Neersum - Siebo Woydt - E-Book

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Siebo Woydt

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Beschreibung

Die pensionierte Landärztin Änne Wahls hat ihr Leben in Neersum am Rande des Reichwaldes bei Kleve verbracht, nichts auf der Welt kann sie von dort wegbringen. Dann beginnen im Dorf grausame Doppelmorde, bei denen sich die Opfer gegenseitig umbringen. Ein Fremder mit einem Motorrad taucht auf und bietet eine Erklärung für die Morde an. Wenn sie ihm glauben will, dann muss sie die Welt neu verstehen und ihre eigene Zukunft in Frage stellen.

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Kapitel

Breitbeinig stand er über den beiden Toten. Sie lagen unter ihm in einem kleinen Graben, der die Südseite des Ackers markierte, dahinter stieg eine dichte Hecke auf. Das nächste Dorf war mehrere Kilometer entfernt, die ungarische Puszta hier sehr dünn besiedelt, nur Weiden und ein paar trockene Äcker. Er sah sich um, niemand hatte ihn beobachten können, es gab keine Zeugen. Zeugen konnte er jetzt nicht brauchen. Jetzt nicht und sonst auch nicht. Diese beiden Toten waren die letzten an diesem Ort, bisher hatte ihn niemand gesehen. Niemand hatte ihn kommen sehen, niemand würde ihn wegfahren sehen. Niemand wußte, dass es ihn überhaupt gab.

Der heiße Motor der großen Harley tickte in Steinwurfweite. Er war zu schnell gefahren für diese Straßen und doch zu spät gekommen.

Blut tropfte von seinem Dolch, ein paar Tropfen waren auf seinen Stiefel gefallen, frische dunkle Flecken über alten dunklen Flecken.

Ein Mann und eine Frau, er hatte sie wie immer vorher nie gesehen. Mittleres Alter, durchschnittlich gekleidet, beide dunkelhaarig. Eheringe an den Ringfingern ihrer Hände, die noch die Waffen umklammert hatten. Zwei Messer, die so aussahen, als kämen sie aus der gleichen Schublade einer Landhausküche, in der noch geschlachtet wird. Er musste die Hände nicht öffnen um ihnen die Ringe abzunehmen und die Gravierungen anzusehen. Dort standen mit großer Sicherheit ihre Namen, so wechselseitig und so miteinander vertraut, wie bis vor wenigen Stunden ihre Leben gewesen waren. Jetzt war das Leben dunkel und zähflüssig aus ihnen gelaufen, färbte den Boden des Grabens dunkel und würde in der Hitze schnell die Fliegen anlocken, die immer im Tod das Leben suchten. Mit den Fliegen kamen die Maden, die beiden toten Körper würden Leben spenden, zu Leben werden und dann wieder zu Staub.

Er schüttelte langsam den Kopf.

Wieder zu spät, wieder sinnloses Blut vergossen. Es hörte nicht auf.

Den Dolch wischte er am langen Gras ab und zog ihn ein paarmal durch den Sand des Ackers, um das fremde Blut abzuwischen. Das Knirschen des Metalls im Sand übertönte für einen Augenblick das Zwitschern der Vögel, die sich jetzt wieder regten.

Er war alt, älter als alle anderen, aber seine Bewegungen waren rund und geschmeidig. Der Dolchgriff aus Horn lag vertraut in seiner Hand, ließ sich bei jeder Bewegung sicher führen, gut ausbalanciert und noch immer sehr scharf. Ein Begleiter seit langer Zeit, der gepflegt werden wollte, das Eisen war weich und anfällig für Schäden, die Klinge vom vielen Schärfen und Ausbessern gezeichnet. Auf ihr kaum noch erkennbar waren die Schriftzeichen in der Sprache, die niemand mehr aussprechen konnte. Schärfen und immer wieder säubern, Blut, immer wieder fremdes Blut.

Etwas hatte ihn aufgeschreckt. Wie eine Erinnerung, gegen die er sich nicht wehren konnte. Ein Ruf, den er nicht kannte und den er doch nicht ablehnen konnte. Ein Ruf, den er jetzt schon hasste. Wie den Ruf, der ihn hergeführt hatte. Ein Ruf, der nicht sein Ohr traf sondern tiefer ging. Viel tiefer. Den er nicht abschütteln konnte.

Keine Zeit darüber nachzudenken. Keine Zeit für Bedauern. Und auch keine Zeit für Selbstmitleid. Es war Zeit, aufzubrechen. Es gab hier nichts mehr zu tun, das ging ihn nichts mehr an. Er schob den Dolch in die schwarze Motorradjacke, darin war er gut verborgen, und hob den Kopf.

Nach Norden, nach Deutschland, fast bis nach Holland. Wieder würde er sich beeilen müssen und wieder war nicht sicher, ob er rechtzeitig dort war, bevor das Töten begann. Trotzdem würde er es versuchen, würde wie jedes Mal versuchen schneller zu sein als der Tod, und trotzdem würde der Tod mit ihm reisen und mit ihm ankommen.

Trotz der Eile wartete er, bis die erste Fliege eintraf. Dann drehte er sich um und ging zur Harley.

Eigentlich schade, dass er gehen musste. Puszta hieß Einöde, das hatte er mal gehört. Er mochte Einöde. Keine Menschen, keine Toten. Außer, wenn er da war.

Kapitel

Das Dorf sah von oben aus wie ein von Wald umgebener Luftballon. Die Stelle, an der er zugeknotet war, bildete den Anschluss an die B504. Die Verbindung mit der Bundesstrasse war sogar etwas länger, so dass es aussah wie einer dieser Luftballons am Stiel. Auf der anderen Seite des Luftballons, dort wo eine Verlängerung des Stiels rauskommen würde, führte ein schmaler und nicht asphaltierter Weg durch den Wald und dann kurz über das Feld nach Holland - Grüne Grenze. Dieser Weg war recht ausgefahren, denn einige aus Neersum arbeiteten drüben in Holland, aber der wichtige Verkehr fand nachts statt, mit Fahrern, die auf der Rückfahrt nervöser waren als auf der Hinfahrt. Mit Regelmäßigkeit auch Kleinlaster, aber dann mit Kennzeichen von außerhalb, sie fuhren immer durch Neersum zur Bundesstraße und dann bei Goch auf die A57, das Ruhrgebiet will versorgt sein.

Jetzt hatte der Nachtverkehr schon aufgehört, ohnehin war die letzte Nacht ruhig gewesen, als würden alle Kraft schöpfen und die Pendler waren noch nicht unterwegs. Die beiden alten Busse von Spedition Reiners, die jeden Morgen von dem kleinen Betriebshof als erste durch Neersum fuhren und mit dem Dröhnen ihrer kalten Motoren so etwas wie ein Wecksignal waren, wurden gerade klar gemacht. Die Fahrer, von hier oben waren sie als daumengroße Flecken zu erkennen, umrundeten die Fahrzeuge mit einem Eimer in der Hand, befreiten die Stoßstangen und das Plastik der Scheinwerfer vom Dreck der Mücken und putzten die Frontscheibe. Ein gelegentliches weißes Aufblitzen zeigte, dass die beiden helle Turnschuhe anhatten und Jeans natürlich. Ihre grauen Sakkos, die alte Reiners bestand darauf, dass sie die grauen Sakkos mit dem Wappen, wie sie es nannte, "Reiners Tourismus" trugen, hingen in sicherer Entfernung zum Putzwasser über zwei Stuhllehnen unter dem Überstand der langgezogenen Garage.

Die Spedition Reiners hatte nach dem Krieg angefangen mit einem alten Lastwagen von den Engländern und dem Werbespruch „Wenn es in eine Kiste passt, dann bringe ich's hin“. Diesen Spruch hatte Heinz Reiners danach geändert in „Reiners – schnell und gut“, nachdem er Anfang der Sechziger auch Busfahrten ans Mittelmeer angeboten hatte. Aber diese Zeiten waren vorbei.

Die Sakkos unter dem Überstand waren von hier nicht sichtbar, aber sie hingen um diese Uhrzeit immer dort. Im Sommer über der Stuhllehne unter dem Überstand rechts und links von dem vergilbten Gartentisch mit zwei leeren Kaffeetassen, im Winter in der Garage in einer sicheren Ecke an zwei Haken an der Wand.

Die einzige Veränderung in den letzten Jahren war der Aschenbecher auf dem vergilbten Gartentisch, der stand heute nicht mehr da.

Die beiden hatten in der Mitte des Hofes ihre Lappen ausgewrungen und die Eimer ausgekippt, die Eimer in die Garage gebracht und die beiden Kaffee aufs Klo. Das dauerte ein wenig, aber das war nicht schlimm, die Geschichte hat noch nicht richtig begonnen.

Es dauert noch mehrere Minuten, bis Stefan und Chantal sich in ihrem orangefarbenen Golf zu Tode fahren.

Die großen Dieselmotoren waren noch kalt und dröhnten wie ein Pulsschlag über den leeren Hof. Die Fahrer legten jetzt Schilder "Im Auftrag der Stadtwerke Kleve“ hinter die Frontscheibe, rückten ihre Sakkos gerade, unter denen es ihnen schon zu warm geworden war, denn die Chefin lehnte es ab, ihnen für den Sommer dünnere Sakkos zu geben als für den Winter.

Die Busse fuhren durch den Ort, sie mussten ihn einmal durchqueren, um in Richtung B504 zu kommen. Um den Gegenverkehr um diese Uhrzeit machte sich keiner der beiden FahrerGedanken . Den gab es jetzt nicht.

Auch nicht um den Krach, den die beiden kalten Dieselmotoren in dem stillen Ort machten.

Ilona wurde von dem Krach geweckt. Die Hitze hatte sie ohnehin nicht richtig schlafen lassen, das Nachthemd klebte an ihrem Rücken und die Kinder im Kindergarten würden heute wieder nur nervig sein. Keiner konnte mit dieser Hitze umgehen, am wenigsten die Kinder. Der Krach der Busse durch die offen stehenden Fenster hat sie viel zu früh gestört, der Kindergarten macht erst in anderthalb Stunden auf. Aber schlafen konnte sie jetzt auch nicht mehr, das wusste sie. Die einzige Hoffnung des Tages war das Treffen mit Hans, wenn der Tag fast vorbei war.

Die Rentner Annegret und Herbert Kroenekens lagen ein letztes Mal nebeneinander im Bett und schliefen noch. Sie waren wegen der Hitze erst vor zwei Stunden richtig eingeschlafen, jetzt fuhren schon die Busse laut an ihrer Wohnung im Triftweg vorbei. An der Haltestelle, an der um diese Zeit ohnehin noch niemand wartete, fuhren die Busse vorbei, ohne anzuhalten.

Die Busse fuhren in den Tag und Stefan und Chantal kamen aus dem Tulpenweg 7. Alle Straßen in diesem neuen Teil von Neersum waren nach Blumen benannt, aber in diesen Häusern war es weder bunt noch duftete es. Im Gegenteil, hier war am Ende des Geldes noch viel Monat übrig und Blumen standen nicht auf dem Plan, wenn ein Tag nach dem anderen geplant werden muss. Und es roch so, wie es riecht, wenn den Leuten egal ist, wie es riecht. Die Leute im Blumenviertel hatten aufgehört sich zu fragen, warum der Stadtplaner mit seiner Strickjacke und seiner Pensionsberechtigung ausgerechnet auf den Namen Tulpenweg gekommen war. Vor vielen Jahren wollte man mit dem Bau von ein paar Reihen sozialem Wohnungsbau eine neue Schlafstadt für die Textilindustrie am Niederrhein schaffen. Das war gründlich schiefgegangen, die Textilindustrie kollabierte, das Blumenviertel stand leer und wurde dann mit jungen Familien vom unteren Ende des Einkommensspektrums geflutet. Die Meinungen des Stammtisches in Neersum waren eindeutig. Plattmachen, diesen Schandfleck.

Sackgasse würde besser passen, oder einfach Drecksweg.

Kapitel

Das Blumenviertel war von oben ein halbes Dutzend paralleler Sackgassen, dazwischen graue Dächer und kahle graue Grasflächen, Wiesen konnte man das nicht nennen, Grünanlagen waren es schon lange nicht mehr. Die einzige Farbe außer dem schmutzigen Grau der Dächer und dem Grau der ehemaligen Grünflächen gab der Parkplatz her. Zu einem der bunten Punkte, einem orangefarbenen Golf Diesel Baujahr 1990, 54 PS, gingen Stefan und Chantal. Beide arbeiteten in der Nähe von Kleve und waren unter den ersten, die morgens aufbrachen.

Weiter unten konnte man sie besser verstehen.

"Is' die Kaffeemaschien aus?“

Chantal rollte mit den Augen. Natürlich hatte sie die Kaffeemaschine ausgeschaltet. Wie jeden Morgen. Er machte das ja nicht. Wie jeden Morgen. Wie jeden Morgen seit fünf Jahren. Wie jeden Scheißmorgen in den fünf Scheißjahren mit diesem Schlappschwanz, an dem sie in die Scheiß-Frühschicht fuhren um ihren Scheißjob auszuhalten, den sie dem Schlappschwanz zu verdanken hatte. Tonnen von Schweinefleisch klatschten jeden Scheißtag auf die mattgeschrubbte Stahlfläche vor ihr, genauso schlapp wie dieser Scheißtyp, der sich wegen der Scheiß-Kaffeemaschien aufregte. Zu schlapp, um die Kaffeemaschine selbst auszumachen, zu schlapp um sich und ihr einen vernünftigen Job zu verschaffen, zu schlapp um ihr das Kind zu machen, das sie endlich aus diesem Scheißjob rausholt. Jetzt ganz ruhig bleiben, wie an jedem Scheißmorgen, wie nach jeder Scheiß-Wortmeldung von dem Schlappschwanz.

„Ja doch, die Maschine ist aus.“ Und schaffte es nicht. „Glaubst du denn, ich kann nicht mal diese Scheißmaschine ausmachen? Soll ich mich wieder um alles kümmern?“ brach es aus ihr heraus. Sie ließ sich in den Sitz fallen und knallte scheppernd die Tür hinter sich zu. Einer ihrer künstlichen Fingernägel, rechter Daumen, brach ab, flog klimpernd gegen die milchige Frontscheibe und landete neben ihrem Fuß auf der schmutzigen Fußmatte. Scheiße.

„Wat haste denn widder?“ Stefan ließ den Wagen ruckartig nach hinten aus der Parklücke schießen, sie wurde - noch nicht angeschnallt - nach vorne und dann nach hinten gerissen.

„Ich würd mich anschnallen.“

„Und ich würd die Schnauze halten.“

„Bisse aber empfindlich heute.“ Er legte seine Hand auf ihren Oberschenkel, weit oben.

„Grapsch mich nich an!“

„Musst ja nich gleich kratzen, Schlampe!“

Der Wagen hatte das Ende von Neersum erreicht, Stefan beschleunigte und sah beim Schalten, dass Blutstropfen aus dem Kratzer auf seiner rechten Hand quollen. Ohne den Fuß vom Gas zu nehmen wischte er das Blut an der Hose ab, wird in der Fabrik eh´ blutig genug, da machen ein paar Tropfen nix, und schlug dann in einer weichen, eleganten und runden Bewegung in ihr Gesicht. Nicht das erste Mal an dieser Stelle und um diese Uhrzeit, aber das letzte Mal.

Sie war drauf gefasst, wich geschickt aus und entging dem harten Schlag mit dem Handrücken. Und dieses Mal schlug sie zurück. Die Wut der letzten fünf Scheißjahre legte sie in diesen Schlag. Mit der geballten linken Faust traf sie genau über dem Sicherheitsgurt seinen Solarplexus, obwohl sie gar nicht wusste, dass das so hieß. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung, dann presste er sie vor Schmerz zusammen und rang nach Luft.

Genauso nutzlos wie sein Versuch, den explodierenden Schmerz in seiner Mitte durch das Auflegen beider Hände zu mildern war, sein Reflex, dem Schmerz und der Schlampe neben sich dadurch zu entkommen, dass er Vollgas gab.

T minus drei Sekunden.

Der Golf schoss über die Begrenzung der langgezogenen Linkskurve hinaus und mähte knack-knack zwei Begrenzungspfähle nieder.

T minus zwei Sekunden.

Stefan presste noch immer die Hände auf den Leib und kniff die Augen zu, er konnte nur fühlen, dass etwas um ihn herum nicht stimmte. Chantal ahnte was kommen würde. Die Vorderräder des Wagens schlugen auf der anderen Seite des Grabens auf und man konnte man sie durch die geschlossenen Fenster und das Wagendach schreien hören. Mit Tempo hundert klatschte der Wagen an den Stamm einer dicken und teilnahmslosen Eiche. Was störte es eine deutsche Eiche, wenn zwei dumme Leben an ihr enden.

T minus eine Sekunde.

Chantal wurde nach vorne gerissen, härter, schneller und endgültiger als eben. Ihre Stirn schlug an die Sonnenblende, ihr Rumpf wurde weiter in Richtung Frontscheibe katapultiert, ihr Kopf wurde durch den Sicherheitsgurt so stark nach hinten gerissen, dass ihre Halswirbel brachen wie Bleistifte und die Haut am Kehlkopf aufriss. Die Wucht des Aufpralls presste eine Wolke aus Blutstropfen aus den aufgerissenen Adern. Die Tropfen, die noch mit der Geschwindigkeit des fahrenden Wagens vorwärts flogen, zerstäubten an der Frontscheibe und dem Armaturenbrett in einen feinen Nebel, nur Sekundenbruchteile, bevor sie vom auftreffenden Körper verschmiert wurden.

Der Gurt hielt Stefan zurück, sein Kopf wurde nach vorne geschleudert, die Halswirbel wurden auseinandergerissen in dem Augenblick, in dem die brechenden Rippen sich unter dem Sicherheitsgurt durch Lunge, Herz und Muskeln bohrten.

T minus null Sekunden. Exitus. Doppel-Exitus.

Die Natur brauchte nur wenige Augenblicke, um den Tod der beiden Zweibeiner in der orangefarbenen Kiste zu akzeptieren. Die Stille, die dem lauten Aufprall des Wagens folgte, breitete sich wie eine Welle um den Unfallort aus und verlor sich zwischen den Bäumen. Die Vögel fingen wieder an zu pfeifen, sie hatten das schon oft beobachtet und würden es schon bald wieder tun.

Die Vögel machten sich keine Sorgen. Bald würde der alte Mann auf der Harley eintreffen.

Kapitel

Das Brabbeln der Harley beruhigte ihn und gab ihm Kraft. Mit jedem Kilometer, den er sich von Hortobágy auf der Bundesstraße 33 durch die Puszta auf die Grenze zu Österreich zubewegte, fiel ihm das Atmen leichter. Bisher hatte ihn kein Mal wirklich kalt gelassen und er hatte die Male nicht gezählt.

Das Visier des dunklen Helmes hatte er ein Stück aufgestellt, die warme und trockene Sommerluft brachte viele Gerüche, die ihn sein Leben lang begleitet hatten.

Doch viele Gerüche waren aus seinem Leben schon verschwunden. Es gab keine Gerbereien mehr in in den Städten mit dem Geruch von Leder und Urin, keine Brauereien mehr mit dem Geruch von Malz und Hopfen, nicht mehr die Öfen der Bäcker, Pferdeställe, vergorene Milch, den Blutgeruch an den Häusern der Schlachter. Das Land hatte oft, sehr oft, nach Blut gerochen, in den Häfen, in den Gräben, auf den Schlachtfeldern.

Er war immer lieber auf dem Land gewesen als in den Städten. In den Städten gab es zu viele Menschen, denen er gefährlich werden konnte und die für einander eine Gefahr darstellten. Die Städte waren angenehmer geworden, seit es die Kanalisation und fließendes Wasser gab, aber sie waren für niemanden sicherer geworden. Auf dem Land gab es für ihn vor allem alte Gerüche und die ewige Frage, was hinter dem Horizont wartete.

Der Golf klebte an der Eiche wie ein Kaugummi. Durch das Laub der Äste, die weit über die Fahrbahn reichten, war er kaum zu sehen. Sein letztes Lebenszeichen, das sterbende Ticken des heißen Motors, gab den Takt für den Morgengesang der Vögel.

Von weitem konnte man jetzt den herannahenden Wagen des nächsten Frühaufstehers hören. In zwei Kilometern würde Klaus Schalk neben dem Golf halten, sein Adrenalinspiegel plötzlich ansteigen, der Versuch, sich gleichzeitig an den Erste-Hilfe-Kurs und das richtige Absetzen einer Notfallmeldung Was Wo Wer zu erinnern, wo zum Teufel ist mein Handy?, würden ihn für einige Augenblicke komplett lähmen. Nicht, dass es etwas ausmachen würde.

Er hatte das Handy gefunden, natürlich entschloss er sich, erst die 112 zu wählen statt erst auszusteigen und zu dem verkürzten Golf zu gehen, der noch leise tickend wie eine Beule aus dem Stamm der Eiche ragte. Ein paar langsame Schritte brachten ihn über die Brennnesseln und den Straßengraben neben das Wrack. Er roch auslaufendes Benzin.

Fliegt hier gleich alles in die Luft?

Mit vorgebeugtem Oberkörper und lang gestrecktem Hals schaute er in den Wagen, kotzte spontan sein Frühstück aus und zog sich dann mit schwachen Knien auf die sichere Seite des Grabens zurück.

Ich konnte nichts mehr machen, ehrlich, ich kam zu spät. Hab ich jetzt einen Tatort vollgekotzt?

Der Gedanke ans Kotzen ließ ihn erneut kotzen, weniger dieses Mal und kontrollierter, fast zielsicher.

Hier gab es nichts mehr zu entdecken.

In Kleve war die Feuerwehr gerade aufgebrochen, die beiden blau-weißen würden in wenigen Augenblicken als erste hier sein, sie hatten es nicht so weit. Sie würden den Notarzt abbestellen, denn sie waren lange genug im Geschäft um zu erkennen, wenn nichts mehr geht. Stattdessen würde für zwei Wagen von Brockers Bestattungen, Tag und Nacht erreichbar, die Frühschicht beginnen.

Die blau-weißen würden gelangweilt warten und eine rauchen bis die Feuerwehr den Golf aufschnitt.

Unfälle waren an dieser Kurve nicht selten, trotzdem würde der Wagen untersucht werden müssen. Außer Dummheit kam auch Selbstmord und Fremdverschulden als Unfallursache in Frage.

Sie tippten auf Dummheit, das würde am wenigsten Arbeit machen.

Und nicht einmal zwei Stunden später setzte der Gerichtsmediziner Dr.Meck das Skalpell an. Obduziert wurde Frau Chantal Kloeten, weiß, 28 Jahre alt, übergewichtig, symmetrische Tätowierung im unteren Rückenbereich, am rechten Daumen fehlte ein hellblauer künstlicher Fingernagel, wahrscheinlich mit Straßbesatz, schwanger im zweiten Monat.

Kapitel

Die Tür war abgeschlossen, zweimal herumgedreht. Ungewöhnlich, aber kein Problem, Jutta hatte einen Schlüssel. Wenigstens steckte der Schlüssel nicht von innen, das alte Schloss würde sonst nicht aufgehen. Der Schlüssel lag in der kleinen Messingschale neben dem alten Telefon. Die Zeitung hatte sie mit reingebracht, die Schlagzeile brüllte ihr etwas von Waldbrandgefahr entgegen. Jutta legte sie neben die Schale, wo sie immer liegen sollte.

Ihre Turnschuhe quietschten leise auf dem blanken Steinfußboden, sonst war nichts zu hören. Sie bemühte sich, keinen Krach zu machen, die Herrschaften, oh ja sie wollten tatsächlich die Herrschaften sein, mochten es nicht, wenn sie von der Putze geweckt wurden.

Die Putze schlägt sich mit Hartz vier herum, muss die Kinder irgendwie durchbringen und die Herrschaften drücken den Arsch um diese Uhrzeit noch in die Satinbettwäsche.

Oder der Hausherr war schon früh aus dem Haus und hatte von außen wieder abgeschlossen. Es war Schlüssel seiner Frau mit dem kleinen Hufeisenanhänger, der in der Messingschale lag.

Ist ja verständlich, dass er früh abhaut, da läuft bestimmt nichts mehr zwischen den beiden. Die Stimmung im Hause Reiners war schon lange ziemlich mies, da bekam die Putze als erstes mit. Aber beide profitierten von dem Arrangement, er hatte die Gattin für die gesellschaftlichen Momente im Leben und sie hatte das Geld zum Ausgeben.

Der Schlüssel, den man der Putze gegeben hatte, hatte keinen Anhänger. Sie steckte ihn wieder in die Hosentasche um beide Hände frei zu haben, fürs Aufräumen und Putzen.

Wahrscheinlich, damit ihn niemand mit dem Haus in Verbindung brachte, wenn sie ihn wieder mal verlor. Bisher allerdings hat sie ihn noch nicht verloren, die Herrschaften waren sicher enttäuscht. Sollten sie ruhig. Doch dieses Misstrauen ärgerte sie natürlich, von Anfang an.

Mit dem Schlüssel ohne Anhänger fing es an.

Die Frau des Hauses greift immer hektisch nach ihrer Handtasche, sobald sie mich sieht; so einer wie mir kann man nicht trauen, genau.

Das war ihr egal. Es musste ihr egal sein, sie brauchte zwar nicht diesen Job, aber sie brauchte das Geld, das dieser Job ihr brachte. Was sie nicht brauchte, war die Grapscherei von ihm, sobald seine Frau nicht im Haus war versuchte, er es immer wieder.

Sein Altherrencharme reichte bei Jutta nicht aus, hat er es mit Geld versucht. Und er kam gerne nackt aus der Dusche, wenn sie gerade im Schlafzimmer die Betten machte, rein zufällig natürlich.

Wie wärs, hatte er gesagt, ich geb nen Fuffie.

Bis jetzt hatte sie ihn nur ausgelacht. Trotz des Geldes. Alter Sack! Der erfolgreiche Unternehmer, der angesehene Vorsitzende des Sportvereins, die Hälfte der laufenden Meter Bandenwerbung auf dem Sportplatz von Neersum zeigte den Schriftzug der Spedition Reiners – Schnell und Gut. Und in seinen eigenen vier Wänden der uneingeschränkte Macker mit dem Anspruch, die Leibeigenen zu begrapschen. Arschloch.

Noch immer war es still im Haus. Sie blieb in der Eingangshalle stehen, lauschte die Treppe hinauf, von dort kein Geräusch, keine Stimmen, kein laufendes Wasser aus dem Badezimmer, kein Radiowecker, der noch nicht abgestellt war. Hinter ihr in der Küche stand leise der große Kühlschrank, dort würde sie wie immer eine angebrochene Flasche Schampus finden, wie Frau Reiners diese Sorte nannte. Jutta hatte ihre Zweifel, ob es wirklich Champagner war, konnte aber mit dem Etikett nichts anfangen, auf jeden Fall klang es französisch, manchmal reicht das schon. Französisch gab es nicht an ihrer Schule, an das Englisch konnte sie sich nicht erinnern.

Im Eisfach würde die unvermeidliche Flasche Aquavit liegen, gleich daneben zwei eisgekühlte langstielige Gläser. Man weiß ja, was sich gehört. Benutzt wurde sowieso immer nur eins davon. Das Zeugs ist der Treibstoff für den alten Sack.

Sie schloss die Küchentür hinter sich, wollte keinen Lärm machen. Auf dem Küchentisch die Reste vom Abendessen, zwei schmutzige Teller, zwei Flaschen Rotwein, in der einen ein zwei Finger hoher Rest. Sie setzte die Flasche an und trank sie leer, sah sich schnell um, die Tür war noch immer zu, dann kamen beide Flaschen in den Korb für Altglas und die Teller in die Spülmaschine. Viel zu tun war heute nicht, sah nicht so aus, als wären gestern Abend Gäste da gewesen.

Also auch kein Grund, heute einen Rausch auszuschlafen. Nicht von zwei Flaschen Wein.

Die Spülmaschine war nur halb voll, stank aber schon, die Hitze ließ alles schneller vergammeln als sonst. Jutta warf einen Tab ein, schloss die Klappe und drehte den Schalter auf Bio.

Nichts passierte.

Blödes Ding, du bist doch brandneu, warum gehst du nicht an?

Sie drehte nochmal und nochmal passierte nichts.

Dann merkte sie, dass der große Kühlschrank neben ihr nicht leise brumme, er war still. Sie machte ihn auf, kein Licht und nur leidlich kalt. Eine angefangene Flasche im Türfach, Joghurt für sie, Steaks für ihn, aus dem Eisfach tropfte es.

Da muss ich mal in den Keller, da sicher der Sicherungskasten.

Den Korb mit dem Altglas trug sie durch die Speisekammer in die Garage. Dort standen beide Autos, sein dicker schwarzer Mercedes und ihr schwarzes Golf-Cabrio.

Also war er doch noch nicht weg. Sonst ließ er auch das Garagentor offen, weil die Elektrik seit Jahren kaputt war und seine Frau dauernd vergaß, jemanden dafür anzurufen. Zu faul, beim Nachhause kommen auszusteigen, um es per Hand aufzumachen. Jetzt war es zu und die beiden Autos waren abgeschlossen. Es roch zwar nach Auto, aber nach kaltem Auto. Sie legte die Hände auf die Kühlerhaube des Mercedes. Das Auto war kalt, beim Golf war es genauso.

Die obere Etage war leer. Hätte sie sich also sparen können, die Treppe rauf zu schleichen. Die Betten waren unbenutzt, genau wie Jutta sie gestern Morgen gemacht hatte. Auch das Badezimmer war wie neu, kein schmutziges Handtuch, keine Wasserspuren in Waschbecken und Dusche. Nicht einmal das Klo war benutzt, das Ende vom Klopapier war auf Dreieck gefaltet, weil man das in den besseren Häusern so macht, hatte die Reiners mal gesagt, hatte sie mal in einem Hotel gesehen, Bali oder Thailand, egal. Seither musste Jutta Klopapier falten.

Alles an seinem Platz, alles ordentlich gefaltet und ordentlich glänzend.

Das Gästezimmer war sowieso ok, da hatte es schon lange kein Gast mehr ausgehalten.

Waren die beiden zu Fuß unterwegs? Seit sie hier war, hatte sie die beiden draußen noch nie außerhalb eines Autos gesehen. Wenn man den einen Tag nicht mitzählt, an dem sie Frau Reiners im Garten beim Sonnenbaden überrascht hatte.

Kein Wunder, dass der Alte lieber mir nachsteigt als seiner Frau, selbst nach zwei Kindern sehe ich um Längen besser aus und das Tattoo ist auch noch straff. Yes!

Sie blieb oben im Flur stehen. Im Garten war auch niemand, dass hatte sie unten schon gesehen durch die großen Fenster, die Terrassentür war zu, die weißen Korbstühle standen ordentlich gestapelt in der Ecke. Hier oben alles klar, unten nichts zu tun. Beide Autos in der Garage, Haustür abgeschlossen. Und gestern hatte Frau Reiners ihr noch aufgetragen, fürs Wochenende schon den Weißwein und den geliebten Schampus in den Kühlschrank im Keller zu stellen. Außerdem hätten sie ihr bei einem spontanen Kurzurlaub bestimmt einen Zettel hingelegt. Damit bei ihrer Rückkehr alles aufgeräumt ist. Und damit jemand da war, um die Einkäufe zu bestaunen.

Scheiss drauf. Keiner da, sturmfreie Bude. Dauerte noch zwei Stunden bis die Kinder aus der Schule kamen.

Was fangen wir an mit diesem angefangenen Tag?

Letzter Versuch, ab in den Keller und nach den Sicherungen suchen. Wenn da auch alles ist wie vorgeschrieben, dann gibts erst mal einen Kaffee.

Die Treppe herunter schaffte sie, ohne Licht anzumachen. Oft genug musste sie hier rauf und runter mit beiden Händen voll, keine Chance an den Schalter zu kommen. Fand sie blind.

Unten im Vorraum war auch alles dunkel. Alle Türen waren geschlossen.

Sie fand den Sicherungskasten, drehte ihn auf und spähte hinein. Über ihre Schulter fiel etwas Licht die Treppe herunter und sie sah, dass alle Sicherungen ok waren, sauber in Reihe und Glied, aber der Schalter der Hauptsicherung war umgekippt. Mit spitzen Fingern tippte sie ihn an, er biss nicht nach ihrer Hand.

Dann traute sie sich, ihn mit den Fingerspitzen umzukippen. Das laute Klack in dem kleine gekachelten Vorraum war wie ein Schreckschuss.

Aber es blieb dunkel.

Wahrscheinlich ist einfach nirgendwo Licht eingeschaltet.

Jutta hatte den leichten Chlorgeruch in der Nase, der hier unten alles durchzog. Wahrscheinlich hatten die beiden vergessen, die Tür zum Poolraum zu schließen. Im Dunkeln ging sie zielsicher die paar Schritte und öffnete die Tür zum Poolraum.

Die Pool-Parties der Reiners waren in ganz Neersum bekannt, obwohl niemand etwas genaues wusste oder gar dabei gewesen war. Aber es hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass einige Aufträge für die Spedition erst nach diesen Pool-Parties erteilt wurden. Auch Jutta hatte diese Gerüchte nach dem Start in diesen Job schnell mitgekriegt. Und es hatte sie geärgert, dass sie weder etwas dazu sagen noch etwas dazu beitragen konnte.

Drinnen war es heller, denn Tageslicht fiel durch die vier großen Lichtschächte in den Raum. Müde Lichtreflexe krochen über die Decke, das Chlor roch stärker. Rechts stand die Bar, darauf einige leere Gläser, auf den hohen Stühlen davor zwei Bademäntel.

Jetzt hatte sie wenigstens etwas aufzuräumen.

Der Pool war in den Boden eingelassen, gesäumt von einem schmalen Metallrost. Auf den beiden Korbstühlen lagen die Klamotten der Reiners, ein brauner Hausmantel aus Seide und ein dunkelblauer, alter Jogging-Anzug. Jutta nahm an, dass die beiden aus Gewohnheit nackt gebadet hatten, und sie nahm auch an, dass gewohnheitsmäßig nichts erotisches mehr damit verbunden war.

Auf dem Weg zur Bar sah sie im Wasser dunkle Schatten treiben, an entgegengesetzten Ecken des Pools. Ihre Augen gewöhnten sich an das Halbdunkel und sie erkannte die Besitzer des Bademantels und des Jogging-Anzugs. Sie trieben mit dem Rücken nach oben. An entgegengesetzten Ecken des Pools, sie mussten sich also nicht berühren.

Scheiße.. Ist das jetzt mein Problem?

Was mach ich'n jetzt? Muss ich jetzt was machen? Scheiße, jetzt bin ich wohl meinen Job los.

Arschlöcher.

Sie stemmte die Hände in die Hüften und hielt den Atem an. Außer dem Wasser bewegte sich nichts. Und auch das Wasser bewegte sich nur langsam. Keine Wellen, keine Luftblasen. Keine Bewegung.

Kein Zweifel, die sind wirklich tot. Was mach ich'n jetzt?

Was sagte ihr Berater in der Arbeitsagentur immer? Situative Kompetenz, darauf kommt es an. Tun Sie im richtigen Augenblick einfach immer das richtige, dann wird es von selber, dann tun sich Möglichkeiten für Sie auf.

Situative Kompetenz. So'n Dreck, hab ich noch nie irgendwo gesehen. Als ob mir so'n Broschüren-Gelaber jetzt helfen würde.

Weil sich das Wasser nicht bewegte, die Oberfläche war glatt wie ein Spiegel, sah es aus, als wären die beiden Leichen in Harz eingeschlossen. Leichen war wohl das richtige Wort für zwei Leute, die nicht mehr lebten.

Was mach ich denn jetzt?

Hinten am Pool stand doch gestern der Staubsauger, hatte sie ihn hinterher weggeräumt, bevor sie gegangen war?

Vorsichtig, um nicht auszurutschen, ging sie am Pool entlang und fand hinten im Halbdunkel ein Kabel, das von der Steckdose ins Wasser ging. Unten am Boden des Pools, der dunkle Fleck, das konnte der Staubsauger sein, dunkelblau und machte einen furchtbaren Krach. Jetzt war alles ruhig.

Den Staubsauger kenne ich besser als die beiden Kalten im Wasser. Kein Wunder, mit ihm habe ich ja auch mehr Zeit verbracht. Er macht zwar Krach, hält aber sonst die Klappe.

Jutta war sich sicher, dass sie den Staubsauger gestern neben der Tür hatte stehen lassen, das Kabel sauber aufgewickelt.

Wie kommt der jetzt ins Wasser?

Egal. Situativ sein, kompetent sein. Ihre Schritte in den dünnen Latschen waren laut in dem gekachelten stillen Raum.

Von dem Staubsauger geht wohl keine Gefahr mehr aus, sonst wäre die Sicherung gleich wieder rausgeflogen.

Trotzdem zog sie den Stecker aus der Steckdose und fasste das Kabel sicherheitshalber durch ein trockenes Handtuch an. War das jetzt situative Kompetenz oder Angst? Dann zog sie den Staubsauger am Kabel aus dem Wasser und stellte ihn zum Austropfen neben den Pool.

Macht keinen Sinn, ihn klatschnass durchs Haus in die Müllecke hinter der Garage zu tragen. Der ist bestimmt kaputt. Soll erst mal trocken werden.

Jetzt war sie sich sicher, dass sie sicher war. Keine Gefahr in Sicht.

Nur ihre beiden toten Arbeitgeber im Wasser.

Jutta saß jetzt auf der Terrasse in einem der Stühle, konnte sich aber nicht erinnern, ihn vom Stapel genommen zu haben. Die beiden Kalten im Pool hatte sie nicht angerührt, hatte gar nichts angerührt. War einfach nur die Treppe herauf gegangen.

War doch schließlich ein Tatort, da darf man nichts anrühren.

Die Polizei gerufen hatte sie aber auch nicht. Die Nummer kannte Jutta nur zu gut, oft hatte sie 110 angerufen wenn ihr Ex wieder auf sie und die Kinder losgegangen war. Bis sie ihn endlich mitgenommen hatten, danach war er nie wieder bei ihr aufgetaucht.

Haben die beiden eigentlich Kinder? Verwandtschaft? Jemand den ich benachrichtigen müsste? Den die Polizei benachrichtigen müsste, meine ich. Ist ja nicht meine Aufgabe. Kann nicht mal sagen, ob da Familie ist, erzählt habe die beiden nie davon. Aber warum hätten sie der Putze von ihrer Familie erzählen sollen, auch wahr.

Mach ich jetzt was? Ich muss doch etwas machen, irgendetwas muss man doch jetzt machen. Oder? Kann die beiden Kalten ja nicht unten im Wasser liegen lassen. Aber sie da rauszuholen ist auch nicht mein Ding. Schließlich bin ich hier die Putze, nicht der Poolservice. Der kommt Anfang September wieder, das sind noch drei Wochen. Will mir gar nich´ vorstellen, wie die beiden aussehen, wenn die sich drei Wochen im Pool eingeweicht haben.

Spätestens dann wird also ´was passieren. Also entspann dich, Juttchen. Relax. Die Sonne scheint, die Kids sind noch in der Schule, du hast nix zu tun und ein schickes Haus unter dem Arsch.

Die Sonne schien ihr warm ins Gesicht, alles um sie herum war ruhig. Ohne Mühe verdrängte sie das Bild der sonnenbadenden Frau Reiners auf dem Liegestuhl, das sich zuerst aufgedrängt hatte. Stattdessen bekam sie Lust auf einen Kaffee, die Zeitung war ja auch schon da und Strom hatte sie auch wieder. Kinderspiel.

Kapitel

Wie seit Jahrzehnten wurde sie vor ihm wach. Dann lag sie einfach still da und wartete, bis er auch aufwachte. Wie jeden Morgen seit fast 50 Jahren würde er sie mit einem Kuss wecken. Seit vielen Jahren verbarg sie vor ihm, dass sie schon wach war und ließ ihm die Freude.

Ja, fast waren es fünfzig Jahre, dass sie geheiratet hatten, im Winter stand die goldene Hochzeit an.

Diesen Tag wollen wir zu zweit genießen und die Feier dann im Frühjahr mit meinem Achtzigsten zusammen feiern. Sein Achtzigster war ja letztes Jahr schon. Da hat er doch den einen Salat so schlecht vertragen, weil er es mit der Galle hat.

Zusammen mit den Kindern, die jetzt in der Stadt wohnten und sonntags immer anriefen, mit den wenigen Freunden die noch lebten und mit den Nachbarn. Auch mit denen, die sie nicht so mochten, aber doch ab und zu mal brauchten.

Es war schon warm im Schlafzimmer und sie zog die Bettdecke, blassblau mit roten Blumenrändern, leise etwas herunter, um ihn nicht zu wecken. Er schlief morgens noch mal tief ein. Erst vor wenigen Jahren hatten sie gemerkt, dass er nachts häufig Atemaussetzer hatte, immer zwischen zwölf und drei, wenn sie selbst am tiefsten schlief. Wenn die vorbei waren fiel er meist in eine Tiefschlafphase. Wenn sie nachts wach wurde und auf Klo ging, dann bekam sie manchmal Todesangst, wenn er sekundenlang nicht atmete.

Aber er wollte damit nicht zum Arzt gehen. Und er schlief immer besser als sie.

Bei ihrem Kennenlernen war er gleich so mutig gewesen. Eine Begegnung und alles war anders. Sie hatte gerade als Lehrerin in Neersum angefangen, es gab nur eine Schule mit eigentlich nur einer Klasse, hauptsächlich Naturkunde und Deutsch. Heute hatten alle Lehrer nur noch maximal zwei Fächer, früher hatte sie alle Fächer unterrichtet und was war daran eigentlich verkehrt gewesen.

Sie hatte ihre Schulklasse in den Wald geführt und er war ihnen für den Tag als Begleitung zugeteilt worden. Für ihn eine undankbare Aufgabe, mit Kindern konnte er damals nicht viel anfangen, das hatte sich erst mit den beiden eigenen Kindern geändert. Inspektoranwärter war er damals gewesen. Froh, beim Grünflächenamt überhaupt eine Stelle gefunden zu haben und dann war er schließlich bis zur Pensionierung im Kreis Kleve und Goch für die Forstflächen und Grünflächenpflege zuständig, der Herr über alle Anlagen und Waldwege, hatte er immer gescherzt, wenn er sich bei Urlaubsbekanntschaften vorstellte. Sehr gut ausgesehen hatte er, in seinem neuen hellen Anzug, gerade heraus und humorvoll. Ein Mann, zu dem sie sofort aufgeschaut hatte.

Wie hat damals mein Herz gerast, bei seinem ersten tiefen Blick in meine Augen. Und heute muss ich täglich Tabletten nehmen, damit mein Herz überhaupt pünktlich schlägt. Nur er ist gleich geblieben.

Den Wald kannte sie damals hauptsächlich, weil sie mit ihren Eltern dort immer nach Pilzen und Beeren gesucht hatte, in der harten Zeit. Ihre Mutter hatte sogar versucht, aus Eicheln diesen Kaffee zu machen, aber den hatte außer ihr niemand herunterbekommen.

Mit ihm hatte sie den Wald dann häufig besucht, denn sie wohnte noch bei ihrer Mutter und er kannte die abgelegenen Lichtungen, an einer gab es sogar eine kleine Quelle, die im Sommer aber meist versiegte. Auch nachdem sie geheiratet hatten, spät für damalige Verhältnisse, sie hatten wohl beide gespürt, dass sie sich miteinander Zeit lassen konnten, waren sie noch oft dorthin gegangen. Und sie hatte immer gewusst, dass mindestens eins ihrer Kinder dort...

Das alles hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen, sie war schon lange schlecht zu Fuß und kam nur noch selten vor die Tür, zum Arzt und zur Kirche, wie es sich gehört.

Im Wald würde ich nur Angst haben, hinzufallen. Wegen der Hüfte.

Und sie waren beide nicht der Schlag Leute, der gerne bei Kaffeefahrten mitfuhr oder den Winter auf Mallorca verbrachte. Lieber sind wir in Ruhe zuhause.

Er machte immer die Besorgungen. Viel brauchen wir ja ohnehin nicht mehr. Etwas Tee, denn Kaffee dürfen wir ja beide nicht mehr, frisches weiches Brot ohne Knust wegen der Zähne, auf keinen Fall Eier. Und die Marmelade aus dem Reformhaus, auch wenn sie teurer ist. Und ich kümmere mich um die Wohnung. Die Kinder witzeln darüber, aber wir haben uns das bei seiner Pensionierung so aufgeteilt und jetzt macht eben jeder, was er am besten kann. Er machte die schweren Sachen und das Einkaufen und ich komme kaum noch raus.

Das hat noch immer gut gegangen.

Manchmal frage ich mich, ob das langweilig ist. Aber dann auch wieder nicht.

Sie spürte, wie er aufwachte, schloss schnell die Augen und freute sich ein bisschen, gleich ihren Kuss zu bekommen. Freute sich auf seine Berührung, nach all den Jahren noch.

Der Kuss kam und ging und wie immer blieb etwas zurück. Sie drückte ihm die Hand, sie standen auf. Er ging ins Bad, zum ersten Mal heute und viele Male würden folgen. Alt und undicht, sage er immer, er hatte sich daran gewöhnt. Sie nie so richtig.

Annegret stellte das Teewasser an und begann, den Tisch zu decken.

Gesprochen wurde auch an diesem Morgen nicht viel. Während sie dann im Bad war, ging er die Treppe herunter und holte die Rheinische Post aus dem Briefkasten. Leise, um die Nachbarn nicht zu stören und immer eine Hand am Geländer, seit er vor ein paar Jahre so böse gefallen war.

Zum Lesen der Zeitung setzte er sich die Brille auf, ohne ging nicht mehr. Sie konnte noch gut ohne Brille lesen, interessierte sich aber für wenig, was in der Zeitung drinstand. Dafür freute sie sich auf die Freizeit Revue, die er einmal pro Woche vom Einkauf mitbrachte.

Sie aßen schweigend, aber es war die Art von Stille, die nicht unangenehm war, sondern vertraut. Es gab auch keinen Grund, sich zu beeilen. Er würde dann einkaufen gehen, sie sich um die Wohnung kümmern. Aufräumen und ein wenig Wäsche machen. Es wurde ja nicht mehr viel schmutzig.

Lohnt sich eigentlich nicht, dafür die Maschine einzuschalten, die paar Stücke kann ich auch schnell mit der Hand waschen.

Sie würde in einem Topf Früchtetee kochen und abkühlen lassen, der Tag würde heiß werden, hatten sie gestern Abend im Fernsehen gesagt und sie hatten schon seit Wochen einen Zettel an den Küchenschrank geklebt, der sie daran erinnern sollte, genug zu trinken. Ihre Dr. Änne legte immer Wert darauf, dass sie viel tranken.

Kapitel

Der alte Mann auf der Harley fuhr weiter geradeaus, er hatte das kurze Stück durch Österreich rasch hinter sich gelassen. Für die Landschaft hatte er keinen Blick übrig, er musste sich auf den Verkehr konzentrieren, um diese Jahreszeit waren viele Touristen unterwegs. Die Autobahn hieß ab jetzt A3, gleich würde er an Passau vorbeifahren, Richtung Norden, Richtung Nürnberg, Richtung Holland.

Am Grenzübergang Suben hatte er warten müssen, zu viel Verkehr auf der Brücke und zu wenig Zöllner. Sie hatten ihn kritisch beäugt, aber in Ruhe gelassen. In der Spur neben ihm hatte ein Wagen aus Deutschland gestanden, die Fenster in der Hitze offen, darin Mann und Frau. Sie sprachen nicht, das Radio war nicht eingeschaltet und der Motor lief nicht. Sie hatten sich einfach nur wortlos an der Hand gehalten, sie brauchten anscheinend keine Sprache, um sich zu verstehen.

Er hatte weggesehen. Ihr Glück von heute war nur der Anfang ihres Leids von morgen.

Er versuchte, den Anblick zu vergessen, konzentrierte sich auf den Verkehr. Er wollte nur weiterfahren, wahrscheinlich sollte er am besten die Nacht durchfahren, es war nicht viel Zeit. Das war anstrengend, aber die Idee gefiel ihm. Ein Job wartete auf ihn.

Und die Nacht war ihm ein besserer Freund als es die Menschen je gewesen waren.

Wie die Kaffeemaschine funktionierte, eines der vielen „schlechtes Gewissen“-Geschenke für die Gemahlin, wusste Jutta ohnehin. Oft genug hatte sie auch Hausmädchen spielen und der Alten einen Kaffee rausbringen müssen. Vor allem wenn, Besuch da war. Und immer schön lächeln.

Der Krach der Bohnen in der schwarzen Kiste gab ihr ein Stück Normalität. Alles im grünen Bereich, alles normal. Mit dem einzigen Unterschied, dass dieser Kaffee für mich ist und nicht für die Reiners.

Die Tropfen, die beim Einschenken auf die Arbeitsplatte fielen, wischte sie nicht weg. Und sie drückte auch nicht die Reinigungstaste, worauf die Reiners nach jeder Tasse Wert legte, schließlich war die Maschine teuer.

Ist mir doch egal. Und der Reiners jetzt sicher auch.

Mit Kaffee und Zeitung saß sie auf der Terrasse und genoss den Blick in ihren Garten.

Der Kaffee war genauso gut, wie sie sich immer vorgestellt hatte. Dagegen war der Kaffee, den sie zuhause machte, nur schwarze Brühe. Dabei lässig in der Zeitung blättern, irgendwie cool. Der Beckers-Junge, der die Zeitungen brachte, hätte sicherlich gestaunt. Sie musste morgen früh aufpassen, nicht von ihm gesehen zu werden.

Beim Durchblättern fiel ihr ein Gesicht auf, das sie anzustarren schien. Es fiel ihr aber erst auf, da war sie schon einige Seiten weiter, als hätte sie sich gerade daran erinnert, dass sie sich eigentlich für den Artikel interessierte, den sie vor drei Seiten überflogen hatte. Das Gesicht hatte sie irritiert, warum konnte sie nicht sagen, irgendwie sah es schief aus. Aber so oft sie auch zurück blätterte, sie konnte weder den Artikel noch das Foto mit dem Gesicht finden.

Macht nichts. Trotzdem cool, hier mit 1a Kaffee und RP auf der Terrasse in der Sonne zu sitzen. Konnte man sich dran gewöhnen, warum eigentlich nicht. Zuhause hält mich nichts.

Zuhause kann ich das eh´ nicht nennen. Hab´ ich mir nicht aussuchen können, der Kerl hat uns da reingebracht, war sein WBS. Ein Zuhause war das nicht, weder für mich noch für die Blagen. Ein Dach über dem Kopf und leidlich warm im Winter. Aber sonst nur Endstation mit Möbeln vom Sperrmüll. Hab mir nie vorstellen können, wie es von da aus weitergehen soll. Ob da noch was kommt. Und immer den Kopf eingezogen. Hab nie jemanden eingeladen, wen auch, wozu auch. Nie ist was passiert, nie hat sich jemand dafür interessiert, wie es mit uns weitergeht. Für mich gab es immer nur Einkaufen gehen statt Shopping, wie bei der Reiners. Und Haushalt statt Gesellschaft, wie bei der Reiners. Und gelangweilt Einpennen vorm Fernsehen statt Chillen in der Lounge, wie bei der Reiners. Ohne hoffen zu können, dass beim Aufwachen irgendetwas anders ist.

Hab ich heute morgen beim Aufwachen gemerkt, dass heute alles anders werden kann?

Juttchen, jetzt ma ehrlich. Ist das ´ne Chance oder 'n Risiko?

Wieso Risiko? Hab ich was riskiert? Hab ich was zu verlieren? Die Reiners waren ja schon kalt als ich kam, ehrlich ihr Bullen, ich hab damit nix zu tun. Stellen Sie einfach die Todeszeit fest, geht ja bei CSI auch, dann könnt ihr sehen, dass ich dann noch gar nicht hier war. Vor zwei Tagen war ich zuletzt da, da könnt ihr alle fragen.

Wie lange würde es dauern, bis die Reiners vermisst würden? Die Busse und Laster vom Alten laufen, dafür gibt's Fahrpläne und die Sesselfurzer im Büro. Zentrale, hat der Alte immer dazu gesagt, auch wenn es nur drei schlecht bezahlte Angestellte mit Aldi-PCs und alten Telefonen in einem flachen Betonbau sind. Und die Reiners hat wahrscheinlich ihre üblichen Termine wegen Wellness und Prosecco, aber wenn sie da nicht aufkreuzt wird es erst mal auch keinen jucken.

Jutta ist ja nicht dumm. Jutta holt sich das Adressbuch, das in der Schublade unter dem Telefon liegt. Und sie holt sich einen zweiten Kaffee. Der Tag fängt gut an.

Der Fleck auf der Arbeitsplatte wurde größer.

So spannend wie erwartet ist es nicht, das Adressbuch. Die beiden sind ja schon kalt und können sich nicht mehr aufregen. Das Adressbuch gehört sicher zum Nachlass, wer wird den eigentlich kriegen?

Die Einträge sagten ihr nicht viel. Einige Namen kannte sie, Namen aus dem Dorf, meist von Leuten, die auch eine Firma hatten und als Kunden in Frage kamen. Einige Durchwahlen könnten zu Behörden passen. Und einige Einträge bei denen nur Name und Nummer standen. Aber weniger als erwartet. Aber keine Einträge, die auf Kinder oder nahe Angehörige deuteten. Nichts mit „Uni“ oder „Tante“ oder so. Prima.

Mit dem dritten Kaffee brachte sie sich das Telefon mit.

War ich jetzt schon zu lange in der Sonne? Sonnencreme ist oben in dem italienischen Designerschränkchen neben dem Scheißhaus.

Sie ging nach oben.

Ihre Finger waren noch rutschig von der Sonnencreme, mit der sie sich das Gesicht und die nackten Arme eingeschmiert hat, und rutschten beim Blättern im Telefon von den Tasten. Einige Namen kamen ihr aus dem Adressbuch bekannt vor, andere nicht. Eine Nummer ohne Name und ohne Vorwahl war am häufigsten angerufen worden. War das die Nummer von der Zentrale?

Aber auch hier kein Hinweis auf Kinder oder Verwandte.

Sie trank den Kaffee zu Ende und wartete darauf, dass die Sonnencreme endlich einzog.

Kein Grund zur Panik, es wartet niemand auf dich, Juttchen. Jetzt bist du mal dran, mach das Beste draus.

Dann nahm sie das Telefon und wählte die Handynummer ihres Ältesten. Der hatte jetzt Mathe oder so was. Mami hat ´ne Überraschung für euch!

Bei Auflagen sah sie für einen Wimpernschlag auf dem Display des Telefons das Gesicht aus der Zeitung wieder, dann blieb es verschwunden.

Machte ihr nichts aus. Sie schüttelte den Kopf, um dieses Gesicht los zu werden.

Jutta braucht jetzt einen klaren Kopf. Jutta hat einen Plan.

Sie ging wieder die Kellertreppe hinunter und in den Poolraum. Hier hatte sich nichts verändert. Sie zog sich aus und sprang ins Wasser.

Jetzt bin ich endlich bei den Pool-Parties dabei. Es ist alles wahr, Leute, ich war dabei.

Das Wasser war angenehm kühl, nicht so kalt wie der Baggersee, in dem sie sonst mit den Kindern baden ging. Freibäder kosten Geld.

Sie hatte immer gut schwimmen und tauchen können, schon als Kind. Das Wasser schirmte sie für Sekunden ab von ihren Freundinnen, von ihren Lehrern, von den Kerlen, für diese kostbaren Sekunden war sie alleine.

Das Wasser ist noch ganz klar. Die beiden können noch nicht lange hier drin liegen.

Im Fernsehen hatte sie mal einen Beitrag über eine Frau gesehen, die in Massachusetts drei Tage lang tot auf dem Boden eines öffentlichen Pools gelegen hatte. Niemand hatte sie bemerkt und der Pool blieb geöffnet, bis Jugendliche die nachts billig schwimmen gehen wollten, sie beim Hereintauchen gefunden hatten. Badegäste hatten das Wasser im Pool als „schmutziges dunkelgrün“ bezeichnet, man hätte nicht mal seine eigenen Füße sehen können. Aber weil der Chlorgehalt bei allen Messungen weiterhin in Ordnung, blieb der Pool geöffnet.

Der Reiners-Pool war noch klar, sie konnte ihre Hände sehen und ihre Füße und aus der Nähe auch das Gesicht der toten Reiners. Die Augen waren offen und sahen gleichzeitig alles an und nichts, der Mund war auch offen, was hier unter Wasser irgendwie grotesk wirkte, aber noch grotesker war das verzerrte Gesicht mit den gefletschten Zähnen.

Sie schaffte es nur mit Mühe, die tote Frau über den Rand des Pools zu heben. Das Wasser war so tief, dass sie nicht stehen konnte, deshalb musste sie sich mit einer Hand am Rand festhalten und hatte nur einen Arm als Hebel. Die Haut der Toten war schlaff und glitschig, Wasser platschte und spritzte in alle Richtungen und gurgelte in den Überlauf. Mit einem Schmatzen rollte der schlaffe Körper schließlich auf die nassen Fliesen.

Die Reiners landete auf dem Bauch, einen Arm unter dem Körper angewinkelt, dieser Arm presste ein Gemisch aus Luft und Wasser aus ihren Lungen und Jutta tauchte schnell unter weil sie dachte, die Tote würde sie ankotzen. Aber das Wasser über ihr blieb klar und sie tauchte zwei Schwimmzüge entfernt am Rand wieder auf und strich sich schnell die nassen Haare aus dem Gesicht.

Die Reiners lag auf dem Bauch neben dem Pool, ein Bein angezogen, das Gesicht nur wenige Zentimeter von dem metallenen Ablaufgitter entfernt, das den Pool umgab. Sie war tatsächlich nackt und soweit Jutta das Position aus dem Wasser sehen konnte, war sie nicht verletzt. Sie sah keine offene Wunde, kein Blut, das in dünnen roten Fäden an der bleichen Haut herab sickerte und auf die Fliesen tropfte. Nur ein Klumpen Fleisch, ein Körper der für immer alle seine Bewegungen eingestellt hatte, ohne Leben und ohne Würde.

Nicht, dass sie bisher nach Juttas Meinung viel Würde und Anstand gehabt hatte.

Nur halt Geld ohne Ende. Flocken. Kies. Moppen. Schotter. Pulver. Ganz egal, wie du es nennst, ich hab immer zu wenig davon. Gehabt.

Wann setzt eigentlich diese Leichenstarre ein? Wie viel Zeit habe ich?

Sie stieß sich am Beckenrand ab und schwamm ans andere Ende des Pools, wo die zweite Leiche trieb.

Der Pool war so ungefähr acht Meter lang. Die vielen Male, die sie hier aufgeräumt und gewischt hatte, hatte sie nie darauf geachtet hatte, wie viel Meter Arbeit das waren.

Sie brauchte für diese Entfernung nicht einmal fünf Sekunden. Und sie schaffte es, sich dabei nur zweimal umzusehen, ob die Reiners auch still liegen blieb.

Ihre Schwimmzüge hatten das Wasser in Bewegung gebracht und die Wellen schaukelten den Reiners gegen die Beckenwand. Seine Arme und Beine bewegten sich in hilflosen Schwimmbewegungen, die ihn aber nicht von der Stelle brachten. Seine linke Hand streifte ihre nackte Schulter, schnell schlug sie die kalten Finger zur Seite und musste dafür Wasser schlucken.

Jetzt hat er endlich, was er wollte. Er und ich nackt im Pool. Zu spät, du Arsch, raus mit dir, für uns beide ist der Pool zu klein.

Ihn anzufassen macht mir mehr aus als bei ihr. Außerdem ist er schwerer als sie.

Zweimal rutschte ihr sein schlaffer Körper weg, beim dritten Mal hatte sie ihn schon halb auf dem Rand, aber er kippte auf den nassen Fliesen wieder herum, fiel halb auf sie und umschlang sie mit den Armen. Sie schrie ihn an, ihr Schrei war in dem gekachelten Raum dreimal so laut wie normal, und stieß ihn weg. Sein Gesicht war so kalt wie das Wasser.

Der Schreck und die Wut gaben ihr drei Herzschläge lang übermenschliche Kräfte und sie warf ihn auf den Beckenrand, ihre Handflächen versanken tief in seinem fetten Bauch. Klatschend schlug er auf den Fliesen auf und rutschte eine Armlänge von ihr weg, bevor er liegen blieb.

Jutta stellte jetzt erst fest, wie hektisch sie atmete und ließ sich im Wasser, das jetzt ganz allein ihr gehörte, treiben bis sie wieder normal Luft bekam. Sie wagte aber nicht, dabei die Augen zu schließen, das macht man doch sicher, wenn man nackt in einem Privatpool abchillen will, oder?, weil die Toten sie dabei ansahen. Sie war genau zwischen den beiden toten Reiners und beide hatten das Gesicht zum Wasser gedreht, zu ihr.

Bloß raus hier, der Spaß kommt später.

An einer Stelle, von der sie annahm, dass sie von beiden Körpern möglichst weit weg war, zog sie sich am Rand hoch. Die beiden Reiners im Auge behaltend wrang sie sich das Wasser aus den Haaren. Ihre rotlackierten Fußnägel waren der einzige Farbtupfer in dem Raum.

Wie Blutspritzer.

Aus dem Wandregal neben der Poolbar nahm sie ein Handtuch und wollte sich abtrocknen. Aber es ging nicht. Sie konnte sich nicht abtrocknen, wenn die beiden Toten sie dabei anstarrten.

Sei nicht verrückt, Juttchen. Du warst mit den beiden Kalten nackt im Wasser und du hast sie angefasst und aus dem Wasser gewuchtet. Und jetzt bist du nicht pingelig, dich neben ihnen abzutrocknen.

Es ging erst, nachdem sie den beiden Handtücher auf die Gesichter gelegt hatte.

Siehst du, Juttchen, kein Problem.

Angezogen war sie deutlich besser drauf. Als Angezogene gegenüber Nackten fühlt man sich automatisch überlegen, dachte sie. Geschieht ihnen recht.

Ihre nassen Haare hingen auf dem T-Shirt, ein Wassertropfen lief ihren Rücken herab.

Was mache ich jetzt mit den beiden?

Ihr Atem ging jetzt wieder vollkommen normal. Gutes Zeichen.

Mit viel Besuch war nicht zu rechnen. Der Betrieb, das hatte Reiners immer betont, lief auch ohne ihn. Da wissen alle, was zu tun ist, das könn'se mir glauben, Jutta. Dafür zahl ich die ja schließlich. Der Becker regelt das alles, und den habe ich per Telefon im Griff, der hat ´ne eingebaute Fernsteuerung, ha ha!

Wie geht jetzt situative Kompetenz?

Sie legte sich das Handtuch um die Schultern, um das letzte Wasser aus ihren Haaren aufzufangen. Die Wasseroberfläche hatte sich wieder beruhigt, nichts plätscherte mehr und gurgelte im Überlauf. Die Lichtreflexe an der Decke wurden träge und langsam, es war totenstill.

Durch die offene Tür hörte sie ein fast unhörbares Klicken. Dann begann ein leises Summen.

Eine der Kühltruhen hatte sich eingeschaltet.

War das jetzt situative Kompetenz oder Zufall?

Ich stehe hier mit zwei Schweinehälften und nebenan stehen zwei große Kühltruhen. Zwei tote Menschenaffen. Affe tot, Klappe zu.

Die beiden Kühltruhen waren überdimensioniert für einen Zwei-Personen-Haushalt und nur mit einem Bodensatz bedeckt. Filet, Wildschweinkeule, zwei dick mit Reif bedeckte Tortenpakete von Coppenrath und Wiese, Frustfraß für die Gattin. Ein paar Würstchen, ein Paket mit Steaks und etwas, das tatsächlich so aussah wie selbstgepflückte Brombeeren.

Mir ist noch gar nicht aufgefallen, dass im Garten ein Brombeerstrauch steht. Aber in der Garage steht der Grill und Holzkohle ist auch noch da.

Eine Viertelstunde später tauten das Filet und die Würstchen in der Küche auf, der Rest war im Eisfach des Kühlschranks gelandet. Die Kühltruhen im Keller waren wieder voll und würden die nächsten Stunden ordentlich Strom fressen, bis sie hundertfünfzig Kilo poolwarmes Fleisch auf minus achtzehn Grad gebracht hatten.

Kapitel

Den Tisch räumten sie immer gemeinsam ab und stellten das Geschirr auf die Spüle vor den Fliesenspiegel, der alle zwei Tage geputzt wurde. Dabei hielt sie eines der beiden Holzbrettchen schief. Das Messer und ein paar Krümel fielen auf den Teppich. Rasch bückte sie sich, aber ein Stich in der Hüfte ließ sie vor Schmerz aufschreien. Sie klammerte sich an seinen Arm und beide strauchelten kurz.

„Meine Liebe, alles gut mit dir?“ wollte er wissen. „Ich habe dich ja festgehalten, es ist nichts passiert. Und da kann ich später gleich drüber saugen, dann ist es gleich wieder weg“.

Sie drückte seinen Arm. „Das ist gut. Bring mich mal zum Sofa.“

Die Kinder würden in ein paar Minuten da sein. Sie hatte ihnen den Weg beschrieben, denn sie waren bisher nie hier, hatten nie mitkommen wollen, Xbox und Bolzplatz waren ihnen wichtiger als der Arbeitsplatz der Mutter. Aber das Haus war ja nicht zu verfehlen.

Ein Haus mit einer großen Auffahrt, auf der man bis zur Tür fahren kann und zwei Säulen an der Tür. Werft die Fahrräder einfach in die Blumen.

Kevin konnte sicher auch den Namen Reiners an der Säule lesen, auch wenn die Messingschrift nicht für Kinder gemacht war.

Sie genoss die Stille im Haus. Und dass sie jetzt nicht hier arbeiten musste. Dieser Schampus schmeckte gar nicht schlecht, jetzt wo der Kühlschrank wieder funktionierte.

Mal sehen, was es im Haus noch zu entdecken gab. Bisher hatte sie ja immer nur aufgeräumt und eingeräumt , nie ausgeräumt. Und wenn ich mit den Kindern jetzt länger hier bleiben soll, dann hab ich wohl ein Recht, mich hier mal umzusehen. Bisher kenne ich nur ein bisschen, doch will ich alles wissen.

Mit dem Papierkram in seinem Büro kann ich nichts anfangen. Die echten Geheimnisse gibt es immer im Schlafzimmer, Klatschreporterin Jutta geht an die Arbeit. Und die Flasche Schampus kommt mit.

Bloß nicht fallen lassen auf der Marmortreppe, wer soll denn das aufwischen?

Oben angekommen und nichts verschüttet. Zur Belohnung gibts einen Schluck, Mann, das Zeugs kribbelt echt in der Nase.

Die Klamotten der Reiners passten ihr natürlich nicht, die Alte hatte mehr Arsch und weniger Titte als sie. Jutta stopft das Zeugs einfach in den Schrank zurück. Das würde sie Sack für Sack in den Rot-Kreuz-Container stopfen müssen, damit Platz für neue Sachen frei wird.

Die Schublade des einen Nachttischs stand halb offen. War doch jemand da gewesen? Vor ihr?

Es schien aber nichts zu fehlen, die insgesamt sieben Schmuckkästchen quollen geradezu über, drei Armbanduhren in Silber und Gold lagen auch drin. Sie nahm einen Schluck, wieso war die Flasche schon leer, und fing an zu sortieren und anzuprobieren.

Gold passte am besten zu ihr. Aber das richtige Gold, das echte. Bei dem man schon am Gewicht merkte, dass es richtiges und echtes Gold war. Und an der Farbe. Und weil es auf der Haut so angenehm warm wurde, ihre Wärme annahm und einfach so gut an ihr aussah.

Sie entschied sich schließlich für zwei fette Ohrringe, die aussahen wie LKW-Reifen oder Lenkräder. Genau der Unsinn, den ein fetter Spediteur wie Reiners einer Frau schenkt, wenn sie eh´ schon alles hat und ihn schlechtes Gewissen plagt. Und eine, nein zwei, dicke goldene Ketten dazu.

Mit Abstand der beste Entschluss in meinem Leben, die beiden Kalten auf dauerkalt zu stellen. Jetzt kann ich endlich etwas aus mir machen. Mein Leben 2.0 hat begonnen.

Das fremde Schlagzimmer drehte sich beim Aufstehen ein Stückchen. Aber das Gold klingelte beruhigend an ihren Handgelenken, an ihren Ohren und auf ihrer Brust und alles wurde gut. Aber irgendwie hatte sie noch nicht gefunden, was sie gesucht hatte, was es auch war. Sie hatte keine schmutzigen Geheimnisse entdeckt, nichts Aufregendes und nichts Verbotenes. Als Vergeltung wühlte sie auch die andere Seite der großen Schrankwand durch. Doch seine Unterhosen und Socken törnten sie nicht an, im Gegenteil. Was für ein Genuss, die frisch gebügelten Hemden zusammen zu knüllen! Schließlich hatte sie die Dinger ja auch glatt bügeln müssen, alle paar Tage wieder, da war das nur gerecht.

Wie gut, dass ich unten schon die nächste Flasche kaltgestellt habe.

Sie schloss den Schrank, warum eigentlich. Sie ließ ihn offen.

Sie drehte sich zur Zimmertür und sah sie im Frisierspiegel neben sich ein Gesicht.

Das Gesicht aus der Zeitung! Ein Gesicht ohne Körper, ein altes Gesicht, ohne Leben aber voller Kraft. Die Augen des alten Mannes waren geschlossen, trotzdem passte ihr sein Blick nicht. Sein Gesicht hatte in ihrem Spiegel nichts zu suchen!

Das Gesicht starrte sie weiter an, leblos und eindringlich. Sie konnte ihren Blick schließlich von den geschlossenen Augen des alten Mannes lösen und ihr fiel auf, dass an einem Ohr ein Stück fehlte, als wäre ein Dreieck aus dem Ohrläppchen herausgeschnitten worden. Es machte sie nervös, dass die beiden Ohren verschieden waren.

Es war das Gesicht, das sie in der Zeitung nicht wiedergefunden hatte, auch nach dem dritten und vierten Nachblättern nicht. Jutta verschloss ihre Augen vor diesem Gesicht und schüttelte diesen Blick ab. Das Gold klimperte aufgeregt und zog ihr die Ohren lang. Ein gutes Gefühl.

Das Gesicht, das jetzt verschwunden war. Nur ihr eigenes Gesicht im Spiegel, von Gold eingerahmt. Das Gold schaukelte hin und her, fand dann seine Ruhe. Trotzdem wurde ihr Bild im Spiegel nicht richtig scharf.

Wie gut, dass unten schon die nächste Flasche im Kühlschrank lag.

Außerdem musste sie nach dem Fleisch und dem Grill sehen, die Kinder waren bestimmt gleich da.

Kapitel

Er sah ihr ins Wohnzimmer hinterher , um sich davon zu überzeugen, dass sie gut am Sofa ankam und sich hinsetzte.

Das dauerte ein paar Augenblicke, dann ging es ihr gleich wieder gut. Dr. Änne hatte immer gesagt, sie sollte plötzliche Bewegungen vermeiden.

Aber es ist ihr halt wichtig, dass wir nicht im Dreck leben. Sie hatten zu Anfang oft darüber gescherzt, sie hält das Nest sauber und ich gehe auf die Jagd. Mit den Kindern im Haus ist das eine ganze Menge Arbeit für sie gewesen. Aber seit wir wieder zu zweit sind, geht uns die Hausarbeit gut von der Hand.

Beruhigt tauschte er die Hausschuhe gegen die Sandalen. Die Stofftasche mit dem braunen Fleck, wo damals die weichen Kirschen durchgesuppt hatten, nahm er aus dem Schrank im Flur und den Schlüssel vom Haken neben der Tür.

„Brauchen wir etwas außer der Reihe?“

Sie bemühte sich zu lächeln. „Denkst du an die Tabletten bei Dr. Änne?“

„Ja, das habe ich auf der Liste.“