein Rentnerpaar schrieb daraufhin einen Leserbrief: „Wir stammen auch aus Danzig und hätten unsere Heimat ebenfalls sehr gerne einmal wiedergesehen. An welche Stelle hat man sich wohl zu wenden, um ebenfalls eine Einladung zu bekommen?“

Die Wedemeiers haben auch einen „Hang zum Repräsentieren und zu Statussymbolen“, wie ein Insider meint. Während sein Stellvertreter Henning Scherf auf einen eigenen Dienstwagen verzichtet hat und meistens mit seinem Privatrad fährt, stehen für den Chef gleich zwei Luxuslimousinen bereit. Sein Sprecher sieht darin allerdings keine Statussymbole, sondern nennt andere Gründe: Der zweite, neuere Wagen sei gepanzert, fahre nicht so gut wie der alte und solle lange halten. Deshalb werde manchmal noch der alte Wagen gebraucht.

Wenn das Bürgermeisterpaar nicht standesgemäß behandelt wird, reagiert vor allem Ehefrau Ute beleidigt – zum Beispiel bei einem Empfang des Deutschen Fußball-Bundes in Berlin. Wie ein Augenzeuge erzählt, wurden die Wedemeiers versehentlich „nicht an Tisch 1 mit dem DFB-Präsidenten, sondern an Tisch 2 gesetzt“. „Klaus, haben wir das nötig?“, soll Ute ihren Mann gefragt haben (was der allerdings bestreitet), und beide verließen den Saal.

Obwohl Sozialdemokrat, sucht „Wedeklaus“ eher die Nähe zum großen Geld als zum kleinen Mann. Zu seinen engsten Freunden zählen der Werbefilmproduzent Fritz Scheidtmann und dessen Ehefrau Katja, eine Nachtclub-Besitzerin. Die Scheidtmanns laden die Wedemeiers gelegentlich zu Motorjachttouren auf der Ostsee ein und waren auch beim Urlaub in Grothes Mallorca-Villa mit dabei.

Während Wedemeiers Vorgänger Hans Koschnick den Ruf hatte, sich gelegentlich mit Arbeitern in Hafenkneipen zu betrinken, hält sich Wedemeier manchmal lieber in Katja Scheidtmanns Nachtclub auf, wo gelegentlich auch sein Duzfreund, der CDU-Landesvorsitzende Bernd Neumann, einkehrt.

Ähnlich wie sein Umgang mit Bauinvestor Grothe hat auch die Freundschaft zu Fritz Scheidtmann Fragen nach Wedemeiers Unabhängigkeit ausgelöst. Scheidtmann möchte an einer Anbietergemeinschaft für eine private Hörfunkfrequenz beteiligt werden. Und obwohl Wedemeier für diesen Bereich gar nicht zuständig ist, brachte er seinen Freund mit anderen Interessenten an einen Tisch – damit sie sich zusammentun und dann vom Landesrundfunkausschuss die Lizenz erhalten. Senatssprecher Sondergeld beteuert allerdings, dass Wedemeiers Engagement nicht seinem Freund Scheidtmann gelte, sondern lediglich eine potente Anbietergemeinschaft zusammenbringen sollte, um auswärtige Konkurrenten abzuwehren.

Für diesen Zweck hätte er freilich genauso gut den „Verein Stadtradio“ bei dessen Bemühen unterstützen können, eine nicht-kommerzielle Anbietergemeinschaft mit Kirchen oder Gewerkschaften zustande zu bringen – für Sozialdemokraten eigentlich die förderungswürdigere Lösung.

Dass Wedemeier einst in der Studentenbewegung gegen den Vietnamkrieg protestierte, sich auf Straßenbahnschienen setzte und 1970 zum Landesvorsitzenden der linken Jungsozialisten gewählt wurde, merkt man ihm schon lange nicht mehr an.

Auch seine Herkunft aus einfachen Verhältnissen scheint er manchmal zu verdrängen. 1944 im fränkischen Hof geboren, kam er als Zwölfjähriger nach Bremen. Sein Vater war Hafenarbeiter, seine Mutter Altenpflegerin. Nach einer Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann stieg er zum Prokuristen auf, 1971 ließ er sich in die Bürgerschaft wählen, 1979 zum SPD-Fraktionschef und 1985 zum Nachfolger des amtsmüden Bürgermeisters Hans Koschnick. Ein Aufsteiger also, der „nun endlich ein bisschen die große Welt genießen“ will, wie ein Bekannter vermutet.

Eine weitere Erklärung für seinen Wandel dürfte darin liegen, dass sich der Bürgermeister mit seinen monatlich knapp 17.000 DM Bruttoeinkünften im Vergleich zur freien Wirtschaft offenbar unterbezahlt fühlt. Als kleinen Ausgleich dafür und als Entschädigung für seinen Stress nutzt er nun besonders intensiv die wenigen Annehmlichkeiten seines Amtes.

„So ist das bei vielen Politikern“, sagt ein ihm wohlgesonnener Mitarbeiter, und das lasse sich auch kaum ändern. Denn: „Wenn Politiker immun gegen alle Anfechtungen sein sollen, dann müssen sie entweder Heilige oder Millionäre sein – und von beiden gibt es leider nicht genug.“

CDU und Grüne freuen sich über die Medienkritik an Wedemeier.

Bremen vom Sozialismus befreien

Vor der Bürgerschaftswahl: Die CDU will die SPD vertreiben, deren absolute Mehrheit wankt, und die Grünen warnen vor „Nödeldödel“

1991

Man nehme einen roten Besenstiel, hänge ein Schild „SPD“ daran und stelle ihn auf den Marktplatz – und schon wird er gewählt. Nach diesem Rezept, so lästert die Opposition, könnten die Bremer Sozialdemokraten jede Wahl gewinnen. In der Tat erreichte die SPD seit Ende des Zweiten Weltkriegs fast immer die absolute Mehrheit, und nie saß sie in der Opposition. Allerdings teilte sie die Macht bis 1971 freiwillig mit der FDP und von 1951 bis 1959 sogar zusätzlich mit der CDU. Denn der damalige Bürgermeister Wilhelm Kaisen hielt es für sinnvoll, für den Wiederaufbau nach dem Krieg ein möglichst breites Bündnis aus Arbeiter- und Kaufmannschaft zu bilden. Erst seit 1971 regieren die Sozialdemokraten allein, zurzeit mit 54 von 100 Bürgerschaftssitzen.

Bei den Wahlen am 29. September muss die SPD allerdings um ihre absolute Mehrheit bangen. Vor allem das Anlegen neuer Bus- und Straßenbahnspuren zu Lasten des Autoverkehrs dürfte die SPD Stimmen kosten. Die CDU setzte sich geschickt an die Spitze der Bewegung gegen „Straßenmalereien“ und „Autofahrerschikanen“. Bürgermeister Klaus Wedemeier hat die Verkehrspolitik inzwischen zur Chefsache gemacht und behandelt die Autofahrer jetzt etwas vorsichtiger.

Auch in der Asylpolitik hat er versucht, die Kurve zu nehmen. Nachdem Bremen immer mehr Zulauf von Asylbewerbern erhalten hatte, beschloss der Senat eine rigorose Aufnahmebegrenzung. Das dürfte zwar gegen das Grundgesetz verstoßen, aber manche Wähler zurückholen.

Dem Stimmenfang sollte es auch dienen, dass sich die Regierenden immer wieder werbewirksam unters Volk mischten: keine „Ostseedampferfahrt mit Senioren“ ohne Sozialsenatorin Sabine Uhl, keine Bierverlag-Einweihung ohne Innensenator Peter Sakuth. FDP-Fraktionschef Claus Jäger kommentierte die Einweihungsorgie mit einem ironischen Absagebrief: Er könne leider nicht zusammen mit Wirtschaftssenator Uwe Beckmeyer an der Einweihung einer Lkw-Waschanlage („Brummi-Brause“) teilnehmen, da er bereits mit Bildungssenator Henning Scherf einem Festakt zur Übergabe einer Hausmeistergarage beiwohnen wolle. Der Garagen-Festakt ist natürlich Claus-Jäger-Latein, nicht aber der erste Lkw-Waschgang mit dem Wirtschaftssenator. Verschenkt hat der Senat allerdings die Gelegenheit, einen 870.000 DM teuren Kiosk- und Toilettenbau (auch „Palazzo Pissi“ genannt) neben dem Rathaus mit einem passenden Ritual in Betrieb zu nehmen.

Politische Aussagen spielten im SPD-Wahlkampf eine Nebenrolle. Der größte Gag: riesige Plakate, auf denen außer einem winzigen SPD-Emblem nichts steht als ein mehrdeutiges „Lieber Klaus“. Die Grünen reagierten schlagfertig, indem sie eigene Plakate daneben aufstellten: „Lieber nicht“.

Höhepunkt der SPD-Kampagne ist zurzeit die „Rosenoffensive“: Um die Stammwählerschaft in den Hochburgen zu mobilisieren, bringen Wahlhelfer 130.000 rote Rosen in die Wohnungen, treppauf, treppab.

Anders als die SPD fühlt sich die CDU-Opposition im Aufwind. Als Spitzenkandidaten zauberte sie den Sparkassendirektor Ulrich Nölle aus dem Hut – einen Politik-Neuling, der erst seit Kurzem CDU-Mitglied ist. Der sympathische und fleißige 51-Jährige hat sich für zwei Monate bei der Sparkasse beurlauben lassen. Die Union nennt ihn selbstbewusst „Bürgermeisterkandidat“, will mit ihm „das Rathaus erstürmen“ und Bremen „vom Sozialismus befreien“.

Die Siegesparolen dürften allerdings nicht viel nützen. Denn die CDU, die 1987 von 33,3 auf 23,4 Prozent abgerutscht war, müsste schlagartig auf etwa 40 Prozent kommen, wenn sie mit Hilfe ihres Wunschpartners FDP die Sozis aus dem Senat vertreiben wollte, und daran glaubt sie selbst nicht.

Nölle will nach der absehbaren Niederlage zwar Abgeordneter werden, aber ob er auch Fraktionschef wird und dafür seinen lukrativen Sparkassenposten aufgibt, lässt er offen. Kritiker sehen ihn deshalb vor allem als Aushängeschild für die CDU. Ein Verdacht, der noch viel mehr seine „Kernmannschaft“ trifft. Drei der sieben Nölle-Mitstreiter sind genau wie er Politik-Neulinge: der Informatikprofessor Klaus Haefner, die Geschäftsführerin der evangelischen Kindergärten, Ilse Wehrmann, und der parteilose Chef der „Scipio“-Fruchthandelsgruppe, Bernd-Artin Wessels. Sie beteuern zwar, ein Regierungsamt anzustreben, kandidieren aber nicht mal für die Bürgerschaft, wo sie viel eher einen Platz erringen könnten.

Die Ausländer haben es der CDU am meisten angetan. Die Union warnte laufend vor der „Asylantenflut“ und weigerte sich, an einem Runden Tisch darüber zu reden, ob sich das sensible Asylthema aus dem Wahlkampf heraushalten ließe. Nölle räumte zwar ein: „Wenn Sie das Einzelschicksal nehmen, ist es sicher sehr traurig, und wir sind alle tief betroffen.“ Aber er sagte das so unbewegt, als lese er gerade eine Bilanz vor.

Größere Chancen als die CDU, den Sprung in die Regierung zu schaffen, haben die Grünen (zuletzt 10,2 Prozent) mit ihrer Spitzenkandidatin Helga Trüpel. Sie eröffneten schon vor Wochen den Wettbewerb um den unpolitischsten Plakatspruch, indem sie Wortspiele mit den Namen der Konkurrenz trieben: „Wedemeier – Nöllemeier – Wedenölle – Nödeldödel“. Das brachte ihnen hämische Kommentare ein, denn ihre Spitzenkandidatin heißt mit vollem Nachnamen Trüpel-Rüdel. Regierungs- und koalitionsfähig wären die Grünen aber durchaus – auch nach Ansicht von Wedemeier.

Die FDP würde ebenfalls gerne mit den Sozialdemokraten koalieren. 1983 scheiterte sie zwar an der Fünf-Prozent-Klausel, aber 1987 errang sie gleich wieder zehn Prozent. Ungläubiges Staunen löste ein Plakat mit FDP-Spitzenkandidat Jäger aus: Es verklärte den 47-jährigen Juristen zu einem verträumten Schnulzensänger (ein Mitarbeiter: „Was glauben Sie, wie lang der Fotograf dafür gebraucht hat!“).

Mit großer Sorge blicken die demokratischen Parteien auf die extreme Rechte, vor allem auf die „Deutsche Volksunion“ (DVU), die 1987 an der Weser ihren bisher einzigen Sitz in einem deutschen Landtag errungen hatte. Um für ihren Wiedereinzug zu werben, ließ sie Flugzeuge mit Transparenten über Bremen kreisen und verschickte massenhaft Postwurfsendungen („Bremen muss deutsch bleiben“).

Indirekte Wahlhilfe bekamen die Rechten von der „Bild“-Zeitung. In einer Serie „Asylanten in Bremen“ schürte sie den Ausländerhass. „Bild“ unterschied Asylbewerber von „ehrbaren Ausländern, die Gäste unserer Stadt sind“, und verbreitete ungeprüft Horrorgeschichten über sie („Im Kühlschrank das Eis pechschwarz. Möbel alle kaputt. Im Keller bauen sie Hasch an“).

In der Stadt Bremen werden am Sonntag erstmals auch die 22 Ortsbeiräte direkt von der Bevölkerung gewählt. Eigentlich sollten dabei auch jene 16.000 Ausländer mitstimmen dürfen, die seit mindestens vier Jahren hier leben. Aber die CDU klagte vor dem Bremer Staatsgerichtshof gegen diesen Akt der Ausländerintegration – mit Erfolg.

Ulrich Nölle

Der 1940 in Dortmund geborene Nölle träumte als Kind davon, Kapitän zu werden. Automechaniker wäre dem späteren Besitzer eines BMW-Oldtimers auch recht gewesen. Stattdessen machte er eine Lehre bei der Sparkasse Dortmund. Mit nur 32 Jahren wurde er dort bereits stellvertretendes Vorstandsmitglied. Später saß er im Vorstand der Sparkasse Hannover und ab 1981 an der Spitze der Sparkasse Bremen. Anfang 1991 trat er in die CDU ein und übernahm dann die Spitzenkandidatur bei der Bürgerschaftswahl. Wenn sich Nölle nicht gerade um seine vielen Ehrenämter kümmert, fährt er mit seiner Ehefrau Tandem auf dem Wümmedeich oder geht mit einem der vier erwachsenen Kinder auf Segeltour. Am liebsten aber repariert er Autos – ein Hobby, das man dem seriös gekleideten Herrn absolut nicht ansieht.

Bremer Politik 1991–95

DIE AMPELKOALITION

und das Erbe der

SPD-Alleinherrschaft

3

Der Schock sitzt tief

Bei der Bürgerschaftswahl verliert die SPD ihre absolute Mehrheit, und die DVU zieht erstmals in Fraktionsstärke in einen Landtag ein

1991

„Nein, das kann doch nicht wahr sein“, stöhnt eine Genossin in der Lobby der Bremischen Bürgerschaft, als das ZDF um Punkt 18 Uhr seine Wahlprognose verkündet: das schlechteste SPD-Ergebnis der Nachkriegszeit und der Verlust der absoluten Mehrheit, auf die die Sozialdemokraten seit 20 Jahren geradezu abonniert sind. Und der zweite Schock des Abends (nicht nur für die SPD, sondern für alle Demokraten): Die rechtsextreme „Deutsche Volksunion“ (DVU), die bisher nur mit einem Sitz in der Bürgerschaft vertreten war, erzielt mit sechs Mandaten erstmals Fraktionsstärke in einem deutschen Landtag.

CDU-Spitzenmann Ulrich Nölle und sein Landesvorsitzender Bernd Neumann zeigen sich dagegen als strahlende Sieger. Das sei ein „sensationell guter Erfolg“, sagt Neumann. Dabei lässt er allerdings unerwähnt, dass die Union mit diesem Ergebnis nur wieder aus dem Tal von 1987 herausgekommen ist, aber ihren vorher üblichen Durchschnitt nicht verbessern konnte.

Als der SPD-Spitzenkandidat, Bürgermeister Klaus Wedemeier, die Bürgerschaft betritt, wird er gefragt, ob er nach dem Abrutschen von ehemals 50 Prozent auf weit unter 40 Prozent nicht zurücktreten müsste. Fast trotzig antwortet er, jetzt komme es darauf an, dass „Fraktion, Partei und Senat mit mir zusammenrücken“. Da helfe es nicht, wenn „Einzelne davonlaufen“.

Wahlergebnis 29.9.1991

SPD38,8 % (–11,7)41 Sitze

CDU30,7 % (+7,2)32 Sitze

Grüne 11,4 % (+1,2)11 Sitze

FDP 9,5 % (-0,6) 10 Sitze

DVU 6,2 % (+2,8) 6 Sitze

Wahlbeteiligung: 72,2 % (–3,4)

Die Grünen hätten sich eigentlich freuen können, dass sie ihr Ergebnis von 1987 (10,2 Prozent) um gut einen Prozentpunkt steigern konnten. Doch als die erste Wahlprognose bekannt wird, sieht man bei den Spitzenkandidaten Helga Trüpel und Ralf Fücks nur betretene Gesichter. Die Grünen waren die einzigen, die das Asylthema nicht in den Vordergrund ihres Wahlkampfs gestellt hatten, und sind nun am meisten erschrocken darüber, dass so viele Wählerinnen und Wähler rechtsextrem gewählt haben: sechs Prozent im Landesschnitt, im Wahlbereich Bremerhaven sogar über zehn Prozent – noch vor FDP und Grünen. Trüpel geht davon aus, dass jeder ausländerfeindliche Wahlkampf der großen Parteien letztlich doch nur den Rechtsextremen nützt: „Die Wähler stimmen dann lieber gleich für das Original statt für die Kopie.“

Wie es nun weitergeht, weiß bisher keiner so richtig. SPD und Grüne hätten zusammen 52 der insgesamt 100 Sitze im Bremer Landtag. Das ist nach Ansicht Wedemeiers und auch einiger Grünen-Politiker zu wenig, um die schwierigen Probleme des hoch verschuldeten Zwei-Städte-Staates zu meistern. „Ich will keine Zitterpartien“, sagt auch SPD-Fraktionschef Claus Dittbrenner.

Wedemeier möchte deshalb eine „möglichst breite Basis“ für eine Koalition finden. Am wahrscheinlichsten scheint derzeit eine rot-gelb-grüne Ampelkoalition. Grünen-Fraktionssprecher Martin Thomas wäre dafür, aber FDP-Fraktionschef Claus Jäger hält sich noch zurück: „Die Grünen wollen mehr Staat, wir wollen mehr Privatisierung – ich weiß nicht, wo sich das treffen soll.“ Das muss aber nicht das letzte Wort gewesen sein. Staatsrat Andreas Fuchs (SPD), der Leiter der Senatskanzlei, vermutet: „Die FDP ziert sich, um den Eintrittspreis möglichst hochzuschrauben.“

Aber auch innerhalb der SPD zeigt sich bereits Widerstand gegen eine „Ampel“. Für Susi Möbbeck, ehemals Juso-Bundesvorsitzende und heute stellvertretende Chefin des traditionell linken SPD-Ortsvereins Altstadt, kommt ein Zusammengehen mit den Freidemokraten überhaupt nicht infrage – allein schon wegen deren Positionen in der Städtebau- und Verkehrspolitik: „Die FDP ist für Beton, Beton, Beton.“

WIE ES WEITERGING

Als Konsequenz aus den hohen SPD-Verlusten und nach innerparteilicher Kritik an ihrem frühzeitigen Werben für eine rot-grüne Koalition trat die SPD-Landesvorsitzende Ilse Janz im Oktober 1991 zurück. Ihre Nachfolge übernahm ihr bisheriger Stellvertreter Horst Isola (bis Dezember 1992). Die FDP brachte kurz eine „schwarze Ampelkoalition“ („Schwampel“) aus CDU, FDP und Grünen ins Gespräch, einigte sich dann aber mit den Unterhändlern von SPD und Grünen auf einen rot-gelb-grünen Koalitionsvertrag. Die nötige Zustimmung durch die jeweiligen Landesparteitage, eigentlich eine Formalie, scheiterte Anfang Dezember überraschend bei den Grünen mit 96 zu 97 Stimmen. Drei Tage später ließ die Parteiführung eine erneute Versammlung abhalten, um die Basis „mit den Folgen ihres Beschlusses zu konfrontieren“ und die Abstimmung zu wiederholen (s. folgender Text).

Ampel mit Wackelkontakt

Im zweiten Anlauf votieren die Grünen doch noch für das Dreierbündnis /Die CDU spricht von „Ampel-Gehampel“

1991

„Nochmal alles auf null, alle entspannen, alle ganz gelöst!“, versuchte Dietrich „Hucky“ Heck die Versammelten zu beruhigen. Der stadtbekannte Grünen-Sympathisant ohne Parteibuch hatte extra seinen Urlaub auf Gran Canaria unterbrochen, um die Abstimmung zu leiten, mit der die Bremer Grünen im zweiten Anlauf über die zunächst geplatzte Ampelkoalition entscheiden wollten. Der Saal im CVJM-Heim war rappelvoll, weil fast die Hälfte der 450 Mitglieder dabei sein wollte. Dazu muss man wissen: Bei der Öko-Partei an der Weser gibt es keine klassischen Parteitage mit Delegierten, sondern nur Mitgliederversammlungen.

Kurz vor 23 Uhr stand endlich das Ergebnis fest: Von 221 Anwesenden sagten 158 „Ja“ zum Koalitionsvertrag. Großer Jubel bei der Parteiführung: Sie hatte es geschafft, innerhalb dreier Tage eine Ein-Stimmen-Mehrheit gegen die „Ampel“ in eine klare Zwei-Drittel-Mehrheit für dieses Experiment zu verwandeln, ohne die Partei völlig zu spalten.

Am Rande allerdings bröckelte es: Gleich nach der Abstimmung trat der Umweltschützer Peter Willers, einer der Mitbegründer der Bremer Grünen von 1979, vors Mikrophon und sagte mit ruhiger Stimme: „Ich wollte Euch nur mitteilen, dass Euer altgrüner Gründungsvater Euch jetzt verlässt.“

Vom Wackelkurs überrumpelt fühlten sich auch andere Mitglieder. „Dies ist ein grüner Putsch von der Parteispitze her“, hatte schon vorab ein Ortsbeiratsmitglied gewettert. Viele Kritiker blieben auch bei ihren inhaltlichen Bedenken gegen die „Ampel“: Die Grünen hätten bei den Koalitionsverhandlungen zu wenig herausgeholt und sich an eigenen Prinzipien versündigt.

Reizpunkte waren vor allem die geplante Außenweservertiefung (aus Sicht der Neinsager ein „grüner Sündenfall“), die von der FDP durchgesetzte Einrichtung neuer Gymnasien zulasten kooperativer Schulzentren („sozial äußerst unverträglich“) und die Vergrößerung des Senats von zehn auf elf Personen, damit die SPD beim Platzmachen für die Koalitionspartner nicht zu viele ihrer alten Senatoren in die Wüste schicken muss.

Nach der ersten Abstimmung vor drei Tagen war vielen Mitgliedern, die dabei mit „Nein“ votiert hatten, der Schreck in die Glieder gefahren. Sie hatten ihrer Spitzenkandidatin Helga Trüpel und den anderen Koalitionsunterhändlern eher nur einen Denkzettel verpassen wollen und offenbar nicht genügend die schweren Folgen bedacht.

Um die Basis wieder auf den rechten Weg zu bringen, reisten für die Wiederholungsversammlung extra drei Bundespolitiker an, darunter auch Parteichef Ludger Volmer. „Ihr habt Kröten geschluckt“, räumte er ein. Aber das gehöre beim Koalieren dazu. Und gar nicht zu koalieren, wäre „vielleicht die allergrößte Kröte von allen“ – und zudem schädlich für die Gesamtpartei.

Auch Ralf Fücks, der um seine Ernennung zum Umweltsenator bangen musste, beschwor seine Basis, die grünen Ideale und Utopien nicht „in luftdichte Dosen zu verpacken“, sondern sich aktiv mit den äußeren Zwängen auseinanderzusetzen und zu beweisen, „dass grüne Politik auch schlechtwetterfähig ist“.

Die Alternative zur „Ampel“, so warnten auch andere Befürworter, wäre womöglich eine große Koalition – „ein Bündnis zwischen rechtssozialdemokratischem Gewerkschaftsfilz und konservativer CDU-Handelskammerfraktion“.