Die Priesterin - Siebo Woydt - E-Book

Die Priesterin E-Book

Siebo Woydt

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gerade ist Hans Brenner mit seiner Gastwirtschaft „Brenner’s Welt“ im Örtchen Langhagen in der Mecklenburgischen Schweiz wieder aus den Schlagzeilen, nachdem er gemeinsam mit dem Dorfpolizisten Ronald Bratzke Drogenfunde und drei Morde in der Nähe der Gastwirtschaft aufgeklärt hat. Aber statt der ersehnten Ruhe und einem Restaurant voller zufriedener Gäste muss er sich plötzlich mit slawischen Ritualen beschäftigen, die nachts in der Gegend auf einem Acker abgehalten werden. Eine falsche Priesterin opfert Tiere und sammelt Anhänger um sich, der zweifelhafte Society-Fotograph Charlie Stanke aus Hamburg liefert Bilder davon. Brenners abergläubische Köchin Kathrin Dossow hat einen Verdacht und setzt slawische Gerichte auf die Speisekarte. Woher kommt diese Bonnie, die überraschend bei Brenner’s Welt auftaucht und alles durcheinander bringt? Und welche Rolle spielt der Professor mit den grauen Schläfen, der Cleo den Hof macht? Schließlich gibt es einen Toten und Cleo wird von der Priesterin entführt. Hat Brenner schnell genug die rettende Idee um zu verhindern, dass Cleo geopfert wird?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Siebo Woydt

Die Priesterin

Der zweite Fall für Langhagens besorgten Gastwirt

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Kapitel Eins

Schweiß lief über die Gesichter der beiden Männer an den Trommeln. Sie trommelten bereits seit einiger Zeit, ihr Tempo hatte sich immer mehr gesteigert. Mit geschlossenen Augen schlugen sie die Hände auf die gespannten Felle.

Er saß im Kreis mit den anderen um das große Feuer und sah auf seine ledernen Schuhe, die vom Dreck des Ackers beschmutzt waren. Der Mann neben ihm hatte Sandalen an, Erde steckte ihm zwischen den Zehen.

Leder, Wolle und Leinen, das war alles, was sie heute Nacht tragen durften. So hatte man es ihnen gesagt und so war es auch die letzten Male gewesen.

Die Speere lagen bereit.

Wenn die Trommeln ihren Höhepunkt erreichten, würde die Priesterin erscheinen.

Er sah sich um, alle anderen Männer im Kreis sahen ins Feuer oder hatten die Augen geschlossen. Die Magie der lauten Trommeln und die dunkle Nacht hüllten sie ein.

Die Priesterin erschien immer spät und näherte sich aus dem Dunkel über den Acker. Die Männer saßen in einer großen Senke des abgeernteten Feldes, die mehrere hundert Schritte durchmaß. So war ihr Feuer von weiter weg kaum zu sehen, nur die Funken, die ab und zu von den Aufwinden in den Nachthimmel getragen wurden, konnten sie verraten.

Bei seinem ersten Mal war ihm die Priesterin mit der Maske wie eine Traumgestalt erschienen. Sie kam zu Fuß über den Acker, in ein weißes Gewand gekleidet, lange blonde Haare quollen unter der Maske hervor und fielen auf ihren Rücken herab.

Sie hatte zu ihnen gesprochen, mit eine hellen und weit tragenden Stimme, die für ihn trotzdem voller Erde und auch voller Körper gewesen war. Er wusste nicht mehr, was sie gesagt hatte, aber sie hatte ihn erreicht. Zum Schluss hatte sie die Männer aufgefordert, sich zu erheben und im Kreis einmal um das Feuer zu gehen.

Beim zweiten Mal, vor fünf Nächten, hatte die Priesterin ein lebendes Huhn mitgebracht, das ehrfurchtsvoll an der Priesterin empor geschaut hatte. Am Ende ihrer Rede - er konnte die Worte nicht wiederholen - hatte sie das Huhn an den Füßen über das Feuer gehalten und ihm mit dem Bronzemesser mit einem schnellen Schlag den Kopf abgetrennt. Das Blut des zappelnden Huhns hatte sie in das Feuer gespritzt und schließlich den leblosen Körper des Tieres mit einem Ruf an die Götter in die Flammen fallen lassen. Die Priesterin hatte dabei den Kopf zurückgelegt und er hatte ihren schlanken weißen Hals sehen können.

Die Trommeln verstummten. Plötzlich hörte er nur noch das Knistern des Feuers. Der Wind drehte, Rauch stieg in seine Nase. Ein Mann rief etwas, zwei von ihnen rückten zur Seite und öffneten ihren Kreis nach außen.

Die Priesterin würde erscheinen.

Aus dem Dunkel erschien eine weiße Gestalt, die sich ihnen mit langsamen Schritten näherte. Bald konnte er die Maske mit den drei Gesichtern sehen, die die Priesterin trug.

Sie führte ein weißes Pferd an einer kurzen Leine.

Die Männer hielten den Atem an. Niemand sagte ein Wort. Das Feuer knisterte, ein Ast zerplatzte und ein kleiner Funkensturm fuhr hinauf in den Himmel.

Die Priesterin und das Pferd kamen näher.

Er kannte sich mit Pferden gut aus, er war mit ihnen groß geworden. Das Pferd ging mit gesenktem Kopf neben der Frau, aber die Ohren waren gespitzt.

Die Priesterin ging in einem langen weißen Umhang, an den Füßen trug sie lederne Sandalen, wie sie alle. Ihr weißes Oberteil aus Leinen hatte keine Verzierungen, ihre Arme waren nackt und ohne Schmuck. Das Pferd führte sie an einem Strick aus Hanf.

Noch zwei Männer machten Platz, um die Priesterin mit dem Pferd in ihre Mitte zu lassen. Hinter ihnen schloss sich der Kreis wieder.

Das Pferd sog die Luft durch große Nüstern ein. Die vielen Männer mit ihren Gerüchen und das große Feuer waren ihm fremd. Die Priesterin legte dem Pferd eine Hand auf den Hals, sofort beruhigte sich das Tier.

Sie ließ den Strick los und hob die nackten Arme in den Nachthimmel. Mit leiser Stimme begann sie die Beschwörungen zu rufen.

„Übervater des Dunklen, Gottvater der Nacht, Tschernebog, sei bei uns! Übervater des Hellen, Gottvater des Tages, Bielebog, sei bei uns!“

Die Männer bemühten sich, die Worte nachzusprechen.

„Svarog, Vater des Radegast, wir verehren deinen Sohn! Wir verehren Perun, den Gott des Gewitters, der uns mit Blitz und Donner befiehlt. Gott Triglav der Dreiköpfige, du bist bei uns und durch mich sprichst du.“

Sie senkte den Kopf mit der dreiköpfigen Maske, die Männer folgten ihrer Bewegung. Dann hob sie wieder den Kopf und breitete die nackten Arme weit aus.

„Und Svantovit, dein Zeichen ist das weiße Pferd, das über die Speere tritt und die Zukunft kennt.“

Das Ritual hatte begonnen.

Die Priesterin senkte die Arme und ging zweimal um das Feuer, bückte sich und hob die Speere auf, die für sie bereit lagen.

Sie ging ein weiteres Mal um das Feuer, legte alle zwei Schritte einen Speer zu Boden, so dass sie mit den Spitzen zum Feuer zeigten. Dabei sprach sie bei jedem Speer den Namen eines Gottes.

Er senkte den Blick und wollte sich auf die Beschwörungen konzentrieren, wollte die heiligen Worte leise mitsprechen. Aber er musste immer wieder den Kopf heben, um die Priesterin anzusehen. Mit jeder Strophe, mit jeder Zeile, wurde ihre Stimme lauter und sie sprach schneller. Die Zeilen verschwommen miteinander, es wurde ihm unmöglich, ihr zu folgen und die Worte mit seinen Lippen nachzuahmen. Er spürte sein Herz schneller schlagen und sein Atem ging in hektischen Stößen. Den Männern links und rechts von ihm ging es ebenso, niemand konnte den Blick von der Frau abwenden, die im Schein der Flammen um das Feuer ging. Nach der Umkreisung des Feuers griff sie nach dem Strick, der vom Halfter des Schimmels hing und führte das Pferd mit langsamen Schritten und vor sich hin murmelnd um das Feuer.

Die Männer folgten gebannt den Hufen des Pferdes, denn das Ritual würde nur erfolgreich sein, wenn das Tier die Speere beim Überschreiten nicht berührte.

Mit einem lauten Ruf an den Gott Radegast verstummte die Priesterin und blieb stehen. Nur das Atmen der Männer war zu hören, dann senkte die Frau ihre Arme, griff unter ihr Gewand und zog das Bronzemesser hervor. Sie drehte es einige Male in der Hand und ließ die Klinge im Feuerschein aufblitzen, dann trat sie an das Pferd und schnitt ihm mit einer ruckartigen Bewegung ihres Oberkörpers die Kehle durch.

Mit einem schmerzhaften Wiehern ging das Pferd in die Knie, versuchte wieder aufzustehen. Ein Schwall dicken roten Blutes spritzte aus den offenen Adern der großen Wunde. Die Hufe scheuerten am Ackerboden und warfen Erde auf die Männer und in das Feuer.

Der Todeskampf des Tieres dauerte nicht lange, die Priesterin stand unbewegt daneben, das verschmierte Messer in ihrer blutigen Hand und rezitierte leise die Formeln des Rituals.

„Radegast und Svantovit, ihr habt unser Opfer erhalten! Ihr habt es angenommen und wir sind in eurer Schuld! Schaut auf uns und seid uns gnädig!“

Keiner der Männer wagte es sich zu bewegen und keiner hätte in diesem Augenblick vermocht, aufzustehen oder zu sprechen.

„Das Blut ist das Leben und mit dem Blut unseres Opfers lebt eure Gnade und unsere Treue!“

Das Pferd lag still, sein Blut war in einer großen Lache auf dem Ackerboden zusammengelaufen. Die Priesterin kniete sich neben die Blutlache, legte das Messer zur Seite und tauchte beide Hände und die Unterarme in das Blut. Mit den blutigen Armen strich sie über ihre Oberschenkel und ihr Gewand. Dunkle Streifen des Blutes blieben auf dem Leinenstoff zurück.

Er konnte hören, wie sie unter der Maske noch immer die alten Worte sprach.

Dann riss sie plötzlich mit beiden Händen ihr Gewand auseinander und ließ es über die Schultern fallen.

Ihm stockte der Atem. Die Frau mit der dreiköpfigen Maske kniete mit nacktem Oberkörper neben dem toten Pferd und begann, immer noch leise murmelnd, sich mit dem Blut des Tieres die Arme, die Schultern und die Brüste einzutreiben. Dicke Tropfen des noch warmen Blutes sprenkelten ihre Haut.

Die im Feuer verbrannten Kräuter, der Geruch des Pferdeblutes und die Hitze der Flammen hatten seinen Kopf benebelt. Er war unfähig, einen Gedanken zu fassen oder aufzustehen. Mit trockenem Mund beobachtete er die halbnackte Frau, deren blutbeschmierter Körper im Schein der Flammen glänzte.

Schließlich senkte die Frau den Kopf, den sie bei dieser Zeremonie in den Nacken gelegt hatte, nach vorne. Ihre blonden Haare fielen auf die blutigen Schultern und Arme.

Mit einer geschmeidigen Bewegung stand sie auf, bückte sich nach dem Messer und verließ wortlos den Kreis der Männer.

Die Männer standen nicht auf, um ihr Platz zu machen, sie stieg einfach über einen von ihnen hinweg.

Mit noch rasendem Herzen sah er zu, wie die halbnackte Gestalt, mit Blut und Erde beschmiert, langsam über das Feld von ihnen weg ging. Noch einige Male sah er die Klinge des Messers im Schein des Feuers aufblitzen.

Dann hatte Mutter Erde die Priesterin wieder verschluckt.

Auf der anderen Seite des Hügels lag ein Mann auf dem Boden. Mit dem Teleobjektiv hielt er jedes Detail fest, der Auslöser seiner Kamera klickte unaufhörlich.

Kapitel Zwei

Zwei Tage früher.

Im ersten Stock seiner Gastwirtschaft erwachte Brenner. Er hatte sehr tief geschlafen und musste für zwei Augenblicke überlegen, welcher Wochentag heute war.

Er hatte geschwitzt, denn er hatte schlecht geträumt. Irgendetwas mit Polizei und mit Kaffee.

Dann fiel ihm das letzte Telefonat von gestern Abend ein. Polizeihauptmeister Bratzke war bei Brenner’s Welt angerufen worden und hatte Brenner dann gebeten, heute Morgen gleich mit ihm los zu fahren. Da sei etwas, das müsse er sich mit ansehen.

Brenner sah zur Seite. Unter dem Deckenberg in der anderen Hälfte des Bettes sahen ein paar lange rote Haare hervor, am anderen Ende ein schlankes Bein. Seine Frau Cleo schlief noch ruhig und fest. Er wurde eigentlich immer vor ihr wach.

Brenner mochte diese frühen Augenblicke, in denen er den ganzen Gastraum und fast das ganze Gebäude für sich alleine hatte. Er hatte sich in den letzten Jahren, in denen er nach der Wiedereröffnung von Brenner#s Welt das Schlimmste hinter sich hatte, zu einem Frühaufsteher entwickelt. Cleo war dagegen die gleiche Langschläferin wie früher, schaffte es aber immer pünktlich, zum Frühstück oder aller spätestens beim Eintreffen der ersten Mitarbeiter auch unten zu sein.

Leise, um sie nicht zu wecken, stand er auf und ging ins Badezimmer.

Nach ein paar Minuten mit einer schnellen Rasur und einer schnellen Dusche schlich er angezogen die Holztreppe herunter. Er wusste nach den vielen Jahren genau, auf welche Stelle welcher Stufe er treten durfte, ohne Cleo mit dem Knarren des alten Holzes vielleicht doch aufzuwecken.

Die ersten Sonnenstrahlen krochen gerade durch die Fenster herein und tauchten den Gastraum von Brenners Welt in warmes Licht.

Die Stühle standen eng an den Tischen, die Speisekarten lagen sauber gestapelt auf der kleinen Anrichte und das Besteck, das am Abend vorher noch gespült worden war, lag griffbereit in den Holzkästen.

Jedes Mal bei diesem Anblick fragte er sich, ob sich hier eigentlich viel verändert hatte. Die Gastwirtschaft „Brenner’s Welt“ war von seinem Großvater eröffnet worden, der sie aber nach dem Krieg schließen musste. Er hatte sich geweigert, daraus die ‚Gaststätte der Kiesarbeiter‘ zu machen. Das Kieswerk war viele Jahrzehnte der größte Arbeitgeber in Langhagen und die Bezirksverwaltung der Partei hatte beschlossen, dass Brenner’s Welt enteignet und dem Kieswerk zugeordnet werden sollte. Die Großmutter, die bis dahin alle Gäste mit ihrer Kochkunst begeistert hatte, nahm eine Stelle als Küchenhilfe in der LPG an. Brenners Eltern hatten nie Interesse daran gehabt, die Gastwirtschaft wieder zu öffnen, sein Vater war stattdessen Ingenieur geworden, das hatte sich zunächst auch bei Hans Brenner fortgesetzt. Im Studium hatte er aber gemerkt, dass er sich als Ingenieur nicht wohl fühlen würde, hatte sein Geld zusammengekratzt, mit der Bank gesprochen und daraufhin das alte Gebäude renoviert und nach viel Eigenleistung, Schweiß und Zweifeln dann schließlich neu eröffnet.

Es ist nur ein kleines Dach unter einem großen Himmel, dachte Brenner. Aber es ist unser Zuhause.

Seit ein paar Monaten waren die Mahnungen der Handwerker und Lieferanten ausgeblieben, Brenner’s Welt hatte sich wirtschaftlich einigermaßen bewährt, war aber noch weit davon entfernt, wirklich auskömmlich zu sein.

Ein baulicher Nachteil des alten Gebäudes war, dass die Holztreppe zu ihrer Wohnung gleich unten im Gastraum endete. Normalerweise wurde das von den Gästen respektiert.

Das bedeutete aber auch, dass der Krach der großen Kaffeemaschine, seit einiger Zeit der ganze Stolz des Hauses hinter dem alten Tresen, ungehindert die Treppe hinauf bis in die Wohnung dringen würde. Bisher war das immer gut gegangen, ohne dass er Cleo damit geweckt hätte. Genau wie er sich eine Nacht ohne seine Frau nicht vorstellen konnte, konnte er sich einen Morgen ohne den ersten Espresso aus der großen Maschine auch nicht mehr vorstellen.

Leider war das an vielen arbeitsreichen Tagen auch sein einziger Luxus, bis er abends wieder in Cleos Arme fallen konnte.

Die Maschine wärmte gerade auf, da sah Brenner draußen vor der Tür einen Mann mit einer Pistole.

Der ist aber früh dran heute. Muss ja echt etwas Wichtiges sein.

Er holte den Schlüsselbund aus der Schublade und schloss auf.

Der füllige Polizist vom Polizeirevier Lalendorf stand in Uniform vor ihm, die Mütze in der Hand.

„Morgen Brenner“.

„Morgen Bratzke“.

Sie waren seit längerer Zeit so etwas wie Freunde. Da Hans Brenner aus unerfindlichen Gründen von allen nur Brenner genannt wurde, auch von seiner geliebten Cleo, war das irgendwie auch auf Polizeihauptmeister Ronald Bratzke übergegangen.

„Willst einen Kaffee?“ Brenner zog die Tür vollständig auf.

Bratzkes Augen strahlten. Brenner wusste, dass Bratzke sehr gerne einen Kaffee bei ihnen nahm, noch lieber waren ihm aber die Süßigkeiten und Nachtische, die seine Köchin Kathrin in der Küche der Gastwirtschaft zubereitete und von denen eigentlich immer irgendwelche Reste da waren, die für die Speisekarte nicht mehr reichten, wenn Bratzke auftauchte. Kathrin wusste von der süßen Leidenschaft ihres ehemaligen Schulkameraden, sie hatten sich nach vielen Jahren über Brenner wieder getroffen.

Der Polizist trat herein, seine schweren Schuhe trafen das alte Holz.

Der Fußboden war so alt wie das Haus und hatte auch die Jahrzehnte des Leerstandes erstaunlich gut überstanden. Aber nur viel Arbeit hatte ihn wieder vorzeigbar gemacht.

Sein Großvater hatte es damals geschafft, die kleine Gastwirtschaft in Langhagen in der Mecklenburgischen Schweiz weithin bekannt zu machen. Mit Kutschen und auch mit den ersten Autos der Gegend waren die Leute aus Güstrow, Krakow am See und auch Teterow gerne am Wochenende zu Brenner’s Welt gefahren. Das war ein beliebter Ausflugsort für Familien und hatte schließlich auch einige erste Touristen angezogen.

Am Rande von Langhagen fingen gleich hinter dem Zaun von Brenner's Welt weite Felder und Wiesen an. Die Gäste freuten sich immer, wenn sie sogar am hellen Tag auf diesen Wiesen ein paar Rehe beobachten konnten, die sich aus den Wäldern der Gegend dort einstellten. Auch Brenner hatte als Jäger immer diese Rehe im Blick, obwohl sein Revier, das er sich mit Mike Barleben aus Teterow teilte, sich nicht auf diese Flächen vor der Haustür erstreckte.

Die Gäste, die oft genug per Fahrrad aus Krakow am See oder aus Teterow kamen, genossen den Blick aus dem Außenbereich - Brenner konnte sich nie durchringen, dazu Biergarten zu sagen - auf die Wiesen und die weit gestreckten Hügel. Das galt besonders für die Touristen, die von der Gegend und von der Weite dieses Landstrichs begeistert waren. Da lag Brenner’s Welt mit der bekannt guten Küche genau richtig auf ihren Fahrradtouren, um hier Station zu machen.

Ob es damals auch so ausgesehen hat? Brenner war nicht sicher, denn es gab von der Gastwirtschaft seines Großvaters kaum Erzählungen und schon gar keine Fotos oder etwas ähnliches. Er hatte zwar zur Eröffnung von Nachbarn aus dem Dorf ein paar alte Bilder und Postkarten erhalten, wie Brenner’s Welt früher von außen ausgesehen hatte, aber es gab weder Pläne noch Fotos vom Inneren. Er hoffte, dass er bei seiner Renovierung - eigentlich müsste er von Sanierung sprechen - gegenüber dem alten Aussehen des Gastraums nicht viel verändert hatte. Die Dielen hatte er mühsam retten können und auch die Wände und Decke waren neu verputzt und gestrichen, aber nicht grundsätzlich verändert. Er hatte keine Mauern herausgerissen oder ähnliche bauliche Eingriffe gemacht, was aber auch daran lag, dass es keinerlei statische Zeichnungen vom Gebäude gab und er kein Geld gehabt hatte, über einen Statiker das Versetzen von Wänden berechnen zu lassen. Es war ohnehin teuer und anstrengend genug gewesen, das Gebäude, das einige Jahrzehnte komplett leer gestanden hatte, wieder vorzeigbar zu machen.

Heute war er ziemlich sicher, dass zumindest der Gastraum mit dem Holzfußboden, den Tischen und den alten Bildern an der Wand doch recht nah an dem Original sein müsste. Die größten Veränderungen waren ohnehin in der Küche passiert, dort war neue Technik und vor allem jede Menge neue Elektrik notwendig gewesen.

Er hatte seinen Großvater nie kennengelernt, daher konnte er sich von ihm jetzt auch keine Meinung oder gar Anerkennung holen. Auch seine Eltern lebten nicht mehr.

In den letzten Jahren hatte sich die Zahl der Stammgäste aus dem Ort, obwohl sie noch immer überschaubar war, eingependelt und die Leute aus dem Dorf sagten immer, die Gastwirtschaft würde zum Ort passen und man könne sich hier richtig wohlfühlen. Das war eigentlich das größte Lob, das Brenner mit der Renovierung und Wiedereröffnung hatte erzielen können.

In den letzten Monaten der Renovierung, er war noch im verschmierten Overall und mit Resten von Fliesenkleber an den Händen und in den Haaren herumgelaufen und hatte im Schlafsack neben Zementsäcken übernachtete, kam Cleo das erste Mal nach Langhagen. Sie hatte gerade ihren Job als Model in Hamburg und eine Beziehung mit einem Banker an den Nagel gehängt und wollte der Stadt nur noch den Rücken kehren. Sie hatte versucht, einen Wanderführer über die Mecklenburgische Schweiz zu schreiben und war auf der Suche nach schönen Orten und interessanten Menschen per Zufall auch nach Langhagen gekommen. Dieser dunkelhaarige Mann, der in einer Baustelle wohnte und dessen Augen leuchteten bei seiner Beschreibung, wie es einmal aussehen sollte, hatte ihr Herz sofort erobert. Nach wenigen weiteren Besuchen war sie mit ihrem Fiat und einem Umzugswagen im Schlepptau wiedergekommen und bei Brenner eingezogen.

Er hatte damals schon eines der beiden übrig gebliebenen Gästezimmer im Obergeschoss für diese atemberaubende Frau vorbereitet und dafür seinen Renovierungsplan geändert. Dieses Gästezimmer hatte sie aber nie benutzt, sondern war gleich richtig bei ihm eingezogen.

Sie hatten es beide nie bereut, auch wenn die ersten Jahre mit den vielen Rechnungen und dem dauernden Kampf, die Gastwirtschaft zu etablieren und bekannt zu machen, sehr anstrengend gewesen waren. Mitten in dieser Anstrengung hatten sie dann beschlossen, zu heiraten. Sie hatten sich gesagt, wenn wir das alles zusammen aushalten, dann halten wir alles zusammen aus.

Schnell war Cleo mit ihrem freundlichen Wesen und ihrem auffälligen Äußeren zu einer Attraktion in der Gastwirtschaft geworden und hatte dazu beigetragen, nicht nur Dorfbewohner als neugierige Gäste zu gewinnen, sondern auch erste Stammgäste von außerhalb zu überzeugen.

Brenner konnte es ab und zu noch immer nicht glauben, dass so eine atemberaubend schöne Frau mit leuchtend roten Haaren ausgerechnet bei ihm in Langhagen hängen geblieben war und sein Leben teilte. Und er sah immer sehr ungern, wenn andere Männer diesen Eindruck von Cleo zu teilen schienen.

Die Maschine erwachte mit einem Brummen und Gurgeln, dann entwich ein kleines Fähnchen heißer Dampf aus einem Ventil.

Auf und neben dem großen zusammengeschobenen Tisch in der Ecke stand noch die ganze Unordnung von gestern Abend, da hatten sie mit einem spontanen Resteessen die Aufklärung und damit auch den Abschluss eines Drogenfundes von drei Morden gefeiert. Jetzt würde seine Gastwirtschaft endlich aus den Schlagzeilen kommen und das Geschäft konnte endlich normal weiter gehen.

Er sah zu den leer gegessenen Tellern und Schüsseln herüber, die neben eingetrockneten Biergläsern und heruntergebrannten Kerzen standen und seufzte leise. Aufräumen würde er später, erst musste er Bratzke den Gefallen tun und mit ihm losfahren. Der war gestern Abend ebenfalls dabei gewesen und jetzt auch schon wieder unterwegs.

Brenner ließ den Polizisten sich einen Tisch aussuchen und stellte dann zwei Tassen aus dickwandigem Porzellan unter die Kaffeemaschine. Mit Vorfreude drückte er die Knöpfe für zwei Tassen starken Caffee Crema, dann ging er rasch durch die Pendeltür in die Küche und suchte im Kühlschrank etwas für ein kurzes Frühstück. Er selbst brauchte neben einem Espresso oder einem großen starken Kaffee eigentlich nicht viel, aber sicher gab es noch etwas, mit dem er Bratzke eine Freude machen konnte.

Und tatsächlich fand er noch zwei von den Apfelkrapfen, die Kathrin neulich gemacht hatte.

Er legte sie auf einen kleinen Teller und ging damit zu Bratzke zurück.

„Sind die ok? Sind nicht mehr ganz frisch, glaube ich.“

Bratzke setzte sich aufrecht. „Die sind doch erst von gestern! Alles prima“ Und streckte die Hand aus. „Die sind Kathrin echt gut gelungen“, sagte er kauend. „Jetzt genau richtig!“

In einer halben Stunde würde Kathrin da sein, seine Köchin, die Brenners Welt seit der Wiedereröffnung unterstützte. Kathrin wohnte nicht weit entfernt in Dersentin, sie musste mit ihrem alten grünen Audi nur etwa vier Kilometer fahren, um jeden Morgen die Küche der Gastwirtschaft zu übernehmen. Kathrin anzuheuern war eine der besten Entscheidungen seines Lebens gewesen, denn mit ihrer bodenständigen Mecklenburger Küche und der Gabe, aus vorhandenen Zutaten etwas Tolles zu zaubern und den Gästen in großen Portionen zu servieren, hatte Brenner’s Welt sich rasch einen guten Ruf erobert. Dabei war Kathrin eine waschechte Mecklenburgerin, schwörte auf regionale Zutaten und sorgte dafür, dass Brenner sich um Entscheidungen hinsichtlich der Speisekarte und des Betriebs in der Küche keine Gedanken machen musste. Da waren ihre leidenschaftlichen Ausflüge in den Mecklenburgischen Aberglauben mit etwas Humor und vor allem mit Geduld sehr gut ertragbar.

Neulich hatte ihre Saisonaushilfe Karli beim Aufräumen einen Salzstreuer fallen lassen und einige Salzkörner waren auf dem Tisch liegen geblieben. Kathrin hatte kommentiert, dass man für jedes Salzkorn, das man umkommen ließe, eine Stunde länger vor dem Himmel warten oder einen Tag in der Hölle sitzen müsse.

Nach kurzer Zeit, in der sie schweigend den Kaffee tranken und Bratzke seine Apfelkrapfen gegessen hatte, stellten sie die leeren Tassen hinter den Tresen und verließen leise das Haus. Brenner schrieb einen kurzen Zettel für Cleo und schloss hinter sich ab.

Sie gingen zum Streifenwagen, den Bratzke bereits in Richtung der Ausfahrt geparkt hatte.

„Wo fahren wir eigentlich hin? Was ist denn dort so wichtiges?“

„Der Anruf gestern Abend, der hier rein kam.“ Bratzke stoppte.

Brenner nickte. „Du hast nur kurz was von Feuer und Knochen gesagt.“

„Ich wollte die Stimmung nicht verderben. Außerdem schien es gestern nicht dringend zu sein.“

Trotzdem war Bratzke nach dem Anruf gleich nach Hause gefahren, auch nach zwei Bier. Eigentlich war ja längst verabredet gewesen, dass er in einem der Gästezimmer übernachten sollte, damit er nicht mehr fahren musste. Das mit dem Anruf musste also doch irgendwie dringend gewesen sein.

„Und?“

„Gestern Abend ging es nur darum, dass jemand auf einem abgeernteten Acker von weitem ein Feuer gesehen haben wollte. Habe erst gar nicht verstanden, warum er bei mir anrief und nicht bei der Feuerwehr. Vielleicht hatte er sich nur verwählt. Von Knochen war auch die Rede. Da wollte ich mir das dann doch ansehen. Nicht, dass es tatsächlich ein Feuer gibt und sich das ausbreitet.“

Brenner nickte wieder. Nach der Trockenheit der letzten Jahre und den vielen Ackerbränden war auf jeden Fall Vorsicht geboten.

„Gestern Abend war aber nichts zu sehen“, fuhr Bratzke fort. „Da war kein Feuer, auch kein Lichtschein. Ich bin das Feld einmal abgefahren, aber da war nichts. Und heute Morgen kommt dann ein neuer Anruf, hat mich aus dem Schlaf gerissen. Der Landwirt hat auf seinem Acker eine Feuerstelle gefunden, und war natürlich aufgeregt über diesen Landfriedensbruch. Frische Knochen, hat er gesagt. Und er würde auf jeden Fall ins Revier kommen, um Anzeige zu erstatten, so bald wie möglich.“

„Und warum muss ich dafür so früh aufstehen?“ fragte Brenner zu Bratzke herüber. „Schließlich ist von gestern Abend noch viel aufzuräumen, bevor die Gäste kommen.“

„Ich will ja nicht gleich die KTU aus Güstrow alarmieren, nur weil eventuell betrunkene Jugendliche auf einem Acker ein Feuer gemacht haben. Hab mir gedacht, dass dich das vielleicht interessiert.“

Brenner murmelte etwas, dass Bratzke nicht verstehen sollte. Er würde jetzt lieber mit Cleo zusammen aufwachen oder unten im Gastraum schon mal klar Schiff machen, damit alles wieder vorzeigbar wurde. Es gab ja keine Verbrechen mehr, die seine Gäste fern halten konnten. Mit Bratzke über einen Acker zu laufen, um sich die Reste eines Lagerfeuerchens anzusehen, stand da nicht hoch im Kurs.

Bratzke hatte den Streifenwagen bei der Ausfahrt rechts gelenkt in Richtung Dersentin, sie folgten der schmalen Straße durch die Obstbäume entlang der Eisenbahnlinie. Rechts von ihnen sah Brenner große Felder auf sanften Hügeln, kein Feldweg ging hindurch. Am Horizont konnte er den Kirchturm des Örtchens Klaber sehen. Zwei Bussarde zogen über dem weiten Land ihre Kreise. In seiner Blickrichtung gab es außer dem weit entfernten Kirchturm keine Zeichen von Besiedlung, das war alles freies Feld, von ein paar waldigen Stellen durchbrochen.

Der Schwung der Hügel und die Weite des Landes hatten auch nach Jahren noch immer eine beruhigende Wirkung auf ihn.

Hier konnte man atmen, hier hatte man Platz.

Diese Strecke fuhren sie ab und zu mit den Fahrrädern, dann war man noch näher dran.

Ihre Fahrradstrecke führte sie den Anstieg zur Bahnbrücke hinauf, hundert Meter anstrengendes Kopfsteinpflaster, und dann beim Gutshaus Dersentin vorbei in die Obstbaumallee.

Bratzke fuhr aber nicht in Richtung Dersentin, von wo aus er den Weg in sein Polizeirevier nach Lalendorf hätte fortsetzen können, sondern bog bei der kleinen Ruine nach rechts ab in Richtung Mamerow. Schließlich hielt er auf freier Strecke an.

„Hier muss es irgendwo sein.“ Bratzke stieg aus. Er zog die Uniformjacke aus und warf sie auf den Rücksitz. „Wird warm heute“.

Brenner, der zum Aufräumen ohnehin nur eines seiner alten Polohemden angezogen hatte, sah ungerührt zu. Bratzke verschloss den Streifenwagen und stapfte los auf den Acker.

Brenner folgte ihm notgedrungen.

„Haben wir denn keine genaue Richtung? Irgend eine Ahnung, wo dieses Feuer gewesen sein soll?“

Bratzke machte eine unverbindliche Bewegung mit dem rechten Arm. „Da vorne irgendwo“.

Der Acker war trocken und einigermaßen eben. Schnell hatte sich eine dicke Schicht Staub auf Brenners Schuhe abgesetzt, auch die Hose würde er wieder umziehen müssen, bevor er die ersten Gäste begrüßte.

Das fängt ja gut an.

Schnaufend erreichte der Polizist ein paar Schritte vor ihm den Gipfel einer kleinen Anhöhe und blieb stehen. Die Sonne stand noch tief und und schien ihnen entgegen, er legte die flache Hand vor die Augen, um besser sehen zu können.

„Da vorne ist etwas. Da unten.“

Brenner schloss zu seinem Freund auf und blickte den Hügel herunter.

Tatsächlich war dort unten, in der Mitte einer Senke, ein dunkler Fleck auf dem Acker zu sehen, der sich von dem staubigen Boden und den Pflanzenresten abhob, die nach der Ernte liegen geblieben waren.

Bratzke vergewisserte sich mit einem Schulterblick, dass Brenner ihm folgte, und stapfte dann tapfer den Hügel abwärts.

Bald standen sie vor den Resten eines Lagerfeuers.

„Kein großes Ding“, sagte Brenner.

Dann sah er die Knochen.

Die Feuerstelle war etwa einen Meter im Durchmesser und um sie herum war der Boden für etwa einen weiteren Meter in allen Richtungen dunkel und mit Ascheresten bedeckt. In der Mitte der Feuerstelle lagen ein paar verkohlte Äste, dazwischen lagen Knochen und einige halbverbrannte Federn.

„Sieht aus wie ein Hühnchen“. Polizist Bratzke schob sich die Uniformmütze in den Nacken.

„Dann sind aber nicht alle satt geworden.“

„Wie meinst du das?“

Der Boden um das Feuer war von vielen Fußabdrücken gezeichnet. Brenner machte eine Handbewegung. “Hier waren doch mindestens zehn Mann am Feuer. Schau dir doch die vielen Fußspuren an. Die können unmöglich alle von einem einzigen Huhn satt geworden sein.“

„Die sind ja ziemlich durcheinander gelaufen.“ Bratzke ging ein paar Mal hin und her und sah dabei auf den Boden.

„Waren aber komische Schuhe, kein einziges Profil zu erkennen. Als ob die nur flache Sandalen angehabt hätten. Den Abdruck eines nackten Fußes kann ich aber auch nicht finden.“

Brenner fiel auf, was noch alles fehlte. „Und hier ist keine einzige Zigarettenkippe, keine Kronkorken, keine Bierdose, keine Plastikgabel. Komische Party.“

Er sah den Polizisten an, der noch immer mit gesenktem Kopf um die Feuerstelle herumging.

„Was machen wir jetzt daraus?“

Bratzke zuckte mit den Schultern. „Ich habe schon einen ganzen Ordner mit solchen Kleinigkeiten. Brandstiftung nein. Landfriedensbruch wahrscheinlich ja. Sachbeschädigung wohl nein. Tierquälerei nicht sicher, vielleicht war das Huhn schon tot. Oder sogar tiefgefroren.“ Er steckte die Hände in die Taschen. „Ich schreibe das zusammen und hefte das ab. Natürlich kriegt der Landwirt noch einen Dank, wie wichtig sein Hinweis war. Aber wieso hat der sich über ein paar Hühnchenknochen so aufgeregt? Der muss doch auch gesehen haben, dass das nichts Ernstes sein kann. Viel ist da wohl nicht draus zu machen. Ein Streich dummer Jungs. Dafür hätten wir nicht rausfahren müssen.“ Er wandte sich ab. „Komm, ich bring dich nach Hause.“

Brenner wollte es nicht laut sagen, aber bei dem Gedanken an ein gegrilltes Hühnchen hatte er nun doch Appetit auf ein richtiges Frühstück bekommen.

Kapitel Drei

Bratzke hatte Brenner an der Einfahrt zur Gastwirtschaft abgesetzt und war dann gleich in Richtung seines Reviers nach Lalendorf zurückgefahren. Brenner hatte dem Polizeiwagen noch nachgesehen, bis er auf der hügeligen Landstraße in Richtung Dersentin verschwunden war, bevor er über den Kies und den kleinen Parkplatz zum Gebäude ging.

Sein Freund, oder wie auch immer man ihre Beziehung nennen wollte, war zunächst einer der Verlierer der Wende gewesen. Er hatte eine Karriere in der Volkspolizei vor sich gehabt, die durch den Mauerfall abrupt beendet wurde. Nur mit Mühe hatte Bratzke sich damals um einen Job bei der neu strukturierten Polizei bewerben und im Auswahlverfahren durchsetzen können. Die Widerstände im neu besetzten Innenministerium waren groß.

Dabei war alles schon für ihn vorbereitet gewesen. Frühestmöglicher Eintritt in die FDJ, das Parteibuch schon griffbereit, und seine Eltern hatten alle Beziehungen spielen lassen, um ihrem Sohn den guten Job bei der Volkspolizei zu besorgen.

Nach der Wende war Bratzke dann genau wegen dieser guten Beziehungen und seiner Vorgeschichte für die neue Behörde sehr suspekt gewesen, letztendlich war es sein Auftreten und auch seine fachliche Erfahrung, die für seine Übernahme gesprochen hatten. Nun war er Polizeihauptmeister und Revierleiter in Lalendorf und wusste, dass er es in den Jahren bis zur Rente auch nicht weiter bringen würde. Damit hatte er sich arrangiert und kümmerte sich sehr ernsthaft und pflichtbewusst um seine Aufgaben in dem gebietsmäßig großen Revier.

Die nähere Bekanntschaft und das heutige gute Verhältnis zu Brenner war entstanden, nachdem sie sich vor einigen Jahren bei einem tot aufgefundenen Musiker begegnet waren. Damals hatte Brenner mit seinen Überlegungen geholfen, den Tathergang zu rekonstruieren und den wirklichen Täter ausfindig zu machen. Und in jüngster Vergangenheit - es kam Brenner vor, als sei es gerade gestern gewesen - hatten sie gemeinsam drei Todesfälle in der Gegend gelöst, die mit einem Drogenschmuggel von Berlin nach Dänemark zu tun hatten.

Brenner war sehr froh, dass nun alles abgeschlossen war und vor allem, dass seine Gastwirtschaft jetzt wieder aus den Schlagzeilen heraus kommen würde. Das konnte er in seinen ersten Jahren als Gastwirt nun überhaupt nicht brauchen, dass seine Gaststätte wegen Drogendelikten oder sogar wegen Leichen vor der Tür in der Zeitung stand.

Er fand die Tür zur Gastwirtschaft offen stehend, aber Kathrins Auto war noch nicht zu sehen.

Cleo lief mit einem großen Tablett voll schmutzigen Geschirrs in Richtung Küche. Sie trug Jeans, eine weite Bluse und hatte die Haare am Nacken zusammengebunden. Er beeilte sich, um ihr die Pendeltür aufzuhalten und ihr im Vorbeigehen einen Kuss zu geben. „Das musst du doch nicht alleine machen!“

Sie lachte. „Muss doch fertig werden. Wir haben ja gestern keine Rücksicht genommen. Vorsicht, ich habe noch nicht geduscht.“

Das war richtig. Auf den zusammengeschobenen Tischen, an denen sie gestern Abend spontan die Festnahme der Drogendealer gefeiert hatten, stand noch immer ein Durcheinander aus Tellern, halb vollen und leeren Gläsern und leeren Schüsseln.

„Das machen wir dann gleich zusammen.“

Rasch nahm er sich auch eines der großen Tabletts, räumte es voll und packte den Inhalt in die große Spülmaschine, während Cleo draußen den Rest auf ihr Tablett stapelte. Mit drei Tabletts war die Maschine gut gefüllt und er schaltete sie an. Cleo war schon mit einem Eimer und einem Tuch draußen und zog erstmal die Tische wieder auseinander, damit sie besser abwischen konnte.

Schon nach einer Viertelstunde waren alle Spuren des Abends beseitigt und der Gastraum wieder vorzeigbar.

„Wir haben halt Übung“, freute er sich und folgte ihr dann nach oben für eine gemeinsame Dusche.

Kapitel Vier

Der Ansturm des Tages war für heute vorbei. Es war später Nachmittag, die meisten Gäste waren schon wieder gefahren. Die Tafel neben dem Eingang zur Gastwirtschaft, auf der Kathrin immer die Tagesgerichte aufschrieb, war leergewischt, weil alles ausverkauft war.

Kathrin hatte heute Damhirsch mit Kartoffelbuletten und Kraut gemacht, den Hirsch hatten Brenner und Mike in ihrem Revier selbst geschossen. Falls jemand nicht gerne Wild aß, hatte sie als Alternative Stampfkartoffeln mit Speckstip und Spiegelei angeboten. Es war ein guter Tag für Brenner’s Welt, Brenner freute sich vor allem, er so ruhig verlaufen war. Aber wie so oft blieb für ihn wohl nichts vom guten Essen übrig.

Er hatte zwischendurch kaum Zeit gehabt, Cleo von dem kurzen Ausflug mit Bratzke auf den Acker zu erzählen.

Seine Frau stand mit aufgestützten Ellenbogen am Tresen und schaute mit gesenktem Kopf in den Nordkurier, den sie jetzt erst hatte öffnen können.

Sie hatte aber noch ihre Schuhe an, also war für sie noch nicht Schluss. Seit langer Zeit hatten sie das Ritual, abends nachdem sie die letzten Gäste verabschiedet und die Gastwirtschaft geschlossen hatten, am Tresen auf Socken ein Feierabendbier zu nehmen.

„Guck mal, Brenner“ winkte sie ihn heran, ohne den Blick von der Zeitung zu nehmen. „Bei Susanne und Markus in Hallalit findet eine Gemälde-Ausstellung statt. ‚Mecklenburger Impressionen‘ steht hier. Die beiden haben wir lange nicht gesehen.“

Er war nur halb bei der Sache. „Was für eine Ausstellung?“

„Hier steht nur, dass ein Industrieller aus Berlin seine Gemälde im Gutshaus Hallalit zeigen will, so eine Art Leihgabe. Die Gemälde befinden sich anscheinend auf einer kurzen Rundreise durch ganz Mecklenburg, damit sie der Öffentlichkeit gezeigt werden. Leihgaben aus Museen sind auch dabei, auch aus dem Ausland. Bei uns im Landkreis ist Hallalit ausgesucht worden.“

Brenner konnte verstehen, warum Cleo dieser Artikel aufgefallen war. Sie malte selbst ab und zu und hatte sich mit ihren Bildern mehrfach bei Ausstellungen beworben, auch wenn sie erst beim letzten Mal die Zusage bekommen hatte, dass ein Bild von ihr auch wirklich gezeigt würde. Jetzt war sie bestimmt erfreut, dass eine Gemälde-Ausstellung so nah bei ihnen stattfinden würde.

Susanne und Markus vom Gutshaus in Hallalit hatten sie vor einiger Zeit kennengelernt, daraus war eine lose Freundschaft entstanden. Die Besitzer des Gutshauses wohnten in Berlin und hatten die beiden mit der Verwaltung beauftragt. Anscheinend gehörte jetzt auch dazu, eine Gemälde-Ausstellung zu organisieren.

Mit etwas Glück würde das sogar neue Gäste für Brenner’s Welt bedeuten. Er musste unbedingt darauf achten, beim nächsten Besuch in Hallalit, der jetzt sicherlich kurz bevorstand, einige seiner Flyer mitzunehmen und dort auslegen zu lassen.

„Und was für Gemälde?“

Cleo Augen flogen über den Artikel. “Die scheinen von mehreren Malern zu sein, haben aber alle Mecklenburg oder die Ostsee als Motiv. Das ist wohl der gemeinsame Nenner für diese Ausstellung. Dann passt es ja bei uns wunderbar hin. Hier steht auch, dass die Gemälde teilweise wirklich wertvoll sind, sie würden für die Ausstellung hoch versichert. Vier Werke von Caspar David Friedrich sind auch dabei!“ Brenner konnte ihre Begeisterung hören. „Da steht sogar was von Straßensperren. Und, dass mehrere Versicherungsgesellschaften darin eingebunden sind, weil es unterschiedliche Eigentümer gibt.“

Na, das konnte ein schönes Durcheinander werden. Gut, dass Brenner’s Welt von so etwas verschont wurde.

Cleo las weiter. „Teilweise sind auch Gemälde von anderen Museen als Leihgabe dabei, damit das Thema möglichst breit abgedeckt werden kann. Und die Ausstellung bleibt nur zwei Tage in Hallalit, als Etappe zwischen Berlin und Hamburg. Was für ein Aufwand. Das müssen wir uns auf jeden Fall ansehen, Brenner!“.

Damit hatte er jetzt schon gerechnet. Eigentlich ja nicht schlecht, dass so etwas bei ihnen in der Nachbarschaft stattfand. Das würde Cleo sicherlich gefallen, sich die Bilder anzusehen und nebenbei noch ihre Freunde wieder zu treffen. Das Gutshaus Hallalit lag zwar Luftlinie nur wenige Kilometer von Langhagen entfernt und grenzte von Süden an das Jagdrevier, das Brenner und sein Freund Mike gepachtet hatten, aber mit dem Auto musste man ziemlich rumkurven, bis man dort war. Entweder man quälte sich im Schneckentempo durch den Wald, das wollte Brenner seinem alten Renault 19 aber nicht zumuten, oder man musste tatsächlich ein Stück über die A19 fahren oder den fast dreißig Kilometer langen Weg über Hohen Demzin nehmen. Deshalb schafften sie es nicht oft, bei Susanne und Markus vorbeizuschauen.

Auf der anderen Seite liegt Hallalit noch in Bratzkes Revier. Der wird ganz schön Arbeit bekommen, wenn so ein Event in seine Zuständigkeit fällt.

Eine der Aushilfen lief mit einem Tablett voll schmutzigem Geschirr an ihnen vorbei in die Küche.

„Draußen ist jetzt alles leer. Ich glaube, heute passiert nichts mehr.“

Auch nicht schlecht.

Brenner stellte sich hinter Cleo und küsste sie zärtlich auf den Nacken. „Wollen wir uns diese Ausstellung denn ansehen?“

Sie drehte sich herum und legte ihm die Arme um den Hals. „Natürlich! Susanne und Markus werden sich freuen! Ich rufe gleich mal an, wann sie Zeit haben.“

Ihre grünen Augen strahlten ihn an. Er zog sie an sich und senkte den Kopf, um sie zu küssen. Sie streckte sich ihm lächelnd entgegen.

Von der Tür erklang einen zaghaftes Bellen.

Erstaunt drehten Brenner und Cleo die Köpfe herum.

In der Tür saß mit schief gelegtem Kopf und heftig schwanzwedelnd ein kleiner brauner Hund.

Brenner fand seine Ohren zu groß, aber vor allem die Pfoten erschienen ihm drei Nummern größer, als für den Rest des kleinen Körpers angemessen war.

„Der ist ja noch ganz klein!“ Cleo drehte sich sofort von ihrem Mann weg und ging langsam auf den Hund zu. Der legte jetzt den Kopf auf die andere Seite und wedelte munter weiter.

„Wem der wohl gehört? Die Gäste sind doch schon alle weg, hat Karli gesagt."

Es war mit Sicherheit ein Welpe, das konnte Brenner erkennen, auch wenn er sonst von Hunden keine Ahnung hatte. Ab und zu brachten Gäste ihre Hunde mit, ließen sie aber eigentlich immer draußen angebunden unter einem Tisch oder sonstwo im Schatten liegen.

---ENDE DER LESEPROBE---