Mitch - Der Countdown - Siebo Woydt - E-Book

Mitch - Der Countdown E-Book

Siebo Woydt

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Beschreibung

Er wacht ohne Gedächtnis in einem unbekannten Hotelzimmer auf und hat eine tiefe Wunde an der Schulter. Ein Handy und eine 2-Euro-Münze bringen ihn von einem alten Bunker an der holländischen Grenze in ein Bergwerk im Harz, in die Arme einer Frau mit grünen Augen und auf die Spur eines verschwundenen Ritters aus der Zeit der Kreuzzüge. Kann er seine Identität wiederfinden und den sagenhaften Schatz des Kreuzritters finden?

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Doppelkorn Sunrise?

Ich wache auf und das ist ein guter Anfang. Nach dem gestrigen Abend habe ich das nicht erwartet. Und ich weiß, wo ich bin. Ungefähr. 80 Prozent, vielleicht weniger.

Es muss ein Hotel sein, denn mein Zuhause ist es nicht. Wo ist mein Zuhause eigentlich?

An viel von gestern Abend kann ich mich nicht erinnern. Da ist etwas mit einem Mann, den ich getroffen habe. Ein Mann in einem dunklen Auto und mit einem Chauffeur, der wie ein Leibwächter aussah und einem Leibwächter, der wie ein Chauffeur aussah. Vielleicht hatten die beiden auch nur die Jacken getauscht, um mich zu verwirren.

Ich lebe davon, mich an Sachen zu erinnern. Und ich überlebe davon. Egal, ob es gelernt, gesehen, gelesen oder gehört ist. Schnell vergewissere ich mich mit ein paar Stichproben, ob alles noch da ist. Mit geschlossenen Augen versuche ich, mich an Dinge zu erinnern, die möglichst unzusammenhängend sind. Die Einleitung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die ersten hundert Ziffern der Wurzel aus 2, den Text von ‚Eine Feste Burg ist Unser Gott‘ im Original, die Einwohnerzahl des Landkreises Schaumburg-Lippe vor der Gebietsreform und die Anzahl der gelben Autos, die ich in den letzten zwei Tagen gesehen habe.

Alles ist noch da.

Nur von gestern Abend ist alles weg. Meine Zunge ist weich und nass, mein Kopf tut nicht weh, es war kein Alkohol im Spiel. Muss etwas Schlimmeres gewesen sein.

Der Mann aus dem Auto hat mir ein Handy gegeben, aber keine PIN. Das Auto war nicht gelb, das weiß ich jetzt. Das Handy war ausgeschaltet. Ein altes Nokia-Modell aus der Zeit, als das noch etwas Tolles war. Es muss hier irgendwo herumliegen, ich kann mich daran erinnern, es bis zuletzt in der Hand gehabt zu haben.

Der Mann hat mir einen Auftrag gegeben. An den Auftrag kann ich nicht nicht erinnern. Das ist schlecht, wenn ich den Auftrag ausführen soll. Ich bin sicher, dass ich nichts Schriftliches bekommen habe, niemand gibt mir bei solchen Sachen etwas Schriftliches. Außerdem hat er wahrscheinlich erwartet, dass jemand mit meinem Gedächtnis nichts aufschreiben muss. Er hat Erwartungen geäußert, die ich besser nicht enttäuschen soll. Hat seine Freude angekündigt, wenn ich etwas Bestimmtes für ihn erledige. Auf jeden Fall nichts schriftliches, kein Umschlag, kein Blatt. Auch keine CD und kein USB-Stick. Wo ist mein Laptop?

Den hat wahrscheinlich der Mann mitgenommen, im Tausch für das Handy. Schlechter Tausch.

Werde ich ihn jemals wiedersehen?

Den Mann oder den Laptop?

Den Laptop. Der Mann hat mir klar gemacht, dass ich ihn wiedersehen werde, wenn ich den Auftrag versaue. Und das würde noch schmerzhafter als gestern Abend. Und wenn ich den Auftrag schaffe, dann werde ich ihn auch wiedersehen. Das habe ich irgendwie im Blut.

Die frische Wunde an meiner Schulter blutet kaum noch, hoffe ich.

Versuchsweise bewege ich die Beine und schlage die Augen auf. Das geht und ermutigt bewege ich die Arme, aber nicht zu schnell. Die Schulter schmerzt und ich fühle, wie etwas aufplatzt. Ein weißer Blitz trifft die Schulter und Sekundenbruchteile danach mein Hirn.

Mühsam mache ich die Augen noch einmal auf.

Es ist ein Hotelzimmer. Ein teures, so wie es aussieht und riecht. Besser gesagt, so wie es hier nicht riecht. Und daher definitiv nicht mein Zuhause und definitiv kein Hotel, das ich kenne. Und ich kenne viele Hotels. In einige darf ich nie wieder. Daran kann ich mich erinnern, aber nur undeutlich.

Sonst reicht mir im Hotel ein Frühstück aus der Mini-Bar, jetzt brauche ich etwas retro-mäßiges. Wer bezahlt eigentlich das Hotel hier?

Es wird einen Weg geben, das herauszufinden.

Aufstehen geht, der Weg zum Bad geht und ich verliere erstaunlich wenig Blut. Das meiste sickert in das Kopfkissen, das ich auf die Wunde presse.

Im Bad habe ich ein deja-vu. So heißt das, wenn man den Eindruck hat, dass das Leben eine Schleife gemacht hat und weit weg ist von einem Neustart.

Auf den breiten Spiegel hat jemand Buchstaben und Zahlen geschrieben. Ich stelle mir vor, dass es in der Handschrift einer Frau geschrieben ist, mit Lippenstift und in einer weichen, liebevoll geschwungenen Schrift. Ein Liebesgruß, eine Telefonnummer, eine Mailadresse. Was für eine Art, aufzuwachen.

Beides ist falsch. Die Schrift ist eckig und unansehnlich, die Buchstaben und Zahlen sind hell, sie sind mit einem Stück Seife auf das Glas gedrückt. Wahrscheinlich hat sich jemand auch noch die Mühe gemacht, seine Handschrift zu verstellen.

Das Neonlicht hat jetzt zu Ende geflackert und ich kann die Schrift lesen.

„3 Tage“.

Drei Tage für was?

Ich werfe das Kopfkissen in die Badewanne, es bleibt mit einem schmatzenden Geräusch dort liegen und verteilt drei Blutspritzer, die am weißen Wannenrand herablaufen. Noch ein Hotel, das mich nie wiedersehen will.

Hotel Astoria

Meine Klamotten finde ich leicht wieder. Einen Teil davon habe ich an, der Rest liegt vor dem riesigen Bett auf dem Boden. Das Bücken lässt meinen Kopf anschwellen und verstärkt das Pochen in der Schulter.

Der große Spiegel zwischen Schlafzimmer und Bad hilft mir, mein Design zu checken. Weil es leichter zu ertragen ist, von unten nach oben.

Nikes, Levis, ein Timberland-Ledergürtel. Ein helles Polohemd, weitgehend sauber, ausgebeult an der rechten Schulter, wo ich ein gefaltetes Handtuch zwischen Hemd und Wunde geschoben habe. Ein schlanker, aber tiefer Schnitt. Sieht aus, wie mit einem Messer gemacht.

Wenn ich vorsichtig die Jacke darüber ziehe, wird es kaum auffallen.

In der Jackentasche finde ich das Handy. Ausgeschaltet. Ich sehe es an und versuche, mich zu konzentrieren.

Nichts. Eine PIN fällt mir nicht dazu ein.

Weder in den Hosentaschen noch in der Jacke finde ich irgendein Stück Papier. Auch im Zimmer ist kein Papier zu finden, der Telefonblock neben dem Telefon ist leer. Ich blättere ihn durch, aber er bleibt leer. Wenigstens weiß ich jetzt, wo ich bin. Waldorf Astoria, Düsseldorf. Wer immer mich hier abgeladen hat, denn ich habe keine Erinnerung, hier selbst eingecheckt zu haben, hat wenigstens Geschmack. Sofern er mich nicht auf der Rechnung sitzen lässt.

Die Jacke passt gerade so über die gepolsterte Schulter. Und ich rede mir ein, dass es tatsächlich kaum auffällt. Auch wenn ich aussehe wie Quasimodo, dem der Buckel nach vorne gerutscht ist.

Mein Kopf passt durch die Tür und bevor ich mich umdrehen kann um nachzusehen, ob ich etwas vergessen habe, was zum Teufel sollte das sein, fällt die Tür hinter mir zu. Ich durchsuche meine Taschen, natürlich habe ich keine Zimmerkarte für 1102. Auch für kein anderes Zimmer, so wie es aussieht. Ich habe nicht einmal eine Brieftasche.

Und warum bin ich hier?

Das Frühstück im Erdgeschoss ist phänomenal und macht mich ein paar Zentimeter größer. Die Blicke der anderen verfolgen mich. Außer mir tragen alle Einheitskleidung, die Männer mit Krawatte und die Frauen mit hochhackigen Pumps. Ich trage bestimmt das einzige Paar Jeans im Umkreis von einhundert Metern.

Ich bin einzigartig, schon am frühen Morgen.

Kein Gepäck, also direkt zur Rezeption.

Ich nenne die Zimmernummer, an die ich mich erinnern kann. 1102.

„Guten Morgen, Herr Mitch. Hat Ihnen Ihr Aufenthalt bei uns gefallen?“ Der junge Mann hinter dem Tresen ist adrett und nett, sein Anzug ist makellos, seine Laune auch und seine Schulter bestimmt nicht aufgeschlitzt. Also ein Kotzbrocken.

Mitch? Was für ein blöder Name. Hoffentlich nicht mein richtiger.

Ich versuche zu antworten und bringe nur ein Krächzen raus. Wann habe ich das letzte Mal gesprochen? Verständlich, meine ich. Ob das etwas mit dem Einstich zu tun hat, den ich in meiner Armbeuge gefunden habe?

Er wartet geduldig lächelnd, bis ich eine Stimme habe.

„Das freut mich, Herr Mitch. Es wäre uns sehr angenehm, Sie bald wieder begrüßen zu können.“ Er zieht ein Blatt Papier aus einem Drucker unter dem Tresen. Der Moment der Rechnung ist gekommen.

Warte, bis du das Zimmer siehst.

„Ah, ich sehe, es ist bereits alles geregelt.“ Er lächelt mich wieder an. „Da ist übrigens etwas für Sie abgegeben worden, einen kleinen Moment.“ Er verschwindet, bevor ich nachfragen kann.

Er ist wieder da und gibt mir einen braunen A4-Umschlag. Der ist zugeklebt und trägt in der gleichen Handschrift, die oben auf dem Spiegel steht, die Zahl 1102 und darunter den Namen Mitch. Aber als M.I.T.C.H. Soll mir das etwas sagen? Wenn schon die Abkürzung so scheiße ist, wie scheiße ist dann ihr Ursprung? Ist das eine Nachricht? Ist der Umschlag die Nachricht oder sein Inhalt? Ich fühle, dass mehr darin ist als nur ein paar Blatt Papier. Es fühlt sich vertraut an, als hätte ich es schon oft in der Hand gehabt.

Da ich mir nicht sicher bin, warte ich mit dem Öffnen des Umschlags, bis ich draußen auf der Straße bin.

Sitting on a Parkbench, Wasting Time

Die Schulter pocht nach den wenigen Schritten und ich setze mich rasch auf eine Bank im Schatten. Das ist die einzige Bank weit und breit, auf der Platz frei ist. Sie ist sogar völlig leer, sie hat wohl auf mich gewartet. Ja, sie hat gewartet, denn sie ist die einzige saubere und nicht einbetonierte und nicht vollgeschissene Bank hier. Sie steht hier, damit ich mich draufsetze.

Ich setze mich darauf.

In dem Umschlag ist meine Brieftasche. Zumindest sieht sie der Brieftasche ähnlich, die ich vielleicht bis gestern hatte.

Sie ist leer, bis auf eine Quittung und eine Monopoly-Karte, Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei. Danke, das ist bestimmt hilfreich.

Neben der Brieftasche rutscht ein Zehn-Euro-Schein aus dem Umschlag. Sonst ist der Umschlag leer. Wenn das meinen Auftrag bezahlen soll, dann bin ich mehr wert. Aber ich erinnere mich daran, dass mein Lohn für diesen Auftrag wahrscheinlich darin besteht, ihn zu überleben. Wenn das meine Spesen sein sollen, dann bringen sie mich nicht weit. Nicht in Düsseldorf.

Die Quittung sieht teuer aus, dickes Papier mit Prägedruck, kein billiges Thermopapier. Entsprechend hoch ist der Betrag, knapp über zweihundert Euro. Für zwei Flaschen Champagner, zwei Espressi und 'personal services’. Ausgestellt von einem Club ‚Two Windows‘. So vornehm, dass auf der Quittung keine Adresse zu finden ist, nicht mal eine Telefonnummer. Nur die URL twowindows.x_x und ein paar feminin wirkende Verzierungen, wie Blumenranken um zwei altmodische Fenster.

Keine Adresse, keine Telefonnummer, keine Steuernummer und keine Mehrwertsteuer. Keine wirklich überzeugende Quittung. Wenn das eine Nachricht ist, dann sollte man sie auch verstehen können. Und warum liegt sie in meiner Brieftasche? Wenn das wirklich meine Brieftasche ist.

Der Zehner sieht echt aus und fühlt sich echt an. Nicht zu neu und nicht zu alt und hat alle Merkmale eines echten Zehners. Ist das Geld oder ist das eine Nachricht?

Seine Rückseite trägt eine Nachricht. Jemand hat mit schwarzem Stift „2,9 Tage“ darauf geschrieben. Die Handschrift ist mir bekannt, die habe ich gerade auf dem Spiegel gesehen, aber ihren Absender kenne ich noch immer nicht. Das muss sich ändern.

Ich habe also ein ausgeschaltetes Handy ohne PIN, eine Quittung aus einem Etablissement, die bisher nur zu einer URL führt und einen Zehner, eine ansonsten leere Brieftasche und eine Wunde an der Schulter. Ich habe momentan keinen Hunger, die Sonne scheint und ich habe keine Sonnenbrille auf.

Der erste Teil ist einfach. Die letzten vier Ziffern der Seriennummer des Zehners sind die PIN für das Handy.

Es begrüßt mich mit einem altmodischen Beep und einer pixeligen Grafik. Vier Balken für Akku und vier Balken für Netz.

Ich lehne mich zurück und warte.

Time is Cash, Time is Money.

Es dauert zwei Minuten bis zum nächsten Beep. Eine SMS, nur zwei Worte. ‚Na endlich‘. Ich schalte das Handy aus, stecke es weg und warte.

Jemand wird kommen. Ich habe keine Anweisung bekommen, meinen Standort zu ändern, kein Anfang einer blöden Schnitzeljagd durch Düsseldorf. Jemand kennt meinen Standort und er möchte, dass ich genau hier auf ihn warte. Oder auf jemanden, den er schicken wird. Es wird nicht lange dauern. Irgendwo läuft ein Countdown mit kurzer Restbrennzeit, man verwöhnt mich mit einem 5-Sterne-Hotel und schickt mir eine SMS über ein wahrscheinlich nicht zurückverfolgbares Handy. Wer immer das macht, er hat nicht viel Zeit zu verlieren. Nur 2,9 Tage.

Es dauert weniger als zwei Minuten, bis sich jemand rechts neben mich setzt. Das ist ziemlich genau die Zeit die man braucht, um sich so gut es geht zu vergewissern, nicht verfolgt und nicht beobachtet zu werden.

Ein junger Mann in einem grauen Anzug, grauer Weste, grauem Hemd und grauer Krawatte. Wie ein Banker, der hier in der Innenstadt nicht auffällt. Seine Haare sind schwarz und etwas kraus, seine Haut ist dunkel, das passt gut zu dem Grau. Er trägt ein dickes Goldkettchen an der rechten Hand und eine bunte Uhr mit Plastikarmband an der linken Hand, die er mir wortlos herüberstreckt. Er reicht sie nicht, als wolle er mir die Hand schütteln, er streckt sie herüber, als erwarte er etwas von mir.

Mir fällt nichts anderes ein und er sieht nicht aus wie jemand, der Geld braucht. Aber ich gebe ihm den Zehner.

Er prüft den Schein wortlos, dann lacht er und seine weißen Zähne blitzen. Plötzlich sieht er sehr sympathisch aus, ein Senkrechtstarter, der coming man, der nette Junge von nebenan mit der steilen Karriere, der trotzdem Mensch geblieben ist und viel Charme hat.

Ich mag ihn nicht.

Er ist nicht hier, weil er mich mag, sondern weil ihn jemand geschickt hat. Die billige Uhr mit dem Plastikarmband passt nicht zum Anzug und der Anzug passt nicht zum Kerl.

Und ich bin nicht hier, weil ich ihn mag. Was ich nicht tue, falls ich das noch nicht erwähnt habe.

Wer immer dahinter steckt, er sollte mir lieber bald einen Grund geben, nicht einfach nach Hause zu gehen. Wo immer das ist, denn daran kann ich mich genauso wenig erinnern wie an meinen Namen.

Man hat mir gestern Abend etwas gespritzt, vielleicht so getan, als wäre es gegen die Schmerzen nach dem Schnitt in die Schulter, vielleicht um mich zu beruhigen, vielleicht um Passanten oder irgendwelche Zeugen zu beruhigen. Das Zeug hat genau die Teile meiner Erinnerung ausgeknipst, die mich jetzt vom Weglaufen hindern.

Clever gemacht. Mir fällt keine Droge ein, die das leistet. Entweder eine neue Mischung oder mein Körper hat auf eine bekannte Substanz falsch reagiert und das macht man sich jetzt zu Nutze. Kein Grund also, den Grauen zu mögen.

„Sie sind es! Mitch! Gut, dass Sie es bis hier geschafft haben.“ Er scheint sich zurückhalten zu müssen, um mir nicht auf die Schulter zu schlagen, so freut er sich, mich zu sehen. Das würde zumindest jemand glauben, der uns beobachtet. Aus einem parkenden Auto oder hinter zugezogenen Gardinen.

Rühr meine Schulter an und du bist tot, Fremder.

„Wer bin ich hier“?

„Mann, Sie sind der, den wir brauchen.“ Er rückt ein wenig näher an mich heran, unauffällig, er will sich nur anders hinsetzen. Dabei rückt er auch näher an meine Schulter. Weiß er Bescheid und will mir drohen? War er dabei? Oder ist er nur ein Laufbursche?

Er ist zur Ruhe gekommen und lehnt sich zurück. Schenkt mir sein Vertrauen, indem er die Augen schließt und sich die Sonne ins Gesicht scheinen lässt. „Man hat gestern mit Ihnen gesprochen.“

Keine Frage, sondern eine Feststellung. Wenn ich mich doch nur an etwas erinnern könnte, wer gestern mit mir gesprochen haben soll und was er gesagt hat. Es sei denn, ein fingerlanger tiefer Schnitt in meiner Schulter gilt bei ihm als Konversation. Dann gebt mir eine Machete und lasst mich mitreden.

Er neigt den Kopf zu mir, hält seine Augen geschlossen. „Nehmen wir mal an, dass das passiert ist.“

„Dann wissen Sie Bescheid.“

Er lacht. „You´re funny, genau so hat man Sie beschrieben, Mitch.“

„Who the fuck is Mitch?“

„Very funny.“ Aber jetzt klingt er nicht mehr belustigt, jetzt sieht er mich an und ich sehe Zweifel in seinen Augen. Nur einen Moment, dann entspannt er sich und ist wieder der graue Lächler. „Very funny, Mitch!“ Er holt aus, um mir auf die Schulter zu schlagen. Tut er aber nicht, sondern setzt sich wieder gerade hin.

„Hören Sie, Mitch, das ist kein Spaß hier. Wir... nein, Sie haben wenig Zeit. Der Countdown läuft und im Netz kursieren die ersten Gerüchte.“ Er dreht sich zu mir um. „Ich bin hier, um Sie zu unterstützen.“

„Unterstützen? Wobei?“

Er schüttelt den Kopf und lacht, als hätte ich wie ein kleines Kind eine dumme Frage gestellt. „Das weiß ich nicht. Das ist geheim. Und Sie wissen, dass ich das nicht weiß.“

„Piss off.“

Er hält noch immer den Zehner in der Hand. Jetzt streicht er ihn auf seinem Oberschenkel glatt, greift in sein Sakko und schreibt dann etwas auf den Schein.

Den Schein reicht er mir und dann steht er auf. „Sie wissen, wo Sie mich erreichen, Mitch.“ Den Zehner nehme ich an mich. Sicher ist sicher und das ist momentan mein einziges Geld.

Mit ein paar Schritten ist er unter den Passanten verschwunden, die hier alle so aussehen wie er. Sinnlos, ihm nachzulaufen. Wozu auch.

Auf dem Schein ist die alte Schrift durchgestrichen. „2,8 Tage“ steht jetzt daneben, in einer anderen Handschrift.

Der Countdown hat begonnen.

Ich lehne mich zurück und stelle mir die einzige Frage, die jetzt Sinn macht.

Warum heiße ich Mitch?

Was fällt mir bei Mitch ein? Das ist eine Abkürzung für Mitchel oder Mitchell. Es gab mal einen Hurrikan mit diesem Namen, vor mehr als 15 Jahren, und sicherlich Hunderttausend Leute, die so heißen.

Robert Mitchum fällt mir ein, der Schauspieler. Einer der besten von den 40ern bis zu den 80ern, Meister der Coolness. Oscar-Nominierung für eine Nebenrolle in 'Schlachtgewitter am Monte Cassino'.

Ich weiß, was ich brauche. Ich brauche ein Telefonbuch.

Monte Cassino

Ein Telefonbuch. Aus Papier. Voll Retro, aber effizient.

Die Pizzeria Monte Cassino liegt in der Mertensgasse, gleich neben dem Gewürzhaus. Ich brauche nicht mal zehn Minuten, um vor der Tür zu stehen.

Die Tür steht offen, denn es ist Ende Mai, warm und später Vormittag. Ich atme aus und gehe hinein.

Keins der Restaurants, auf die Düsseldorf stolz sein kann. Wer kommt überhaupt auf die Idee, ein Restaurant nach einer der blutigsten Schlachten des zweiten Weltkriegs und einem zerstörten Kloster zu nennen?

Die Einrichtung stammt aus den Achtzigern, an der Wand hängen Tourismusplakate von Rimini und Sardinien.  Ein Zeichen dafür, dass der Wirt kein echter Italiener ist, denn sonst würde er seine eigene Region bewerben, die Region aus der er kommt und in die sein Herz eines Tages zurückkehren wird. Auf den Campanilismo ist Verlass.

An der Wand ist grob verstrichener und verstaubter Rauputz, auf den Tischen warten die Tischdecken mindestens den dritten Tag auf einen neuen Gast. Am Fenster sind die ehemals weißen Decken besonders unweiß. Es duftet nach getrockneten Tomaten, frischem Hefebrot und den niedlichen blauen Klumpen, auf die man in Kneipentoiletten zielt.

Ein alter Kellner begrüßt mich erfreut und routiniert. Er ist hager, sein weißes Oberhemd hängt an den Schultern und die schwarze Fliege an seinem Hals schimmert glänzend im Gegenlicht der großen Fenster, die auf die Gasse hinausgehen. Meine schief sitzende Jacke und die Ausbeulung an meiner Schulter stören ihn nicht. Vielleicht sieht er es gar nicht.

„Ah, meine Herre, habe gutte Tische, bitte komme.“ Seine Stimme ist leise, so wenn Papier auf Papier raschelt.

Er geht auf seinen krummen Kellnerbeinen mit schief gelaufenen Absätzen in Richtung Fenster, denn natürlich möchte er mich ans Fenster setzen, als lebende Werbung.

Er scheint echt zu sein. Die Schuhe sehen so aus, als wären es seine Schuhe, das weiße Hemd sieht aus, als hätte er es schon Jahre getragen, genau an den Stellen dünn geworden, die durch seine eigenen Ellenbogen und Schultern dünn geschabt wurden. Man kann jemand eine Verkleidung anziehen und ihn als alten Kellner losschicken, aber die Kleinigkeiten fallen immer auf.

Ich folge ihm zwei Schritte und biege dann im rechten Winkel ab.

Denn in der Ecke, an einem kleinen viereckigen Tisch ohne Blumen und mit nicht angezündeter Kerze, sitzen der Graue und ein zweiter Mann.

Ich sage nichts, ich grüße nicht und ich frage nicht. Ich nehme mir einen Stuhl vom Nachbartisch, der kurz  und laut auf dem stumpfen Holzboden schabt und setze mich zu den beiden.

Meine Schulter brennt. Jetzt entspannt sich mein Oberkörper und das Pochen kehrt in die Schulter zurück.

„Sie werden verzeihen, wenn ich die Jacke anbehalte. Warum bin ich hier?“

Der Graue will etwas sagen, wird aber von Nr.2 mit einer  kurzen Handbewegung davon abgehalten. Die Bewegung ist kaum wahrnehmbar, der Graue muss gut konditioniert sein, um sie wahrzunehmen und richtig zu reagieren. Die Bewegung macht klar, wie die Architektur dieses Treffens aussieht. Der Graue ist Fassade, der zweite Mann ist Fundament. Der Graue hat die Krümel gestreut, Nr.2 hat den Kuchen.

Ich mag keinen Kuchen.

Der alte Kellner hat am Ende seines Weges gemerkt, dass ich ihm nicht gefolgt bin und dreht sich unschlüssig um. Das ist die einzige Bewegung im Raum.

Draußen geht eine Mutter mit Kinderwagen vorbei.

Der Kellner setzt sich schließlich in Bewegung und kommt zu uns, wird aber von Nr.2 mit einer Handbewegung gestoppt. Auch er reagiert sofort und dreht ab.

„Tre espressi“, sagt Nr.2 und es klingt echt. Kein Akzent, kein Zögern. Er muss sich nicht die Worte zurechtlegen oder auf die Aussprache konzentrieren. Nr.2 ist Italiener oder sehr sprachbegabt. Oder zweisprachig aufgewachsen. Oder was auch immer. Ich bin mir noch nicht sicher, ob er mich interessiert. Ob er mich genug interessiert, um mir über seine Sprachausbildung Gedanken zu machen. Oder ob es mir etwas ausmacht, wenn er jetzt tot vom Hocker fällt.

Nr.2 hat mit zwei kurzen Handbewegungen gezeigt, dass er hier das Sagen hat, dass er der Top Man hier ist, der Head Honcho, der Mucho Macho.

Ich unterdrücke ein falsches Gähnen.

Niemand sagt etwas, bis der alte Kellner jedem seinen Espresso und in die Mitte des Tisches eine Schale mit braunem Zucker gestellt und sich wieder verzogen hat. Viel schneller, als er gekommen ist. Der Kellner scheint Nr.2 zu respektieren, aber nicht zu schätzen.

„Auf die Gefahr, mich zu wiederholen. Warum bin ich hier?“ Der Espresso ist auch ohne Zucker gut, stark, würzig und voller Aroma. Ich setze die Tasse ab, halte sie aber weiter fest und sehe mir Nr.2 genauer an.

Wo der Graue grau ist, ist Nr.2 farblos. Ich schätze ihn auf irgendwo kurz vor sechzig, auf den zweiten Blick vielleicht auch älter. Ein Gesicht unbestimmter Hautfarbe, ein Anzug unbestimmter Farbe. Eine Brille, die man kaum wahrnimmt. Saubere, aber schmale und bleiche Hände und eine langweilige Armbanduhr. Er hat etwas loriothaft unbestimmtes an sich, etwas kafkaesk Auswegloses. Man sieht sofort weiter, ohne sich an ihn erinnern zu können. Ich bin sicher, dass seine Unterwäsche nach dem Waschen gebügelt wird und ich bin sicher, dass er das selbst macht, damit es auch richtig wird.

Er wartet mit seiner Antwort, bis er zwei Löffel Zucker in seiner Tasse verrührt hat. „Weil Sie hierhin gefunden haben, Mitch.“

„Das soll eine Leistung sein? Den Weg von A nach B zu finden wenn B deutlich ausgeschildert ist?“

„Sie sind der erste, der B gefunden hat. Das haben wir von Ihnen erwartet.“ Er sieht mich an. „Um ehrlich zu sein, wenn Sie uns nicht gefunden hätten, wären wir am Arsch“.

Ich habe seine Sprachausbildung überschätzt.

„Nach mir wäre ein anderer gekommen.“

Er schüttelt den Kopf und der Graue lehnt sich zurück. Er hat seinen Espresso noch nicht angerührt. Ist er nervös? Oder mag er lieber Milchkaffee? Ist er einer von den Caffe-Latte-Freaks? Koffein- und Laktose-frei ?

Nr.2 sieht mich an und auch seine Augen haben eine unbestimmte Farbe. Seine Augen sehen älter aus als der Rest von ihm. Sein Blick sagt ‚Ich habe alles gesehen, lasst mich endlich in Ruhe’. Aber sein Mund sagt „Wir sind sicher, da gibt es keinen anderen. Deshalb sind Sie hier.“

„Wer sind Sie und warum ist es für Sie wichtig, dass ich hier bin? Und warum haben Sie mich von diesem Stoffhosenträger hier hin lotsen lassen?“

Er verzieht keine Miene, macht weiter auf cool. „Wir haben einen Auftrag für Sie. Aber das wissen Sie schon.“

„Sonst wäre ich nicht hier.“

„Sonst wären Sie nicht hier, Mitch.“ Er nickt und interpretiert meine Antwort als Zustimmung.

„Und was macht mich besonders? Warum sitze gerade ich in dieser Pinte und trinke mit Ihnen und der grauen Stoffhose Espresso? Sie übernehmen die Rechnung, ich bin blank.“

„Ich weiß, Sie haben nur zehn Euro. Behalten Sie das Geld, Sie brauchen den Zehner noch. Ich gebe Ihnen gleich mehr.“ Er lehnt sich zurück. Gleich wird er Luft holen und seinen Spruch aufsagen.

Er lehnt sich zurück und sagt seinen Spruch auf.

„Sie sind der Beste für diesen Auftrag, das wissen Sie und wir wissen es auch. Wir haben von Ihnen gehört, wir haben nach Ihnen gefragt und die Antworten haben uns zugesagt. Sie wissen Dinge, viele Dinge. Und Sie können diese Dinge zu neuen Dingen zusammensetzen.“

Als ob ihn das etwas angehen würde.

Manchmal ist es hilfreich, viel zu wissen, Sachen einmal zu hören, einmal zu lesen und zu behalten. In Pullach haben sie es als fotografisches Gedächtnis bezeichnet. Der Leiter vom Psychologischen Dienst brachte es auf den Punkt, einmal sehen und es sitzt, sagte er, prächtig. Er hat keine Ahnung wie das ist, keine Kleinigkeit vergessen zu können. Auch nicht die Sachen, bei denen er und seine Kollegen in der Therapie immer auf Vergessen und Verarbeiten drängen. Bei ihren amerikanischen Waffenbrüdern in Quantico durfte ich bis zur ergänzenden Diagnose und einem erfolglosen Anwerbeversuch eine Woche zu Gast sein. Die Amerikaner waren beeindruckt und hatten es nicht geschafft, das zu verbergen. Nach ihrer Meinung habe ich nicht nur ein fotografisches Gedächtnis, sondern kann Dinge, an die ich mich erinnere, zu neuen Dingen machen. Kombinationsgabe nannten sie es, situative Kalkulation. Ich habe sie nach einer Woche wieder verlassen, da waren sie echt unhappy. Sie hatten nichts zu bieten.

Woher weiß ich das, wenn ich nicht meinen Namen weiß? Kann ich sicher sein, das über mich selbst zu wissen? Oder bin ich jemand anders?

„Und man kann Ihnen vertrauen, das ist heutzutage viel wert.“ Schaut er jetzt gerade zu dem Grauen? Oder schaut er absichtlich an ihm vorbei, damit der Graue merkt, dass er nicht gemeint ist? Wie lange kennen die beiden sich? Kennen sie sich wirklich oder sind sie nur für diesen Auftrag zusammengewürfelt worden? Die Körpersprache zwischen den beiden ist vielsagend, der Graue bewegt sich überhaupt nicht und Nr.2 bewegt nur den Mund, er hat beide Hände auffällig lässig auf dem Tischtuch liegen. Bei ihm wirkt das verkrampft und angespannt.

„Was immer Sie von mir erwarten, warum sollte ich es tun?“

Zum ersten Mal bewegen sich seine Mundwinkel. Ich nehme an, er hat gelächelt.

„Wir wissen, dass Sie nicht käuflich sind. Sie haben genug Geld. Irgendwo.“ Er sieht mich an und diesmal bin ich an der Reihe, cool zu sein. Nicht dieses Thema, nicht jetzt und nicht hier. Und nicht von dir. Das haben schon andere versucht, sie kamen über den Versuch nicht hinaus.

Er lässt nicht locker. „Und irgendwoher. Woher auch immer. Wir haben eine leise Ahnung, wo es ist. Wenn wir es genau wüssten, dann würden wir es Ihnen wegnehmen, weil es Ihnen nicht gehört. Und damit Ihre Motivation steigt.“ Er hebt zur Abwehr zwei Finger, ohne die Hand zu erheben. „Und der Gerechtigkeit wegen, aber das ist außerhalb des Protokolls. Keine Angst, wir haben nicht wirklich die Absicht, Ihnen etwas wegzunehmen. Oder einen Prozess anzufangen. Oder einen Dritten in diese Diskussion einzubeziehen, der sich evtl. für einen rechtmäßigen Eigentümer Ihres Geldes halten könnte.“ Die Finger senken sich wieder, sein Angriff ist vorbei. „Wir wissen, dass Sie für bestimmte Aufträge, nun sagen wir, begeisterungsfähig sind. Und wir haben etwas, das Sie wahrscheinlich interessiert.“

„So what? Für wen arbeiten Sie?“

„Ich arbeite für die Regierung. Ich bin sozusagen im Dienst, wenn Sie dieses Wortspiel gestatten.“

Jemand von den Diensten. Soll ich mich umdrehen um nachzusehen, an welchem Haken sein Trenchcoat hängt? Ganz cool lässt er offen, für welche Regierung er arbeitet. Ich hoffe, dass es eine von den richtigen ist. Es gibt zu viele falsche heutzutage.

„Nehmen wir mal an, dass mich das interessiert. Nehmen wir mal an, dass ich in den nächsten“, Ich mache eine Show daraus, umständlich auf die Uhr zu sehen, „2,75 Tagen noch nichts vorhabe. Nehmen wir außerdem mal an, dass Sie mir etwas in Aussicht stellen können, das mein Interesse für die nächsten 2,75 Tage aufrecht erhält. Wo würde uns das hinbringen?“

„Genau hier hin, nehme ich an.“

Der Graue hat noch immer nichts gesagt. Versteht er überhaupt, was hier passiert? Sein Espresso steht noch unberührt vor ihm. Ich bin der einzige von uns dreien, der seinen Espresso getrunken hat. Hoffentlich habe ich damit keinen Fehler gemacht. Der Graue hat seine Tasse nur angestarrt und Nr.2 hat nur Zucker hineingerührt, aber noch nicht getrunken. Fühle ich einen Nachgeschmack auf der Zunge? Wenn ja, dann ist es ohnehin zu spät. Aber da ist nichts. Nichts zu schmecken. Schließlich habe ich es hier mit Profis zu tun. War das gerade ein Tor für die Gastgeber?

„Nehmen wir mal an, auch ich bin interessiert, dass Sie mir mehr über die nächsten 2,74 Tage erzählen.“

„Kein Problem. Wir arbeiten eigentlich immer unter bestimmten Annahmen.“

„Nehmen wir mal an, dass man das, was Sie tun, tatsächlich als Arbeit bezeichnen kann.“

Der Graue wird etwas kleiner auf seinem Stuhl.

„Und nehmen wir mal an, dass keiner von Ihren eigenen Jungs für diesen Auftrag zur Verfügung steht. Können die das nicht oder haben sie die Hosen voll?“

Er sieht an die Wand. „Wir haben uns mit einer Vielzahl von Aufgaben auseinanderzusetzen und jede von ihnen verdient unsere volle Aufmerksamkeit.“

„Danke für den Espresso.“ Ich stehe auf und ich höre hinter mir eine Bewegung des alten Kellners, der die Stuhlbeine über den Holzboden schleifen hört. Wird er so leichtsinnig sein und sich zwischen mich und den Ausgang stellen?

Nr.2 greift in die Tasche. Das alarmiert mich nicht, denn er ist weder der Typ noch auf der Besoldungsstufe, in der er eine Waffe in der Tasche hat. Der Graue rührt sich weiterhin nicht, seine Hände liegen auf dem Tisch und sind gut zu sehen. Was macht er eigentlich hier, ist er nur der Fahrer?

Nr.2 legt etwas auf den Tisch. Es ist eine Münze. Sieht aus wie ein Zwei-Euro-Stück. Zu wenig für drei Espressi, sogar zu wenig für einen Espresso, sogar in dieser Pinte.

„Sie unterschätzen mich.“ Ich gehe zum Ausgang.

„Sehen Sie sich das Ding an.“ Etwas in seinem Ton lässt mich umkehren und wieder hinsetzen.

Er winkt dem Kellner und in seiner Bewegung liegt Erleichterung.

„Dreie Espressi, sehre gerne.“ Der Kellner schlurft in die Küche, wir sind alleine im Raum. Draußen gehen Leute vorbei, die angestrengt nicht zu uns hinein sehen.

Die Münze liegt gut in der Hand, sie ist brandneu und glänzt. Tatsächlich ein Zwei-Euro-Stück. Netter Versuch.

„Soll ich lachen?“

Er nickt. „Nein. Die Schweiz ist nicht Mitglied der Eurozone.“

„Also Falschgeld.“

Er schüttelt den Kopf. „Ja, und Nein. Die Schweiz ist noch nicht Mitglied der Eurozone.“

Ich drehe die Münze ein weiteres Mal und jetzt fällt mir die Jahreszahl ins Auge. Wenn ich die nächsten sieben Jahre überlebe und mich mit der Europäischen Zentralbank anfreunde, dann kann ich dabei sein, wenn diese Münze geprägt wird. Das eine ist so wenig wahrscheinlich wie das andere.

„Also ziemlich dummes Falschgeld.“

„Die Münze ist echt.“

Der Graue kann wieder sprechen. Halleluja.

„Dann ist das hier kein Einzelstück.“ Ich frage nicht, das ist eine Feststellung. Und diesmal nicken sie beide. Ich lasse sie nicht zu Wort kommen.

„Es gibt also eine bedeutende Zahl von schweizerischen Zwei-Euro-Münzen im Umlauf. Auf jeden Fall so bedeutend, dass die Dienste besorgt sind. Es geht nicht um Falschgeld oder um Geldwäsche oder um die im Umlauf befindliche Geldmenge, um die sich ein Bundesbanker wie Sie Sorgen machen würde.“ Ich sehe nach links zum Grauen und er widerspricht nicht. „Es geht um etwas Ernsteres und Sie kriegen es nicht in den Griff. Eure Leute haben versagt und jetzt müsst ihr euch auf dem freien Markt nach einer Lösung umschauen.“

Sie widersprechen beide nicht. Nr.2 holt wieder Luft und wird ernst. „Der Bevölkerung ist es bisher nicht aufgefallen, wer guckt sich schon die Münzen an, die er in der Tasche hat. Wir nehmen an, dass diese Münzen einfach als Sonderprägungen oder Sammlerstücke angesehen werden, wenn sie auffallen. Im Umlauf sind heute circa zwei Millionen Zwei-Euro-Stücke mit dieser Schweizer Prägung. Das ist nur ungefähr ein halbes Promille aller Zwei-Euro-Münzen, die im Umlauf sind und bei einem Betrag von vier Millionen Euro Falschgeld bekommt niemand schlaflose Nächte. Aber die Fertigungsqualität und die sichtbaren und unsichtbaren Sicherheitsmerkmale, zum Beispiel die Bemaßung, die Zusammensetzung der Legierung, der Grad der Polierung und so weiter sind so außergewöhnlich gut, dass es kaum ein Produkt einer Fälscherbande sein kann. Auch der Rest spricht dagegen, Spektralanalyse, Elektronenmikroskop und so weiter.“

„Außerdem würde ein Fälscher sich eine Münzwährung suchen, die es auch gibt. Oder sich gleich auf Papiergeld konzentrieren, dabei ist seine Marge ohnehin höher.“

„Wir haben außerdem keinen Hinweis darauf, dass für eine solche Zahl von Münzen ausreichend Rohmaterial vorhanden ist. Es gab keine Diebstähle, keine Unterschlagungen von Metallen in diesem Umfang, keinen Einbruch bei Zulieferern oder Schmelzen. Auf jeden Fall nicht in der jüngsten Vergangenheit“, setzt er hinzu.

Ich nicke. „Eine Zwei-Euro-Münze wiegt 8,5 Gramm. Wir reden also bei zwei Millionen Stück von 17 Tonnen Metall. Um das zu bewegen reicht ein großer Laster. Keine besondere Aufgabe, wenn Sie einen Führerschein haben. Es dürfte leicht sein, dieses Volumen in Umlauf zu bringen.“

„Wie gesagt, das Volumen macht uns keine Sorgen.“

„Sondern die Schweiz.“

Wieder so etwas wie ein Lächeln. „Nicht besonders. Aber verstehen Sie das nicht falsch. Nicht die Schweiz als Land.“ Er holt wieder tief Luft, das scheint eine Angewohnheit von ihm zu sein. Der Graue ist wieder still. „Die Rolle der Schweiz in Europa hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Sie erinnern sich an die Diskussionen um Steuerabkommen und Schwarzgeld.“ Keine Frage, er setzt das voraus. Und er hat Recht, ich habe das gelesen, ich kann mich erinnern. „Die Finanzpolitik der Schweiz steht, wie man sagen kann, vor einer Diskontinuität.“

„Mit anderen Worten, die Schweizer müssen heute viel ändern, damit alles so bleibt wie es war.“

„Nach unseren Erkenntnissen und Simulationen gehen wir davon aus, dass die Schweiz ihre privilegierte Isolation aufgeben und sich nach außen orientieren wird.“

„Sie gehen davon aus, dass die Schweiz in weniger als sieben Jahren der Euro-Zone beitritt und den Franken abschafft.“

Sie nicken beide.

„Dann ist ja alles in Ordnung.“ Ich drehe mich um und sehe nach, wo der zweite Espresso bleibt, aber von dem alten Kellner mit der Papierstimme ist nichts zu sehen. Jemand hat die Tür des Restaurants geschlossen und ein Schild an die Scheibe gehängt, auf dem ich von innen „geöffnet“ lese.

Ich sehe Nr.2 wieder an. „Nur unser Kalender geht falsch. Hat das wirklich noch niemand bemerkt, der eine dieser Münzen in der Tasche hatte? Ist das niemandem aufgefallen?“

Nr.2 sagt nichts und sieht mich nur an. Er hat Recht, natürlich ist das niemandem aufgefallen. Wer sieht sich schon die Geldstücke an, die er in der Tasche hat und stellt sie auch noch in Frage. Wahrscheinlich könnten viele Millionen dieser Münzen im Umlauf sein, bevor es irgend jemandem auffällt.

Der Graue meldet sich, er hat wohl unser Schweigen als Aufforderung betrachtet, jetzt etwas zu sagen. „Da ist noch etwas.“

„Müssen Sie mich umbringen, nachdem Sie es mir gesagt haben?“

„Bullshit.“ Für einen Augenblick fällt die Hey-ich-bin-Ihr-netter-Bankberater-Maske von ihm ab und seine Stimme bekommt einen harten Unterton, auch wenn sein Gesichtsausdruck sich nicht ändert. Ich sehe, dass er getönte Kontaktlinsen trägt. „Es gibt eine undichte Stelle. Wahrscheinlich. Wir sind uns nicht sicher. Aber ich denke, Sie sollten das wissen.“

„Die Presse? Die Verschwörungstheoretiker?“

„Es geht um Sie. Unsere bisherigen Ermittlungen  konnten wir nicht komplett unter Verschluss halten, dazu war alles zu umfangreich und zu kompliziert, zu viele Stellen und Leute sind beteiligt. Ich habe Ihnen ja vorhin gesagt, dass im Netz die ersten Gerüchte auftauchen, weil irgendjemand etwas über seine tolle Sammlermünze gebloggt hat und ein anderer das tatsächlich gelesen und auch noch ernst genommen hat. Unsere Kollegen beobachten das Netz sorgfältig, die Zahl der Seiten und Meldungen zu unserem Thema wächst in den letzten Tagen deutlich. Wir stehen mit Swissmint in Kontakt, dort werden diese Münzen mit großer Wahrscheinlichkeit geprägt werden. Irgendwann in den nächsten Jahren.“

„In der Bernastrasse bereitet man sich wahrscheinlich auf den Shitstorm des Jahrhunderts vor.“

„Mit aller notwendigen Gründlichkeit und der gebotenen Zurückhaltung.“

„Und Sie gehen davon aus, dass in 2,73 Tagen nichts mehr zu retten ist.“

„Oder früher. Abgesehen davon, dass meine Schweizer Kollegen dann in einer unangenehmen Situation sind, sehen wir das Vertrauen in die gemeinsame Währung in Gefahr.“

„Wenn es jemals Vertrauen in gemeinsame Währungen gab.“

Er ignoriert meine Bemerkung. Sein Espresso steht noch immer unangetastet vor ihm auf dem Tisch. Meiner ist längst alle und ich spüre noch immer nichts.

Nr.2 räuspert sich. „Was mein Kollege eigentlich sagen wollte. Wir sehen Sie in Gefahr. Es ist uns bisher nicht gelungen, diese undichte Stelle zu finden. Aber jemand scheint mit gezielten Hinweisen die Diskussion im Netz anzuheizen und“, er räuspert sich, „wir müssen davon ausgehen, dass Ihr Name bekannt ist.“

„Wir wissen aber nicht, wem“, fügt der Graue schnell hinzu.

Ich habe die Münze noch in meiner Hand, sie ist warm geworden. „Darf ich mal zusammenfassen? Sie wollen meine Hilfe, weil zwei Millionen Stück Falschgeld aus echten schweizerischen Zwei-Euro-Münzen, die erst in der Zukunft geprägt werden, im Umlauf sind und jemand meinen Namen kennt. Worüber muss ich mir mehr Sorgen machen?“

Die Antwort muss schwer sein, denn sie geben mir keine.

„Warum sollte ich in Gefahr sein, wenn jemand meinen Namen kennt? Das wäre eigentlich hilfreich, ich kenne ihn gerade selbst nicht. Alle haben sich anscheinend darauf verständigt, mich Mitch zu nennen und ich fange an, mich daran zu gewöhnen.

---ENDE DER LESEPROBE---