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Talvi Caster, die Neue in der Soko, ist ein Underdog. Und hat im Leben nichts mehr zu verlieren … Ermittlerin Talvi Caster hat in ihrem Job mehr als nur eine Narbe davongetragen – physisch wie psychisch. Seit einem Kampf im Dienst schwer entstellt, lebt sie größtenteils zurückgezogen in einer verdunkelten Wohnung. Bei der Kripo in Greifswald wagt sie schließlich einen beruflichen Neuanfang und sieht sich mit einem herausfordernden Fall konfrontiert. Auf dem populären Fischerfest werden drei menschliche Schädel aufgefunden, grauenerregend zur Schau gestellt. Die Suche nach Gemeinsamkeiten der Toten gestaltet sich jedoch schwierig, denn Talvis Ermittlungen werden sabotiert. Als plötzlich auch noch die Geister ihrer Vergangenheit in Greifswald auftauchen, läuft ihr die Zeit davon …
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Siebo Woydt
Unter dem Wald, neben dem Wasser der Tod
Kriminalroman
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© 2023 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH
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Umschlaggestaltung: finken & bumiller | buchgestaltung und grafikdesign, unter Verwendung des Bildmotivs unsplash/juan-davila
Lektorat: Lothar Strüh
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
eISBN 978-3-98708-007-4
Begleitend zum Studium der Informatik und Mathematik in Bonn und Oldenburg war Siebo Woydt
Ausführlich zu schildern, was sich niemals ereignet hat, ist nicht nur die Aufgabe des Geschichtsschreibers, sondern auch das unveräußerliche Recht jedes wirklichen Kulturmenschen.
Sonntag, 12. September 2021
Den ersten Schädel fand eine Frau mit weißem Kittel in der Tiefkühltruhe ihres Imbisswagens. Ihr Wagen stand abseits am Rand des Fischerfestes. Rita hatte vor zwei Tagen als Erste geöffnet und war jetzt die Letzte, die die große Klappe ihres Wagens schloss und mit dem Aufräumen begann. Die Füße in den alten Turnschuhen schmerzten vom zweitägigen Stehen, der weiße Kittel war vorn und an den Seiten, an denen sie immer die Hände abwischte, durch Fettflecken dunkel, und die mit zu viel Haarspray aufgebaute Frisur neigte sich zur Seite. Zwei harte Tage für eine alte Frau, die alles allein machen musste. Ihr Mann war mit dem Lkw unterwegs, irgendwo in Bulgarien. Eine der letzten Touren vor der Rente, hatte er versprochen, wieder einmal.
Trotz der langen Tage war der Umsatz auch dieses Jahr mager.
Mit langen Tagen kannst du keinen falschen Standort wettmachen. Und die Leute wollen das neue Zeugs fressen, nicht meine Nackensteaks und Thüringer.
Der Schädel lag unter den letzten Pommestüten, und zuerst dachte Rita, nur die Plastikbox mit den eingelegten Schweinesteaks wäre umgefallen und hätte Ladung verloren. Das müsste sie jetzt wegwerfen, aber dann wäre ihr Gewinn noch schmaler als ohnehin schon.
Also rasch zurück ins Plastik damit. Merkt ja keiner. Und die Kühlkette ist ja noch nicht unterbrochen.
Sie griff danach, der rote Klumpen rollte zur Seite und drehte sich, Eiskristalle knirschten auf dem Boden der Truhe. Sie blickte auf blutige Knochen und leere Augenhöhlen, und später war ihr die Spurensicherung dankbar, dass sie neben die Kühltruhe gekotzt hatte.
Ihre Standnachbarn hörten ihre Schreie wegen der geschlossenen Seitenwand des Imbisswagens kaum und zuckten mit den Schultern, sie waren beschäftigt. Dann ging die Tür auf, Rita stolperte auf die oberste der drei Stufen, hielt sich irgendwo fest und schrie weiter. Die Nachbarn sahen den gelbgrünen Fleck auf ihrem Kittel, das sah auch Rita nicht ähnlich.
Der ist bestimmt schlecht geworden, dachte Joe und hob den letzten Karton Zucker in seinen Lieferwagen. Bloß nach Hause, auspacken und pennen. Der Kassensturz konnte warten, er hatte schon am Gewicht der Kasse gemerkt, dass 2021 für ihn ein gutes Jahr werden würde.
Hat wohl zu viel von ihren Thüringern eingefahren, bevor sie verderben. Gekauft hat ja kaum einer bei ihr. Susi vom Bierstand streifte sich den Spülschaum von den Händen, trocknete die langen blauen Fingernägel einzeln und wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. Sie seufzte, schloss kurz die Augen und ging dann doch über die Schotterstraße hinüber zu Ritas Imbiss, weil das Schreien nicht aufhörte.
Vielleicht hat sie sich geschnitten und braucht Hilfe.
»Frau Brehm? Rita?« Susi blickte die drei Stufen zu Rita hoch. Die alte Frau war klein und breit, Susi war schon auf der ersten Stufe mit ihr auf Augenhöhe. Die Schreie der Frau waren jetzt sehr laut, ihr Mund war weit geöffnet, und Susi konnte sehen, dass sich die untere Prothese gelöst hatte. Der Fleck auf Ritas Kittel roch sauer.
Nicht mal Ritas Soßen sind so schlecht.
Susi nahm noch eine Stufe, Spuckefetzen trafen ihr Gesicht. Im Umgang mit Besoffenen hatte sie Erfahrung.
Ich mache einfach alles wie immer.
Sie gab Rita zwei Ohrfeigen, rechts und links. Die Prothese flog aus dem Mund und landete klappernd auf dem Schotter vor dem Imbisswagen, direkt neben einer leeren Pommesschale und zwei halb gerauchten nassen Zigaretten.
Rita Brehm schloss vor Überraschung den Mund. Dann befühlte sie ihn mit der Zunge und hielt sich schnell die Hand vor die Lippen. An ihren Fingern war braune Schmiere, das war die Hand, mit der sie den Klumpen in der Kühltruhe umgedreht hatte. Ihre Augen wurden groß, sie drehte sich von der Biertusse weg, würgte und spuckte in hohem Bogen noch eine kleine Portion heraus.
Direkt in die Pommesschale, dachte Susi. Cool, so elegant schafft das von meinen Gästen keiner.
»Rita? Was soll das? Was ist los?«
Rita Brehm schüttelte heftig den Kopf. Sie konnte jetzt nicht sprechen, vor Ekel, vor Schock und ohne Prothese. Sie zeigte nur stumm mit dem Daumen hinter sich in den Imbisswagen. Aber sie musste jemandem etwas sagen, sie konnte das nicht für sich behalten.
»Niddeinge«, verstand Susi.
Das sollte wohl »Nicht reingehen« heißen, aber so etwas hatte Susi noch nie abgehalten. Sie schob Rita zur Seite, die sich jetzt mit beiden Händen oben an dem kurzen Treppengeländer festhielt, und betrat den Imbisswagen.
»Was ist denn?«, rief sie heraus.
Dann stand sie kreidebleich wieder neben Rita. Das Handy fiel ihr aus der Hand, und sie brach sich beim Aufheben zwei blaue Fingernägel ab.
110, ging ihr durch den Kopf. Und die Fünf-W-Regel. Mein Name ist Susanne Klammek.
Was ist hier eigentlich für eine Adresse? Gang drei, Stand siebzehn. Sicher hilfreich.
Und wo sind die Bullen, wenn man sie mal braucht?
Talvi befand sich am anderen Ende des Festgeländes. Sie hatte zwei Tage die Mobile Wache auf dem Fischerfest geleitet, zwölf Stunden am Tag die Namen von unverständlichen Besoffenen, wütenden Bestohlenen und verärgerten Touristen in das Tagebuch aufgenommen. Dabei war das ein Job für Streifenbeamte. Sie war Kriminaloberkommissarin, KOK Talvi Caster. Aber sie war noch immer die Neue in Greifswald und hatte sich nicht gegen diesen Einsatz gewehrt.
Jetzt hatte sie Rückenschmerzen und ging mit gesenktem Kopf, die Kapuze ihres Parkas tief im Gesicht, durch die Reste des Fischerfestes und sah den Ausstellern zu, die mit Ringen unter den Augen und langsamen Bewegungen ihre Stände abbauten und ihre Wagen schlossen. Niemand erkannte sie, und alle sahen rasch in eine andere Richtung, wenn sie zu grüßen versuchte. Das kannte Talvi, das tat nicht mehr weh.
Hinter einer Schießbude lag ein Haufen blauer Müllsäcke, die konnten unmöglich vom Schießen sein. Ein Fall für das Ordnungsamt. Das war beim Auf- und Abbau mit sechs Leuten im Einsatz, Wochenendschicht für alle.
Ihr Fuß stieß gegen etwas. Die Hälfte eines zerbrochenen Lebkuchenherzens, das »Ich«. Das »liebe Dich« lag einen Schritt weiter mit aufgeblähten Buchstaben in einer Pfütze. Gestern Abend hatte ein Wolkenbruch die Leute in die Zelte getrieben, ins Trockene und zum Alkohol. Die Zahl der Einträge im Tagebuch der Wache war sprunghaft gestiegen.
Die beiden Streifenpolizisten, mit denen sie die enge Wache geteilt hatte – es war nur ein alter VW-Bus mit durchgesessenen Bänken, der ab und zu oberflächlich gereinigt und einmal im Jahr auch zum Festgelände gefahren wurde –, hatten geraucht und sich gern vom Stand gegenüber einladen lassen. Sie hatte abgelehnt, sie wollte keine Zigaretten und keine Geschenke. Aber der dauernd grinsende Grieche vom Gyrosstand hatte ohnehin nur zwei Portionen gebracht. Sie hatte sich einen Gang weiter Pommes gekauft, die nicht geschmeckt hatten und ihr noch schwer im Magen lagen. Kaffee aus einem Pappbecher hatte geholfen, aber nur ein wenig. Essen würde sie heute Abend nichts mehr.
Die frische Luft hier draußen – der Abendwind drückte die Dunstglocke des Festes seit einer halben Stunde ins Land, wo sie sich über dem Ladebower Moor langsam auflöste – schmeckte leicht nach Ostsee und nach Horizont.
Sie musste einkaufen, das ging erst morgen nach Dienstschluss. Bis dahin würde sich der Pommesklumpen in ihrem Magen aufgelöst haben, vielleicht hatte sie dann sogar Appetit.
Die Kollegen hatten den stinkenden VW-Bus vor einer halben Stunde mit Mühe gestartet und waren zum Gelände des Polizeihauptreviers aufgebrochen. Da würde morgen ein Azubi mit Putzmittel und viel Wasser versuchen, die Spuren des Gyros und die Reste des Erbrochenen zu beseitigen, bevor die Mobile Wache für die nächsten Monate wieder eingemottet wurde. Bis zum Weihnachtsmarkt.
Bis dahin konnte noch viel passieren.
Talvi hatte keine Ahnung, ob es eine große und für die Aussteller erfolgreiche Veranstaltung gewesen war. Das würde sie nächstes Jahr erst wissen, wenn es für sie was zu vergleichen gab.
Vielleicht.
Mit dem Ende des Festes, das als größtes Volksfest in Vorpommern jedes Jahr einige tausend Fremde nach Greifswald schwemmte und den Rhythmus der Stadt für eine Woche bestimmte, würde wieder Ruhe eintreten. Viele Gäste fuhren jetzt mit Kopfschmerzen nach Hause, Einheimische atmeten wieder durch. Talvi freute sich auf eine heiße Dusche in ihrem dunklen Bad und zwölf Stunden Schlaf in einem dunklen und stillen Bett. Bloß keine Schlagermusik, Lautsprecher und Fanfaren und keine grölenden und lustigen Leute mehr. Abschließen, stinkende Klamotten ausziehen und Ruhe.
Sie würde die Runde über das Festgelände noch einmal drehen, bevor sie zum Dienstwagen ging. Es war nicht ihr Dienstwagen, und er stank.
Talvi sah auf die Uhr. Ihre Dusche musste noch warten. Immerhin hatte sie hier die Verantwortung, mit oder ohne Mobile Wache.
Ein Plastiklöffel knirschte unter ihrem Schuh.
Die offiziellen polizeilichen Ermittlungen begannen mit einem undeutlichen Anruf. Der diensthabende Beamte in der Notfallzentrale der Polizeidirektion Anklam, wo die 110 aufschlug, presste den Hörer ans Ohr. Das lag nicht an der Qualität der Verbindung – der Bildschirm vor ihm bestätigte eine stabile Mobilfunkverbindung mit guter Sendeleistung –, sondern an der Frau am anderen Ende. Sie war kaum zu verstehen.
Der Anruf kam aus dem Stadtgebiet. Rasch wechselte er zum digitalen Headset. Aufgezeichnet wurde der Anruf auf jeden Fall.
»Wir helfen Ihnen. Bitte bleiben Sie ganz ruhig. Wer spricht, und wo sind Sie?«
»Susanne Klammek. Ich habe einen –«
»Können Sie bitte wiederholen?«
»Klammek, Susanne Klammek, Lange Theke.«
Wieder eine Besoffene. Das würde nicht lange dauern. Missbräuchliche Nutzung einer Notfalleinrichtung unter Alkoholeinfluss. Vielleicht war sie noch Bodensatz vom Fischerfest, menschliches Treibgut eines Volksfestes. Oder eine hilflose Person, orientierungslos mit Überdosis. Wovon auch immer. Dann musste er nur den Standort ermitteln und die Kollegen losschicken für eine Kotzfahrt. Beliebt wurde man damit nicht.
»Gang drei, Stand siebzehn.«
»Wo ist das bitte?«
»Die Lange Theke. Gegenüber der alten Brehm dieses Jahr.«
Die Frau sprach zu undeutlich und zu schnell. Aber nicht wie besoffen. Okay, ein wenig.
»Haben Sie etwas getrunken? Können Sie sich hinsetzen?« Er aktivierte die Standortermittlung. Hilflose Person, mehr oder weniger. Da war das angemessen.
»Natürlich haben wir getrunken! Was glauben Sie denn? Wir haben einen … gefunden! Deshalb rufe ich doch an! Die Brehm kann nicht, die ist fertig.«
Wieder hatte er ein Wort nicht verstanden. Auf dem Bildschirm neben ihm verkleinerte sich der Maßstab einer digitalen Karte. Der Standort lag in Greifswald, das konnte er schon sehen. Ein zweiter Bildschirm sagte ihm, dass drei Wachen im Stadtgebiet derzeit ein Fahrzeug frei hatten.
»Können Sie das bitte wiederholen? Was genau haben Sie gefunden?«
Vielleicht hat sie ja nur ein Sixpack oder eine Buddel Fünf-Euro-Wodka aus dem Discounter intus. Sonntagabend wurde vieles getrunken. Seine Schicht ging noch bis zweiundzwanzig Uhr.
»Einen Grinsekopp! Einen Schädel hat Rita gefunden, neben den Steaks in der Kühlung.«
Die Anzeige auf dem Bildschirm neben ihm war jetzt stabil. Ein transparentes rotes Dreieck lag über einem Ausschnitt des Stadtplans. Greifswald-Wieck. Gang drei, Stand siebzehn. Lange Theke. Kühlung. Die Frau rief vom Fischerfest an. Dann passte doch alles zusammen. Der Zeiger seiner Maus flog schon über den Bildschirm.
»Danke, ich habe Ihren Standort. Die Kollegen sind unterwegs. Bitte nähern Sie sich dem Fundort nicht und fassen Sie das Objekt nicht an.«
»Spinnst du?« Die Frau legte auf.
Er zog die Tastatur zu sich. Streifenwagen und Kriminaldauerdienst informieren. Leichenteile auf dem Gelände des Fischerfestes gemeldet. Fertig. War dort nicht die Mobile Wache? Zwei Klicks zeigten ihm, dass die schon abgezogen war. Da war doch auch die Neue, diese Kasper. Will Präsenz zeigen, ist ja nicht mehr viel los auf dem Fest. Die würden sie früher oder später auch informieren müssen. Die Chefin der Mordkommission, KHK Bergmann, war ja nicht einsatzfähig. Dann muss die Neue mal ran, außer der Selbsttötung vor drei Wochen hat sie noch nichts Ernsthaftes auf dem Tisch gehabt. Auf jeden Fall nicht von uns bei der 110.
Später. Erst den letzten Kaffee für heute und eine halbe Zigarette am offenen Fenster.
Früher am gleichen Tag
Er hatte die Tür zu seinem Büro sorgfältig geschlossen. Talvi Caster war irgendwo im Haus unterwegs, es ging wohl noch um ihre Papiere, Unterlagen der Krankenkasse oder so etwas. Das könnte dauern, die Personalabteilung lag am anderen Ende des Gebäudes, und fix waren die sowieso nicht.
Die Gespräche und Schritte der Kollegen draußen auf dem Flur kamen nur gedämpft bis an seinen Platz am PC. Er hatte einen privaten Ordner geöffnet, die selbst installierte Verschlüsselung mit einem langen Kennwort aufgehoben und die Kopie von KOK Talvi Casters Personalakte geöffnet. Man hatte ja seine Verbindungen. Datenschutz war nie ermittlungsfördernd, aus seiner Sicht. Mit einem schnellen Blick vergewisserte er sich, dass die Bürotür wirklich geschlossen war.
Normale Kindheit, wie es schien. Dazu stand nicht viel in der Akte, für so etwas interessierten sich Personalakten nicht. Aufgewachsen in Flensburg, der Vater war Deutscher, die Mutter Finnin. Grundschule, Abitur. Jurastudium an der EUF in Flensburg, der Vater war Verwaltungsrechtler bei einem Ministerium in Kiel, dann ein Masterstudium der Kriminalistik in Hamburg draufgesetzt. Naturtalent, Überfliegerin, überall Bestnoten. Aber mit zwei Studiengängen und der langen Auszeit jetzt eigentlich Berufsanfängerin. Viel Wissen, aber keine Ahnung. Die einzige Anfängerin mit diesem Dienstgrad.
Ihr erster Fall beim LKA Kiel hatte sie fast das Leben gekostet. Eine Kindesentführung, ein Unternehmersohn, sechs Jahre alt. Der Täter hatte das Kind gleich am ersten Tag getötet und im Wald verscharrt, aber sie hatten zwei Monate gebraucht, um das herauszufinden. Er konnte sich vorstellen, was diese acht Wochen für das Ermittlerteam und die Familie des kleinen Jungen bedeutet hatten.
Ungewöhnlich, dass ihre Personalakte auch Details zu einem abgeschlossenen Fall enthielt. Er klickte weiter, sah sich die Bilder des kleinen Justus Georg nicht an und begriff nach ein paar Seiten, warum dieser Fall, Casters einziger großer Fall in Kiel, auszugsweise in der Akte enthalten war. Talvi Caster hatte den Täter damals auf eigene Faust ermittelt und gestellt, nachdem die Kollegen die Hoffnung schon fast aufgegeben hatten und das Team die Ermittlungen nur noch für die Öffentlichkeit und die Familie des Kindes fortgesetzt hatte.
Der Täter war ein dänischer, in Kiel eingeschriebener Student gewesen, der nebenbei als Sanitäter gearbeitet hatte. Er hatte immer bereitwillig Schichten am Wochenende und an Feiertagen übernommen, vor allem bei Schulfesten, in Sportvereinen und auch bei Klassenfahrten. Seine Kollegen und seine Chefs hatten sich sehr darüber gefreut und es ausgiebig ausgenutzt. So hatte er in aller Ruhe sein Opfer auswählen und sich ihm nähern können. Alle übersahen einen Sanitäter in knallroter Uniform mit Leuchtstreifen, weil er einfach dazugehörte.
Caster hatte ihn mit einem wilden Mix aus DNA-Analyse, Bewegungsprofil, widersprüchlichen Zeugenaussagen und Ergebnissen der KTU aufgespürt und war ihm allein, weil so schnell kein Kollege oder Streifenwagen greifbar gewesen war, in ein Waldstück zwischen Rodenbek und Rumohr westlich von Kiel gefolgt.
Hier hatten sie auch die verscharrte Leiche des Jungen geborgen, nachdem sie Talvi Caster mehr als zwei Tage später endlich gefunden und ausgegraben hatten. Sie hatte Bengt Hellmän gestellt, es war zu einem Kampf gekommen. Caster hatte ein paar Auszeichnungen in Judo und Jiu-Jitsu, aber sie war über einen Ast gestolpert, so stand es in der Akte, hatte ihre Dienstwaffe verloren, und Hellmän hatte sie mit einem Skalpell erwischt. Ein einziger weit ausgeholter Schnitt hatte ihr linkes Ohr halbiert, Wange und Kinn eingeritzt und die Unterlippe halb abgetrennt. Auf dem Weg zurück hatte das Skalpell ihr rechtes Auge nur knapp verfehlt, die Stirnhaut entlang der Augenwülste bis auf den Knochen aufgetrennt und ein Stück Kopfhaut an der linken Schädelseite abgelöst.
Das waren die sichtbaren Narben, schlimm genug, durch sie wurde Talvi Caster zur Außenseiterin, zum Freak. Es war unmöglich, diese Narben zu übersehen, sie bewegten sich bei jedem Wort, das sie sprach. Jammerschade, dachte er. Die Akte enthielt auch ihr Bewerbungsfoto beim LKA, ein paar Monate vorher. Die Frau auf dem Bild hätte er gern früher kennengelernt. Aber dann war es gut, dass er es nicht getan hatte, sonst hätte er jetzt dieses Wrack an der Backe.
Er hatte von Kollegen gehört, die mit den körperlichen Schäden eines solchen Angriffs irgendwann klarkamen.
Hellmän hatte sie mit dem Skalpell im Bauch unter der Plane im Wald zurückgelassen, unter der schon der entführte Junge lag. Zwei Tage lag sie neben ihm. Dem Gutachter hatte sie vor allem von seinen leeren Augen erzählt, deren Blick sie nicht hatte ausweichen können. Die Augen hatten gefleht, verspottet, gebettelt, hatten sie vorwurfsvoll angebrüllt. Ein Fuchs oder Marder hatte schon einen Teil seiner Wange und seines Halses mitgenommen.
Während der mehr als achtundvierzig Stunden in der feuchten Walderde, mit einer alten Plane bedeckt und unfähig, sich zu bewegen oder zu schreien, hatten sich ihre tiefen Schnittwunden entzündet. Spürhunde hatten sie gefunden, weil einen Tag nach ihrem unvorbereiteten Einsatz im Wald – die Akte nannte es »eigenmächtig und unabgestimmt«, das las sich wie der Beginn einer rechtlichen Schlammschlacht um Verantwortung und Entschädigung – ihr Wagen von einem Förster gemeldet worden war. Fünf Liter Blutspende und ein halbes Jahr Krankenhaus folgten, nachdem die Spürhunde sie gefunden und vier Kollegen sie auf einer Trage eine halbe Stunde durch den Wald geschleppt hatten. Zwei von ihnen hatten Infusionsbeutel hochgehalten. Drei hatten dauernd geflucht, einer hatte zwischendurch alles zum Stehen gebracht und gekotzt.
Unfähig, vor Gericht zu erscheinen, hatte sie den Prozess aus der Klinik verfolgen müssen, hatte sich von Kollegen berichten lassen, sobald sie aus dem künstlichen Koma aufgewacht war. Da war das meiste schon vorbei gewesen, Anklageschrift, Beweisaufnahme, Zeugenaussagen. Ihre eigenen Aussagen waren im Krankenzimmer protokolliert worden, so gut sie eben mit den Bandagen auf dem Gesicht sprechen konnte. Es war lange und schmerzhaft gewesen, für alle Beteiligten.
Er nahm an, dass sich niemand um diese Termine gerissen hatte. Niemand sah gern eine verkrüppelte Kollegin. Niemand mochte den Gedanken, an ihrer Stelle zu liegen. Einer der Gutachter hatte sie gefragt, warum sie unbedingt in den aktiven Polizeidienst zurückwolle. Ihr Leben würde doch viel leichter, wenn sie als Anwältin in einem ruhigen Büro im LKA Akten abarbeiten würde, Kommentare schreiben, Aufsätze tippen, telefonieren, mailen. Nein, dafür konnte sie sich nicht entscheiden. »Ich bin Ermittlerin, ich kann nicht umdrehen.«
Die Akte auf seinem Bildschirm nannte drei kosmetische Operationen, bevor die Ärzte aufgegeben hatten. Diese Versuche hatten zwar die Narben im Gesicht etwas begradigt, aber auf dem Foto der letzten Klinik sah er die dunklen Wülste, dick wie der Bleistift auf seinem Tisch, die über das Gesicht der jungen Frau liefen. Das rote Narbengewebe stand in auffälligem Gegensatz zu der blassen Haut und den dunkelblonden Haaren. Die Unterlippe war schief geblieben, sie wirkte spöttisch, wenn sie normal sprach, und schmerzverzerrt, wenn sie lächelte. Also lächelte sie kaum. Das linke Ohr stand schräg und war deutlich kleiner als das rechte. Sie trug die Haare an der linken Seite länger, aber das betonte es irgendwie nur noch mehr.
Er hatte die Caster jeden Tag vor sich, und trotz aller Vorwarnungen von Staatsanwalt Dr. Worges kurz vor der Ankunft von KOK Talvi Caster, der Neuen aus Schleswig-Holstein mit der Vorgeschichte, über die man nicht sprach, sondern nur flüsterte, war er bei der ersten Begegnung zunächst sprachlos gewesen und hatte sie angestarrt. Ein denkbar schlechter Start, den sie beide noch nicht überwunden hatten.
»Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn die Hunde mich eine Woche später gefunden hätten?«, stand in der Akte. »Aber sie haben mich gefunden. Das kann ich nicht ändern.« Eine Notiz von einem der Gutachter.
Er war nicht sicher, ob diese Notiz in die Akte gehörte. Aber sie stand drin. Und er würde sie für ein paar Stunden nicht vergessen können.
Sein Kaffee war kalt, doch er blieb sitzen. Heute war es zu spät für noch einen Kaffee.
Caster hatte den Täter im Kampf verletzt. Durch den Sturz über den Ast hatte sie ihre Dienstwaffe verloren und durch das Blut, das ihr über das Gesicht gelaufen war, kaum noch etwas gesehen. Am Boden liegend hatte sie ein Stück Stacheldraht ertastet, das aus einem alten Holzstapel ragte. Sie hatte damit um sich geschlagen, blind vor Blut und Schmerz, und Bengt Hellmän den rostigen Stacheldraht durch das Gesicht gepeitscht.
Er hatte mit einer frisch genähten Wunde auf der Stirn, die wie ein Reißverschluss aussah, und einem verbundenen Auge auf der Anklagebank im Oberlandesgericht gesessen. Hinter dem Verband war eine leere Augenhöhle, ein Drahtstachel hatte den rechten Augapfel in Fetzen gerissen. Niemand hatte ihr deswegen Vorwürfe gemacht. Und er vermutete, dass die Chirurgen sich bei Hellmän nicht so angestrengt hatten wie bei ihr.
Talvi Caster hatte im Koma gelegen, während Hellmän im Gerichtssaal gesessen und ihr laut, und ohne auf die Ordnungsrufe des Richters zu reagieren, ein Wiedersehen angekündigt hatte. Die Kollegen hatten das ihr gegenüber am Krankenbett heruntergespielt, das hätte sicher nichts zu bedeuten, das käme häufig vor. In der Akte stand nicht, ob sie das geglaubt hatte.
Die neue Chefin wird es hier nicht leicht haben. Kriminalkommissar Horn schloss die Datei und auch seinen verschlüsselten Ordner. Die Dienstvorschriften für den Gebrauch elektronischer Datenverarbeitung verboten natürlich, dass jemand private Daten auf dem Dienstrechner speicherte oder Daten so verschlüsselte, dass Kollegen nicht darauf zugreifen konnten.
Scheiß drauf.
Die beiden Frauen standen dicht nebeneinander an der Theke, draußen, wo bis Mittag noch Susis Gäste getrunken hatten. Vor ihnen standen zwei Gläser und zwischen ihnen eine Flasche von dem guten Obstler. Der verkaufte sich für drei Euro zwanzig pro Shot, wenn er bestellt wurde. Jetzt beruhigte er Susanne und gab Rita etwas zum Festhalten. Sie hatten auch die Prothese damit abgespült, bevor Rita sie wieder eingesetzt hatte.
Rita Brehm spürte noch ein paar Krümel unter der Platte, aber nach dem dritten Obstler war das nicht mehr so wichtig.
Susi hatte auch schon drei gehabt und goss ihnen gerade Nummer vier ein. Scheißegal, dann nahm sie eben später ein Taxi. Die arme Rita, einen abgetrennten Kopf in der Kühlung. Die Haut fehlte, die Lippen auch, gelbweiße Zähne hatten sie angegrinst, von einem roten Rand blutigen Kieferknochens umgeben. Nur gut, dass ihr das nicht passiert war. Das Bild würde sie lange nicht löschen können. Auch mit dem guten Obstler nicht. Und übermorgen musste sie mit dem Wagen in Brandenburg sein, würde die nächsten Tage wieder im Stehen verbringen, lächeln und eingießen und kassieren.
Ihr Magen zog sich zusammen, und sie kniff die Augen zu, um das Bild des Schädels ohne Haut zu vertreiben. Rita hob schon den Drink. Ihre Gläser stießen aneinander, und gleichzeitig warfen Susi Klammek und Rita Brehm die Köpfe in den Nacken. In diesem Augenblick hielt der Streifenwagen hinter ihnen.
Die beiden Beamten, am Steuer ein älterer mit drei blauen Sternen auf der Schulter und auf der Beifahrerseite ein jüngerer mit einem blauen Stern, hatten sich minutenlang über das Festgelände gequält, hatten den Transportern der Schausteller ausweichen, Berge aus Müllsäcken umfahren und feststellen müssen, dass »Gang drei, Stand siebzehn« keine Hilfe war, denn weder die Gänge noch die Stände waren sichtbar nummeriert. Und keiner von beiden hatte zugeben wollen, dass er nicht wusste, wie man die Koordinaten der Standortbestimmung, die sie angeblich auf fünf Meter genau von der Zentrale erhalten hatten, in das neue Navi ihres Einsatzwagens eingab. Die Zentrale versuchte schon seit einer Weile, den Veranstalter oder einen Verantwortlichen vor Ort zu erreichen, hatte aber noch keinen Erfolg gehabt. Der KDD war auch schon benachrichtigt, die Kollegen würden bald hier sein.
Die zwei saufenden Frauen in weißen Kitteln, die mit dem Rücken zur Straße an einer Trinkbude namens »Lange Theke« standen, eine schlank und eine klein und breit, passten zu den Angaben auf dem kleinen Display am Armaturenbrett.
Klüver hatte Vorahnungen. Die hatte er schon seit Monaten, und mit jeder Woche, die er auf seinem Kalender bis zur Rente abstrich, waren die Vorahnungen stärker geworden. Vierzig Jahre und drei Monate war er im Dienst, Ausbildung, Polizeischule, dann Streifendienst. Fünf Einsatzwagen hatte er verschlissen, mehr als eine Million Kilometer in Greifswald und Umgebung lagen hinter ihm. Hier kannte er alle, und alle kannten ihn. Nur das Fischerfest brachte jedes Jahr neue Gesichter in sein Revier. Und immer viel Arbeit. Und seit diesem Jahr eine Vorahnung, dass auf der letzten Meile vor der Rente noch etwas wartete, dass er darauf zufuhr und nicht ausweichen konnte.
Den einen Hintern im weißen Kittel erkannte er sofort. Das war die alte Brehm, die war seit zwei Jahrzehnten jedes Jahr dabei. Kam aus Stralsund mit ihrem Imbisswagen. Klüver hatte einmal eine Wurst bei ihr gegessen, die nächsten Jahre dann nur noch freundlich gegrüßt. Die lebt nur davon, dass ihr Publikum wechselt, Stammgäste kriegt die keine. Den anderen Hintern kannte er nicht. Der war schmaler, jünger, knackiger, und der Kittel spannte sich darüber. Oben kurze blonde Haare, im Nacken rasiert, bunte Piercings im linken Ohr, das war vom Auto aus sichtbar. Eine Hand mit blauen Fingernägeln hielt ein leeres Shotglas, aus dem Ärmel lugten Tattoos heraus. Unten Jeans und Sneaker.
Er schälte sich aus dem Streifenwagen und knallte die Tür zu.
»Sie haben angerufen? Frau Klammek?«
Der junge Hintern drehte sich um. »Das bin ich.«
Wie viele hatte sie schon intus? Die Zentrale hatte vorgewarnt, dass die Anruferin, Zeugin, wie auch immer, eventuell unter Alkoholeinfluss stand. Also am besten nicht im Wagen mitnehmen, hatte Klüver gedacht. Nicht so kurz vor der Rente.
Die junge Frau stellte das leere Shotglas auf die Theke hinter sich. Durchaus hübsch, dachte Klüver. Aber verbraucht. Sieht aus wie Mitte dreißig, ist wahrscheinlich Mitte zwanzig. Dritte und letzte Generation Schausteller.
Er musste nicht hinsehen, Kollege Altay stand hinter ihm. Zwei Schritte hinter ihm und zwei Schritte zur Seite, genau nach Vorschrift. Freies Sichtfeld und freies Schussfeld. Er fragte sich, ob Altay bei der Blonden gerne zum Schuss kommen würde. Sie waren erst seit ein paar Monaten ein Team im Wagen. Klüver fand, der Begriff »Team« wurde oft falsch benutzt, wie »Freund« in diesen sozialen Netzwerken. Sie saßen nebeneinander im Streifenwagen, fuhren die gleichen Strecken und sprachen über die gleichen Dinge, das war noch kein Team und noch lange keine Freundschaft. Nicht so kurz vor der Rente.
Er kannte das Beuteschema des jungen Kollegen noch nicht. Blond, schlank, Tattoos und Piercings. Passt das für dich? Sein eigenes Beuteschema hatte Kronkorken und wartete zu Hause im Kühlschrank auf das Ende seiner Schicht.
»Sie haben angerufen?«, wiederholte er.
Diese Frau Klammek nickte, sagte aber nichts. Die alte Brehm daneben drehte sich um, ihr Kittel raschelte dabei. Auf der Vorderseite hatte der Kittel einen feuchten Fleck, grau und verschmiert, sie hatte ihn nicht herausreiben können, und Klüver nahm an, dass sie lieber in schmutziger Uniform auftrat als in Zivil. Berufsehre, alte Schule. Auch in letzter Generation, dachte Klüver. Der Fleck stank nach Erbrochenem, sogar aus der Entfernung.
Rita Brehm fixierte sie beide mühsam. Sie erkennt mich nicht. Klüver sah das in ihrem Blick.
»Guten Tag«, sagte Rita Brehm und musste aufstoßen. »Da drüben.« Sie zeigte mit einer Hand, die ein Schnapsglas umklammert hielt, undeutlich in die Richtung ihres Imbisswagens. »Nicht reingehen. Sieht scheiße aus.« Dann drehte sie sich um und griff nach der Flasche, die vor den Frauen auf dem Tresen stand.
»Waren Sie auch da drin?« Er sprach Susi Klammek an und machte mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung des Fundortes.
Die junge Blonde nickte wieder. »Liegt in der Kühlung. Kühltruhe. Hab nichts angefasst.«
Klüver bemerkte zwei abgebrochene blaue Fingernägel. »Danke. Die Kollegen brauchen dann später Ihre Aussage und Abdrücke Ihrer Schuhe.«
»Okay. Ich muss aber weiter abbauen.«
»Kein Problem. Aber Sie bleiben hier in der Gegend.«
Rita Brehm kippte einen Schnaps hinunter und setzte das leere Glas hart auf die Theke. »Wollen Sie nicht erst mal nachsehen? Danach können Sie gerne einen mittrinken. Werden Sie brauchen.«
Klüver setzte sich in Bewegung. »Altay, Sie passen auf, dass die beiden Damen vernehmungsfähig bleiben.«
In grader Linie erreichte Klüver den Imbisswagen und stieg grinsend die drei Stufen hinauf. Hinter sich hörte er Radau. Altay hatte den Frauen die Flasche weggenommen. Klüver hatte erwartet, dass der Junge die Aufgabe so lösen würde. Der hat mehr zu lernen, als ich ihm in den paar Wochen noch beibringen kann.
Das Innere des Imbisswagens war eng und dunkel, die große Außenklappe war schon geschlossen. Klüver wollte kein Licht machen wegen eventueller Fingerabdrücke auf dem Schalter. Die Stablampe war in ihrem Einsatzwagen und Altay zu weit entfernt und zu beschäftigt, um ihn dafür loszuschicken.
Dreck. Es roch nach kaltem Fett und Soßen mit viel Essig. Die Arbeitsfläche war fleckig, eine Folge größer werdender Tropfen zog sich von einem abgenutzten Schneidebrett zur Kante und setzte sich auf dem Fußboden fort. Dort war auch eine Pfütze aus Erbrochenem, Klüver hatte sie gerochen, bevor er sie gesehen hatte. Das würde die KTU prüfen. Klüver machte einen großen Schritt darüber hinweg und hoffte, dass seine Sohlen auf dem Boden nicht wegrutschen würden. Bloß nicht hier ausrutschen, die Uniform versauen, sich vor Altay und den Zeugen lächerlich machen und einen Fundort ruinieren. Er wollte nicht als Klüver der Fresseleger in Rente gehen.
Die Sohle fand Halt, und schließlich stand er vor der Kühlung. Es war ein Profimodell, breiter und tiefer als das Ding, das kaputt bei ihm im Keller stand. Ihre Schuhe waren da drin, die sie nicht mehr abgeholt hatte. Und eine Reisetasche, glaubte er. Er hatte sie lange nicht mehr geöffnet.
Klüver zog einen Kuli aus der Tasche am Oberarm seiner Uniformjacke und schaffte es, damit den Deckel der Truhe nach oben zu drücken.
Der Deckel schlug hinten an die Wand des Wagens, es gab einen hohlen Knall. In der Truhe ging Licht an. Klar, dachte Klüver. Ist ja ein Profimodell. Im Licht sah er, dass es sich um ein altes Gerät handelte, es war verkratzt und vergilbt, die Griffleiste hing an nur einer Befestigung, und ihr nervöser Schatten pendelte im gleichen Takt durch den kleinen Raum.
Im Licht sah er auch, was in der Truhe lag. Es dauerte zwei Atemzüge, bis er durch den pendelnden Schatten das nackte, grinsende Gesicht eines Schädels erkannte. Beim dritten Atemzug stolperte er die kurze Treppe hinunter. Die dunkle Vorahnung war verschwunden. Sie hatte ihn eingeholt und überholt und war weg.
Klüver blieb stehen, atmete durch und ging weiter. Er konnte schon viel notieren, bevor die Spurensicherung eintraf. Und irgendjemand würde auch dieser Kommissarin Kasper Bescheid sagen müssen, die dieses Jahr die Mobile Wache leitete. Das war nicht seine Aufgabe.
Vor ein paar Minuten war ein Lieferwagen vorgefahren und hatte neben Ritas Imbiss gehalten. Behördenkennzeichen, abgedunkelte Fenster. Die Spurensicherung, tippte Susi. Beim Aufräumen sah sie zu, wie zwei Männer ausstiegen, sich weiße Ganzkörperoveralls anzogen und Handschuhe und Masken überstreiften. Wie bei Netflix.
Die vier Obstler hatten nur kurz geholfen. Jetzt stießen Flaschen und Gläser laut zusammen, zweimal hatte sie Glasbruch weggefegt, noch immer trat sie auf kleine Splitter. Und sie hatte es bisher vermieden, die Plastiktüte anzurühren, die hinter ihrem Wagen lag und bei der Susi sich nicht erinnern konnte, wo sie herkam und wann sie aufgetaucht war. Das Ding stank irgendwie, das hatte sie beim Vorbeigehen gemerkt. Das vertrug sich gerade nicht so gut mit ihrem Magen. Also lieber noch ein paar Gläser in die Kartons einsortieren. Und leere Flaschen standen auch noch genug herum. Sie hatte sich am letzten Tag entschieden, kein Fass mehr anzustechen. Das war richtig gewesen, aber jetzt war sie von leeren Flaschen auf dem Fußboden umgeben, die alle noch in die Kästen mussten, bevor sie Feierabend hatte und Franky anrufen konnte, damit er sie endlich abholte. Danach kam die stinkende Tüte an die Reihe. Vielleicht kümmerte sich Franky darum, aber wahrscheinlich nicht.
Bei Rita gingen die weißen Overalls ein und aus. Jetzt kam eine schmale Frau im Parka und mit gesenktem Kopf, sie wurde von den Beamten begrüßt. Party sieht anders aus, dachte Susi und bückte sich, um zwei weitere Hände voll leerer Flaschen hochzunehmen.
Talvi verschaffte sich rasch einen Überblick. Klüver war da, das war gut. Der hatte Ahnung und würde den Fundort nicht kontaminieren. Sie ging nicht davon aus, dass es auch der Tatort war, man konnte zwar auf einem Volksfest unbemerkt jemanden erstechen, aber das Opfer unbemerkt zu enthaupten und nur den Schädel zu hinterlassen war kaum möglich. Sie musste also damit rechnen, dass der Fundort mit Absicht ausgewählt worden war und eine Rolle spielte, dass er vielleicht eine Nachricht darstellte.
Ein enthäuteter menschlicher Schädel in einer abgenutzten Kühltruhe eines Imbisswagens, Identität unbekannt. Noch. Das Opfer zu identifizieren hatte oberste Priorität.
Die Kollegen des Kriminaldauerdienstes und der Spurensicherung hatten sie zurückhaltend begrüßt. Rund um die Uhr Bereitschaft zu haben war eine Sache, Sonntagabend im Dunkeln rauszumüssen war eine andere. Alle waren spürbar erleichtert gewesen, die Verantwortung gleich wieder abgeben zu können. Talvi leitete jetzt die Ermittlungen als ranghöchste anwesende Beamtin, so sahen es die Regeln vor, die dieses Mal nicht in Frage gestellt wurden.
Sie hatte den Fundort zweimal umrundet, einmal direkt um den Imbisswagen und einmal in etwa zwanzig Metern Entfernung. Kommissar Horn, ihr junger Kollege, war ihr gefolgt. Nicht weil er ihre Methode nachvollziehen wollte, sondern um sie einzuholen. »Frau Caster?«
Sie hatte ihm schon ein paarmal gesagt, Talvi würde reichen.
»Frau Caster, wir haben die Zeugenaussagen fertig. Die Spurensicherung ist gleich durch. Die beiden Frauen können abreisen, wenn Sie mich fragen. Und Doc Mertes sagt, Sie sollen bitte noch mal in den Imbisswagen. Er hat etwas gefunden.«
»Mit den Frauen will ich noch sprechen. Mit der älteren jedenfalls, dieser Frau Brehm. Hat Mertes gesagt, was?«
Horn schüttelte den Kopf. »Nö.«
Ihr Assistent war nur drei Jahre jünger als sie und nicht begeistert gewesen, dass sie überhaupt nach Greifswald versetzt worden war. Talvi ging davon aus, dass er sich auch auf die Stelle beworben hatte. Aber es war ja kein richtiges Bewerbungsverfahren gewesen. Ein Versorgungsfall, hatte man hinter ihrem Rücken getuschelt. Natürlich war das auch bei ihr gelandet.
»Ich komme.«
Dr. Mertes, Chef der Rechtsmedizin an der Uni Greifswald, hatte Talvi schon bei ihrem ersten größeren Fall in der Stadt kennengelernt. Er hatte den Suizid des Hilfsarbeiters, der sich in seiner Zwei-Raum-Wohnung vergiftet hatte, rasch bestätigt und war dann wieder verschwunden. Sein anschließender Obduktionsbericht war glasklar formuliert gewesen, ohne Rechtschreibfehler, und hatte kein Wort zu viel enthalten. Vielleicht interessierte ihn ein tiefgefrorener Schädel etwas mehr.
Talvi zog Plastikschuhe über ihre Stiefeletten und stieg die drei Stufen hinauf in den Imbisswagen. Es war eng, dunkel und roch nach kaltem Frittenfett. So wie der Klumpen in meinem Magen.
»Hallo, Herr Doktor.«
»Hallo, Frau Oberkommissarin.« Er zeigte mit einem weißen Daumen auf die offene Kühltruhe. »Dieses Mal weiß ich wenigstens, warum ich vom Schreibtisch aufgestanden bin.« Er war Arzt und Profi, er sah ihr in die Augen und nicht ins Gesicht. Er hatte wohl schon Schlimmeres auf seinem Seziertisch gehabt.
Sie standen im engen Wagen dicht beieinander. Talvi sah die kleinen Schweißperlen, die sich auf seiner Stirn unterhalb der weißen Kapuze des Overalls gebildet hatten. Unter der Kapuze verbargen sich eine hohe Stirn und ein Haarkranz wie bei einem Mönch. Die auf der Nase nach unten gerutschte Brille gab ihm mehr das Aussehen eines Oberlehrers. Das war er ja irgendwie auch. Er sah sie über den Rand der Brille an. Doc Mertes hatte etwas im Ärmel und wartete offenbar darauf, dass sie ihn fragte. War das bei ihm ein Zeichen für gute Laune oder für Überheblichkeit? Talvi tat ihm den Gefallen. Sie hatte keine Zeit für Spielchen. Nicht bei dieser Art Fall und nicht in ihrer Situation. »Was haben Sie gefunden?«
Seine Augen glänzten. »Menschlicher Schädel, zwischen dem ersten und zweiten Halswirbel, also zwischen Atlas und Axis, vom Körper abgetrennt. Recht saubere Schnittkante, die Wirbel sind nicht verletzt. Der Schädelgröße und der Verhärtung der Schädelnähte nach zu urteilen, ist es der Schädel eines Erwachsenen. Die Kopfhaut wurde abgezogen, Schwarte, sagen die Fachleute. Die Ohren fehlen daher auch. Die Augen wurden entfernt, das ist meiner Meinung nach vor dem Abschwarten geschehen, Näheres wird meine Autopsie zeigen. Gehirn und Zunge fehlen auch. Das Zahnbild sieht recht vollständig aus, anscheinend hat der oder haben die Täter daran nichts verändert, es sind keine akuten Extraktionen oder Abbrüche zu erkennen. Aber etliche behandelte Kariesschäden. Auf jeden Fall wird dieses Zahnschema geeignet sein, das Opfer zu identifizieren. Falls diese Person in einem Land gewohnt hat, in dem die Zahnärzte Patientenakten führen und Sie den richtigen Zahnarzt finden können. Aber das Schönste …« Er legte eine Kunstpause ein und genoss sie sichtlich.
»… ist was?«
Dr. Mertes strahlte. »Kein Gefrierbrand. Sorry, das lag mir auf der Zunge. Da wir von Zunge sprechen.« Er nahm mit einer langen Pinzette einen flachen Gegenstand aus einem durchsichtigen Plastikbeutel. »Der Schädel hatte einen Personalausweis in der Mundhöhle. Keine Zunge, aber einen Personalausweis.«
Ein ausgewählter Fundort und ein Perso im Mund. Der Klumpen in ihrem Magen wurde schwerer. »Saubere Schnittkanten, also ein Profi? Chirurg? Bestatter? Pathologe oder gar Rechtsmediziner?«
Mertes schob das Plastikkärtchen wieder in den Beutel, der bereits beschriftet war, und zuckte mit den Schultern. »Oder Schlachter, Metzger oder Kannibale mit guter Ausrüstung.«
»Geschlecht?«
»Ja.« Er schüttelte den Kopf, die weiße Kapuze knisterte. »Unmöglich, das hier zu sagen. Blut und DNA kann ich erst im Institut analysieren. Hier kann ich nicht mal die Körpergröße schätzen, und das wird auch im Institut schwer genug, erwarten Sie da nicht zu viel.«
Sie nickte. »Wie kriegen Sie das Opfer ins Labor, ohne dass es auftaut?«
»Knifflig, darauf sind wir nicht vorbereitet.« Das schien ihm Spaß zu machen. »Wir bräuchten eine Art Kühltasche.«
»Moment.« Talvi drehte sich um und ging die drei Schritte bis zur obersten Treppenstufe. »Horn!«
»Ja?« Er drehte sich um.
»Sie haben doch eine Kühlbox im Auto, oder?«
»Ja. Warum?«
»Die Spurensicherung bringt damit den Schädel ins Labor.«
Horn verzog das Gesicht. »Frau Caster, die ist privat, die gehört zum Angelzeug. Die kann ich doch dann wegwerfen.«
»Kaufen Sie sich eine neue und setzen Sie sie auf die Spesenabrechnung. Wenn jemand meckert, schicken Sie ihn zu mir. Und wir brauchen Eis oder Kühlakkus oder so etwas, damit der Schädel beim Transport nicht auftaut. Vielleicht gibt’s am Getränkestand noch was, bitte fragen Sie mal.«
»Okay.« Horn ging mit gesenktem Kopf in Richtung der Langen Theke.
Doc Mertes hatte sich in die Truhe gebeugt und nahm mit der Pinzette Proben links und rechts des Schädels. »Ein Fall für das Ordnungsamt, wenn meine Kenntnisse in Parasitologie mich nicht im Stich lassen. Einige von diesen Dingen gehören nicht in eine Kühltruhe, auch wenn sie tiefgefroren sind.«
»Können das Spuren sein, die zur Tat gehören? Zum Täter?«
Er richtete sich auf und verzog das Gesicht. »Die Kälte hier drin und eine dauernde Zwangshaltung sind Gift für meine eigene Halswirbelsäule. Frau Caster, die übliche Aufgabenteilung ist, dass ich die Spuren am Opfer für Sie quantifiziere und qualifiziere und Sie das dann zu einem Gesamtbild zusammensetzen. Oder?«
»Wobei Ihre geschätzte Meinung selbstverständlich willkommen ist.«
Sein rechtes Auge zuckte hinter dem Brillenglas. War das ein Zwinkern?
Er kam nicht zu einer Antwort. Draußen schrie eine Frau, ihre Stimme überschlug sich.
Susi hatte weiterhin einen Bogen um die übel riechende Plastiktüte gemacht. Sollte sich doch Franky gleich darum kümmern. Seine Bude, sein Problem.
Sie war endlich mit zwei Armen voll leerer Bierflaschen aus dem Wagen getreten und hatte sich wie immer zur Seite drehen müssen, die Tür war zu schmal. Dabei hatte sie gleich gesehen, dass ein Stapel Bierkästen schief stand. Drei leere Kästen standen gerade, die beiden darauf standen schief, als hätte jemand den Stapel abgeknickt wie einen Besenstiel.
Außer ihr hatte hier keiner sortiert und gestapelt. Zumindest seit gestern Mittag nicht, da hatte sich Andrea plötzlich aus dem Staub gemacht. Ihr wär übel, hatte sie gesagt. Susi hatte also den Tag und den langen Abend allein machen müssen. Franky sah es nicht gerne, wenn eins seiner Mädels allein im Wagen war. Nicht mit all den Besoffenen, sagte er immer. Aber mehr Leute einzustellen fiel ihm auch nicht ein.
Sie war immer ordentlich, denn nur mit Ordnung ging es schnell, und sie verkaufte lieber, als zur Stoßzeit hinter der Bude mit Leergut zu hantieren. Schließlich war sie am Umsatz beteiligt, und Andrea würde sie für gestern rausrechnen, den Laden hatte sie allein gestemmt. Und es war kein schlechter Abend gewesen. Der letzte Abend war meistens gut, warum auch immer. Die Leute konnten sich einfach nicht trennen.
Die beiden Kästen oben auf dem schiefen Stapel passten nicht zusammen. Der untere war für Halbliter-Euroflaschen, der obere für die kurzen Stubbis. Frechheit, ihr während des Festes, wenn sie vorn alle Hände voll zu tun hatte, das Leergut hinter dem Rücken wegzuklauen. Nur gut, dass sie immer dreimal prüfte, ob ihr Auto abgeschlossen war.
Sie hatte die Flaschen in ihren Armen geübt in leere Kästen rutschen lassen, sie wollte beim Abbauen nicht noch mehr Glasbruch oder sogar Schnittwunden riskieren. Mit den freien Händen hatte sie den Stubbi-Kasten vom schiefen Stapel genommen. Der war leer gewesen, aber der Eurokasten darunter nicht.
Der Boden des Stubbi-Kastens hatte einen viereckigen Abdruck auf dem blutigen Knochen des Schädels hinterlassen. Sie sah die leeren Augenhöhlen und das Grinsen der frei liegenden Zähne. Zwischen Ober- und Unterkiefer streckte der Schädel ihr eine flache Plastikzunge entgegen. Susi konnte sich nicht bewegen und nicht atmen.
Plötzlich stand ein junger Mann neben ihr. »Haben Sie mal Eis für uns?«
Jetzt konnte sie schreien.
Und Kommissar Horn kriegte das mit voller Wucht ab. Er machte einen Schritt zurück und verschwand im Inneren des Getränkewagens. Dann kam er wieder heraus, gab der schreienden Susi Klammek zwei leichte Ohrfeigen und zog sie am Arm mit sich nach vorn in den Wagen. Draußen war schließlich ein Fundort. Er platzierte die Frau neben der alten Frau Brehm an der Theke.
»Kollege Altay, die beiden Damen brauchen etwas zu trinken. Aus medizinischen Gründen. Aber achten Sie darauf, dass sie vernehmungsfähig bleiben.«
»Ich dachte –«
»Später.«
Horn sah seine Chefin herbeieilen, die rechte Hand am Pistolenholster hinten an der Hüfte. Er schüttelte den Kopf und machte dann mit zwei Fingern der linken Hand das Victoryzeichen.
Wir haben einen zweiten, sollte das wohl heißen. Talvi fand diese Geste unglücklich. Sie stand neben ihm.
»Das wird noch dauern«, sagte Horn. »Wir brauchen Scheinwerfer.«
Talvi nickte. »Ich rufe an. Wo liegt er?«
Das ist kein Zufall, ging ihr durch den Kopf. Wir laufen durch eine Inszenierung.
Horn machte eine Kopfbewegung. »Hinten in einem leeren Bierkasten.«
Seine Chefin hörte nur mit einem Ohr zu. Sie hatte schon die technische Unterstützung des KDD in der Leitung und ging beim Sprechen in Richtung des Imbisswagens, wo Doc Mertes oben an der Treppe stand und ihr entgegenblickte. Sie nickte ihm zu. Die Presse wird uns grillen, wir werden unter Flutlicht arbeiten und stehen jetzt schon unter Zeitdruck. Fehlt nur noch, dass Dr. Worges hier auftaucht.
Staatsanwalt Dr. Worges saß im Auto. Vor vier Minuten hatte er den Anruf erhalten, vor drei Minuten den Blick seiner Frau ignoriert, weil er am Sonntagabend wegmusste, und jetzt hatte er nur noch zwei Kilometer bis zum Festgelände.
KHK Bergmann lag im Krankenhaus, schon seit Wochen. Worges würde es abstreiten, aber er rechnete nicht damit, dass sie noch einmal zum Dienst erschien. Er wäre auch losgefahren, wenn die alte Bergmann vor Ort zuständig wäre. Am Sonntagabend und trotz der Blicke seiner Frau. Bergmann war mit all ihren Macken seine beste Kraft und wusste, was sie tat. Aber er hätte sich nicht so beeilt. Das war schon die zweite rote Ampel.
Die weißen Overalls der Spurensicherung – Talvi konnte wegen der Masken ihre Gesichter nicht erkennen, und in den Overalls sahen sie alle gleich aus, wie unbeholfene Stormtrooper – hatten die Lange Theke weiträumig abgesperrt. Eigentlich hatten sie einen einzigen großen Fundort, denn die Absperrungen um den Imbisswagen und um die Trinkbude stießen aneinander. Die Scheinwerfer waren aufgebaut, gerade startete jemand einen Generator, und zwei Sekunden später stand Talvi mit Horn im Flutlicht. Rasch ging sie aus dem Lichtkegel und setzte drauf, dass Horn ihr folgte.
Um die beiden Absperrungen war eine zweite Sperrzone errichtet worden, damit keine Schaulustigen zu nahe kamen. Talvi ging es dabei weniger um zertrampelte Spuren als um Fotos, die bei Facebook und Co. auftauchten, bevor sie die Lage im Griff hatten. »Bei Social Media ist man immer in der Defensive«, hatten die Dozenten betont.
Sie sah Streifenpolizisten in Uniform und Kollegen in Zivil zwischen den letzten Buden und Lieferwagen durch die beginnende Dunkelheit stolpern und Flatterband spannen. Wahrscheinlich ist bald die ganze Polizei von Greifswald hier vor Ort. Auch nicht gut. Aber Talvi nahm nicht an, dass es sich bei zwei abgetrennten Köpfen auf einem Jahrmarkt um eine Ablenkung handelte, um in Ruhe noch etwas Größeres durchziehen zu können.
»Die Kollegen von der Spurensicherung sagen, auch der zweite Schädel hat seinen Perso im Mund.« Horn bekam kaum Luft.
Der Pommesklumpen in ihrem Magen veränderte seine Lage, sobald sie sich einen Schädel mit einem Personalausweis als Zunge vorstellte. Aber es half nichts, als Leitende musste sie sich den Fund persönlich ansehen.
»Einen Perso, Horn. Nicht zwingend seinen Perso. Oder ihren.«