Brennender Sand - Clive Cussler - E-Book

Brennender Sand E-Book

Clive Cussler

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Er will den Nahen Osten in Brand setzen, und nur ein Team kann ihn aufhalten – das 17. Action-Abenteuer für Juan Cabrillo und seinem Team.

Juan Cabrillo und die Crew der Oregon kommen einem mörderischen Komplott auf die Spur. Ein saudischer Prinz will einen vernichtenden Schlag gegen die US-Streitkräfte im Arabischen Meer durchführen. So will er einen neuen Krieg im Nahen Osten auslösen, um letztendlich Israel zu vernichten. Cabrillo und sein Team folgen der Spur von den Regenwäldern des Amazonas über ein verlassenes Kloster in Ostafrika bis in die Berge des Jemen. Sie müssen sich beeilen, und Versagen ist keine Option – sonst wird sich das Arabische Meer in ein Massengrab verwandeln.

Jeder Band ein Bestseller und einzeln lesbar. Lassen Sie sich die anderen Romane über Juan Cabrillo nicht entgehen, zum Beispiel seine packenden Aufträge »Das Portland-Projekt«, »Operation Seewespe« oder »Feuermeer«!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 613

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Juan Cabrillo und die Crew der Oregon kommen einem mörderischen Komplott auf die Spur. Ein saudischer Prinz will einen vernichtenden Schlag gegen die US-Streitkräfte im Arabischen Meer durchführen. So will er einen neuen Krieg im Nahen Osten auslösen, um letztendlich Israel zu vernichten. Cabrillo und sein Team folgen der Spur von den Regenwäldern des Amazonas über ein verlassenes Kloster in Ostafrika bis in die Berge des Jemen. Sie müssen sich beeilen, und Versagen ist keine Option – sonst wird sich das Arabische Meer in ein Massengrab verwandeln.

Autoren

Clive Cussler konnte bereits dreißig aufeinanderfolgende »New-York-Times«-Bestseller landen, seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, und ist auch auf der deutschen Spiegel-Bestsellerliste ein Dauergast. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebt in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.

Mike Maden ist unter anderem der Autor zweier Romane aus Tom Clancys »New York Times«-Bestsellerserie Jack Ryan Jr. Er hat sowohl einen Master als auch einen Doktortitel in Politikwissenschaften von der University of California in Davis, wo er sich auf internationale Beziehungen und vergleichende Politik spezialisiert hat. Er hält Vorträge und ist als Berater tätig, u. a. zu den Themen Krieg und Naher Osten. Außerdem moderierte er ein Jahr lang seine eigene wöchentliche Radiosendung.

Die Juan-Cabrillo-Romane:

1. Der goldene Buddha · 2. Todesschrein · 3. Todesfracht · 4. Schlangenjagd · 5. Seuchenschiff · 6. Kaperfahrt · 7. Teuflischer Sog · 8. Killerwelle · 9. Tarnfahrt · 10. Piranha · 11. Schattenfracht · 12. Im Auge des Taifuns · 13. Der Colossus-Code · 14. Das Portland-Projekt

15. Operation Seewespe · 16. Feuermeer · 17. Brennender Sand

Weitere Bände in Vorbereitung

Clive Cussler

& Mike Maden

Brennender Sand

Ein Juan-Cabrillo-Roman

Deutsch von Wolfgang Thon

Die englische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel „Fire Strike (Juan Cabrillo 17)“ bei G.P. Putnam‘s Sons, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 by Sandecker, RLLLP

By arrangement with Peter Lampack Agency, Inc., 551 Fifth Avenue, Suite 1613, New York, NY 10176-0187 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkterstr. 28, 81673 München

Redaktion: Jörn Rauser

© Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (Meysam Azarneshin, Hussain, Jag_cz)

HK · Herstellung: sam · lor

Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen

ISBN: 978-3-641-31285-5V001

www.blanvalet.de

HANDELNDE PERSONEN

THECORPORATION

Juan Cabrillo – Chairman der Corporation und Kapitän der Oregon.

Max Hanley – Präsident der Corporation, Juans Stellvertreter und Chefingenieur der Oregon. Während des Vietnamkriegs Kapitän eines Patrouillenbootes.

Linda Ross – Vizepräsidentin der operativen Abteilung der Corporation und ehemalige Angehörige des Geheimdienstes der U.S. Navy.

Eddie Seng – Direktor der Abteilung für landgestützte Operationen innerhalb der Corporation und ehemaliger Agent der CIA.

Eric Stone – Erster Steuermann der Oregon und ehemaliger Angehöriger der U.S. Navy. Spezialist für Waffentechnik.

Dr. Mark »Murph« Murphy – Leitender Waffenoffizier auf der Oregon und ehemaliger Waffenkonstrukteur der U.S. Army.

Franklin »Linc« Lincoln – Aktiver Agent der Corporation und ehemaliger Scharfschütze bei den U.S. Navy SEAL.

Marion MacDougal »MacD« Lawless – Aktiver Agent der Corporation und ehemaliger U.S. Army Ranger.

Raven Malloy – Aktive Agentin der Corporation und ehemalige Ermittlerin der U.S. Army Military Police.

Russ Kefauver – Geheimdienstanalyst und ehemaliger forensischer Berater bei der CIA.

Dr. Eric Littleton – Chef des biophysikalischen Labors der Oregon.

Mike Lavin – Leitender Waffenmeister der Oregon. Während seiner Dienstzeit bei der U.S. Army Spezialist für die technische Wartung und Instandhaltung von Waffen und Feuerleitsystemen.

Bill McDonald – Waffenmeister auf der Oregon. Leitete als ehemaliger Agent paramilitärische Einsätze der CIA.

George »Gomez« Adams – Hubschrauber- und Drohnenpilot der Oregon. Veteran der U.S. Army.

Hali Kasim – Leitender Funk- und Kommunikationsoffizier der Oregon.

Dr. Julia Huxley – Chefärztin und Leiterin der medizinischen Abteilung an Bord der Oregon. Veteranin der U.S. Navy.

Amy Forrester – Arzthelferin auf der Oregon. Ehemalige Feldsanitäterin der U.S. Navy.

Kevin Nixon – Chef des Magic Shop (»Zauberladens«) an Bord der Oregon.

Maurice – Chefsteward der Oregon. Veteran der British Royal Navy.

REGIERUNGDERVEREINIGTENSTAATENVONAMERIKA

Langston Overholt IV. – Verbindungsoffizier zwischen der CIA und der Corporation.

Captain Kim Dudash – Befehlshabender Offizier auf der USSGerald R. Ford (CVN-78).

Robin Stansberry – U.S. Senator.

SAUDI-ARABIEN

Abdullah bin Abdulaziz – Kronprinz.

Muqrin bin Khalid – Stellvertretender Kronprinz und Oberst der Königlichen Saudischen Luftwaffe.

Khalid bin Salman – Ehemaliger stellvertretender Kronprinz und ehemaliger Leiter des General Intelligence Presidency (GIP).

ISRAEL

Sarai Massala – Ehemalige Mossad-Agentin.

Asher Massala/Duke Matasi – Sarai Massalas Bruder.

Shlomo Gottlieb – Shin Bet, leitender Angestellter.

SURCHEV (PRIVATESÖLDNERTRUPPE)

Jean-Paul Salan – Präsident von SurChev und ehemaliger Hauptmann des 1. französischen Marine-Infanterie-Fallschirmregiments.

Moulin – Salans Nummer zwei und alter Kamerad bei den Fallschirmjägern der französischen Marine.

Sergeant Angus Fellowes – Salans Ausbildungsleiter und ehemaliger Sergeant des britischen Special Air Service.

Risto – Mazedonischer SurChev-Agent, zu Dr. Hightower überstellt.

Mat – Malaysischer SurChev-Mitarbeiter, zu Dr. Hightower überstellt.

Samson – Nigerianischer SurChev-Agent, zu Dr. Hightower überstellt.

DIEHIGHTOWERORGANISATION (HHplus)

Dr. Heather Hightower – CEO und Gründerin von HHplus.

Dr. Jing Yanwen – Mitglied des Amazonas-Collection-Teams.

Dr. Brigit Schweers – Mitglied des Amazonas-Collection-Teams.

Karl Krasner – Hightowers Sicherheitschef, ehemaliger Stasioffizier.

»Die Geschichte begann, als Menschen Götter erfanden, und sie wird enden, wenn Menschen zu Göttern werden.«

YUVALNOAHHARARI

PROLOG

Borneo, 1963

In dieser mondlosen Nacht war der strömende Regen die perfekte Deckung für die drei Mitarbeiter der Special Boat Section.

Die SBS, die »feuchten Cousins« des bekannteren Special Air Service – SAS –, war eine Kommandoeinheit der Royal Marines, die sich auf Einsätze an der Küste spezialisiert hatte. Daher auch der heutige Auftrag, mit einem Zodiac-Schlauchboot flussaufwärts zu schippern.

Ein sturer britischer Staatsbürger namens Rawlinson brauchte dringend eine Notausreise, um die Kautschukplantage seiner Familie zu verlassen. Die kommunistischen indonesischen Aufständischen, die in der Region ihr Unwesen trieben, waren wild entschlossen, alle Ausländer zu töten und ihren Besitz zu beschlagnahmen. Eine nur acht Kilometer entfernte holländische Familie war in der Nacht zuvor von den krummbeinigen Marxisten abgeschlachtet worden, und Rawlinson und seiner Frau dämmerte allmählich, dass sie die Nächsten auf ihrer Liste waren.

Der Soldat Desmond »Wraith« Vickers schaltete den großen Evinrude-Außenborder des Zodiacs aus, und die drei Männer paddelten die letzten fünfhundert Meter in eingeübter Synchronität. Für den Wolkenbruch, der zwar ihre Ausrüstung durchnässte, ihre Aktivitäten aber übertönte, waren sie geradezu dankbar. Alle drei Männer suchten das schummrige Ufer nach Anzeichen von Bewegung ab – natürlich nach Rebellen, aber auch nach Borneokrokodilen, die es in diesem Teil des Landes in Hülle und Fülle gab. Bisher war das Glück mit ihnen mitgepaddelt.

Der Leutnant gestikulierte mit der freien Hand, und die Männer steuerten das Gummiboot in Richtung Ufer. Geräuschlos glitten sie aus dem Zodiac und zogen das Schlauchboot in den Schutz des dichten Gebüsches. Jeder der Männer nahm seine »Silent Sten«-Maschinenpistole ab und tastete prüfend nach dem Magazin. Vickers griff nach seiner Hüfte und tätschelte das Holster seines .38 Webley Revolvers, dann legte er die Hand kurz auf den Griff seines rasiermesserscharfen Fairbairn-Sykes-Dolches in der gut geölten Lederscheide an seinem Oberschenkel.

Bereit!

Der Leutnant nickte in Richtung der Plantage. Vickers, gerade achtzehn Jahre alt und der jüngste Operator der gesamten Schwadron, übernahm die Führung und bahnte sich den Weg durch die Blätter und das Gestrüpp unter den ordentlichen Reihen der Gummibäume. Auf dem Stützpunkt zeigte er sich mit der kontrollierten Würde eines Landadligen, doch im Feld bewegte er sich mit der fast übernatürlichen Geschmeidigkeit und Gerissenheit einer Dschungelkatze. Seine lautlosen Bewegungen und sein unvermitteltes Auftauchen hatten ihm den Spitznamen »Wraith« eingebracht, »Gespenst«.

Vickers blieb am Rande der Lichtung stehen, hinter der das in der Ferne auftauchende, verdunkelte Plantagenhaus lag, und kontrollierte noch einmal die Umgebung. Die Lichter waren gemäß den Anweisungen des Leutnants ausgeschaltet worden.

So weit, so gut.

Vickers war überzeugt, dass der Weg sicher war, und stürmte im geduckten Lauf auf das Haus zu, die Sten im Anschlag und den Finger am Abzugsbügel. Im Stillen betete er, dass sich Rawlinson an den Befehl des Leutnants erinnern möge, ja nicht auf sie zu schießen, wenn sie sich dem Haus näherten. Ein nervöser britischer Zivilist, der mit einer geladenen Lee-Enfield No.1 bewaffnet war, konnte sich als ebenso gefährlich erweisen wie jeder indonesische Killer.

Gelassen und leise sprang Vickers auf die Veranda und blickte durch die Fenster. Wie ein verrückter Trommler hämmerte der Regen auf das Blech. Er sah keine Anzeichen für eine Bewegung im Inneren, als der Leutnant und Corporal Sterling, ein stämmiger Schotte, polternd neben ihm auftauchten.

Wegen des Lärms schüttelte Vickers missbilligend den Kopf.

Der Leutnant musterte noch einmal die schattige Umgebung, bevor er zur Haustür ging und sie mit seinem schlammigen Stiefel aufstieß.

Mit erhobenem Gewehr stürmte Vickers vor, sein bester Freund Sterling folgte ihm dicht auf den Fersen, und der Leutnant war direkt hinter ihnen.

»Rawlinson!«, rief dieser. »Die Königin selbst ist gekommen, um Sie hier herauszuholen!«

Nichts.

»Sterling, nach oben. Wraith, Sie kontrollieren die Rückseite.«

Die beiden Männer liefen davon, als der Leutnant die Kellertür aufstieß. Er zog an der Kette für den Lichtschalter. »Rawlinson!«, rief er erneut. »Nicht schießen. Wir sind hier, um Sie herauszuholen. Sind Sie da unten?« Rasch lief er die Holztreppe hinunter und suchte den feuchten Kellerraum ab. Er fand aber nur unberührte Lagerregale mit Konserven und Haushaltswaren.

Der Leutnant stieg die Treppe wieder hinauf und marschierte in die Küche zu Vickers und Sterling. Die beiden schüttelten den Kopf.

Nichts.

»Rawlinson hat sich vielleicht schon aus dem Staub gemacht, ohne uns zu informieren«, spekulierte der Leutnant. »Aber wir können nicht ausschließen, dass er sich noch immer auf dem Grundstück befindet. Sterling, sieh mal in dem Lagerschuppen im hinteren Bereich nach. Wraith, Sie gehen zum Maschinenraum rüber. Ich suche die Umgebung ab. Wir treffen uns in fünfzehn Minuten am verabredeten Treffpunkt, und das gilt für jeden. Macht euch bemerkbar – habt ihr verstanden?«

Die Männer nickten. Sterling fügte hinzu: »Sicher, Boss.«

***

Die erstickende Hitze setzte so plötzlich ein, wie der strömende Regen aufgehört hatte. Eine Nebeldecke stieg von dem wassergesättigten Boden auf.

Angestrengt starrte der Leutnant in die Dunkelheit, als er an dem Treffpunkt in der Nähe des Bootes hockte. Keine Spur von seinen Männern. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Wo steckten sie?

»Boss.«

Der Leutnant fuhr erschrocken zusammen, als Vickers plötzlich hinter ihm auftauchte, wie aus dem Nichts. Der Junge war wirklich ein Geist.

»Irgendeine Spur von den Rawlinsons?«, fragte der Leutnant. Sein Flüstern wurde durch den Lärm der Zikaden und quakenden Frösche übertönt.

»Hinter dem Maschinenschuppen. Ihre Kehlen sind von einem Ohr bis zum anderen aufgeschlitzt.«

»Lieber Gott. Und Sterling?«

Beide Männer hörten das Krachen der Blätter vor ihnen, sahen aber nicht, was …

Es klatschte.

Ein sogenannter »Kartoffelstampfer« – eine Stielhandgranate chinesischer Bauart – landete vor ihren Füßen im Schlamm.

Wraith stieß den Leutnant beiseite und stürzte sich auf die Granate.

»Vickers!« Der Leutnant wollte gerade nach ihm greifen, doch im selben Augenblick durchschlug eine Kugel seinen Schädel.

Seine Leiche landete neben Vickers auf dem schlammigen Boden. »Boss!«

Vickers kroch zur Leiche des Leutnants. Die chinesische Granate war ein Blindgänger gewesen, aber die Kugeln, die über seinen Kopf hinwegzischten, waren alles andere als das und drohten auch ihn zu zerfetzen. Aber das spielte jetzt keine Rolle.

Vickers verschwand, als die Indonesier durch die Reihen der Gummibäume vorrückten. Die Luft hallte von dem Stakkato ihrer automatischen Waffen wider, während die Kugeln Rinde und Äste zersplitterten.

Vickers lief im rechten Winkel zu den Vorrückenden davon, lautlos wie ein Schatten, und wandte sich dann nach Norden.

Ermutigt von dem fehlenden Widerstand der Briten, leerten die Indonesier ihre Magazine schreiend und lachend blindlings in den Busch, in dem der Leutnant gefallen war. Augenblicke später standen sie über dem zerschmetterten Leichnam des Offiziers.

Sie hatten keine Ahnung, dass Wraith ihnen in einem Bogen so weit ausgewichen war, dass er sie jetzt von hinten überrumpeln konnte.

Vickers feuerte mit seiner schallgedämpften Maschinenpistole auf die schattenhaften Gestalten. Seine Kugeln trafen ihr Ziel, während er das dreißigschüssige Magazin leerte und die Indonesier von links nach rechts ummähte, sodass sie wie Kegel in den Schlamm fielen. Am Ende blieben nur zwei übrig.

Vickers lud nach und richtete seine Waffe auf die letzten beiden Rebellen, die sich hinter einem Baum duckten – einer war einen Kopf größer als der andere – und erstarrte plötzlich.

Sterling!

Erst jetzt erkannte Vickers den großen Schotten. Er war geknebelt, und ihm waren die Arme auf dem Rücken gefesselt. Er wurde von einem kleineren Kommunisten festgehalten, der eine Pistole gegen Sterlings untere Wirbelsäule drückte. Der kleine Indonesier benutzte den Schotten als menschlichen Schutzschild, während er ihn zwischen den Bäumen hindurchmanövrierte.

Dieser Mistkerl.

Vickers schlug einen Bogen durch den Wald und nutzte die Stämme als Deckung, während er den Abstand zwischen ihnen verringerte und dann versuchen wollte, ihn erneut anzugreifen.

Panisch drehte sich der Indonesier im Kreis, hielt Sterling dicht vor sich gedrückt und umklammerte mit einer Hand den Hals des Schotten, unsicher, woher der nächste Schuss kommen mochte.

Vickers legte den Lauf seiner Sten auf einen Baum, um die Waffe zu stabilisieren, und richtete sie auf die beiden sich ständig bewegenden Gestalten, um auf die richtige Gelegenheit zu warten.

Pop!

Ein 9-mm-Geschoss durchschlug die Brust des Indonesiers und schleuderte ihn zu Boden.

Vickers stürmte hinter dem Baum hervor und lief auf Sterling zu.

Der geknebelte und gefesselte Sterling sah, wie Vickers zwischen den Bäumen auftauchte und stieß einen dumpfen Schrei aus.

Dann drehte er sich um und rannte davon.

»Sterling! Ich bin’s!«

Der Schotte machte drei lange Schritte, bevor die britische L2-Granate, die an seinem Nacken befestigt war, explodierte.

Der Indonesier hatte eine Sprengfalle an ihm angebracht. Er hatte seinen Finger in den Splint der Granate gesteckt, und durch ihren Sturz hatte seine Leiche den Sicherungsring herausgezogen, genauso wie er es geplant hatte.

Vickers blieb wie angewurzelt stehen. Die Luft war von der anschwellenden Kakophonie der Insekten und den entfernten, wütenden Rufen weiterer Rebellen im Wald hinter ihm erfüllt.

Was hatte er getan?

***

Nachdem er die Leichen von Sterling und dem Leutnant sicher im Zodiac verstaut hatte, gab Vickers Gas. Ihn interessierte weder das Dröhnen des großen Evinrude-Motors noch die Kugeln, die das Wasser um ihn herum aufspritzen ließen. Der Bug des Bootes hob sich hoch aus dem Wasser, und Vickers raste davon. Sein tränenüberströmtes Gesicht wurde von dem warmen Fahrtwind gekühlt, der über seine Haut peitschte.

Marinebasis Ihrer Majestät, SingapurZwei Wochen später

Admiral Bromley blickte von der Mappe auf seinem Schreibtisch aus poliertem Teakholz auf und drückte seine Zigarette in einem silbernen Jugendstil-Aschenbecher aus.

Vickers saß aufrecht in seiner frisch gebügelten Uniform der Royal Marines auf einem Stuhl davor. Ihre Falten waren so scharf, dass man sich damit hätte rasieren können. Seine Schuhe waren auf Hochglanz poliert und standen in krassem Gegensatz zu den ausdruckslosen Zügen seines gut aussehenden Gesichts.

»Ich weigere mich, das hier zu unterschreiben«, sagte Bromley und tippte auf einen Brief in der Mappe. »Sie sind einer unserer besten Soldaten und eine enorme Bereicherung für die Marine Ihrer Majestät. Wir können es uns einfach nicht leisten, Sie zu verlieren.«

»Ich bin der Auffassung, ich habe meine Gründe klar dargelegt, Sir.«

»Unfug. Der Untersuchungsausschuss hat Sie von jeglichem Fehlverhalten vollkommen freigesprochen. Niemand macht Sie auch nur im Geringsten dafür verantwortlich – ausschließlich Sie selbst.«

»Mein bester Freund ist aufgrund meines Verhaltens gestorben.«

»Ihr bester Freund ist gefallen, weil ihn ein feindlicher kommunistischer Halsabschneider umgebracht hat. Ich beschwöre Sie, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind.«

»Das habe ich versucht, Sir.«

»Sagen Sie mir eins, Vickers. Gefällt Ihnen der Militärdienst?«

»Seit ich ein kleiner Schuljunge war, habe ich immer nur meinem Land dienen wollen. Der Tag, an dem ich das grüne Barett der Bootnecks erhalten habe, war der schönste Tag meines Lebens.«

»Ihr Onkel, Sir Edmund Vickers-Hart, war der beste Offizier, mit dem gemeinsam zu dienen ich je das Privileg hatte. Nach Ihrer vorbildlichen Dienstakte zu urteilen, sind Sie und er aus dem gleichen Holz geschnitzt.«

»Ich betrachte das als das größte Kompliment, Sir, auch wenn ich bezweifeln muss, dass ich ihm gerecht werden kann.«

»Würden Sie eine Versetzung von Ihren geliebten Bootnecks zur Royal Navy in Betracht ziehen?«

Vickers runzelte die Stirn. »Ich würde mich nie wieder in eine Lage bringen wollen, in der ich das Leben meiner Kameraden riskieren müsste.«

»Das verstehe ich ziemlich gut.« Der Admiral hielt seine Zigarettenschachtel hoch. »Möchten Sie eine?«

»Nein danke, Sir.«

»Gut für Sie. Ist eine eklige Angewohnheit.«

Der Admiral ließ das silberne Dunhill-Feuerzeug klicken und zündete sich eine weitere Zigarette an.

Dann stieß er eine blaue Rauchwolke aus, während er erneut Vickers’ Akte studierte.

»Ich habe hier eine Reihe von Solidaritätsschreiben von Ihren Offizieren und Kameraden vor mir liegen.« Eines hielt er hoch und überflog es. »In diesem hier heißt es über Sie, ›er ist ausgesprochen beliebt und wird wegen seiner Manieren, seines Benehmens und seiner Ausdrucksweise sehr empfohlen‹.«

»Das ist eine Folge meiner Eton-Ausbildung, fürchte ich.«

»Außerdem scheint es, als hätten Sie einen Sinn für die schöneren Dinge des Lebens.« Bromley hielt einen weiteren Brief hoch. »Sie wären so etwas wie ein ›Amateursommelier‹, schreibt dieser Offizier.«

»Eines der vielen Privilegien meiner Erziehung als Sohn eines Großgrundbesitzers.«

»Ehrlich gesagt könnte ich jemanden wie Sie in meinem persönlichen Stab gut gebrauchen.«

Der Admiral trat hinter seinem Schreibtisch hervor.

»Sir?«

»Diese Position ist so weit von den aktuellen Kampfhandlungen entfernt, wie ich es mir nur vorstellen kann. Aber es ist ein ehrenvoller Dienst in der Marine Ihrer Majestät. Die Position erfordert Diskretion, Takt und Geschmack. Ich habe den Eindruck, Sie wären ausgezeichnet dafür geeignet. Soll ich Ihnen die Einzelheiten schildern?«

»Bitte, Sir, tun Sie das.«

Vickers’ Augen verengten sich, als er die Stellenbeschreibung anhörte. Es dauerte nur einen Moment, bis er sich entschieden hatte.

»Ein ehrenvoller Dienst, in der Tat, Sir. So etwas hatte ich noch nie in Betracht gezogen.«

»Ich sehe da nur eine Schwierigkeit.«

»Sir?«

»Sie haben in einer der besten Kommandoeinheiten der Armee gedient und an mehreren streng geheimen Missionen teilgenommen. Sind das Missionen gewesen, die – drücken wir es so aus – höchst inoffiziell waren?«

»Jawohl, Sir.«

»Wenn Sie zu einer anderen Dienststelle wechseln, kommen Ihre Akten unter Verschluss, und wir dürfen nicht zulassen, dass Unbefugte sie durchstöbern. Um dies zu vermeiden, müssen wir Ihre Unterlagen dauerhaft aus dem Verkehr ziehen, damit niemand von Ihrem Dienst bei der SBS erfährt. Wir werden den Dienst von Private Desmond Vickers sogar beenden müssen. Während Sie noch Uniform tragen, werden Sie als ›an einem unbekannten Ort verschollen‹ geführt. Sobald Sie in den Ruhestand gehen, können Sie Desmond Vickers wieder auferstehen lassen, sofern Sie das wollen.«

»Ich verstehe.«

»Das bedeutet natürlich, dass wir eine völlig neue Dienstakte für Sie anlegen müssen. Neuer Name, neuer Hintergrund, das ganze Paket. Was halten Sie davon?«

»Wenn mir das die Möglichkeit bietet, Königin und Vaterland weiter zu dienen, bin ich einverstanden.«

»Ausgezeichnet. Ich weise meinen Adjutanten an, die nötigen Vorkehrungen zu treffen. In der Zwischenzeit sollten Sie sich ein paar Tage frei nehmen und Singapur genießen. Es ist wirklich eine wunderschöne Stadt.«

Vickers stand auf, und zum ersten Mal seit Wochen zeigte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Danke, Sir.«

Der Admiral streckte seine Hand aus. Vickers schüttelte sie.

»Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit, Vickers … Ach ja, wie gesagt. Während Sie in den nächsten Tagen umherziehen, müssen Sie sich einen neuen Namen zulegen. Ein Pseudonym, sozusagen. Etwas, das möglichst weit von ihrem Vornamen entfernt ist.«

Vickers runzelte die Stirn, während er in Gedanken nach einer Antwort suchte. »Ich glaube, ich hätte da etwas.«

Der Admiral strahlte. »Ausgezeichnet. Also sagen Sie mir, mit wem ich zusammenarbeiten werde?«

»Nachname ›Chavasse‹, nach einem Onkel mütterlicherseits. Gefallen in El Alamein.«

»Mein Beileid. Ausgezeichnete Wahl.«

»Als zweiten Vornamen nehme ich ›Morley‹, nach einem Cousin, den ich in Korea verloren habe.«

»Wir haben viel zu viele gute Männer in diesen gottverlassenen Hügeln verloren. Und der erste Vorname?«

Vickers lächelte. »Der Diener meines Vaters ist im letzten Jahr in unserem Familiengrab beigesetzt worden. Ich habe ihn sehr bewundert. Er wurde 1916 in der Schlacht an der Somme schwer verwundet und erhielt ein Croix de Guerre mit einem étoile d’argent für tapfere Dienste.«

»In jeder Hinsicht ein Held. Wie hieß er?«

»Maurice.«

1

GEGENWARTBerg-BadachschanAutonome Region, Tadschikistan

Die alte Pistenraupe aus der Sowjetära erklomm die letzte Steigung des steilen Anstiegs. Als er strapaziert aufheulte, stieß der große Dieselmotor eine ölige Rauchwolke aus. Es hatte drei Stunden gedauert, die alte tibetische Festung über einen schmalen, hochgelegenen Pass im Pamir-Gebirge und durch den wirbelnden Schnee zu erreichen. Sie erhob sich über einem bewaldeten Tal am Rande einer unüberwindlichen Klippe. Ihre dicken Mauern hatten den damaligen Belagerungswaffen zwar widerstehen können, aber die Abgeschiedenheit und die schiere Unzugänglichkeit der Festung waren schon immer ihr wichtigstes Verteidigungsmittel gewesen. Nur die entschlossensten Besucher ließen sich nicht davon abhalten, sich überhaupt hierher zu wagen. Wie das mächtige Steingebäude vor mehreren hundert Jahren durch die Hände der antiken Konstrukteure an dieser Stelle überhaupt hatte errichtet werden können, blieb ein Geheimnis.

Die Pistenraupe kam schließlich genau gegenüber der kurzen Zugbrücke, die über dem Abgrund hing, zum Stehen. Die Kabinentür öffnete sich und ein stämmiger Tschetschene in Schafsfellmantel und Stiefeln sprang heraus und öffnete die hinteren Türen der Raupe für die sieben hochgeschätzten Gäste.

Die Passagiere – sechs Männer und eine Frau – streckten ihre von der langen, eintönigen Fahrt verknoteten Muskeln und die schmerzenden Rücken. Auf der gesamten Strecke hatten sie geschwiegen und sich in der geräumigen, aber zweckmäßigen Kabine der Pistenraupe mit verstohlenen Blicken nur gegenseitig taxiert. Draußen in der eisigen Luft bildeten ihre Atemzüge Wolken, aber die Dämpfe wurden schnell von dem beißenden Wind weggefegt.

Der krankhaft fettleibige Venezolaner Yeferson Osorio war der Sicherheitschef des größten südamerikanischen Drogenkartells. Seine rot geränderten Nasenlöcher und Augen ließen vermuten, dass er nach seinem eigenen Produkt süchtig war. Trotz der niedrigen Temperatur knöpfte er seinen bunten, bodenlangen Hermelinmantel nicht zu, und sein schulterlanges Haar wehte in der verschneiten Brise.

Osorio kannte den eleganten Russen Yakov Mityaev und die bebrillte Chinesin Wu Shanshan aus den Berichten, die er gelesen hatte. Wie er selbst waren sie Sicherheitschefs ihrer jeweiligen kriminellen Unternehmen und leiteten Organisationen mit nachrichtendienstlichen Mitteln, die den Kapazitäten der meisten Nationen entsprachen oder sie sogar übertrafen. Hätte Osorio gewusst, dass diese beiden Weltklasse-Drecksäcke an dem heutigen Treffen teilnehmen würden, hätte er ganz andere Vorkehrungen getroffen.

Die anderen konnte der Venezolaner zwar nicht identifizieren, aber er nahm an, dass es sich bei ihnen ebenfalls um hochrangige Vertreter ihrer jeweiligen Sicherheitsabteilungen handelte. Die Tätowierungen, die aus dem Kragen und den Ärmeln des Japaners hinausragten, wiesen ihn auch ohne Namensschildchen als Angehörigen der Yakuza aus. Ein korpulenter, glatt rasierter Inder, ein Mexikaner mit Cowboystiefeln samt silbernen Kappen und ein thailändischer Hochlandbewohner, der einen leuchtend gelben Skiparka trug, der ihm bis zu den Knien reichte, vervollständigten die Passagierliste.

Osorio fragte sich, ob es jemals zuvor ein Treffen derartig kriminaltechnischen Kalibers gegeben hatte. Polizeiorganisationen auf der ganzen Welt würden sich die Finger nach der Gelegenheit lecken, sie alle auf einen Schlag einzusacken.

Der Tschetschene sprach etwas in sein Funkgerät. Einen Augenblick später hob sich rasselnd das Fallgitter des Forts. Der Mann wies den sieben Besuchern den Weg zu dem höhlenartigen Eingang, wo ein hochgewachsener Soldat in einem zivilen Schneeanzug bereits auf sie wartete. Er hatte ein Gewehr geschultert. Ein zweiter, kleinerer Mann stand neben ihm, einen Scanner in der Hand, mit dem er sie nach Waffen und anderen metallischen Gegenständen absuchen konnte.

Die sieben Gäste schritten auf das Tor zu, und mit jedem Schritt nahm ihre Besorgnis noch zu. Was hinter diesem Tor lag, könnte ihr Leben für immer verändern.

Oder es beenden.

***

Insgeheim ärgerte sich Osorio über die Aufdringlichkeit eines erneuten Körperscans, als er in dem flughafenähnlichen Ganzkörperscanner stand. Zum dritten Mal an diesem Tag hob er die Arme über seinen massigen Kopf. Diese Leute schienen ihre Sicherheitsvorkehrungen wirklich ernst zu nehmen. Auf seinem Weg durch die antike Burg hatte er mindestens fünfzig bewaffnete Wachen gezählt. Es wäre unmöglich gewesen, die Festung mit Aussicht auf Erfolg anzugreifen.

Der ehemalige kubanische Geheimdienstoffizier, der den Scanner überwachte, musste sich ein Lächeln verkneifen, als er die digitale Anzeige des rundlichen Gangsters betrachtete. Osorios dichter Bart konnte das Doppelkinn, das sich unter seiner Kieferpartie abzeichnete, nicht ganz verbergen. Der venezolanische Gangsterboss ähnelte mit seinen knapp über zwei Metern Größe und einem Taillenumfang von gut hundertfünfzig Zentimetern einer riesigen Avocado. Sein grüner Samt-Trainingsanzug eines Designer-Labels mochte zwar ziemlich teuer sein, verstärkte aber noch den grotesken Effekt.

Trotz seiner ungesund wirkenden Figur und seines noch schlechter erscheinenden Gesundheitszustands war der Gangsterboss vollständig überprüft worden. Er verfügte über mehr als ausreichende Mittel, um sich für die heutige Auktion zu qualifizieren. Der unglückliche Mann musste allerdings fünf Stockwerke über eine Treppe hinaufsteigen, weil die alte Festung keinen Aufzug hatte. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Der Kubaner war erstaunt, dass der Venezolaner vor lauter Anstrengung nicht an einem Herzinfarkt gestorben war. Wie man es geschafft hatte, seinen vierhundert Pfund schweren Körper ohne Gabelstapler aus dem engen Treppenhaus zu hieven, darüber konnte man nur Vermutungen anstellen.

Der Kubaner gab Osorio ein Zeichen, die Kabine zu verlassen, während er selbst in sein Funkgerät flüsterte: »Alles klar.« Mit einem Nicken deutete er daraufhin auf die kleinen Behälter, die sich auf dem Tisch befanden. »Sie bekommen Ihren Schmuck und Ihre Uhr zurück, wenn Ihre Geschäftsbeziehungen mit Mr. Martin abgeschlossen sind«, sagte er auf Spanisch.

Osorio antwortete in der gleichen Sprache. »Besser, Sie sorgen dafür, pendejo.«

Die Beleidigung wischte das beflissene Lächeln aus dem Gesicht des Kubaners. Seine Augen verengten sich, als ein Befehl in seinem Ohrhörer quäkte. Er drehte sich zu den Gästen um.

»Señora y señores, es wartet noch ein letzter Stopp. Bitte folgen Sie mir.«

Osorio schnappte sich seinen Hermelinmantel aus dem Behälter auf dem Tisch neben ihm und folgte dem Russen und der Chinesin in einen anderen Raum, in dem ein tragbarer Netzhautscanner installiert war. Der ehemalige Geheimdienstoffizier deutete auf den Platz, den der Inder gerade frei gemacht hatte.

»Ms. Wu«, das war natürlich nicht ihr richtiger Name, »wenn Sie so freundlich wären.«

Wu nickte und nahm Platz. Daraufhin erteilte ihr der Techniker ein paar Anweisungen. Sie beugte sich vor und platzierte ihr Kinn auf die Kinnstütze des Geräts. Wenige Augenblicke später war die Netzhaut von Wus rechtem Auge gescannt und ihre Identität bestätigt. Dmitrijew tat es ihm gleich, ebenso wie Osorio, der allerdings stöhnte, als er sich auf den kleinen Plastikstuhl erst setzte und dann wieder aufstand.

»Zeit fürs Geschäft.« Der lächelnde Kubaner begleitete die sieben Gäste in den endgültigen Warteraum, der mit luxuriösen, vor Ort gefertigten Möbeln ausgestattet war. Auf einem länglichen Tisch standen Weinflaschen sowie eisgekühlte Dosen mit Beluga-Kaviar, und außerdem ein silberner Samowar, Wasserflaschen, Gläser, Essgeschirr und noch anderes mehr.

»Bitte bedienen Sie sich von den Erfrischungen. Señor Martin ist gleich für Sie da.«

Der Russe und der Chinese nahmen sich zwei Tassen mit dampfendem, heißem Tee aus dem Samowar, während Osorio eine Flasche Wasser öffnete. Die anderen naschten von den Ziegen- und Schafskäsescheiben oder rissen Stücke von den riesigen Rädern mit bunten, im Tandoor gebackenen Broten ab. Keiner wollte seine Geistesgegenwart durch Alkohol trüben. Alle nahmen auf bequemen Stühlen Platz.

Schweigend aßen und tranken sie, während sie den großen LCD-Fernseher betrachteten. Auf dem Bildschirm war eine hochgewachsene Frau mit rabenschwarzem Haar zu sehen. Sie trug graue Gefängniskleidung, und ihre dicksohligen Laufschuhe quietschten bei jedem Schritt auf den abgenutzten Steinen. Gelegentlich blieb sie stehen und starrte auf die hochauflösende Überwachungskamera, die jede ihrer Bewegungen aufzeichnete. Eines ihrer funkelnden grünen Augen war oberhalb ihres hohen Wangenknochens geschwärzt, und ihre Unterlippe war leicht geschwollen. Sie sah wie ein Laufstegmodel aus, das bei einem Fahrradunfall schwer gestürzt war. Ganz offensichtlich hatte sie eine harte Zeit hinter sich.

Osorio erkannte das Gesicht. Er fragte sich, ob die anderen auch wussten, wer das war.

Er hoffte nicht.

Denn in diesem Fall könnten die Dinge nämlich sehr schnell aus dem Ruder laufen.

2

Ein schlanker, athletischer Mann mit breiten Wangenknochen und einem langen Gesicht trat durch eine Tür. Sein kurzes, silbergraues Haar schien sorgfältig gekämmt. Er trug einen gut geschnittenen Anzug aus der Savile Row, handgefertigte Lederschuhe von Paolo Scafora und eine Jaeger-LeCoultre-Armbanduhr. Er sah wie ein wohlhabender europäischer Firmenchef aus, was er in gewisser Weise auch tatsächlich war.

»Madam, Sirs. Danke, dass Sie gekommen sind, und danke für Ihre Geduld. Ich weiß, es war eine anstrengende Reise und unsere Sicherheitsvorkehrungen müssen Ihnen außergewöhnlich umfangreich erschienen sein. All das diente jedoch ebenso Ihrem wie unserem Schutz.«

Das Englisch des Mannes war einwandfrei, aber Osorio erkannte einen schwachen osteuropäischen Akzent. Bulgarisch, wenn er sich nicht irrte. Er bezweifelte, dass Martin sein richtiger Name war.

»Meine Familie ist schon vor dem Fall von Konstantinopel im Entführungsgeschäft tätig gewesen. Ich möchte sogar ohne falsche Bescheidenheit behaupten, dass wir das Geschäftsmodell nicht nur erfunden, sondern auch vervollkommnet haben. Unser Auktionsservice liefert die hochwertigsten Vermögenswerte auf eine Art und Weise, die alle beteiligten Parteien, uns eingeschlossen, schützt. Und der heutige Abend bildet da keine Ausnahme. Ihre jeweiligen Organisationen sind aus dem Grund kontaktiert worden, weil nur sie in der Lage sind, die von uns geforderte Summe aufzubringen. Wie wir Ihnen zuvor bereits mitgeteilt haben, werden sämtliche Gebote in unverdünntem Isotonitazen abgegeben und gezahlt, bekannt unter seinem Straßennamen – ISO.«

Osorio verbarg seine Abscheu. ISO war ein böses Zeug. Die neuesten DEA-Studien kamen zu dem Schluss, dass das synthetische Opioid bis zu hundertmal stärker war als Fentanyl. Es war so neu auf dem Markt, dass die Drogenbekämpfungsbehörden, von den Gesetzgebern ganz zu schweigen, alle Mühe hatten, Schritt zu halten. Diese hochgradig abhängig machende und tödlich wirkende künstliche Droge war zudem selten und schwer herzustellen, was sie umso wertvoller machte.

Martin fuhr fort. »Wie Sie wissen, handelt es sich bei dem zu versteigernden Objekt um die leitende Systemingenieurin des Geheimdienstprogramms der amerikanischen DEA. Und wie Ihnen bereits mitgeteilt wurde, ist sie in der Lage, Ihnen Zugang zu allen DEA-Datenbanken und allen anderen Polizei- und Geheimdienstorganisationen zu gewähren, mit denen die DEA in Verbindung steht, einschließlich Interpol, dem National Counterterrorism Center und dem FSB, um nur einige zu nennen. Verdeckte Ermittlungen, Agenten, Informanten, Wohnadressen, Bankkonten – die Liste der verwertbaren Informationen ist endlos. Erwägen Sie, welchen Wert solche Informationen für den Erfolg Ihrer Organisation haben. Ebenso wichtig ist die Frage, welche Vorteile es sind, die solche Informationen Ihnen verschaffen würden – und zwar Ihren Konkurrenten gegenüber.«

Martin machte sich nicht die Mühe, die Worte »inklusive der in diesem Raum Versammelten« hinzuzufügen.

Die sieben Personen nickten. Ihre Müdigkeit und Gereiztheit waren wie weggeblasen, und sie richteten sich auf ihren Stühlen auf.

»Der Mehrwert, den wir in diese Transaktion eingebracht haben, ist unser eigener, makelloser Service. Wie wir Ihnen bereits mitgeteilt haben, haben wir für den vorzeitigen Tod unseres Vermögenswertes in einem verheerenden Feuer gesorgt. Was die DEA angeht, so sind ihre Überreste unauffindbar gewesen. Deshalb sucht auch niemand nach ihr. Sie können mit ihr machen, was Sie wollen, ohne Angst haben zu müssen, dass die Behörden nach ihr suchen oder Vergeltung an Ihnen üben.«

»Ist sie kooperativ?«, wollte Dmitrijew wissen.

»Natürlich hat sie sich anfangs gesträubt. Aber nachdem sie über ihre aussichtslose Lage aufgeklärt wurde, zeigt sie sich ausgesprochen gefügig. Wir haben dabei unsere bewährten Methoden der Überredung eingesetzt.«

Wissend lachten einige Kunden.

Martin lächelte. »Sie alle haben Unterlagen und Videobeweise erhalten, um die Zuverlässigkeit dieses Assets zu bestätigen. Ich nehme an, Sie haben sie ebenfalls eigens überprüft, sonst wären Sie heute Abend schließlich nicht hier. Liege ich da richtig?«

»Das ist ja wohl offensichtlich!«, grunzte Osorio in seinem dicken spanischen Akzent.

»Dann fahre ich fort. Sie haben zwar alle bereits schriftliche Anweisungen erhalten, aber ich möchte diese noch einmal kurz wiederholen. Erstens werden jedem Bieter fünf Minuten allein mit dem Asset eingeräumt. Es ist Ihnen nicht gestattet, sie zu berühren oder ihr irgendeine Form von Nahrung, Getränken oder Gegenstände anzubieten. Kurz gesagt, es ist Ihnen verboten, körperlichen Kontakt irgendwelcher Art aufzunehmen. Bei Zuwiderhandlung werden Sie sofort vom Bietverfahren ausgeschlossen. Jeder Versuch, sie zu verletzen, um ihren Wert für andere zu mindern, wird mit äußerster Härte geahndet.« Martin nickte einem seiner grinsenden tschetschenischen Handlanger zu, der in der Ecke stand. Er trug eine riesige Klinge an einer Hüfte und eine noch größere Halbautomatikpistole an der anderen.

»Sie dürfen ihr jedoch so viele Fragen stellen, wie Sie möchten, um Ihre Bedenken zu zerstreuen. Sie kennt die Strafe für die Verweigerung der Zusammenarbeit, und ich glaube, Sie werden sie recht entgegenkommend finden. Nutzen Sie bitte Ihre begrenzte Zeit.« Er machte eine winzige Pause.

»Zweitens wird Ihre Sitzung weder durch Kameras übertragen noch aufgezeichnet, um Ihre Privatsphäre zu wahren.« Martin zog eine Fernbedienung aus seiner Tasche und schaltete die CCTV-Kamera ab. »Wir verstehen, dass Fragen, die Sie an das Asset stellen, Auswirkungen auf die anderen anwesenden Bieter haben könnten, und deshalb respektieren wir Ihre Privatsphäre und Sicherheit. Selbst für den Fall, dass Sie den Zuschlag nicht erhalten, könnten Sie aus der Befragung wertvolle Informationen gewinnen, für die sich Ihre unbequeme Reise gelohnt hätte. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass wir selbst kein Interesse an den Informationen über das Asset oder seine Bedeutung für einen von Ihnen haben. Alles, was uns interessiert, ist Ihr endgültiges Gebot. Fragen dazu?«

Niemand meldete sich.

»Drittens: Jeder Bieter darf nur ein einziges Gebot abgeben. Das höchste Gebot erhält den Zuschlag und ist bindend. Geben Sie also unbedingt Ihr höchstmögliches Gebot ab. Nachverhandlungen oder spätere Angebote werden nicht akzeptiert.« Er sah sie der Reihe nach an.

»Viertens: Nachdem jeder Bieter das Asset hat einschätzen können, legt er innerhalb von fünf Minuten sein schriftliches Angebot vor und zieht sich dann in den Aufenthaltsraum zurück. Danach kann der nächste Bieter für fünf Minuten die Zelle betreten und hat in der Folge weitere fünf Minuten Zeit, sein Gebot abzugeben. Und so weiter. Nachdem schließlich Sie alle sieben Ihre Gebote abgegeben haben, verlassen Sie dieses Gelände und werden zum Flughafen zurückgebracht. Jeder von Ihnen wird genau zwölf Stunden später per SMS kontaktiert. Der Gewinner der Auktion wird uns dann mitteilen, wohin das Asset geliefert werden soll, und wir werden es Ihnen vertrauensvoll sofort dorthin liefern. Wir verstehen, dass es für Sie eine Herausforderung bedeuten wird, so große Mengen an ISO zu erwerben und zu transportieren. Dennoch verlangen wir die Zahlung innerhalb von dreißig Tagen nach der Lieferung.«

Doch plötzlich verfinsterte sich Martins freundliche Miene. »Jeder, der unser Vertrauen missbraucht, wird angemessen bestraft. Der sogenannte tragische Unfalltod des Premierministers von Sansibar und seiner gesamten Familie im letzten Jahr ist ein solches Beispiel. Auch wenn so etwas selten vorkommt.«

Osorio erinnerte sich daran, von dem tödlichen Flugzeugabsturz gelesen zu haben. Die Behörden waren davon ausgegangen, dass es sich um einen Pilotenfehler handelte. Offenbar hatten sie sich geirrt.

»Zur Sicherheit für den Gewinner wird weder der Gewinner vor den anderen Bietern identifiziert noch die Höhe des siegreichen Gebots bekannt gegeben. Haben Sie noch Fragen?«

Im Raum wurde es still, und die Erwartung lastete schwer in der Luft.

»Bueno, vámonos«, brummte Osorio. »Fangen wir an.«

Martin lächelte ihm schmierig zu.

»Ich muss allerdings hinzufügen, dass es ein Mindestgebot gibt. Ich werde Ihnen diesen Betrag jedoch nicht nennen, weil sich die Gebote dann um diese Zahl herum konzentrieren würden. Wir wollen unsere Profite aber maximieren. Bieten Sie den größtmöglichen Betrag, den Sie innerhalb von dreißig Tagen bereitstellen können. Wenn kein Bieter unseren Mindestpreis erreicht, wird das Asset terminiert – und ebenso die Möglichkeit einer weiteren Auktion. Wollen wir beginnen?«

»Wer geht zuerst?«, fragte der Russe.

Martin trat an den langen Tisch heran. Er griff in seine Tasche, zog sieben weiße Pokerchips mit den Ziffern 1 bis 7 heraus und ließ sie klirrend in eine Keramikvase fallen. Mit seiner Hand deutete er auf die Vase.

»Bitte behalten Sie Ihren Chip, bis der letzte gezogen wird. Ms. Wu, Sie sind die Erste.«

Wu stand auf, ging zur Vase hinüber und zog einen Chip. Martin wies die anderen Bieter der Reihe nach an. Osorio war der letzte, der zog. Die Bieter standen alle in einem lockeren Kreis.

»Bitte zeigen Sie Ihren Chip den anderen Bietern.« Das taten sie.

Wu war zufrieden. Sie würde als Letzte gehen.

Dmitrijew war noch zufriedener. Er war der Erste.

Osorio verbarg sein Unbehagen. Nummer zwei.

Das war nicht gut.

***

Osorio hatte darauf gebaut, der Erste zu sein, der mit dem Asset sprach. Damit hätte sein Plan die beste Chance gehabt zu funktionieren. Aber er konnte nur die Karten spielen, die ihm zugeteilt wurden.

Genau fünf Minuten, nachdem er den Flur durchquert und die Zelle der Agentin betreten hatte, tauchte Dmitrijew wieder auf. Sein hübsches Gesicht war zu einem ausdruckslosen Pokerface erstarrt. Diese Fähigkeit hatte er zweifellos als ehemaliger Oberst des GRU, des russischen Militärgeheimdienstes, kultiviert. Osorio wusste, dass die Abwesenheit jeglicher Emotion bedeutete, dass dem Russen gefiel, was er gehört hatte. Zweifellos würde er ein substanzielles Angebot abgeben. Dmitrijew war Leiter der berüchtigten GRU-Einheit 74455, der Speerspitze der russischen Cyber-Kriegsführung. Es wäre eine Katastrophe, wenn er die Frau nach Moskau zurückbringen würde – allerdings nicht aus Gründen, die sich der Russe derzeit vorstellen konnte.

Osorio warf einen kurzen Blick auf Wu. Sie war mit Sicherheit eine kühle Kundin und reagierte auf Dmitrijews Pokerface genauso wie Osorio, tat aber gleichgültig. Doch die subtile Veränderung ihrer Atmung verriet dem Venezolaner, dass ihre eigene Neugier auf das Asset angestachelt worden sein musste. Das war schlecht. Wenn überhaupt, war sie noch gefährlicher als der Russe. Als ehemalige Geheimdienstoffizierin der Volksbefreiungsarmee arbeitete sie im Augenblick für Chinas größte kriminelle Triade.

Osorio leerte sein Wasser und zerquetschte die Flasche mit seiner fleischigen Faust, bevor er einen Rülpser ausstieß, der einen Seeelefanten beeindruckt hätte. Damit wollte er die Konzentration der anderen Bieter stören. Dmitrijew täuschte seine gesamten fünf Minuten lang Unentschlossenheit und Verärgerung vor, und doch war es klar, dass er sich bereits entschieden hatte, bevor er die Zelle verließ. Um nicht zu interessiert zu wirken, wartete er, bis seine fünf Minuten abgelaufen waren.

»Mr. Dmitrijew, Ihr Gebot?«

Dmitrijew kritzelte Zahlen auf den bereitgestellten Notizblock und warf das gefaltete Papier dann in den Krug, in den auch die anderen ihre Gebote legen würden. Er nickte Martin zu und ging zum Büffet zurück, um sich am Beluga-Kaviar gütlich zu tun.

»Mr. Osorio, ich glaube, Sie sind der Nächste.«

Der Venezolaner wandte sich an Wu. »Ladies first?«

Die Chinesin schnaubte und schüttelte den Kopf. »Wohl eher nicht.«

Osorio nickte niedergeschlagen, dann richtete er sich auf und wuchtete sein enormes Gewicht hoch, indem er seine Hände auf die wabbeligen Oberschenkel stützte.

Ein mürrischer, mandeläugiger Türke mit einer Tokarew-Pistole an der Hüfte öffnete die schwere Stahlzellentür.

»Ihre fünf Minuten beginnen in dem Augenblick, in dem die Tür geschlossen wird«, instruierte ihn Martin.

»Comprendo.« Osorio trat durch die Tür, und sie schloss sich mit einem unheilvollen Klirren hinter ihm.

Hoffen wir das Beste!

3

Die Frau blickte von ihrem Feldbett auf. Sie war sichtlich überrascht, diesen schwabbeligen Gangsterboss zu sehen. Sie wirkte zwar abgemagert, aber entspannt. Darüber war Osorio erleichtert.

Osorio biss fest auf die falsche Kappe an seinem linken hinteren Backenzahn. Dadurch wurde ein winziger Störsender aktiviert, der alle Audio- und Videosignale blockierte. Martin mochte zwar die Videoüberwachung im Außenraum ausgeschaltet haben, aber es gab keine Garantie, dass er nicht doch noch das Geschehen in der Zelle überwachte. Jetzt waren sie in Sicherheit.

»Guten Abend, Mrs. Cabrillo.«

Die Frau zog verwirrt die Augen zusammen, und dann verzog sie die Lippen zu einem Lächeln. »Cabrillo?«

»Juan und genau dieser Nachname.«

»Als hätte ich es noch nie gehört.« Sie sah ihn ungläubig von oben bis unten an. »Du hast ein paar Pfunde zugenommen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.«

»Vivo la vida loca. Wir haben weniger als fünf Minuten, um dich aus Bram Stokers Schloss zu befreien, bevor die Vampire kommen und dich holen.«

»Wenn du dich umschaust, glaube ich eher, dass du in der gleichen Mausefalle steckst wie ich. Irgendwelche Ideen?«

»Ein paar.«

»Ein paar?«

»Okay, eine.«

»Ich hoffe, die ist ein Knüller.«

Juan Cabrillo zog seinen grünen Trainingsanzug aus und entblößte seinen riesigen Körper, der von vorne bis hinten mit schwarzem, lockigem Haar bedeckt war.

Gretchen Wagner rümpfte die Nase. »Ich kann mich nicht erinnern, dass du deinen Rücken rasieren musstest. Oder irgendwelche anderen Extremitäten. Widerlich.«

»Du bist ja so schrecklich voreingenommen. Warum habe ich dich überhaupt geheiratet? Vier Minuten, dreißig Sekunden, übrigens.«

»Das hast du ja gar nicht. Das war nur unsere Tarnung in Nicaragua, schon vergessen?«

»Ich glaube, da sind wir gerade noch mal davongekommen, oder?«

»Ha, die Nacht ist noch nicht vorbei.«

Juan Cabrillo schob einen Finger in eine sorgfältig versteckte Gelenkfalte unter einer seiner Latexrollen. Er fand den Klettverschluss und öffnete dann mit einem Reißverschluss seinen riesigen Bauch. Darin befand sich alles, was er für die Flucht brauchte – bis auf die Zeit, die sie nicht hatten. Er trug einen Ganzkörperanzug aus dickem Latex, der von Kevin Nixon und seinem Zauberladen an Bord von Cabrillos Schiff, der Oregon, entworfen und hergestellt worden war. Zusammen mit den Gesichtsprothesen, der Perücke und dem Körperhaar. Der schwere Gummianzug war so dicht, dass er jeden Scanner oder andere Untersuchungsgeräte, einschließlich der meisten Metalldetektoren, abwehren konnte. Sogar Juans künstliche Füße und Beine waren aus Acrylknochen gefertigt und mit haarigem, hautfarbenem Latex überzogen, um vollkommen lebensecht zu wirken. Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme hatten ihn seine Techniker mit so wenig metallischen Materialien wie möglich ausgestattet, für den unwahrscheinlichen Fall, dass ein fortschrittlicheres Detektionsgerät zum Einsatz käme.

»Hier, hilf mir mal mit dem Zeug«, bat Juan und holte einige verpackte Gegenstände aus seinem Gummibauch. Die größten waren vakuumversiegelt und komprimiert, damit sie in das Bauchfach passten. Der Anzug und sein Inhalt belasteten Juan mit fast zweihundert Pfund zusätzlichem Gewicht.

Obwohl er ein hervorragender Undercoverschauspieler war, waren sein Strampeln und Grunzen ganz echt gewesen. Glücklicherweise war er ein ausgezeichneter Schwimmer und konnte die Last bewältigen, aber die Anstrengung hatte ihn schwitzen lassen wie einen Eisbären am Äquator.

»Nimm das.« Juan drückte ihr eine übergroße Tube in die Hand. »Und beeil dich. Nur drei Minuten und zweiundzwanzig Sekunden links.« Er war sich ziemlich sicher, was die Zeit anging. Seine mentale Stoppuhr war so genau wie ein Marinechronometer von Thomas Mercer.

»Was ist das?«, fragte Wagner.

»Cyanacrylat auf Steroiden, der ultimative Superkleber. Kleb das auf den Türpfosten, besonders um den Schließmechanismus herum. Es schweißt ihn zu. Aber pass auf, dass du selbst nichts abbekommst. Und beeil dich.«

»Schon dabei.« Gretchen schob sich hastig an Juan vorbei und machte sich an die Arbeit, indem sie so viel wie möglich von dem Zeug möglichst tief in die Ritzen spritzte.

Es dauerte weitere vierzig Sekunden, bis sich Juan von dem schweißgetränkten Latexanzug befreit hatte. Der Gummi-Osorio landete in einem Haufen haariger, hautfarbener Götterspeise auf dem Boden, so wie eine Leiche ohne Knochen.

»Ich glaube, ich habe diese Szene in Das Ding aus einer anderen Welt gesehen«, sagte Wagner, als sie zu ihm zurückkam und auf das Ungetüm zu Juans Füßen nickte. »Nur, dass du nicht Kurt Russell bist.«

Juan zog eine lange Synthetikunterhose aus, die ebenfalls vor Feuchtigkeit triefte, und warf sie zur Seite. Und nun stand er da, nackt wie ein Eichelhäher. Durch die Anstrengung, die er beim Tragen der schweren Last in den letzten Stunden auf sich genommen hatte, hatte er bestimmt fünf Pfund abgenommen. Sein ohnehin schon muskulöser Körper wirkte jetzt noch definierter und glänzte vor Schweiß. Der Moschusgeruch, der von ihm ausging, erfüllte plötzlich den Raum.

Wagner pfiff leise, während sie ihn von oben bis unten musterte. »Das ist ja der falsche Ehemann, an den ich mich erinnere. Die Tür ist erledigt. Was mache ich als Nächstes?«

»Noch zwei Minuten, bis sie an die Tür klopfen«, sagte Juan, während er das schwerste Paket aufhob und darauf wartete, dass der Schweiß auf seiner Haut verdunstete.

»Hast du kein ›Bitte nicht stören‹-Schild mitgebracht?«

»Ich hatte um die Flitterwochensuite gebeten und angenommen, dass das Schild zum Gesamtpaket gehört. Hilf mir mal hierbei.«

Juan zog das Keramikmesser heraus und schnitt das schwerste Paket auf. Es bestand aus Richtladungen – Blöcken aus C4-Plastiksprengstoff auf dicken Kevlarplatten als Unterlage. Er klatschte den selbsthaftenden Block auf die dicke Steinwand. Das war die erste von mehreren Sprengladungen, die ein türgroßes Loch sprengen konnten.

»Ich dachte, ich hätte einen Netzhautscanner gesehen, als sie mich in diese Zelle gebracht haben«, sagte Wagner. »Wie bist du daran vorbeigekommen?«

»Murph hat die Netzhautscans von Osorio mit meinen vertauscht.« Juan brachte eine weitere Richtladung an. »Null Problemo.« Er reichte Wagner einen C4-Block.

»Wie hast du das denn geschafft?« Sie befestigte den explosiven Block an der Wand und schnappte sich den nächsten.

»Das ist eine lange Geschichte.«

Tatsächlich befand sich Osorio derzeit in amerikanischem Gewahrsam in einer geheimen Einrichtung außerhalb des Landes. Seine Inhaftierung war der Grund, warum Juans verrückter Plan überhaupt möglich geworden war.

Gretchen Wagner war eine hochrangige CIA-Agentin, die sich als Geheimdienstmitarbeiterin der DEA ausgab. Ihr Auftrag bestand darin, die Mitglieder der geheimnisvollen Organisation von Martin, der eigentlich Graf Ludovico da Porto hieß und der Kopf eines Verbrecherfamilien-Syndikats war, dessen Ursprünge aus der Zeit der Borgias stammte, aufzuspüren und zu identifizieren. Seine derzeitige Operationsbasis befand sich in Bulgarien, aber sein Netzwerk überzog die ganze Welt.

Die gute Nachricht war, dass Wagner vor zwei Wochen erfolgreich Kontakt mit der Organisation von da Porto aufgenommen hatte. Die schlechte Nachricht aber war, dass das Entführungssyndikat weitaus effizienter und cleverer war, als Langley angenommen hatte. Obwohl Wagners Tarnung nicht aufgeflogen war – im Gegenteil, sie war sogar etwas zu gut gewesen – wurde sie entführt und ihr Tod überzeugend vorgetäuscht. Die CIA war in Panik geraten, weil sie keine Ahnung gehabt hatte, wo Wagner steckte und was wirklich mit ihr geschehen war.

Juans CIA-Kontakt hatte ihn über die Entführung Wagners in Kenntnis gesetzt. Sofort hatte er seine verruchten Unterwelt- und Dark-Web-Kontakte angezapft, mit denen er gelegentlich zusammenarbeitete. Von ihnen erfuhr er von der mysteriösen »Auktion« einer wichtigen DEA-Agentin, die in sieben Tagen stattfinden sollte. Und er hörte außerdem, dass der Venezolaner Osorio ebenfalls eingeladen war.

Und da Portos Organisation hatte keine Ahnung, dass Osorio nur wenige Stunden nach seiner Einladung zufällig bei einer CIA-Operation einkassiert worden war. Osorios Leute konnten da Porto nicht über diese Entwicklung informieren, da sie keine Möglichkeit hatten, »Mr. Martin« zu erreichen. Der hatte ein speziell verschlüsseltes Mobiltelefon an Osorio übergeben, und die gesamte Kommunikation ging ausschließlich von da Porto aus. Osorio konnte die Anrufe nur empfangen. Der CIA war das Telefon in die Hände gefallen, als sie Osorio verhaftet hatte, und nun befand es sich in Juans Besitz.

Und vor erst sechsunddreißig Stunden hatte Juan, der sich nun als der korpulente Verbrecher ausgab, den Anruf erhalten, sich an einem abgelegenen Ort außerhalb von Karatschi, Pakistan, einzufinden. Dort wurde er in ein Privatflugzeug verfrachtet und nach Tadschikistan geflogen.

Und jetzt war er hier.

Während Gretchen den letzten C4-Block anbrachte, öffnete Juan ein weiteres Paket und warf ihr das zusammengerollte Kleidungsstück zu, das sich darin befunden hatte.

»Zieh das an.«

»Was ist das?«, fragte Wagner, als sie es ausschüttelte.

Juan grinste, als er sein eigenes Kleidungsstück mit einem Schnippen aus dem Handgelenk aufschlug.

»Ein Wingsuit.«

4

Juan legte den vierzig Pfund schweren Gleitschirmharnisch an, und Wagner folgte seinem Beispiel. Sie war besser für Fallschirmsprünge qualifiziert als er. Noch wichtiger war allerdings, dass sie auch mehr Zeit in einem Wingsuit verbracht hatte als er. Was allerdings nicht viel bedeutete. Denn sie hatte es nur einmal gemacht und jede Sekunde davon gehasst. Heute Abend würde Juan zum ersten Mal versuchen, einen Wingsuit zu manövrieren.

»Noch dreißig Sekunden«, sagte Juan und warf ihr eine Skibrille zu. »Beeil dich.«

Juan hatte sich bereits eine gefütterte Hose und ein entsprechendes Hemd gegen das kalte Wetter angezogen, und legte jetzt ein weiteres speziell gefertigtes Carbon-Hosenbein an – zusammen mit einem Paar Stiefel und einem mechanischen Höhenmesser, einem Bivouac 9000, den er ebenfalls in seinem großen venezolanischen Bauch verstaut hatte. Während er seine Schutzbrille aufsetzte, schickte er Gretchen zur hintersten Ecke der Außenwand. Die größte Chance, dem Explosionsradius zu entgehen, bestand darin, sich parallel zur Explosion zu halten. »Zehn Sekunden«, sagte er, als sie sich beide hinhockten. »Stell dich hinter mich. Mach den Mund auf, stopf dir die Ohren zu und schließ die Augen.«

Juan entfaltete einen zusammenklappbaren ballistischen Schutzschild aus Kevlar, der gegen mehrere Bedrohungen nützlich war, und hielt ihn vor sich in die Höhe. Er mochte zwar keinen allzu großen Schutz vor der Wucht der Explosion bieten, aber es war nun einmal alles, was sie hatten. Der Raum würde in Sekundenschnelle von Steinsplittern übersät sein.

»Ein Fluchtweg, kommt sofort.« Juan drückte auf den Fernzünder für den Draht.

Die C4-Blocks explodierten gleichzeitig. Die Explosion klang in Juans Ohren wie eine Sirene und sog die Luft schneller aus seiner Lunge als ein Staubsauger. Er spürte, wie Gesteinsbrocken gegen den Kevlar-Schild prasselten, den er mit beiden Händen festhielt.

Danach drehte er sich zu Wagner um. »Alles okay bei dir?«

»Was? Ich kann dich nicht hören!«

»Dann ist alles okay. Los geht’s!«

Juan ließ den Schild fallen und sprang hoch. Ein klaffendes Loch war aus der Wand gerissen worden. Staubiger Rauch erfüllte den Raum, und es stank nach verbranntem Diesel. Die beißende Wolke wurde bereits von dem wirbelnden Schneesturm aufgelöst, der jetzt in ihre zerborstene Zelle toste. Hinter sich hörte er ein schwaches Klopfen. Sein Gehirn registrierte das Klopfen als Hämmern gegen eine weit entfernte Stahltür – höchstwahrscheinlich war dies die Tür hinter ihm.

Juan stürmte durch den mit Steinen übersäten Flur zu der unregelmäßigen Bresche, die von Mauersteinen eingerahmt war, die wie geborstene Zähne aussahen. Es war gerade genug Platz, dass er darin aufrecht stehen konnte. Die schneidende Luft erfasste seinen falschen Bart und peitschte ihn um sein Gesicht, während die Haarverlängerungen über seinem Kopf wehten.

Er wandte sich an Gretchen, aus deren Ohren und Nase Blut tropfte. »Auf mein Zeichen.«

Sie nickte.

Ohne ein weiteres Wort drehte sich Juan um und sprang in die verschneite Leere.

Die Schutzbrille half, aber die eisigen Schneeflocken, die ihm mit hundertsiebzig Stundenkilometern ins Gesicht schlugen, schürften seine Haut auf wie ein Brillo-Pad. Nicht gerade ein Tag im Wellness-Spa.

Aber das war zurzeit nicht einmal Juans größtes Problem.

Auf der Oregon hatte er von Eric Stone eine Kurzeinweisung im Wingsuit-Springen erhalten, wobei »Einweisung« wahrscheinlich ein zu euphemistischer Begriff war. Genaugenommen hatte ihm Eric ein Videospiel gezeigt, in dem ein Wingsuit-Flug simuliert wurde. Und Eddie Seng, ein erfahrener Wingsuit-Springer, hatte ihm dabei geholfen, das Ding richtig anzulegen. Eddie hatte sich freiwillig angeboten, Juans Platz einzunehmen. Aber da die Wahrscheinlichkeit hoch war, gefangen genommen zu werden oder noch Schlimmeres zu erleiden, wollte Juan die Mission selbst ausführen, obwohl er keinerlei Erfahrung mit einem »Flughörnchen-Anzug« hatte. Doch Gretchen Wagner war eine alte Freundin. Seine einzige wirkliche Angst war, sie zu enttäuschen.

»Das Wichtigste, auf das man achten muss, sind Windböen«, hatte ihm Eddie als letzte Warnung mit auf den Weg gegeben. »Die können dich umbringen.«

Seine Worte waren wohl prophetisch, dachte Juan, als er jetzt gegen Windböen ankämpfte, die aus allen Richtungen auf ihn einschlugen.

Der Schneesturm hatte an Intensität zugenommen, seit er vor über einer Stunde in der Festung angekommen war. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass sich das Wetter so verschlimmert hatte, bis er in dem Loch in der verdammten Mauer stand und spürte, wie der Wind auf ihn einhämmerte. Doch es gab keinen Weg zurück.

Als sie den Plan für diese Operation zusammengestellt hatten, hatte Juan auch die Wetterberichte studiert. In dieser Region, in der sich einige der höchsten Berggipfel des Planeten befanden, herrschte immer starker Wind. Eben wegen dieser Winde hatten sie einen direkten Sprung mit einem Gleitschirm vom Gipfel der Festung ausgeschlossen. Die Idee mit dem Wingsuit war ihre einzige Option.

Der Sprung hinaus in die verschneite Nacht fühlte sich zunächst wie jeder andere Nachtsprung mit einem Fallschirm an, den er gemacht hatte. Der Unterschied bestand hier nur darin, dass er nicht direkt in die Tiefe fiel. Wagner und er mussten noch zwölf Kilometer unwegsames, bergiges Gelände überqueren, bis sie die Lichtung unten im bewaldeten Tal erreichten. Dort würde George »Gomez« Adams sie mit der AgustaWestland AW609 abholen, einem Kipprotor-Wandelflugzeug.

Um diese Strecke zu schaffen, musste Juan den Versuch machen, seinen Abstieg so weit wie möglich zu verlangsamen, was voraussetzte, dass er Hände und Beine ausstrecken musste, um die aerodynamischen Eigenschaften des Wingsuits zu maximieren. Dadurch veränderte sich jedoch sein geometrisches Profil zu einer Art Ahornblatt, und deshalb beeinträchtigten die böigen Winde seine Stabilität. Er hatte das Gefühl, als versuchte er, sich in einem Orkan an einer Sperrholzplatte festzuhalten. Und da half es auch nicht gerade, dass sein ganzer Körper wegen der eisigen Temperatur gefühllos war.

Die einzige Möglichkeit, den Turbulenzen zu entgehen, bestand darin, die Arme anzulegen, die Beine zu schließen und einen Pfeil zu bilden, um die Oberfläche des Anzugs zu minimieren. Doch sobald er dies tat, beschleunigte sich seine Geschwindigkeit auf über zweihundertvierzig Stundenkilometer – und damit auch die Geschwindigkeit, mit der er sank. Seine einzige Hoffnung bestand darin, zwischen den beiden Extremen hin und her zu wechseln. Er musste abwechselnd auf den böigen Luftwellen surfen oder wie ein Speer durch sie hindurchstoßen, während der Wind in seinen Ohren rauschte.

Er hatte keine Möglichkeit, mit Gretchen zu kommunizieren, und er konnte sich auch nicht umdrehen, um nach ihr zu sehen. Wahrscheinlich erging es ihr besser als ihm. Falls sie die Tortur überlebte, konnte sie wenigstens Juans nächste Angehörige benachrichtigen – nur dass er gar keine hatte.

Durch die wirbelnden Schneeflocken, die seine Sicht trübten, war er kaum in der Lage, die Waldlichtung zu erkennen, die sich weit vor ihm befand. Die AgustaWestland war nirgendwo zu sehen, und er verlor zu schnell an Höhe. Die automatische Apparatur in seinem Rucksack würde den Fallschirm öffnen, sobald er auf zweihundertfünfzig Meter gesunken war, und laut seinem Höhenmesser musste das jede Sekunde …

Ffwopp!

Juans Fallschirm öffnete sich. Zu früh, dachte er sofort.

Noch ein langer Weg lag vor ihm.

5

Juans Fallschirm entfaltete sich perfekt und riss in dem Augenblick seinen Körper zurück, als er aufschnappte. Mit gefühllos gefrorenen Fingern umklammerte er die Lederschlaufen seiner Bremsleinen und versuchte, den Gleitschirm abwechselnd zu bremsen und zu beschleunigen, um ihn in dem böigen Wind auf Kurs zu halten. Dabei hatte er ungefähr so viel Erfolg wie eine Plastiktüte, die sich gegen einen Laubbläser wehrt.

Und die Bäume unter ihm wurden rasend schnell größer.

Er drehte sich in einer gefährlich engen Schleife, warf einen Blick nach oben und sah Wagner mehrere Hundert Meter über sich. Sie vollführte unter ihrem schwarzen Baldachin den gleichen Tanz in der Luft wie er und hatte ebenso mit dem Wind zu kämpfen.

Plötzlich spürte er, wie er ruckartig absackte, als ein heftiger Fallwind seinen Fallschirm wie ein unsichtbares Kissen nach unten drückte. Genauso schnell, wie er gekommen war, verschwand er wieder, und jetzt öffnete sich der Schirm erneut. Aber nicht schnell genug, um ihn vor dem Aufprall auf die Bäume zu bewahren.

Kiefernnadeln peitschten sein Gesicht, als er durch die Äste stürzte, bis sich die Gleitschirmseide schließlich an einem Ast verfing. Sein Fall wurde mit einem heftigen Ruck gebremst, und schließlich baumelte er fünf Meter über dem verschneiten Waldboden. Das laute Rauschen des Windes verstummte augenblicklich, als alle Geräusche von der Schneedecke und den Bäumen gedämpft wurden. Die völlige Stille wirkte so lange beruhigend, bis er in der Ferne ein schwaches, moskitohaftes Surren von Motoren hörte.

Waren das die beiden Pratt & Whitney-Turbowellen der AW? Nein. Die dröhnten erheblich lauter.

Es waren Motorschlitten.

Er zählte zwei. Selbst wenn sie nur ein paar Steinschleudern dabeigehabt hätten, steckte er in großen Schwierigkeiten. Er fühlte sich hier oben so hilflos wie ein Kätzchen. Hoffentlich war es Gretchen Wagner besser ergangen.

Wie aufs Stichwort hörte Juan, wie sie etwa hundert Schritt hinter ihm gegen die Bäume prallte. Und sie schrie vor Schmerz auf, als sie schließlich landete. Er drehte sich in seinem Harnisch um, konnte sie aber nicht finden.

»Gretchen! Geht es dir gut?«

»Ich glaube, mein Handgelenk ist gebrochen. Wo bist du? Ist bei dir alles klar?«

»Alles in Ordnung. Ich hänge hier nur so rum. Aber Besuch ist schon unterwegs.«

»Ich höre sie. Kannst du mich hier runterholen? Ich hänge fest.«

»Mal sehen, was sich tun lässt.«

***

Die beiden ehemaligen russischen Söldner hatten die Nachricht über die Flucht der Gefangenen von ihrem Kommandeur erhalten. Sie konnten seine Schilderung des unglaublichen Wingsuit-Stunts kaum glauben. Doch Minuten später sahen die beiden, wie zwei Fallschirme in den starken Winden über dem Wald schwankten.

Sie waren sich einig, dass es ausgesprochen mutig war, per Wingsuit aus der Festung zu flüchten, obwohl der Begriff Wahnsinn wohl besser gepasst hätte. Ihr Befehl lautete, die Frau unverletzt zu bergen, aber den Mann, den Venezolaner, wie sie ihn nannten, zu töten, falls er Widerstand leistete. Sie zündeten ihre turboaufgeladenen Viertakt-Yamaha Sidewinders und rasten über ein offenes Schneefeld auf die in der Ferne herabfallenden Fallschirme zu. Hinter ihren schnellen Maschinen stob der Schnee in einer Fontäne auf. Sie erreichten den Abschnitt des Waldrandes, der der vermuteten Landestelle der Fallschirmspringer am nächsten lag, und fuhren zwischen die Bäume. Es dauerte zehn Minuten, bis sie im Slalom durch die kräftigen Kiefern zu der Stelle kamen, an der ihrer Vermutung nach das Asset und ihr Retter gelandet waren.

»Da!«, sagte einer von ihnen in seinen Helmkommentar und deutete hinauf in die Äste direkt vor ihnen. Gretchen Wagner hing hilflos in ihrem Harnisch mehrere Meter über ihnen. Ihr Gleitschirm war gerissen und baumelte gefährlich an einem einzelnen Ast. Plötzlich wummerten Rotorblätter in der Luft.

»Das ist ein Hubschrauber«, sagte der erste Söldner, ein ehemaliger Armee-Sergeant. »Einer von uns?«

»Bei dem Wetter? Das muss eine Rettungsmission sein.« Der zweite Söldner hatte als Korporal in derselben Armeeeinheit gedient.

»Geh nachsehen. Schieß ihn ab, wenn es sein muss. Ich kümmere mich um die Frau.«

»Was ist mit dem Venezolaner?«

»Erschieß ihn, wenn du ihn siehst. Sonst suche ich ihn. Los!«

Der Russe nickte, gab Gas und fegte zurück in Richtung der Rotorengeräusche, die sich der Lichtung näherten.

Der andere Russe stellte den Motor ab und stieg von seinem Schlitten. Seine Stiefel sanken in den weichen, einen Fuß tiefen Schnee ein. Er zog seine Gesichtsmaske herunter, während er zu Wagners Baum stapfte.

»Das war ziemlich dumm von dir«, rief er in schlechtem Englisch zu ihr hoch. »Mr. Martin ist sehr böse auf dich.«

Gretchen antwortete ihm auf Russisch.

Der Söldner lachte. »Du küsst deine Mutter mit so einem Mund?«

»Was glauben Sie, von wem ich das gelernt habe?«, antwortete sie. »Machen Sie sich nützlich und holen Sie mich hier runter.«

Der ehemalige Sergeant zog seine Waffe und schaute sich suchend in den Bäumen um.

»Wo ist dein venezolanischer Freund? Ich würde ihm gern ein paar Fragen stellen.«

Gretchen zeigte in die Richtung von Juans Baum. »Er ist da drüben, etwa dreißig Meter entfernt. Er hängt in den Ästen fest wie ich. Tun Sie ihm nicht weh. Er ist gar kein so schlechter Kerl, obwohl er mein Ex-Mann ist.«

»Ich werde ihm nicht wehtun … jedenfalls nicht sehr«, erwiderte der Russe lachend, als er wieder auf den Yamaha kletterte. Die Rotorengeräusche waren jetzt lauter.

»Es ist ein Hubschrauber … aber so einen habe ich noch nie gesehen«, meldete sein Kamerad über Funk. »Ein ziviler Heli, unbewaffnet.«

»Dann schalte ihn aus!«

»Wird gemacht, Sergeant.«

Augenblicke später hallten Schüsse durch das Tal, und das Dröhnen der Turbinen veränderte sich, als der Hubschrauber Ausweichmanöver einleitete.

Der Ex-Sergeant gab Gas und bahnte sich seinen Weg durch die Bäume, wobei er auf der Suche nach dem Fallschirm des Venezolaners die Baumkronen absuchte.

Das war ein Fehler.

Der Russe bewegte sich im Schneckentempo weiter, bis er den flatternden Schirm hoch oben im Geäst vor sich sah. Er schaltete den Motor aus und sprang von seinem Schlitten, während er seine Archon Typ B Pistole zog. Als er hinter einem Baum in Deckung ging, nahm er die Waffe in beide Hände und richtete sie auf den Fallschirm. Er kniff die Augen zusammen, um besser zielen zu können.