Brenner's Welt: Der erste Fall für Langhagens besorgten Gastwirt - Siebo Woydt - E-Book

Brenner's Welt: Der erste Fall für Langhagens besorgten Gastwirt E-Book

Siebo Woydt

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Beschreibung

In der Mecklenburgischen Schweiz hat Hans Brenner die Gastwirtschaft „Brenner’s Welt“ in Langhagen neu eröffnet und arbeitet hart für seinen Erfolg und die Anerkennung im Dorf. Dann findet er gleich neben seinem Lokal zuerst Drogen und dann eine Leiche. Mit seiner geliebten Frau Cleo, einem ehemaligen Fotomodell aus Hamburg, der abergläubischen Köchin Kathrin, seinem besten Freund dem Fleischermeister Mike aus Teterow und dem befreundeten Polizeihauptmeister Roland Bratzke muss er diesen Fall möglichst rasch lösen, um seine Gastwirtschaft aus den Schlagzeilen zu bekommen. Dann gibt es zwei weitere Tote. Und welche Rolle spielt der zweifelhafte Society-Fotograph Charlie Stanke aus Hamburg?

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Siebo Woydt

Brenner's Welt: Der erste Fall für Langhagens besorgten Gastwirt

Inhaltsverzeichnis

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Kapitel Achtundzwanzig

Kapitel Neunundzwanzig

Kapitel Dreißig

Kapitel Einunddreißig

Kapitel Zweiunddreißig

Kapitel Dreiunddreißig

Kapitel Vierunddreißig

Kapitel Fünfunddreißig

Kapitel Sechsunddreißig

Kapitel Siebenunddreißig

Kapitel Achtunddreißig

Kapitel Neununddreißig

Kapitel Vierzig

Kapitel Einundvierzig

Kapitel Zweiundvierzig

Kapitel Dreiundvierzig

Kapitel Vierundvierzig

Kapitel Fünfundvierzig

Kapitel Sechsundvierzig

Kapitel Siebenundvierzig

Kapitel Achtundvierzig

Kapitel Neunundvierzig

Kapitel Fünfzig

Kapitel Einundfünfzig

Kapitel Zweiundfünfzig

Kapitel Dreiundfünfzig

Kapitel Vierundfünfzig

Kapitel Fünfundfünfzig

Kapitel Sechsundfünfzig

Kapitel Siebenundfünfzig

Kapitel Achtundfünfzig

Kapitel Neunundfünfzig

Kapitel Sechzig

Impressum

Kapitel Eins

Draußen wurde es hell, die Sonne warf ihre ersten Strahlen durch den Gastraum und tauchte ihn in sommerliches Gelb. Brenner ging leise und barfuß auf den alten Dielen durch den Raum, öffnete die Tür zum Außenbereich und blieb kurz auf der Schwelle stehen.

Der große Regen der letzten beiden Tage war endlich vorbei.

Er liebte diese wunderbaren ersten Momente bei Sonnenaufgang, die Stille und das erste warme Licht. Diese ersten Minuten gehörten ihm. Noch keine Angestellten, die etwas wissen wollen, noch keine Gäste, die etwas haben wollen, kein lautes Rufen, kein Sonnenbrand, keine querstehenden Fahrräder oder umfallenden Gläser, kein Gedrängel und Geschiebe auf dem kleinen Parkplatz.

Im Haus hinter ihm rührte sich nichts, seine Cleo lag noch wohlig eingekuschelt oben im Bett, nur eine rote Haarlocke war zu sehen gewesen. Er war leise aufgestanden und wäre jetzt gerne bei ihr, unter der Bettdecke gab es auf ihrer Seite immer eine Öffnung, durch die er zu ihr krabbeln konnte, den Duft ihrer Haut zu atmen und die Welt zu vergessen.

Aber gleich kam der erste Lieferant, auch das war seine Aufgabe, er musste heute als erstes das Leergut rausstellen.

Er ging über den knirschenden Kies zwischen den Tischen mit den hochgestellten Stühlen hindurch, dann zeigte eine dunkle Spur durch das taunasse Gras seinen Weg zu der kleinen Brücke.

Am Geländer schaute er auf das klare Wasser des schmalen Kanals hinunter. Die Sonne war bereits warm auf seinen Händen. Der große Regen war abgezogen, heute würde ein warmer Tag werden, gut fürs Geschäft, mit vielen Urlaubern, Fahrradfahrern und ein paar Kanus.

Brenner drehte der Sonne das Gesicht zu, schloss die Augen und atmete tief durch. Unwillkürlich summte er die ersten Takte von "Sittin’ On The Dock of the Bay” von Otis Redding. Alle Zutaten für einen perfekten Tag.

Aber nur die ersten Takte, gleich würde Lehmann mit dem Getränkelaster da sein.

Die Gastwirtschaft "Brenner’s Welt" lag am Dorfrand von Langhagen, wo die schmale Strasse nach Dersentin dem sanften Schwung der Hügel folgte und bald zu einer herrlichen Obstbaumallee wurde.

Das Gebäude und die Wirtschaft waren seit mehreren Generationen in Familienhand. Der erste Brenner hatte vor über hundert Jahren hier als Wirt angefangen, im Gastraum hingen noch alte Fotos und verblasste Postkarten aus dieser Zeit, mit vornehmen Ausflüglern in steifen Kragen, Frauen mit großen Hüten und weiten Kleidern bis zum Boden. Die Gastwirtschaft hatte das Kaiserreich und zwei Weltkriege unbeschadet überstanden und alles erlebt, kurze Hosen und aufgeschlagene Knie, wechselnde Uniformen, das erste Radio, den ersten Fernseher, das erste Auto der Gegend, Hochzeiten und Beerdigungen, erste Küsse und letzte Tränen .

Nachdem das Haus in den 60er-Jahren von Amts wegen geschlossen wurde, weil seine Großeltern sich geweigert hatten, aus "Brenner’s Welt" die "HO-Gaststätte der Kieswerker" zu machen, und ihnen kurzerhand die Lizenz entzogen wurde, fand seine Großmutter eine Stelle als stille Köchin in der LPG von Langhagen und sein Großvater wurde ein verbitterter Traktorist.

Brenners Eltern hatten weder das Interesse noch die Möglichkeit, die Gaststätte wieder zu eröffnen, das Haus blieb verschlossen und verfiel. Das Dach wurde undicht, ein paar Scheiben wurden eingeworfen, eine kleine Birke wuchs aus der Dachrinne. Sein Vater war als Ingenieur in Teterow beschäftigt, seine Mutter fand eine Stelle in der Kinderkrippe im Weberhof in Langhagen. Hans Brenner sollte eigentlich auch Ingenieur werden, alles war dafür vorbereitet und eingefädelt, alle Verbindungen hatte sein Vater dafür spielen lassen. Aber nach der Wende brach Hans sein Studium ab und begann, die Gastwirtschaft wieder einzurichten.

Viel hatte er damals selbst gemacht, ohne viel Geld aber mit vielen Ideen und einer für ihn selbst immer wieder unerklärlichen Leidenschaft für das alte Gebäude. Und oft hatte er sich in der Renovierungsphase, wenn er sich abends müde und mit schmerzenden Gelenken in seinen Schlafsack rollte, gefragt, ob ein Abriss nicht besser wäre. Aber wenn ihn am nächsten Morgen die Sonne mit ihren ersten Strahlen weckte und er die Stille und diese unbeschreibliche Atmosphäre in dem alten großen Haus genießen konnte, dann hatte er gewusst, dass er das richtige tat. Immer in der Hoffnung, dass der nach der Wende langsam wachsende Tourismus in der Mecklenburgischen Schweiz auch Langhagen und seine kleine Wirtschaft erreichen würde.

Die Gastwirtschaft hieß früher und jetzt wieder "Brenner’s Welt". Bei der kleinen Feier zur Wiedereröffnung war er stolz, den Familiennamen wieder über der Tür zu sehen. Von seinen Eltern und vielen Nachbarn aus dem Dorf, die sich freuten, dass es endlich wieder eine Gastwirtschaft gab, hatte er alte Postkarten und Fotos bekommen, die jetzt gerahmt im Gastraum hingen. "Brenner’s Welt" war bis in die 60er immer ein beliebtes Ausflugslokal zwischen Teterow und Krakow am See gewesen, vor allem für Radfahrer und früher für die Kutschen, die über die Landstraßen zwischen den kleinen Orten zuckelten. Tatsächlich kamen in den letzten Jahren, seit Brenner etwas Werbung machen konnte und sich die gute Küche und der Charme des alten Gebäudes herumsprachen, zunehmend auch Wanderer und Tagestouristen bei ihm vorbei.

Im Erdgeschoss des alten Gebäudes befanden sich die Gastwirtschaft, die Küche und Vorratsräume, im ersten Stock wohnte er mit seiner Cleo. Oben gab es auch zwei kleine Gästezimmer, die sporadisch an Freunde oder Nachbarn aus den umliegenden Orten vergeben wurden, wenn sie nach einem langen Abend nicht mehr fahrtüchtig waren, oder wenn ein Radfahrer sich mit der Länge der Strecke verschätzt hatte und die Beine nicht mehr mitmachten. Dann gab es morgens außer der Reihe ein kräftiges Frühstück, auch wenn sie eigentlich erst mittags aufgemachten.

Manchmal schaute auch einer von Cleos alten Freunden aus Hamburg vorbei.

Im Außenbereich - Brenner hatte sich nie dazu durchringen können, das als Biergarten zu bezeichnen - das passt einfach nicht in die Gegend - bot die Südseite des Gebäudes einen herrlichen Blick auf die angrenzenden Felder und Hügel. Die Gäste waren immer begeistert, wenn sich zwischen den schwarzbunten Kühen am hellen Tag ein Reh auf der Wiese zeigte und ohne Eile nach den besten Kräutern suchte.

Die große Küche mit der hellen, breiten Fensterfront ging nach Osten und war das Reich von Kathrin Dossow. Ihr einfaches Motto war ‚Hier wird gegessen, was hier wächst‘. Kathrin stand nicht für Motto-Küche oder Schicki-Micki, das hatte sie Brenner damals unmissverständlich klar gemacht, als sie klein, breit und in der Kittelschürze vor ihm gestanden hatte. Er hatte genickt, sie sofort eingestellt und es nie bereut. Mit alten Rezepten und guten Zutaten aus der Gegend brachte sie große Portionen auf die Teller, ihre Gäste liebten sie dafür und ihre Kochkunst hatte, daran zweifelte Brenner keine Sekunde, wesentlich dazu beigetragen, dass Brenner’s Welt schon weit über das alte Einzugsgebiet hinaus bekannt war.

Neben der Küche gab es noch einen eher kleinen Vorratsraum, den hatte er beim Umbau von einem anderen Raum abgetrennt, damit etwas Platz für einen begehbaren Kühlraum entstand. Wegen des Alters des Hauses gab es keinen Keller, den man richtig nutzen konnte, nur einen niedrigen und feuchten Gewölbekeller, kaum so groß wie eine Garage, von dem Brenner behauptete, er wäre leer.

Jetzt musste er sich aber beeilen mit dem Leergut.

Kapitel Zwei

Er durfte hier nicht auffallen. Am besten sah ihn niemand. Kein Förster, kein Jäger, kein Waldarbeiter, kein Spaziergänger. Niemand.

Das hatten sie ihm bei der Übergabe nochmals eingebleut. Als ob er schwer von Begriff wäre, er wusste schließlich, was er hier machte. Und er wusste, wofür er bezahlt werden wollte.

Erneut prüfte er den Sitz des Rucksacks auf seinen Schultern, ließ aber die Fußballtasche in seiner rechten Hand dabei nicht los.

Den Wanderweg hatte er an der vereinbarten Stelle verlassen. Er war sicher, dass es der richtige Wanderweg und die richtige Stelle gewesen waren. So viele Möglichkeiten gab es ja hier in der Einöde nicht. Er hatte den Wanderweg gefunden, er hatte den Wildwechsel gefunden und schließlich auch die vereinbarte Stelle. Dann war er viele Minuten einfach geradeaus gegangen, dem schmalen Pfad nach. Wie sie gesagt hatten.

Ich hätte auf die Uhr schauen sollen.

Er griff mit der freien linken Hand nach dem Telefon. Kein Empfang.

Hinter ihm knackte es im Wald, er fuhr herum, der Rucksack schwang mit und raschelte unangenehm laut hinter seinem Rücken. Nichts war zu sehen. Wieder nichts.

Er bemühte sich, leise weiterzugehen. Seine Sneaker hatten ohnehin kaum noch Profil, er ließ also kaum Spuren zurück, und hier war alles voll trocknem Holz und darunter feuchter Waldboden.

Kein Muster unter den Sohlen, kein Profil. Durchschnittliche Schuhgröße, durchschnittliche Schuhe. Alles an mir ist durchschnittlich. Ich muss nur ankommen und alles übergeben. Vielleicht kriege ich dann die Chance, mehr im Leben zu werden als Durchschnitt.

Dreihunderttausend Euro hatte er auf dem Rücken und in der Hand. Eingeschweißt in kleine Pakete, jedes so groß wie eine Streichholzschachtel. Jedes wog ungefähr zehn Gramm. Er hatte sie bei der Übergabe nicht gezählt, dafür wurde er nicht bezahlt. Das Gewicht hatte gestimmt, aber er wurde weder nach der Anzahl der Päckchen noch nach dem Gewicht bezahlt. Einfach nur für eine problemlose Übergabe. Irgendwo am Ende dieses Weges.

Dreihunderttausend Euro dort, wo es her kam. Und ein Mehrfaches dort, wo es hin sollte.

Nach der Übergabe wartete der Tausender auf ihn. Er hatte nur genickt, weil man ihm einen Tausender für den Job angeboten hatte, dann hatten sie ihn ausgelacht. Es gäbe gar keine Tausend-Euro-Scheine, er würde fünf Zweihunderter kriegen.

Fünf schöne gelbe Scheine. Er hatte wieder nur nicken können. Für ihn und seine Familie war nicht wichtig, wie viele Scheine und welche Farbe. Wichtig war, was sie dafür kaufen konnten.

Für den einfachen Weg von A nach B, keine Fragen, keine Antworten. Einfach nur Geld. Eigentlich für einen Spaziergang.

Er war gerade über einen schmalen Bach gestiegen, aber der dünne Pfad, dem er die letzten Minuten gefolgt war, mehr oder weniger immer geradeaus, war jetzt verschwunden. Vor ihm war nur Waldboden und wenn er ehrlich war, hinter ihm auch.

Wie bin ich bis hierhin gekommen?

Ein 360 Grad-Blick zeigt ihm Braun und Grün. Kiefern und Farn und ein paar Sträucher. Die Sonne war weg. Rechts von ihm, Scheiße welche Himmelsrichtung war das jetzt?, schien Abendnebel aufzuziehen. Auf jeden Fall wurde es dort undurchsichtig und die Bäume verschwommen mit der Umgebung.

Scheiße, wann war ich das letzte Mal freiwillig im Wald, das ist Jahre her. Keine Karte, keine Lampe, nicht mal ein Taschenmesser.

Er atmete tief ein, prüfte den Sitz des Rucksacks und packte die Tasche fester. Die Fingernägel gruben sich in den Handballen, er spürte es kaum.

Wieder das Geräusch hinter ihm.

Er fuhr herum, nichts.

Dann war es rechts von ihm.

Nein, links.

Nein...

Der Nebel kam näher und brachte kühle Luft. Ein kalter Schweißtropfen lief unter seinem T-Shirt die kurze Strecke zwischen dem Rucksack und dem Hosenbund herab.

Er hatte einen einfachen Tauschplatz erwartet, einen Parkplatz, von Bäumen gegen die Strasse abgeschirmt. Irgendetwas einfaches, etwas übliches. Etwas nicht so Bedrohliches wie diesen Wald.

Haben sie mich absichtlich hier hingeführt? Oder ist das ein Test?

Einfach so von einem Auto in ein anderes umladen. Tür auf, Tür zu, fertig. So hatten sie das beschrieben. So kannte er das.

Ist das eine Falle?

Wollen sie den Tausender sparen, brauchten sie nur den Arsch, der die beiden Taschen aus Berlin rausbringt? Irgendwo hin?

Sind sie mir gefolgt? Knackt es deshalb so?

Jetzt war er ganz sicher, dass sich da vorne etwas bewegte. Es knackte wieder.

Irgendwo.

Und es kam auf ihn zu.

Gibt es hier Wölfe?

Die Zeitungen in Berlin waren voll davon, dass die Wölfe wiederkamen.

Ein Nebelschwaden wischte ihm über das Gesicht.

Die Tasche hatte er schnell noch verstecken können, zwischen zwei nebeneinander stehende alte Kiefern gestopft und mit den Händen Kiefernnadeln und anderen Dreck darüber gehäuft, bis das weiße Plastik nicht mehr zu sehen war. Das Knacken war dabei immer näher gekommen, irgendwo hinter ihm.

Aber der Rucksack hing noch auf seinen Schultern, nicht schwer, aber wie Blei.

Keine Chance, den auch früh genug loszuwerden. Dreck!

"Hallo? Kann ich Ihnen helfen?" Die Stimme erklang nur ein paar Schritte hinter ihm. Die Stimme eines Mannes, fragend und nicht feindselig, nicht ablehnend.

Aber am falschen Platz zur falschen Zeit.

Du solltest nicht hier sein.

"Nein!" Seine Stimme klang wahrscheinlich feindselig und mehr als argwöhnisch. Egal.

Der Mann mit der fragenden Stimme stand schon ein paar Schritte vor ihm, einen Schritt hinter dem kleinen Bach, den er zuletzt überstiegen hatte. Das war nicht der richtige Mann, das war nicht die Sorte Mann, den er hier treffen sollte. Das war nicht derjenige, der ihm mit dem richtigen Codewort die Tasche und den Rucksack abnehmen sollte.

Der ihn mit dieser einfachen Geste einen Tausender reicher machen würde.

Der nicht.

Das hier ist jemand, der sich mitten im Wald wohlfühlt. Und wahrscheinlich spürt, dass mir das nicht so geht.

Sein Gegenüber war älter als er, Anfang bis Mitte Vierzig, trug eine leuchtend blaue Outdoor-Jacke, eine dazu passende Outdoor-Hose und stabile Wanderschuhe. Kurzes blondes Haar, grauer an den Schläfen. In der rechten Hand eine teuer aussehende Kamera, in der linken Hand ein GPS-Gerät.

"Haben Sie sich verlaufen?" fragte der Mann. "Ich helfe Ihnen gerne." Und ohne abzuwarten, "Wo wollen Sie denn hin?"

Einfach nur hier raus und mein Geld kriegen, das ist die Idee.

Der Rucksack wurde schwerer, das Atmen fiel auch schwer. Er musste schlucken. "Nein, ich komme schon zurecht. Habe nur einen Abstecher gemacht. Sie wissen schon..."

"Oh, ja, natürlich." Verlegen schaute der Mann auf seine Kamera.

Hat der etwa ein Foto von mir gemacht? Scheiße. Er schluckte wieder und ein Schweißtropfen lief den Rücken hinab. Dann hat er auch gesehen, dass ich eben noch eine Tasche hatte. Vielleicht hat er gesehen, dass ich sie versteckt habe und sogar, wo ich sie versteckt habe. Und warum taucht der gerade hier und jetzt auf?

Ist das doch ein Scheiß-Test? Oder ist das doch der richtige Mann? Soviel Zufall gibts doch gar nicht. Egal, mit der Kamera ist er ein Risiko.

Schnell drehte er sich aus dem Rucksack, ließ ihn hinter sich auf den Waldboden fallen. Mit zwei großen Schritten stand er vor dem Fremden, ballte die rechte Hand zur Faust und schlug sie ihm mit einem kurzen und kräftigen Schlag auf die Nase. Blut spritzte auf die Outdoor-Jacke.

"Au! Ey!" der Mann konnte sich nicht wehren, er hatte instinktiv weder Kamera noch GPS-Gerät losgelassen. Er stand wie versteinert, sein Blut schoss ihm aus der gebrochenen Nase. "Hey! Was!"

Der zweite Schlag traf ihn in den Magen, er knickte in der Hüfte ab, jetzt fielen Kamera und GPS-Gerät auf den Boden und er hielt sich beide Hände vor den Bauch, taumelte einen Schritt nach vorne, trat in den kleinen Bach, rutschte aus und taumelte wieder. Aus dem Augenwinkel sah er wahrscheinlich, dass sein Angreifer jetzt seine Kamera aufhob und hektisch suchte, wie er sie öffnen konnte. Er bückte sich.

Der Speicherchip reicht mir, die Kamera kannst du gerne wiederhaben und zurückschleppen. Was ist denn das für ein Scheißmodell?

Dann traf ihn etwas Hartes und Schweres auf der Schulter, die Kamera fiel ihm aus der Hand, er ging fast zu Boden. Dieser Outdoor-Freak hatte mit einem Ast nach ihm geschlagen!

Auf einem Bein drehte er sich herum, griff den armdicken Ast mit einer Hand, zog ihn zu sich heran, holte aus und schlug ihn dem Wanderer von schräg oben auf den Kopf.

Das Holz tönte hohl, der Schädel gab knirschend nach. Der Ast drang ein paar Zentimeter in den Schädel ein, Blut quoll heraus. Der Mann verdrehte den Kopf und grunzte. Mehr nicht.

Für eine Sekunde geschah gar nichts.

Dann löste sich der Ast mit einem schmatzenden Geräusch, das er niemals würde vergessen können, aus dem Kopf des Wanderers. Der Mann fiel nach vorne. Es war fast komisch, ihn fallen zu sehen ohne dass er einen Versuch machte, sich abzustützen oder aufzufangen.

Der Mann schlug der Länge nach auf den Waldboden, ein Klumpen Blut und Hirnmasse rutschte aus dem offenen Schädel auf die Kiefernnadeln.

Wieder war für eine Sekunde vollkommene Stille und er wagte nicht zu atmen. Dann war es, als zuckte der Wald gleichgültig mit den Schultern, der Wind rauschte wieder durch die Bäume, die Vögel flogen wieder und die Käfer und Fliegen machten sich auf den Weg zu der neuen Nahrung, die dort am Boden lag.

Der fremde Mann, der Wanderer, der falsche Mann, war tot.

Er zwang sich durchzuatmen und schüttelte dann mehrfach den Kopf, konnte aber die Bilder der letzten Sekunden nicht loswerden. Übelkeit kam wie eine Welle, schüttelte ihn durch und ließ ihn nach vorne beugen, aber es kam nichts. Er machte den Rücken gerade und sog frische Luft in seine Lungen. Die bunten Punkte vor seinen Augen beruhigten sich, wurden kleiner und verschwanden.

Jetzt war wieder alles klar.

Der Chip war jetzt in der Kamera leicht zu finden, er steckte ihn in die Hosentasche. Die Kamera rieb er sorgfältig mit seinem T-Shirt ab und warf sie dann in den kleinen Bach. Mit einem Platscher fiel sie ins Wasser, war aber noch gut zu sehen. Egal, hier kommt sowieso keiner vorbei.

Den Wanderer packte er am Kragen der stabilen Outdoor-Jacke und schleifte ihn ebenfalls ins Wasser, eine blutige Spur hinterlassend. Er versuchte, ihn unter ein paar Farnsträuchern zu verstecken, aber das leuchtende Blau der Outdoor-Klamotten war noch gut zu sehen.

Egal, hier kommt sowieso keiner vorbei. Vorher finden ihn die Wölfe, oder was auch immer hier rumläuft.

Das GPS-Gerät würde er behalten und erst später wegwerfen, es würde ihn hier rausbringen, ihn seinen Job erledigen und sein Geld verdienen lassen. Er hob es auf und machte dann einen Satz über den Bach hinweg in die Richtung, in der sein Rucksack lag und in der die Tasche versteckt war.

Seine Beine waren noch weich. Sie hatten noch nicht verarbeitet, was die Augen gesehen hatten.

Auf einer matschigen Stelle neben dem Bach rutschte sein profilloser Schuh weg, sein linkes Bein knickte um, es knackte und eine Schmerzwelle jagte wie eine schwarze und betäubend laute Wand durch seinen Kopf. Er war ohnmächtig, bevor er auf dem Boden aufschlug.

Der Schmerz brachte ihn wieder zu Bewusstsein. Er konnte nur ein paar Sekunden weg gewesen sein.

Der Schmerz, der ihm verdeutlichen wollte, dass er Hilfe brauchte und hier nicht einfach rumliegen konnte.

Dieser Schmerz wurde noch eine Dimension schlimmer, weil er versuchte, sich aufzurichten und sein Bein unter ihm weg knickte, als hätte er ins Leere getreten.

Langsam, sehr langsam, weil er ahnte, was passiert war, drehte er den Oberkörper und den Kopf herum, um sich sein linkes Bein anzusehen.

Es war abgeknickt und er brauchte ein paar Sekunden um zu begreifen, dass die blutigen hellen Stöcke, die sich durch den Stoff seiner Jeans nach außen gebohrt hatten, seine Schienbeinknochen waren.

Um diese Stelle herum färbte sich die Jeans rasch schwarz. Durch die Faust aus Schmerz und Schock hindurch, die ihn gepackt hatte, konnte er fühlen, wie das Blut aus der offenen Wunde pulsierte.

Hilfe, schnell, schoss ihm durch den Kopf.

Mit den Fingerspitzen konnte er den Rucksack erreichen, einen Finger durch einen der Gurte schieben und den Rucksack zu sich heranziehen. Er riss den Inhalt heraus und warf ihn hinter sich. Kleine weiße Päckchen, jedes so groß wie eine Streichholzschachtel, fielen auf den Waldboden, ein paar fielen in den kleinen Bach und begannen, langsam an dem toten Wanderer vorbei zu treiben, dessen offene Augen sie nicht sahen.

Handy, wo ist mein Handy?

Er stieß mit der Hand auf den Boden des Rucksacks und wusste dann, dass sein Handy in der Hosentasche steckte.

Er hielt noch das GPS-Gerät umklammert und versuchte mit der anderen Hand, das Handy unter seinem Körper aus der Tasche zu ziehen.

Zittrig hielt er es in den Fingern. Ein Balken. Ein schwacher, lebensrettender Balken. Beim dritten Versuch traf sein blutiger Daumen die Wahlwiederholung und er atmete immer schneller, während er den Verbindungsaufbau beobachtete. Er bekam kaum Luft, hatte nicht viel Kraft zum Sprechen. Ein Blick auf das GPS-Gerät, ein ungewohntes Display mit wenigen kleinen Buchstaben, aber das musste reichen.

Die Verbindung kam zustande, eine bekannte Stimme meldete sich. Er konnte hören, dass er bei etwas gestört hatte.

"Langhagen" Ein tiefer Atemzug. "Wald. Scheiße."

Er wollte mehr sagen, rufen, bitten, schreien, betteln, hatte aber keine Luft mehr, sein Körper zitterte und der Schmerz vernebelte seine Augen. Seine Arme verloren ihre Kraft, er ließ beide Hände neben sich auf den Boden sinken und konnte die Stimme am anderen Ende der schwachen Verbindung weder hören noch verstehen.

Mit den Fingern spürte er, dass der ganze Waldboden um sein Bein herum nass von Blut war. Die Erkenntnis, dass das sein Blut war und nicht auf den Waldboden, sondern in seinen Körper gehörte, aber niemals wieder dorthin kommen würde, riß den Schleier weg und der Schmerz explodierte wieder in seinem Kopf.

Er begann zu schreien.

Nach seinem letzten Schrei war wieder alles ruhig im Wald, die Natur hatte für einen Augenblick den Atem angehalten. Dann atmete der Wald wieder auf und die ersten Fliegen setzten sich auf den blutigen Ast, auf die große Blutlache am Boden um den toten Kurier, auf die Hirnmasse und Haare des Wanderers im Wasser, der unter dem Farn lag.

Es würde ein Festmahl werden.

Der Mann am anderen Ende legte auf.

Auf dem Handy, das dem sterbenden Kurier aus der Hand fiel, erlosch der letzte Balken.

Starker Regen setzte ein und übertönte die Geräusche des Waldes. Der große Regen in den nächsten zwei Tagen würde viele Spuren überdecken.

Kapitel Drei

Ein Vierseithof bei Skovby in Dänemark, zwischen der E45 und dem Wald. Die Lage ihres Quartiers war sorgfältig ausgewählt, von hier aus waren sie schnell auf der Autobahn, die sie nach Billund oder Arhus oder in Richtung Süden nach Flensburg brachte. Zur anderen Seite waren sie rasch zu Fuß im Wald, dort hatten sie ein paar Verstecke mit ihrer Ware und Waffen angelegt. Sie wollten nie unvorbereitet sein, das war in ihrem Business lebenswichtig.

Der von den vier Gebäudeteilen eingerahmte Innenhof war groß genug, dass drei Autos darauf parken, fahren und fliehen können, ohne sich gegenseitig zu behindern.

Es hatte geregnet und das einzige Auto, das jetzt dort stand, war der 1968er Oldsmobile vom President. Der dunkelgrüne Wagen stand in einer faustdicken Schicht aus Matsch und Stroh.

Es gab das Haupthaus, den Stall, die Scheune und gegenüber vom Haupthaus die Werkstatt. In der Scheune hatten sie zwei schalldichte Räume eingerichtet, die von außen nicht zu sehen waren und jetzt leer standen.

Sie waren in mehr als einer Branche tätig.

Es war später Vormittag, der President wachte auf. Mit schmerzendem Kopf richtete er sich im Kingsize-Bett auf und schob die Seidenlaken weg. Er hatte wie immer nackt geschlafen, weil er den Anblick seiner Muskeln genoß, die mit unzähligen Tattoos bedeckt waren. Die meisten Tattoos stellten Motive aus seiner Vergangenheit dar, einige waren leichtfertig ausgewählt, weil er zu der Zeit bekifft gewesen war oder sie rasch brauchte, um neue Narben zu überdecken. Das wichtigste Tattoo von allen, das Zeichen ihres Chapters mit dem besonderen Detail, das ihn als President auswies, prangte auf der linken Brustseite, großflächig über seinem Herzen.

Damit alle, die ihn als President herausforderten, wussten, wohin sie schießen mussten. Bisher hatte keiner von seinen Herausforderern überlebt.

Er starrte einige Augenblicke auf die tapetenlose Wand mit dem abgeplatzten Putz, bis sein Verstand unter den kurzgeschorenen blonden Haaren sich einigermaßen sortiert hatte.

Der andere Grund, warum er nackt war, lag neben ihm. Die junge Frau hatten sie bei einer Motorradfahrt am Strand aufgegabelt, seitdem waren sie die Kleine nicht mehr los geworden. Er hatte sie für sich reklamiert und dem ersten seiner Jungs, der sie angefasst hatte, zwei Finger gebrochen.

Seit Wochen drängte sie ihn, endlich auch das Tattoo zu bekommen und sie tat alles, um ihn davon zu überzeugen. Aber sie hatte keine Klasse und er fand sie nach ein paar Tagen schon zum Kotzen. Sie konnte einfach die Schnauze nicht halten, wenn es darauf ankam. Und es kam häufig darauf an, dass Frauen die Schnauze hielten, wenn er da war.

Gleich würde sie aufwachen und versuchen, ihn verliebt anzusehen.

Zeit, Schluss zu machen. Sollten sich die Jungs drum kümmern. Resteverwertung.

Mit einem Fußtritt stieß er sie aus seinem Bett.

Sie fiel hart auf den Holzboden, schrie vor Schreck und Schmerz, sprang aber katzengleich auf und wollte ihn schlagen. "Du Arsch!"

Auf dem Weg zum Fenster schlug er ihr beiläufig mit der Faust in den Magen. Sie klappte zusammen, ihre langen blonden Haare fielen ihr über das Gesicht. Ohne Interesse betrachtete er ihren nackten Körper. "Mach, dass du rauskommst und kotz’ mir nicht alles voll."

Sie begann zu heulen und suchte, noch immer vor Schmerzen gekrümmt, ihre Sachen zusammen.

Er drehte ihr den Rücken zu, sie würde ihm nicht gefährlich werden, und nahm das Handy vom Fensterbrett. Der President gab die Pin ein und dann aus dem Gedächtnis eine lange Nummer. Eine Nummer einzuspeichern oder aufzuschreiben wäre zu gefährlich. Und es würde das erste und letzte Mal sein, dass er dieses Handy benutzte.

Er wartete, bis die nackte Blonde heulend und mit einem Arm voll billiger Klamotten das Zimmer verlassen und er den Knall der zugeworfenen Tür weggelacht hatte, dann drückte er die grüne Wähltaste und wartete, dass die Verbindung aufgebaut wurde.

Kapitel Vier

Donald stand am Fenster seines riesigen Büros und blickte auf Berlin Friedrichshain herab.

Aber das war nicht richtig. Er bestand darauf, Don genannt zu werden. Das hatte mehr Klasse. Er musste unbedingt offiziell seinen Namen und seinen Perso ändern lassen. Schon vor Jahren hatte er sich das vorgenommen.

Er drehte langsam das Glas mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in der Hand. Man konnte nie wissen, wann wieder einer von seinen dumpfbackigen Knechten ohne Anklopfen hineinkam. Trinken würde er daraus nicht, er sehnte sich nach einem Glas Milch.

Mein Magen bringt mich bald um, und die Ansage gerade am Telefon half dabei auch nicht.

Er hatte seit zwei Tagen von dem Kurier, den er losgeschickt hatte, kein Lebenszeichen. Nichts. Keinen Anruf, keine Positionsangabe. Und er ging nicht ans Telefon, es klingelte durch, keine Mailbox.

Nichts.

Keine Bestätigung der Übergabe.

Die Käufer hatten die Ware noch nicht erhalten, sie warteten darauf. Die Botschaft am Telefon gerade, wenige Sätze in gebrochenem Deutsch mit skandinavischem Akzent, aber mit klarem Inhalt, hatte ihm gezeigt, wie sehr sie warteten. Und dass sie ungeduldig wurden. Sie mussten ihrerseits liefern und dort wurde auch jemand ungeduldig.

So machte man kein gutes Business. Er hatte einen Anspruch an sich und arbeitete an seinem Ruf. Er war Business-Man, keiner von diesen billigen Dealern, er wollte keine Fehler und er tolerierte sie auch nicht.

Um das Glas und das Telefon in seinen Händen hatte sich ein Schweißfilm gebildet. Das Telefon schob er in die Hosentasche und rieb es dort mit dem Taschentuch ab. Das Glas stellte er vorsichtig auf seinen Echtholzschreibtisch, wo man es gut sehen konnte, und wischte sich die Hand an der Anzughose ab.

"Hassan!", brüllte er in den leeren Raum.

Es dauerte nur fünf Sekunden, dann kam Hassan herein.

Don verabscheute Hassan, aber der junge Türke konnte liefern, wenn es darauf ankam.

"Chef?" Hassan stand abwartend vor dem Schreibtisch. Don musterte ihn von unten nach oben, als wenn er ihn zum ersten Mal sehen würde. Er hatte mal gelesen, dass man damit Distanz herstellen kann. Und Macht demonstrieren.

Cowboystiefel, enge Jeans, weißes T-Shirt, Lederjacke. Das war bei Hassan und seinesgleichen so eine Art Uniform, dachte Don. Irgendwo in der Lederjacke war ein Messer und in der Tasche die unverzichtbaren Zigaretten und das billige Feuerzeug.

Wahrscheinlich liegt es an den Zigaretten, dass er so schlank bleibt, dachte Don neidisch. Don rauchte nicht.

Das Gesicht war ebenfalls schmal, mit kleinen wachsamen Augen unter der sorgfältigen Frisur.

"Hassan, ich habe einen Auftrag."

"Gut, Chef." Hassan war nicht beeindruckt. Es war seine Aufgabe, mit einem Auftrag losgeschickt zu werden und zu liefern. Dafür gab es Geld von Don, manchmal gab es ein Auto. Vielleicht war jemand zu vorlaut und musste entmutigt werden, wie Don es ausdrückte, vielleicht musste ein Paket transportiert werden. Nur um Frauen ging es bei Don nie. Hassan hätte dabei auch helfen können, aber Don fragte nicht und Hassan fragte nicht, warum Don nicht fragte. Dieses Thema gab es nicht.

"Sie kennen unseren Freund Yassid?"

Das war keine Frage und deshalb nickte Hassan nur. Yassid war einer von diesen Amateuren, die sie manchmal einsetzten. Er brauchte immer Geld, hatte keinen richtigen Job und eine anstrengende deutsche Freundin. Früher waren Hassan und Yassid mal zusammen losgezogen, aber seit Yassid diese Frizzy hatte, war das vorbei. Ihm war die Frau zu mager, zu blond und zu zickig. Wollte Schauspielerin werden oder so’n Scheiß.

"Sie werden Yassid mitnehmen. Seine Hilfe kann sich als relevant herausstellen."

Das hieß, er solle Yassid die dumme und die gefährliche Arbeit machen lassen und ansonsten aufpassen, dass er nicht durchdrehte, mit irgendetwas Wertvollem abhaute oder sie an die Polizei verplapperte.

"Yassid war lange nicht hier, Chef. Er ..." Hassan zögerte, "... mag uns nicht mehr." Sie hatten sich gestritten und dann beleidigt und dann geschlagen. Das war einige Wochen her und seitdem hatte er von Yassid nichts gehört oder gesehen.

"Wir haben eine Lieferung verloren. Noch nicht ganz verloren, hoffe ich. Seine wenigen Qualitäten werden hilfreich sein. Was seine Motivation für unsere Zusammenarbeit angeht, so kann sie eine Auffrischung vertragen. Sicher wird seine Freundin froh sein über unser Angebot, sie für einige Zeit aus ihrem tristen Alltag zu befreien und bei uns zu Gast zu haben."

Das war neu. So etwas hatte Don noch nie angeordnet. Das mit der Lieferung musste ziemlich schief gegangen sein. Hassan hatte gleich gesagt, dass man mit dieser Menge an Stoff nicht diesen polnischen Stümper losschicken sollte. Aber er hatte es leise gesagt. Nur zu sich selbst.

"Dürfen wir ihr die Entscheidung erleichtern, Chef?" Hassan hatte sich im Laufe der Zeit an Dons Ausdrucksweise gewöhnt und bemühte sich, mitzuhalten. Die goldene Regel lautet, dass der Mann mit dem Gold die Regeln macht.

"Gerne. Wir finden sicher etwas, dass ihr die Entscheidung für unsere Gastfreundschaft und vor allem die Wahl eines angemessenen Termins leichter macht."

Hassan dachte an die unterschiedlichen Pillen, die in einem der versteckten Safes des Gebäudes lagen. Diese Zicke war zwar nicht sein Fall, aber seine Jungs würden sicher Spaß mit ihr haben.

Don hatte seine Gedanken erraten. "Und ich möchte, dass der jungen Dame in unserer Obhut nichts geschieht. Vor allem übertriebene Aufmerksamkeit und Nähe unseres Personals hat zu unterbleiben. Verstanden?"

Es würde nicht leicht werden, den Jungs das klar zu machen. So eine Gelegenheit kommt nicht oft. Aber Hassan nickte sofort. Er hatte schon erlebt, was passieren konnte, wenn der Don seinen Wunsch nicht erfüllt bekam.

Trotzdem, er würde sich mit dem Stümper Yassid herumschlagen müssen und seine Jungs würden die blonde Schlampe zur Gesellschaft haben. Das konnte er nicht ändern.

"Und, Hassan?" Don suchte den Augenkontakt mit ihm. Auch davon hatte er mal etwas gelesen.

"Ja, Chef?"

"Macht euren Job ordentlich. Ich würde meine Einladung nur ungern unter anderen Voraussetzungen auch auf Sally ausweiten."

Hassans Bauchmuskeln verkrampften sich kurz, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Wie hatte Don von seiner neuen Freundin erfahren? Er hatte doch extra aufgepasst, die Arbeit für Don und seine Zeit mit Sally strikt zu trennen.

Ihm war klar, dass Dons Ansage keine leere Drohung war.

Und alles nur wegen dieses Stümpers Yassid.

Kapitel Fünf

Brenner wischte sich den Schweiß von der Stirn und strich seine dichten schwarzen Haare zurück. Cleo sagte immer, er hätte graue Augen, stahlgrau nannte sie es. Er kniff die Augen zusammen und sah in die Sonne, die jetzt eine halbe Stunde höher stand und bereits mit Kraft herab schien.

Das Leergut stand aufgestapelt an der Hauswand, eine Biene hatte die süßen Reste in den Flaschen erkannt, fand aber den Eingang nicht. In ein paar Minuten würde Lehmann mit dem Laster kommen und leer gegen voll tauschen. Gerade rechtzeitig, damit die neue Lieferung noch etwas kühlen konnte, bevor die ersten Gäste eintrafen. Nach zwei Tagen mit dauerndem Sommerregen freute er sich darauf, dass heute wieder Leben in die Gastwirtschaft kam und es etwas zu tun gab.

Im Sommer beginnen alle Tage mit Schweiß und sie enden auch so. Das war viel positiver Streß und brachte Umsatz ins Haus. Er hoffte, dass ganz nebenbei seine Hüften, die mit zunehmendem Alter ebenfalls zunahmen, davon profitieren würden.

Ist das wirklich nur das Alter oder muss ich mich mehr bewegen? Aber wann soll ich das denn noch schaffen?

Zeit für eine kurze Pause. Sobald Lehmann da war, würde das Kistenschleppen und Stapeln wieder losgehen. Und dann waren es volle Kisten, die er schleppen musste.

Er stand wieder an seinem Lieblingsplatz auf der kleinen Brücke. Das Gras um ihn herum war jetzt trocken und er konnte es unter den Sohlen rascheln hören, so still war es noch.

Mit den Händen stützte er sich auf das alte Geländer. Die große Wiese, von wenigen schief stehenden Zäunen durchzogen, glitt vor seinen Augen langsam und fast majestätisch den Hügel hinauf und wurde dann hinter einem Zaun zu einem Gerstenfeld. Dieses Feld ging hinter dem Hügel mehr als einen Kilometer weiter, wie ein heller Teppich auf einem sanft gewellten Fußboden. Und dahinter begannen neue Felder.

Nach dem langen Regen brauchte das Getreide viel Sonne. Auch die Kasse von Brenner’s Welt konnte jetzt Sonnenschein vertragen.

Das Wasser im schmalen Kanal unter ihm stand nach dem Regen höher als sonst und floss schnell unter ihm vorbei.

Kein Blatt regte sich um ihn herum, der Wind ruhte sich aus und ließ zu, dass die Sonne die Landschaft aufheizte.

Alles war ruhig. Er freute sich über die Sonne auf seinen Händen und den nackten Unterarmen.

Wenn es so still bleibt, dann kommt heute Abend der alte Redewitz aus Krakow am See. Der alte Fischer, der nie spricht, aber die besten Karpfen fängt und seit vielen Jahren auch Brenner’s Welt belieferte. Er fischte am Untersee und kannte die richtige Kombination aus der passenden Stelle, der passenden Strömung und dem richtigen Wetter wie kein Zweiter.

Kathrin wird sich freuen, wenn sie einen Bottich mit frischen Karpfen kriegt und die Gäste erst recht.

Karpfen nach Plauer Art würde er morgen früh auf die Tafel schreiben können. Serviert mit Sahnemeerrettich. Was an Karpfen nicht frisch wegging, würde er zum Nachbarn bringen, Klaus hatte einen Räucherofen und Brenner selbst schmeckte der Karpfen geräuchert noch einmal besser als frisch zubereitet. Selbst wenn er von Kathrin zubereitet wurde.

Sie war ohnehin unbezahlbar gewesen in den ersten Jahren. Nicht nur war ihre Mecklenburgische Küche phänomenal, sie war auch bestens vernetzt und zum Beispiel mit dem Sohn des alten Redewitz zur Schule gegangen. Ein Anruf hatte genügt und Brenner’s Welt hatte einen erstklassigen Fischlieferanten mit fangfrischer Ware auf kurzen Wegen bekommen.

Ein Tropfen Schweiß lief ihm über die Stirn und ins Auge, er senkte das Gesicht aus der Sonne und musste blinzeln.

Unter ihm im Wasser lag etwas Weißes, Viereckiges. Es war selten, dass er hier etwas fand. Müll von rücksichtslosen Kanufahrern oder Wanderern kam ab und zu vor, in der Saison hatte er sogar einen kleinen Plastiksack hier im Gebüsch, um die Getränkedosen, Eiscreme-Verpackungen, Plastiktütchen, ab und zu auch Klopapier, aus dem Wasser zu fischen und zu entsorgen. Wenn sich etwas findet, dann sammelt es sich hier an der alten Brücke.

Aber das hier war anders.

Es war ein weißes Tütchen, nein, es war ein durchsichtiges Tütchen mit weißem Inhalt. Er schätzte es so groß wie eine Streichholzschachtel. Es hatte sich zwischen dem rostigen Bein der Brücke und dem Uferbewuchs verfangen, dreht sich müde im Kreis, kam aber nicht frei.

Das Tütchen gefiel Brenner nicht, es erinnerte ihn an das Fernsehen und seine innere Stimme sagte, dass es hier nicht hingehörte.

Er fischte es mit einem kleinen Ast heraus, es fiel auf der anderen Seite des Baches ins Gras und war erst mal verschwunden.

Mit drei schnellen Schritten war er an der Stelle, es leuchtete ihm weiß aus dem Grün der Wiese entgegen.

Er nahm es hoch und drehte es zwischen den Fingern. Es schien dicht zu sein, nichts rieselte auf seine Handfläche. Und das Pulver darin war anscheinend trocken.

Keine Aufschrift, kein Aufkleber, keine Markierung. Es war nur ein Tütchen mit weißem Pulver und es gefiel ihm nicht. Denn es gehörte hier nicht hin.

Das Tütchen wickelte er in sein Taschentuch und steckte es ein. Er sah über die Wiese am Bach entlang in die Richtung, aus der es gekommen war. So lange er schon hier lebte und hier unterwegs war, konnte er doch nicht sagen, wo dieser Kanal eigentlich herkam. Die Kanutouristen schafften es mit Mühe und nur bei hohem Wasserstand, ihn durch die Wiese östlich von Dersentin bis hierhin zu befahren.

Irgendwann wäre das mal ein schöner Ausflug, den Ursprung des Baches zu finden. Aber jetzt hörte er ein Auto durch Langhagen herankommen, einen Laster.

Das wird Lehmann sein, jetzt mußte abgeladen und umgeladen werden. Vier Arme schaffen immer mehr als zwei und Brenner war nicht der Typ, der anderen beim Arbeiten zusah.

Nachschub war wichtig an einem warmen Tag, die meisten Kästen musste er direkt in den Kühlraum bringen.

Und in den großen Kühlschrank, der in letzter Zeit so komische Geräusche machte.

Dann würde er mit Lehmann wie jedes Mal einen frischen Espresso trinken. Lehmann sagte immer, hier würde er den besten Espresso seiner ganzen Tour kriegen und diesen Ruf wollte Brenner auch heute verteidigen.

Kapitel Sechs

Er betrat hinter Lehmann den leeren Gastraum und dachte an die Arbeit, die hier schon hinter ihm lag. Und wie er das erste Mal das Gebäude betreten hatte, das schon seinen Namen trug.

Das Haus hatte mehrere Jahrzehnte leer gestanden, niemand kannte noch jemanden, der es von innen gesehen hatte oder sich daran erinnern konnte, wie es dort ausgesehen hatte. Es gab keine Schlüssel, er war durch ein kaputtes Fenster eingestiegen, Spuren von Vandalen, etwas Graffiti und kaputtes Glas, aber vor allem Staub und Dreck.

Hinter der Holztheke mit gewelltem und geplatztem Resopal-Belag standen noch einzelne Gläser im Regal, drei Glaskrüge von Steiger Bier aus Erfurt, blind vor Staub und Alter, er hatte sie heute noch, oben in der Wohnung. Das war so etwas wie Volkssport gewesen, Biergläser zu sammeln und hinter Glas zu stellen.

Unter der Theke hatte Brenner noch eine Flasche Kristall Wodka gefunden, die von den Vandalen und Plünderern der Jahrzehnte übersehen worden war, wegen des Geschmacks und der Farbe des Etiketts im Volksmund "Blauer Würger" genannt. Auch die hatte er gerettet. Und bis heute nicht gewagt, sie zu öffnen und den Inhalt zu probieren.

Der von seinen Schritten aufgewirbelte Staub hatte im Sonnenlicht, das tapfer durch die geborstenen Fensterscheiben hineinflutete, wie kleine Goldkörnchen getanzt, sich immer höher und höher geschraubt, endlich befreit von der Schwerkraft des Stillstandes. Was auf einem der Tische am Fenster ausgesehen hatte wie ein müdes Stück grauer Pappe hatte sich zu einem kaum erkennbaren Rest eines Tischtuches verwandelt und war dann in seinen Fingern zu Staub zerfallen.

Trockeneres Holz als die Tische, Stühle und Dielenbretter in diesem Raum würde er im ganzen Ort nicht finden. Ein Glück, dass in den leeren Jahrzehnten niemand ein Streichholz an die Einrichtung gehalten hatte, das ganze Haus wäre in einer halben Stunde in einem riesigen Funkenregen in sich zusammengefallen.

Er hatte sich, ächzende Dielen unter seinen Füßen, die anderen Räume angesehen.

Die Küche, mit dem Gastraum durch eine breite Tür und eine Durchreiche verbunden, war verwüstet. Jemand hatte aus alten Aluminiumtöpfen auf dem Herd, dessen Fläche Brenner auf zwei Quadratmeter schätzte und der trotzdem in dem großen Raum klein wirkte, eine Pyramide gebaut. Sieben Töpfe, der kleinste ganz oben, so dass Brenner zu ihm aufschauen musste und dabei die Deckenbalken sah, die beim Herabstürzen des Putzes freigelegt worden waren. Das matte und zerkratzte Metall der Töpfe war mit einem weißen Puder überzogen. Ein umgestürzter Schrank lag quer vor ihm und versperrte ihm den Weg.

Hinter der Gaststube öffnete eine eingetretene Tür in einen dunklen Flur mit herabhängenden Tapeten, der zu den Toiletten führte. Die Waschbecken waren zerschlagen, ihre Splitter lagen als unlösbares Puzzle auf dem gefliesten Boden. Blaßgrüne Wandkacheln ohne Muster, blind, beschmiert, zerschlagen, ihre Scherben mischten sich mit den Resten der zertrümmerten Toilettenschüsseln. Und wie um zu beweisen, dass sein Zerstörungswerk vollendet war, hatte jemand vor vielen Jahren auf den Boden gekackt.

Brenner konnte sich noch immer daran erinnern, auch wenn er es niemandem außer Cleo erzählt hatte oder zugeben würde, dass er in diesem Moment geweint hatte. Weil man der Erinnerung an seinen Großvater, den er gar nicht richtig gekannt hatte, und diesem Haus so etwas angetan hatte. Und weil er in diesem Moment gewusst hatte, wie viel Kraft es ihn kosten würde, bis der erste Gast sein neues Restaurant zufrieden verlassen würde.

Dann hatte er die Tränen mit den Unterarmen aus den Augen gewischt und war, die Füße am äußersten Rand der Stufen aufsetzend und trotzdem bei jedem Schritt fürchtend, nach unten durchzubrechen, in das Obergeschoß gestiegen. Hier hatten seine Großeltern gelebt, bis sie das Haus nach der Enteignung hatten verlassen müssen. Sie hatten Möbel ausgesucht und aufgestellt, Tapeten an die Wand gebracht, Türrahmen lackiert, Bettwäsche in Holzschränken und Kommoden verstaut, gekocht, gegessen, geliebt, gestritten und hatten sich nach langen Abenden, nachdem der letzte Gast endlich gegangen war, in einem schmalen Bett, dessen Abdrücke er noch im Staub zu erkennen glaubte, zum Schlafen gelegt.

Auch hier oben gab es Schmutz und Verfall und Zerstörung, aber deutlich weniger als unten. Die ängstigende Treppe hatte vermutlich einiges verhindert.

Die Räume waren leer, an den Wänden gab es helle rechteckige Flächen, wo Bilder gehangen und Schränke gestanden hatten.

Er war sicher gewesen, dass einige dieser Bilder, die hier fehlten, später in der Wohnung seiner Eltern gehangen hatten und es war ein später Moment stillen Glücks gewesen, diese zwei Bilder nach vielen Monate und vielen Schweißperlen auf der Stirn und Blasen an den Händen an ihren alten Platz zu hängen.

Im Keller hatte er alles gefunden, was oben im Gastraum und im Obergeschoss gefehlt hatte. Ein Durcheinander aus alten Kisten, Kästen, leeren Flaschen, Teile von Möbeln, ein altes Faß mit zerborstenen Dauben und unleserlicher Aufschrift. Beim Wegschieben eines staubigen Koffers hatte er eine mumifizierte Ratte gefunden und sich geschworen, das sei das Erste, das er in den Müllcontainer werfen würde.

Und so hatte er es auch getan.

Ratten hatten in seiner Gastwirtschaft nichts zu suchen, weder tot noch lebendig.

Kapitel Sieben

Die ersten Getränkekisten standen schon wieder leer neben dem Haus. Früher als Brenner erwartet hatte, waren die ersten Gäste gekommen. Zwei Radfahrer-Ehepaare in seinem Alter auf dem Weg von Gnoien nach Krakow am See. Brenner hatte brav gestaunt, wie sie es erwartet hatten, das waren ja immerhin sechzig Kilometer. Sie waren bei Tagesanbruch froh über den Abzug der Regenfront losgefahren und hatten jetzt ein Drittel der Strecke hinter sich.

---ENDE DER LESEPROBE---