Der Winter - Siebo Woydt - E-Book

Der Winter E-Book

Siebo Woydt

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Beschreibung

Cleo Brenner wird von ihrer Vergangenheit in Hamburg eingeholt. Hans Brenner hat sich so sehr auf ein ruhiges Weihnachtsfest gefreut. Seine Gastwirtschaft ›Brenner’s Welt‹ im Örtchen Langhagen in der Mecklenburgischen Schweiz ist bis zum Frühjahr geschlossen, das Dorf liegt im Winterschlaf und die Angestellten haben Urlaub. Nur der Haussegen hängt schief, seine Frau Cleo hat aus Brenners Sicht etwas Undenkbares getan. Draußen fällt erster Schnee, dann fällt sehr viel Schnee, dann bricht der Winter mit voller Macht herein. Ein Leichenfund sorgt für Aufregung, Dorfpolizist Bratzke findet einen Drohbrief an Cleo, es folgt ein Giftanschlag auf Brenners Hund Bonnie. Der Täter hat es auf Hans Brenner abgesehen. Das LKA schaltet sich ein, der Ermittler stellt Polizeihauptmeister Bratzke eine Falle. Die abergläubische Köchin Kathrin sucht bei Brenners Unterschlupf und erteilt undurchführbare Ratschläge. Im Schneesturm wird Brenner’s Welt von der Außenwelt abgeschnitten. Der Täter kommt immer näher. Der Strom fällt aus.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Siebo Woydt

Der Winter

Der vierte Fall für Langhagens besorgten Gastwirt

Inhaltsverzeichnis

Wecken mit Lebendkontrolle

Ein ungewolltes Geschenk (27. Dezember)

Meine liebe Jessy (28. Dezember)

Der NVA-Schlafsack (29. Dezember)

Würstchen aus dem Wasserkocher (30. Dezember)

Thunfisch und Tahiti-Perlen (30. Dezember)

Kalt und Saukalt (31. Dezember)

Auf einer Eisscholle mit WLAN (31. Dezember)

Impressum

Wecken mit Lebendkontrolle

Die riesige Tür schloss sich zum letzten Mal. Er stand in frischer Luft und sah grenzenlosen Himmel.

Hinter dieser Tür hatten seine Tage um 06:00 Uhr begonnen. Wecken mit Lebendkontrolle hieß das. Um 06:15 Uhr hatte es Frühstück gegeben, jeden Tag der Woche. Danach gingen die meisten zur Arbeit. Er hatte einen lachhaften Lohn für stumpfsinnige Arbeit erhalten. Was er hier in einem Monat verdient hatte, das hatte er früher nach dem Essen als Trinkgeld gegeben.

Um 11:15 war Mittag. Dann Arbeit bis zur Abendzählung um 17:45 Uhr. Dazwischen eine Stunde im Hof. Bei jedem Wetter. Das war Vorschrift.

Um 23:00 Uhr hatte man sie bis zum nächsten Morgen eingeschlossen.

Die Wochenenden waren noch langweiliger gewesen, da hatte er sich nicht einmal mit der stumpfsinnigen Arbeit ablenken können.

Er hatte keinen Sinn darin gesehen, eine Qualifikation als Küchenhelfer oder Gebäudereiniger zu machen oder einen Führerschein für Gabelstapler. Eine Suchtberatung hatte er weder gebraucht noch gewollt, im Gegensatz zu den meisten anderen. Und bei dem Angebot, sein strategisches Denken und den Umgang mit Niederlagen in einem Schach-Club zu schulen, hätte er dem ehrenamtlichen Schachvereins-Fuzzy fast ins Gesicht gelacht.

Nicht nach einem BWL-Studium mit Auszeichnung und einer internationalen Karriere in einer Investmentbank.

Viel zu lange war er zusammen mit Kriminellen eingesperrt gewesen. Viel zu lange hatte er die Enge, die Überwachung, die fehlende Privatsphäre und die Schikanen ertragen.

Er war die Piemont-Kirsche auf dem Zwiebelkuchen gewesen. Der Goldklumpen unter den Flusskieseln. Die Rolex zwischen dem Altmetall.

Jetzt durfte die Rolex wieder anfangen zu ticken. Jeder Schritt seines Plans war vorbereitet.

Er hatte darum gebeten, dass sie ihm ein Taxi riefen. Er hatte ihnen angeboten, für den Anruf zu bezahlen. Das hatten sie abgelehnt und nur auf den Ausgang gezeigt. Komm nicht wieder, hieß das. Wir wollen dich hier nicht.

Das Taxi, ein weißer Mercedes mit Hamburger Kennzeichen und Werbung für einen Baumarkt, stand am Anfang der Auffahrt, näher hatte der Fahrer nicht kommen wollen.

Mit seiner schmalen Tasche in der Hand kam er auf dem Weg zum Taxi an einer digitalen Anzeige vorbei. Sie zeigte mit großen Nummern an, welche Kraftfahrzeuge auf das 20 Hektar große Gelände fahren durften. Das sah für ihn aus wie die Anzeige vor einer Fleischtheke. Aber er war lange nicht mehr vor einer Fleischtheke gewesen, vielleicht hatte sich das in den drei Jahren schon geändert. Vielleicht gab es jetzt eine App dafür. Auch das war nicht wirklich interessant. Er hatte seit vielen Jahren nicht selbst eingekauft und würde das auch in Zukunft nicht tun.

Sein Bargeld reichte für eine Fahrt von ein paar Kilometern. Er nannte dem Fahrer das Ziel und blickte nicht zurück. Am Ziel wartete sein eigener Wagen auf ihn, im Handschuhfach würde er weiteres Bargeld finden und einen Wohnungsschlüssel. Alles war arrangiert.

Sein zweites Ziel hieß Langhagen. Auch wenn er noch nicht wusste, wo das lag. Er kannte den Namen dieses Ortes und wusste, wen er dort finden würde. Das hatte er die ganzen drei Jahre gewusst. Das hatte ihn am Leben gehalten.

Ein ungewolltes Geschenk (27. Dezember)

Winter, das war nicht seine Jahreszeit. Da fehlte so vieles, das Brenner an seiner Gaststätte und seinem Leben mit Cleo lieb gewonnen hatte.

Winter in Langhagen, hatte ihm eine Nachbarin gesagt, da musst du durch. Frühling und Sommer sind ok, Herbst kann schön sein, Winter musst du durch.

Der Kalender zeigte den 27. Dezember. Es gab keine Maschinen mehr auf den Feldern, keine lärmenden Werkzeuge mehr in den Gärten, die Beete im Dorf waren winterfest, das Feuerholz lag gesägt, gespalten und gestapelt, die Ernte war eingebracht, eingekocht und eingefroren. Der Wind blies aggressiver als im Rest des Jahres, er pfiff oben in die Jacken hinein und unten wieder hinaus, ganz egal, wie dicht man den Schal in den Kragen stopfte. Die schwarzen Bretter im Dorf blieben leer, die Ankündigung des Dorfweihnachtsfestes war genauso verschwunden wie die für den Gottesdienst mit Krippenspiel am Heiligen Abend. Jetzt war die Zeit, den Kopf einzuziehen und auf den Frühling zu warten.

Die Landschaft hatte viele Details verloren, erst unter dem dichten Laub und dann unter dem ersten Schnee, der sich zaghaft gezeigt hatte und trotzig in einer dünnen Schicht liegen geblieben war. Aber ihre Besonderheiten hatte die Landschaft bewahrt, die Weite, die nur von Feldwegen durchbrochen wurde, auf denen niemand mehr unterwegs war, die langgezogenen Hügel, die sich unter dem Wind ganz ähnlich wegduckten wie die Nachbarn im Dorf, und die Tiere, die sich nicht mehr gerne zeigten, deren Abdrücke auf den Äckern trotzdem überall zu sehen waren. Wer von Langhagen weg wollte, musste in jeder Richtung mindestens sechs Kilometer zurücklegen, das überlegte man sich um diese Jahreszeit zweimal.

Brenner hatte gehofft, dieses Weihnachten würde ein Wendepunkt werden, an dem sich alles besserte. An dem er dieses Jahr und dessen Rückschläge ausblenden konnte, eintauchen in eine behagliche Welt und vergessen, was draußen war.

Die Zutaten dafür waren vorhanden, die Bühne war bereitet. Überall standen Kerzen, lagen Gestecke und es gab mehr Keksteller, als gut für ihn waren.

Er hatte keine gute Erinnerung an die Weihnachtstage. Cleo war gestern mit Kopfschmerzen früh ins Bett gegangen, vielleicht ein Vorbote des Wetterumschwungs, und er hatte die angefangene Flasche Wein allein geleert.

Darauf schob er den Druck auf seinen Schläfen, der auch nach einer Dusche und dem ersten Espresso noch da war. Bin ich denn schon zu alt für so etwas? Da war doch nicht mehr viel drin in der Flasche. Und richtig geschmeckt hat der Wein auch nicht.

Die große Kaffeemaschine hinter dem Tresen war das einzige Gerät im Erdgeschoss, das er jetzt noch regelmäßig einschaltete, auch wenn er dafür auf den kalten Dielen stehen musste. Die Küche unten blieb ungeheizt, die Kühlschränke und Gefriertruhen standen leer, gereinigt und die meisten davon waren abgeschaltet. Cleo und er kochten in ihrer Wohnung über der Gaststätte.

Die Tische im Gastraum hatten sie an der Fensterseite zusammengeschoben, die Stühle oben darauf gestapelt. Er hatte den Boden endlich einmal gründlich reinigen können, jetzt hatten die Holzdielen im ganzen Raum wieder den gleichen Farbton, auch auf den beiden Strecken, die am meisten benutzt wurden, dem Weg von draußen in die Küche und dem Weg von draußen zu den Toiletten. Alle Blumenvasen waren geleert und ausgewaschen, das Besteck hatte er durchgesehen und einige Teile aussortiert, die Tischdecken lagen gewaschen, gebügelt und gefaltet in einem ordentlichen Stapel. Die Schublade unter dem Kasten für das Besteck, in der sich über das Jahr angebrannte Kerzen, halbleere Feuerzeuge und Werbekugelschreiber seiner Lieferanten sammelten, hatte er ausgemistet, jetzt konnte man ihren Boden wieder sehen. Wie immer hatte er dabei Dinge wiedergefunden, die er verloren geglaubt hatte und auch ein paar Dinge, von denen er sich nicht hatte erklären können, wie sie überhaupt ins Haus gekommen waren. Die hatte er in seinem Büro in die Fundkiste gelegt, in der sich alles ansammelte, was Gäste vermutlich bei ihnen vergessen oder verloren hatten.

Die Speisekarten hatte er entsorgt, die wollte er für die nächste Saison ohnehin neu schreiben und neue Umschläge sollten sie auch bekommen. Er hatte gute Erfahrungen damit gemacht, die Karte kurz zu halten, so konnten sich die Gäste schneller entscheiden und sie hatten ja nur eine Köchin. Die meisten Gäste entschieden sich für das Tagesgericht, das per Hand auf die Tafel draußen neben der Eingangstür geschrieben wurde.

Die Gastwirtschaft Brenner’s Welt am Rande von Langhagen in der Mecklenburgischen Schweiz war für den Winter geschlossen. Im Winter gab es keine Kunden, sondern nur Kosten und die mussten sie so gering halten wie möglich. Für vier oder fünf Monate ganz zu schließen, das war billiger, als den Betrieb mit einer Minimalbesetzung aufrecht zu halten und vergebens einzukaufen und zu kochen. Das war jetzt eigentlich die Zeit für Erholung, für Aufräumen und Vorbereiten. Zeit für die vielen kleinen Dinge, die im Laufe des Jahres liegen blieben. Das hieß aber auch, dass der Rest des Jahres es ermöglichen musste, einfach einige Monate keinen Umsatz zu haben. Das war jedes Jahr eine neue Wette und sie waren noch nie als klare Sieger hervorgegangen.

Winter, das war definitiv nicht seine Jahreszeit. Im Sommer wäre um diese Uhrzeit schon etwas los, erste Gäste, erste Geräusche, erster Duft aus der Küche, eine zufriedene Kathrin in ihrer Schürze würde im Dampf von Töpfen und Pfannen stehen, die Aushilfe Karli würde mit vollen Tabletts nach draußen eilen, er würde drinnen bedienen, seiner Cleo im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange hauchen und den Duft ihres Haares genießen. So mussten die Tage unten in der Gastwirtschaft verlaufen. Und abends ein Feierabendbier am Tresen, nur Cleo und er auf Socken, das hatte sich so eingespielt. Das war immer das Zeichen, dass der Tag endlich vorbei war und sie einen Gang herunterschalten konnten. Kathrin würde die Küche aufräumen und in ihrem alten Audi mit dem verblassten Anti-Atomkraft-Aufkleber durch die schmale Obstbaum-Allee Richtung Dersentin nach Hause fahren. Karli würde auf dem Fahrrad in die andere Richtung fahren, Cleo würde ihren Arm um ihn legen und sich den Bierschaum von der Oberlippe lecken.

Davon sind wir gerade weit entfernt, sagte Brenner sich. Von einem vollen Haus und von erholsamer Zweisamkeit.

Sie hatten keinen richtigen Krach, so würde er es nicht nennen. So würde Cleo es wahrscheinlich auch nicht nennen. Sie sprachen aber nicht darüber, kamen nicht einmal soweit, es zuzugeben und zu klären, was zwischen ihnen stand.

Die ungewohnt viele Zeit füreinander hatte zu Streit miteinander geführt, auch wenn keiner von ihnen ein böses Wort gesagt hatte. Brenner konnte sich auf jeden Fall nicht erinnern, etwas Falsches gesagt oder getan zu haben.

Sind wir schon zu viele Tage ohne Angestellte und Gäste im Haus? Ohne etwas Richtiges zu tun? Sind wir nach der langen Saison einfach nicht mehr gewohnt, miteinander alleine zu sein?

Und was Cleo getan hatte, das lag ihm noch immer quer. Sie hatte kein Vertrauen in ihn gehabt. Sie hatte ihn furchtbar enttäuscht. Sie hatte das wirklich getan.

Bonnie stand aus ihrem Körbchen auf und streckte sich. Schwanzwedelnd kam der schokoladenbraune Labrador zu Brenners Sessel und forderte Streicheleinheiten.

»Na Kleine, geht es dir besser?« Er kraulte sie hinter den Ohren.

Cleo hatte den Hund in Verdacht, gestern einen Keksteller geleert zu haben. Keiner von ihnen hatte es wirklich gesehen, sie hatten nur den leeren Teller und eine Menge Krümel auf dem Teppich gefunden. Wegen des vielen Zuckers und der Gewürze waren sie besorgt, ob Bonnie ihre Beute vertragen oder nachts alles wieder von sich geben würde.

Brenner befühlte die Nase, sie war kalt und feucht. Alles ok. Und Bauchschmerzen schien Bonnie auch nicht zu haben. Eher Hunger, das war bei einem heranwachsenden Labrador keine Überraschung.

Cleo rief aus der Küche. »Brenner? Der Müll muss raus. Der riecht schon.«

Auch gut. Dann hatte er wenigstens für zwei Minuten etwas Sinnvolles zu tun. Und wenn er die Schuhe einmal anhatte, dann konnte er den Hund gleich mit nach draußen nehmen.

Freudig sprang Bonnie vor ihm die Treppe herunter, die Pfoten machten klack-klack-klack auf dem Holz.

Brenner konnte die Haustür nicht aufdrücken. Etwas blockierte sie von draußen.

Die Kfz-Diebstähle hatten schlagartig nachgelassen, seit das Wetter umgeschlagen war. Es gab dafür mehr Verkehrsunfälle auf glatter Fahrbahn. Alkoholexzesse und Schlägereien auf Weihnachtsmärkten. Ladendiebstahl, vor allem Schmuck und Parfüm. Häusliche Gewalt hatte Konjunktur, die Leute konnten mit Weihnachten nicht umgehen. Drei versuchte Vergewaltigungen, eines der Opfer lag im Krankenhaus. Körperverletzung, aber nur an einem Obdachlosen. Er hatte mit den Schultern gezuckt und die Meldung dazu nicht bis zum Ende gelesen.

Auf dem Weg zu seinem Schreibtisch war Dirk Plaschke an den leeren Büros seiner Kollegen vorbeigekommen.

Es gab im Haus eine IT-Plattform für die Vorfälle des Tages. Einen Liveblog für Verbrechen und Gewalt, ein Kollege aus der IT-Abteilung im Keller hatte das gebaut. Mit Bordmitteln, wie er betont hatte, um auf die fehlenden Haushaltsmittel hinzuweisen. Früher waren das die ›Hausmitteilungen‹, wurden am Folgetag auf Papier verteilt, selten gelesen und gerne entsorgt. Lebendiges Altpapier, hatte man dazu gesagt.

Es gab keine Statistik, wie oft der Liveblog angeklickt wurde und ob die Besuche lang genug dauerten, um die Mitteilungen auch zu lesen.

Weihnachtszeit war Urlaubszeit, also gab es nur eine dünne personelle Besetzung. Tatsächlich war er in der rechten Hälfte der zweiten Etage des LKA Schwerin an diesem Morgen der Einzige. Rechts und links gab es nur leere Büros, die Schreibtische waren trotz der vielen IT voll mit Papierakten, und überall standen sorgfältig geleerte Adventskalender. Nur wenige Türchen nach dem 22.12. waren noch geschlossen, die meisten Kollegen hatten vorgearbeitet, bevor sie in den Weihnachtsurlaub gegangen waren.

Der Empfang und die Postabteilung im Erdgeschoss waren besetzt und wahrscheinlich saß irgendwo im Gebäude ein Nerd aus der Technik-Abteilung und kümmerte sich um Netzwerk oder Server oder was auch immer man zu dieser Jahreszeit in der IT zu tun hatte. Vor dem allgemeinen Urlaubsbeginn hatte es eine Rundmail gegeben, an welchen Tagen die IT nur eingeschränkt verfügbar sein würde, wegen Wartungsarbeiten und neuer Hardware für irgendetwas. Er hatte die Abkürzungen nicht gekannt und eigentlich nicht gedacht, zu dieser Zeit hier zu sein. Die meisten Kollegen hatten Kinder, da war Dirk Plaschke-Dengler — an seiner Tür stand nur Plaschke — in letzter Minute durch das Urlaubsraster gefallen.

Sein Blick aus dem Fenster fiel auf den Schweriner See, die Zimmer auf der anderen Seite des Gebäudes gingen in Richtung A14. Auch die Autobahn war außergewöhnlich leer, die meisten Leute waren zufrieden und satt zu Hause.

Nur ich bin hier. Und ich habe mich viel zu spät daran erinnert, dass die Kantine zwischen den Feiertagen geschlossen hat.

Sein Adventskalender war ebenfalls leer, er hatte ihn schon zweimal durchgesehen. Auch in seinen Schubladen waren keine Kekse oder Schokoriegel mehr zu finden. Nur zwei alte Streifen Kaugummi, die halfen schlecht gegen den Mittagshunger. Und sie passten nicht zu dem dritten Becher schwarzen Kaffee, der neben seiner Tastatur kalt wurde.

Die Blumen der Kollegen hatte er gestern gegossen, das musste reichen, die waren erst morgen wieder dran. Wenn überhaupt.

Jeden Tag wurde mindestens ein Anruf als vermeintlicher Notfall zu ihm durchgestellt. Zwischen den Feiertagen war jeder Anruf ein falscher Notfall oder ein echter Verrückter. Manchmal sogar beides.

Jetzt stand das Telefon still, so wie die Büros. Ein Radio hätte gegen die Stille geholfen, aber nicht gegen den Hunger. Und nicht gegen seine schlechte Laune.

Ich sollte jetzt zu Hause sein.

Dann dachte Plaschke an seine Frau und ihre harten Worte beim Frühstück. War das mehr als Veras jährlicher Weihnachtsblues? Was würde ich tun, wenn ich wirklich zu Hause wäre?

So schlecht ist es im Büro gar nicht. Und morgen werde ich mir was zu Essen mitbringen.

Draußen begann es, ernsthaft zu schneien. Viel früher, als der NDR angekündigt hatte. Und das Zeugs blieb liegen.

Er sah auf die Uhr.

Heute wird wohl nicht mehr viel passieren. Bald muss ich nach Hause.

Es gab nur ein paar Bäume, den Acker und den sich schließenden Vorhang aus Schnee. Und zwei Autos.

Der dunkelblaue Audi A8 stand wie ein Fremdkörper neben dem Feldweg. Der Wagen war zugelassen auf ein Bankhaus in Hamburg, die Freese & Cie Handelsbank von 1873. Bankhaus Freese war der Fels in der Brandung der hanseatischen Privatbanken, sehr unbekannt, sehr unauffällig und sehr erfolgreich. In den Anfangsjahren hatten Hamburger Kaufleute abends ihre Tageseinnahmen zu Freese gebracht, wie man sagte. Mittlerweile wurden an sieben Tagen der Woche dreistellige Millionenbeträge um den Globus gehandelt. Die Angestellten waren vertraglich verpflichtet, dunkle Anzüge und Krawatten zu tragen, oder dunkle Kostüme und weiße Blusen, auch wenn die wenigsten von ihnen Kundenkontakt hatten. Und man legte Wert auf den Betriebsfrieden. Bei Freese gab es keine lauten Worte, nur große Zahlen.

Einer dieser Angestellten, der mit dem dunkelblauen A8 in diese Einöde gefahren war, lag mit gebrochenem Genick auf der Rückbank des silbernen Range Rover, der nur einen Steinwurf entfernt stand. Auf Dach und Kühlerhaube des A8 sammelte sich der Schnee.

Der Niederschlag färbte die Landschaft schon ein. Seit kurzem blieb er liegen und außer Weiß gab es kaum noch etwas zu sehen. Auch ohne den Schnee gab es an dieser Stelle nichts, keine Häuser und keine Menschen, auf jeden Fall keine lebenden. Bis auf Leonard Terresch.

Das ist Mecklenburg, hier gibt es nichts, nicht einmal bei Sonnenschein. Warum hatte sie sich ausgerechnet diese leere Gegend ausgesucht?

Er hatte keine Augen für die Landschaft. Terresch ging die Straße entlang, es war eine Allee aus alten Obstbäumen, nur eine Fahrspur breit. Von den meisten Bäumen waren Äste abgebrochen oder die Stämme waren von wuchernden Pilzen befallen, deren Gelb war der einzige Farbtupfer. Die dünnen Zweige griffen in den kalten Himmel.

Terresch ging zu seinem Wagen. Den anderen Wagen, den Audi A8, hatte er abgestellt, den Umschlag hineingelegt und abgeschlossen. Der Audi war sauber am Straßenrand geparkt, so dass er kein Verkehrshindernis darstellte, er hatte keine Beschädigung und der Tank war fast voll. Nur der Sprit für die Fahrt von Hamburg zu dieser einsamen Stelle fehlte im Tank. Freddy fuhr sparsam, daran konnte Terresch sich erinnern. Freddy hatte nie Spaß an viel PS oder am Sound großer Motoren gehabt.

Noch schmolz der Schnee auf der dunklen Kühlerhaube, das würde bald vorbei sein, der Wind brachte Kälte mit sich. Bald würde der Wagen so Weiß sein wie die Umgebung.

Den Schlüssel für den Audi warf Terresch in den Straßengraben.

Die Scheibenwischer seines Range Rover kamen problemlos mit dem Niederschlag klar und schoben den weißen Matsch quietschend zur Seite.

Friedrich Anschütz, der mit dem Audi bis hierhin gefahren war, lag auf der Rückbank des Range Rover und wurde kalt. Es war leicht gewesen, von ihm Abschied zu nehmen, nach allem, was Freddy ihm angetan hatte.

Auf dem Umschlag, den er in Freddies Audi zurückgelassen hatte, waren seine Fingerabdrücke. Das war kein Fehler, das war Teil des Plans. Sie sollte wissen, dass er es war. Wenn sie den Brief las, dann würde sie es ohnehin wissen.

Bei seinem Aufbruch hinterließ er neue Spuren, die in kurzer Zeit verweht sein würden. Das machte es für ihn ein wenig leichter und für die Polizei ein wenig schwerer.

Für seinen Plan war das ohne Bedeutung, den Plan war er so oft durchgegangen und hatte so viele Ausnahmen eingeplant, dass ein wenig Schnee ihn nicht aufhalten würde. Mit dem toten Freddy auf der Rückbank und dem Umschlag im A8 hatte die Umsetzung seines Planes begonnen.

Hinter ihm blieb ein leeres Auto in einer leeren Landschaft. Das war nicht die Gegend, in der Luxuskarossen verlassen am Straßenrand standen. Es würde nicht lange dauern, bis jemand den A8 fand, ob mit Schnee oder ohne. Dann würde alles in Bewegung kommen.

Diese Cleo Brenner, das war eine tolle Frau. Sie war sehr hübsch, das war Steffen Volkmann gleich aufgefallen. Ein ehemaliges Fotomodell, knallrote Haare und ein strahlendes Lächeln.

Sie bewegt sich wie auf einem Laufsteg, mit viel Bühnenpräsenz und viel Körperspannung. Echt krass, so eine tolle Frau in der Gegend zu finden. Echt schwer, so einer Frau zu widerstehen.

Cleo hat viel Vertrauen in mich, ich darf sie nicht enttäuschen.

Ihr Mann ist sehr eifersüchtig, das hat sie gleich bei unserem ersten Treffen gesagt. Der darf uns nicht erwischen.

Ich werde ihr hinterher Bilder von mir schicken. Ich muss nur eine gute Frontalansicht finden. Die werden ihr hoffentlich gefallen. Sie will mir auch welche von sich geben.

Das ist ja nur der erste Schritt. Je besser wir uns kennenlernen, desto ungezwungener wird es mit ihr sein. Sie darf nicht merken, wie sehr ich auf sie angewiesen bin.

Alles Weitere wird sich finden. Ich darf bei Cleo nichts überstürzen. Sie ist zum ersten Mal in dieser Situation.

Sie freut sich sehr auf das erste Kind.

Warum konnte er die Haustür nicht aufstoßen? Das konnte doch nicht alles Schnee sein auf der Stufe, soviel hatte es gar nicht geschneit. Und der Wind kam aus einer ganz anderen Richtung, so schnell hätte sich keine Schneewehe vor seiner Tür bilden können.

Brenner hatte die Tür nur ein paar Zentimeter weit auf bekommen und stemmte sich dagegen, mit dem stinkenden Müllbeutel in der Hand. Es sah aus, als ob etwas Großes draußen lag und die Tür blockierte. Kalte Luft zog schmerzhaft an seinem Gesicht vorbei ins Innere, Schneeflocken landeten auf seinem Kinn.

»Was ist denn?«, rief Cleo von oben. »Was ist denn mit der Tür?«

Brenner blickte durch den Spalt auf den Boden und zog die Tür mit einem Ruck wieder zu. Der Knall ging durch das ganze Haus.

»Bring dich in Sicherheit!«, brüllte er. »Nimm’ Bonnie und lauf weg!«, rief er hinterher.

Es war das erste Mal, dass er Cleo angeschrien hatte.

Brenner ließ den Müllbeutel auf die Dielen fallen, griff zum Telefon und tippte eine Kurzwahltaste. Hinter sich hörte er Cleo und den Hund auf der Treppe nach oben laufen, Bonnies Pfoten kratzten auf dem Holz.

»Polizeistation Lalendorf. Polizeihauptmeister Bratzke am Apparat.«

»Bratzke? Gott sei Dank! Brenner hier. Du musst kommen!«

»Brenner? Was ist denn los?«

»Bei uns liegt eine Leiche vor der Tür. Eine Leiche mit einer dicken Weste. Und da blinkt was!«

Das Telefon auf seinem Schreibtisch war noch immer still.

Vera ist bestimmt sauer. Wir hätten doch die Reise buchen sollen, dann wären wir jetzt weit weg und hätten andere Gedanken. Und mindestens zwanzig Grad mehr.

Sie hatten sich wieder nicht einig werden können und er hatte nun wirklich keinen Bock gehabt, wieder zu den Schwiegereltern zu fahren, auf der viel zu weichen Klappcouch zu übernachten und sich täglich Fragen nach seiner Karriere im LKA anzuhören. Nicht, dass er darauf hätte viel antworten können.

Vera sitzt alleine zu Hause und ich sitze alleine im Büro.

Er rührte gerade drei Löffel Zucker in seinen kalten Kaffee. Irgendwo mussten die Kalorien ja herkommen.

Das Telefon klingelte.

»Moin Dirk, etwas gegen die Langeweile.«

»Schieß los.«

»Wir haben einen Leichenfund in Langhagen mit besonderer Gefährdungssituation. Der Sprengstofftrupp vom SEK ist schon ausgerückt. Fundort ist gesichert. Die örtliche Polizeistation, das dürfte das Revier Lalendorf sein, auch so ein Nest, ist wahrscheinlich überfordert.«

»Besondere Gefahr? Was denn? Hat die Leiche eine ansteckende Krankheit? Ist der Fundort verseucht? Der Täter noch vor Ort? Eine Geiselnahme?«

»Quatsch. Der oder die Täter haben der Leiche eine Sprengstoffweste umgehängt und vor der Tür eines örtlichen Gastwirtes abgelegt.«

Sprengstoff und Leichenfund. Bei dieser Kombination von Delikten war das Einschreiten des LKA immer vorgesehen. Es könnte sich um eine staatsgefährdende Straftat halten, etwa eine Vorbereitung zur Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion gemäß §308 StGB. Also gab es ein konkretes Gefährdungsdelikt in Tateinheit mit einer Tötung. Und Plaschke saß alleine auf der Etage.

Er überlegte. »Das ist ein Offizialdelikt, da muss also etwas passieren. Ist die Staatsanwaltschaft informiert?«

»Klar. Grünes Licht, Unterlagen sind unterwegs.«

»Und wir könnten Keinem begreiflich machen, dass wir nicht ermittelt haben. Jahreszeit hin oder her.«

»Deshalb rufe ich an, Dirk. Und deshalb wirst du gleich im Auto sitzen und nach Langhagen düsen.«

Plaschke warf einen Blick aus dem Fenster. Der Schneefall war dichter geworden.

Er schrieb mit, ließ sich die Adresse in Langhagen und die bisher bekannten Details durchgeben. Das war nicht viel, konnte es auch nicht sein, sie fingen ja gerade erst an mit der Ermittlung.

»Ist das alles?« Sein Blatt war nicht einmal halb voll geworden.

»Ja. Den Link zur Akte schicke ich dir gleich per Mail.«

Also hatte der Kollege schon eine elektronische Akte angelegt. Nun war es offiziell, nun war es ein Fall.

»Danke.«

»Dafür nicht.«

Wo lag eigentlich dieses Langhagen? Sechs Kilometer von der A19 entfernt, sagte ihm google. Das waren von Leezen bei Schwerin, der offiziellen Anschrift des LKA, immerhin 80 Kilometer über Land.

Plaschke würde die Autobahn nehmen, auch wenn das noch mal 50 Kilometer länger war. Die Autobahn würde wenigstens geräumt sein. Gut, dass er immer ein Paar Stiefel und seine Regenjacke im Auto hatte. Winterreifen für die Dienstwagen waren ohnehin Pflicht, darum kümmerte sich die Fuhrparkleitung. Und die Leiche vor Ort war schon tot, das SEK wegen des Sprengstoffs schon unterwegs. Kein Grund zur Eile.

Er schaltete PC und Schreibtischlampe aus und schickte nach kurzem Zögern eine WhatsApp an Vera. Kurz und ohne Gruß, ohne Smiley und ohne Kussmund.

Saß sie wirklich gelangweilt zu Hause oder war sie wieder beim Shopping? Seine Frau bekam Taschengeld von ihren Eltern. Mitte dreißig und Taschengeld! Plaschke hatte das für einen Scherz gehalten. Damit sie sich vernünftig einkleiden könne und nicht die Sachen aus den normalen Geschäften tragen muss. Das sei ja nur vorübergehend, hatte seine Schwiegermutter gesagt, und dabei ihre Perlenkette um den Zeigefinger gewickelt. Das mit seinem Gehalt würde sich ja bestimmt bald entwickeln.

Soll sie doch denken, was sie will. Ich habe jetzt zu tun.

Sein Freund Polizeihauptmeister Bratzke hatte sich gekümmert, alles war schnell gegangen. Wobei für die Brenners jede Minute, in der sie nur durch ihre Haustür von einer Leiche mit einer blinkenden Sprengstoffweste getrennt waren, wie eine Stunde wirkte. Noch nie war Brenner die Haustür so dünn und so schwach vorgekommen.

Wenn das schiefgeht, dachte er immer wieder, dann ist das Haus Schutt und wir sind tot. Was sowieso irgendwie das Gleiche ist. Und die Bank wird die Lebensversicherung kassieren, nicht Cleo. Die Lebensversicherung war eine Auflage der Bank für seinen Kredit, denn die Bank war alles andere als begeistert gewesen, in seine Idee mit der Gastwirtschaft und in das verlassene Gebäude seines Großvaters zu investieren.

Brenner trug seine Jeans und ein Kapuzenshirt, Cleo ebenfalls Jeans, eine ihrer geliebten Westernhemden und eine wattierte Weste darüber. Auf Bratzkes hastigen Rat standen sie auf der anderen Seite ihres Gebäudes, draußen im ersten Schnee des Jahres, in Hausschuhen und mit eilig übergeworfenen Jacken. Für das Wetter und den Wind, der ihnen die Kälte in die Gesichter und den Kragen drückte, war das zu wenig. Cleo hatte Bonnie an der Leine, der die Kälte nicht viel auszumachen schien. Von Bauchschmerzen war bei dem jungen Hund nichts zu sehen. Brenners Kopfschmerzen hatten nicht nachgelassen.

Der einzige Vorteil war, dass Cleo sich jetzt an ihn lehnte, Schutz suchte und Wärme.

Wenn die Explosion stark genug ist, dachte Brenner, dann sind zwei Sekunden genug, um unsere Existenz zu vernichten. Und ich kann nur warten und meine Cleo festhalten, die gleichzeitig mich festhält. So wie es eigentlich sein soll.

Unter anderen Bedingungen hätte er das durchaus romantisch gefunden, aber nicht bei zwei Grad minus, in zu dünnen Jacken, bei Schneetreiben und mit einer blinkenden Bombe hinter ihnen.

Der Streifenwagen rutschte mehr auf den Hof, als dass er bremste. Bratzke sprang heraus, in einer dicken Winterjacke mit breiten Reflektorstreifen. In der Eile vergaß er sogar, seine Dienstmütze aufzusetzen. Die Jacke spannte sich über seinem Bauch wie sonst das Uniformhemd.

Brenner hatte das Auto gehört, sonst war alles still, der Schnee verschluckte alle Geräusche, und blickte um die Hausecke.

»Frohe Weihnachten, Brenner.«

»Was? Ja, sicher. Dir auch.«

Brenner ging ihm entgegen, Cleo ließ seinen Arm nicht los und folgte. Bratzke stoppte sie sofort mit einer Handbewegung. »Ihr bleibt, wo ihr seid. Ihr wartet hinter der Ecke.«

Vorsichtig näherte sich der Polizist dem Mann, der leblos vor ihrer Haustür im Schnee lag. Es dauerte gefühlt eine Ewigkeit.

»Der Mann ist tot, Brenner. Da ist keine Hilfe mehr möglich.« Bratzke richtete sich auf. »Jetzt geht es um euch.«

Er zog sein Telefon und ging mit den beiden wieder hinter das Haus. »Auf der Rückseite sind wir einigermaßen sicher, denke ich«, sagte er, bevor er eine Verbindung hatte. Schneeflocken sammelten sich auf seinen Haaren und den vier blauen Sternen auf seinen Schulterstücken. Cleo zog den Kragen ihrer Jacke weiter zu.

Brenner nahm sie in den Arm, sie legte den Kopf an seine Schulter. Bratzke sprach mit seinen Kollegen, nahm er an, es war nichts zu verstehen, der Polizist hatte sich abgewendet.

Cleo im Arm zu halten fühlt sich gut an, dachte er. Alles andere derzeit nicht.

Bonnie sah fragend zu ihnen auf und wedelte versuchsweise mit dem Schwanz. Der Hund wartete darauf, dass etwas passierte.

»Was passiert jetzt?«, fragte er Bratzke.

»Wir warten.« Bratzke steckte das Telefon in seine Brusttasche. »Die Kollegen sind unterwegs. Kennst du den Mann?«

»Hab nicht mal sein Gesicht richtig gesehen, nur das Blinken. Was ist das, Bratzke? Und warum ausgerechnet bei uns?«

Eine unendlich lange Viertelstunde später fuhren zwei schwarze VW-Busse mit blinkendem Blaulicht vor das Haus. Im Gegensatz zu Bratzke mit seinem Streifenwagen hatten sie keine Schwierigkeiten, im Schnee die Spur zu halten und kontrolliert zu bremsen. Aus dem ersten Bus stieg ein älterer Polizist in dicken Stiefeln, Kampfhose und Winterparka. Seine Haare hatten die Farbe der Schneeflocken, die um seinen Kopf tanzten, sein Gesicht war faltig, doch seine Augen waren jung und wachsam. Bratzke ging ihm entgegen.

»Polizeihauptmeister Bratzke, Polizeistation Lalendorf. Guten Morgen, Herr Kollege, ich habe angerufen.«

»Ritter, SEK. Gibt es eine akute Gefahr? Geiselsituation? Verschanzte Täter? Die Info von der Einsatzzentrale war etwas dürftig.«

»Nein. Nur einen Leichenfund mit einer mutmaßlichen Sprengvorrichtung.« Bratzke zeigte zur Haustür, wo unter der wachsenden Schneedecke ein toter Mensch lag.

Ritter nickte. »Das LKA hat uns auch schon angefunkt. Ist das Gebäude evakuiert? Sicherheitsabstand eingehalten?«

»Natürlich. Soweit möglich. Die Bewohner halten sich hinter dem Gebäude auf«, sagte Bratzke mit einem Blick zu Brenner und Cleo, deren Gesichter er an der Hausecke sehen konnte.

»Gibt es Fußspuren an der Fundstelle, die wir intakt lassen sollten? Glaube aber nicht, dass wir groß darauf Rücksicht nehmen können. Bei unserer Arbeit gehen schon mal Spuren verloren.«

»Fußspuren sind meine letzte Sorge, ganz ehrlich. Und ich habe keine Spuren gesehen, der Mann muss also schon einige Zeit vor der Tür gelegen haben und eingeschneit sein.«

»Gut. Was haben Sie an der Leiche wahrgenommen?« Ritter machte ein Zeichen in Richtung des zweiten Busses, jetzt konnte Brenner eine Bewegung in dem Fahrzeug sehen.

»Männliche Leiche. Definitiv tot, eine Todesursache ist nicht offensichtlich. Keine Blutspuren oder andere Zeichen äußerer Gewalteinwirkung.«

Ritter nickte. »Das macht unsere Arbeit wesentlich einfacher. Auf jeden Fall sauberer. Und die Sprengvorrichtung? Die mutmaßliche Sprengvorrichtung.«

Bratzke beschrieb die Weste, die er unter dem offenen Sakko des Toten gesehen hatte. »Eine Weste, oder eine Art Verband, aus einem schwarzen Material mit weiten Maschen. Wie ein Einkaufsnetz mit vielen Schlaufen und Ösen. Eine Weste, wie Angler sie haben. Sitzt sehr eng, wie es aussieht. Mehrere Pakete sind mit der Weste am Körper festgebunden, breit wie Zigarettenschachteln, nur länger. Sechs Stück habe ich gesehen, unter der Jacke können noch mehr sein. Ich habe ihn nicht angerührt.« Ritter nickte. »Die Pakete sind mit weißen und roten Drähten mit einem runden Kasten verbunden. Der sitzt ziemlich genau vor dem Brustbein. Sieht aus wie ein Rauchmelder, ist aber kleiner im Durchmesser. An dem Kasten sind zwei rote Lämpchen, die abwechselnd blinken. Jeweils für eine Sekunde, würde ich sagen.«

Brenner war beeindruckt, worauf Bratzke in dem kurzen Augenblick alles geachtet und sich gemerkt hatte. Man durfte sich von dem gemütlichen Äußeren seines Freundes nicht täuschen lassen. Mit der Wende hatte sich für Ronald Bratzke eine noch gar nicht richtig begonnene Karriere bei der Kriminalpolizei, der ›K‹, wie sie vor der Wende nur genannt wurde, in Luft aufgelöst. Er hatte es mit viel Fleiß und zusammengebissenen Zähnen geschafft, als einer der wenigen Beamten in die neue Polizei übernommen zu werden, war aber den neuen Vorgesetzten wegen seiner bisherigen Laufbahn und seinen Kontakten suspekt erschienen. Deshalb hatte man ihn schließlich als Revierleiter in Lalendorf geparkt. Hier würde sich bis zur Rente für ihn nicht mehr viel ändern, weder bei der Besoldung, noch beim Dienstgrad. Damit hatte Bratzke sich arrangiert, auch wenn er seinen großen Traum, selbst bei der Kriminalpolizei zu arbeiten, nicht hatte umsetzen können.

Ritter vom SEK überlegte. »Klingt nach einer taktischen Weste. Solche Dinger haben wir auch. Ist vielleicht für die Forensik interessant. Wenn etwas davon übrig bleibt.« Er winkte, ohne hinzusehen, in Richtung des zweiten Busses. »Haben Sie einen bestimmten Geruch wahrgenommen? Ein Geräusch? Ein Display mit einem Countdown? Herunterzählende Ziffern oder so etwas? Nur weiße und rote Drähte, keine blauen, grünen, gelben?«

Bratzke schüttelte den Kopf.

»Das ist ja eine Wundertüte«, knurrte Ritter. »Wie ist der Mann sonst bekleidet? Haben Sie Drähte an anderen Stellen der Kleidung gesehen, am Kragen, an den Handgelenken oder am Hosenbund?«

»Nein. Keine anderen Drähte. Er trägt schwarze Halbschuhe mit dunklen Socken. Dunkle Anzughose mit Bügelfalte, passendes Sakko dazu. Einreiher. Unter der Weste ein weißes Oberhemd, und darunter — würde ich sagen — ein weißes T-Shirt als Unterhemd. Keine Krawatte. An einem Handgelenk habe ich einen goldenen Manschettenknopf gesehen. Und eine teure Uhr. Bevor Sie fragen, beides nicht mit Draht verbunden. Kurze schwarze Haare, glatt rasiert. Keine Brille. Mitte bis Ende Dreißig.«

»Also keine gefütterte Winterjacke, in der Überraschungen lauern können.« Ritter machte noch ein Zeichen mit dem Arm.

Die Schiebetür des zweiten Busses öffnete sich und ein dick gepolsterter Mann in einer unförmigen Jacke mit steil aufsteigendem Kragen und einem Helm mit Vollvisier stieg in Zeitlupe aus. Alles an seiner Kleidung war unförmig, von den Stiefeln bis zum Hals. Im Schneetreiben vor Brenner’s Welt wirkte er wie ein Wesen aus einer anderen Zeit.

Hinter dem Visier war kein Gesicht zu erkennen. Ritter und Bratzke informierten den Mann im bombensicheren Anzug über die Fundlage und die Einzelheiten.

Schließlich nickte der Helm und der Mann hob ergänzend die Hand im riesigen Handschuh.

»Viel Erfolg«, sagte Ritter. »Und Sie gehen mit den Zivilisten in Deckung, Herr Kollege.«

Die beiden VW-Busse wurden vom Grundstück gefahren und sperrten die Straße etwa hundert Meter rechts und links von Brenner’s Welt für den Verkehr ab. Durch das Schneetreiben waren sie kaum noch zu sehen. Der Mann im gepanzerten Anzug wartete vor dem Haus.

Bratzke und Ritter gingen um die Hausecke und zogen Brenner und Cleo mit sich.

»Das sind Herr und Frau Brenner«, stellte Bratzke sie vor. »Die Eigentümer.«

Ritter gab ihnen die Hand. »Ritter. Truppführer des SEK. Können Sie sich das erklären?

---ENDE DER LESEPROBE---