BREXITANNIA - Robert Tonks - E-Book

BREXITANNIA E-Book

Robert Tonks

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Beschreibung

1973 trat Großbritannien der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bei. In einem Referendum zwei Jahre später stimmten 68% der Brit*innen für den Verbleib in der EWG. Am 31. Januar 2020 trat Großbritannien schließlich aus der Europäischen Union (EU) aus. Was war in der Zwischenzeit passiert? Um die britische Sicht der Dinge zu verstehen, reisten die Autoren – der deutsch-britische Politikwissenschaftler Robert Tonks und der Medienproduzent Zakaria Rahmani – im Sommer 2020 quer über die Insel. Aus ihren Recherchen entstand der WDR-Podcast 'BREXITANNIA', der inzwischen sogar im Schulunterricht verwendet wird. Tonks und Rahmani sprachen mit zahlreichen Menschen aus unterschiedlichsten Lebensbereichen, Schichten und Berufen und mit dem Professor, der als ›Erfinder des Brexit‹ gilt. Warum traf der rote Bus der Brexit-Kampagne mit dem Versprechen, die EU-Millionen direkt in den nationalen Gesundheitsdienst NHS zu investieren, den Nerv so vieler Brit*innen? Warum hatten so viele ehemalige Bergarbeiter für den Brexit gestimmt? Der Brexit habe sich in den abgehängten und armen Gebieten des Landes entschieden, hieß es 2016. Doch stellte sich heraus, dass die Befürwortenden auch woanders saßen: in Middle England. Das Problem nur: Dieser Ort ist auf keiner Karte zu finden. »Die Briten wollten eigentlich nie wirklich Mitglied der EU sein!«, hört man oft. Was ist dran, an dieser Aussage? Und welche Rolle spielte dabei die nostalgische Sehnsucht nach dem Empire? Last but not least stellt sich die Frage: Was bedeutet der Brexit für die Zukunft der Insel?

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Seitenzahl: 240

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Robert Tonks & Zakaria Rahmani

BREXITANNIA

Großbritanniens Weg aus der EU Great Britain’s Exit from the EUBasierend auf dem gleichnamigen Audio-Podcastim Westdeutschen RundfunkBased on the Audio Podcast on  German Public Broadcaster Westdeutscher Rundfunk

In Erinnerung an Siegfried Jäger (17.4.1937–16.8.2020).

Er war Begründer und wissenschaftlicher Leiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Wir verdanken ihm jahrzehntelange Arbeit an der Entwicklung der theoretischen Grundlagen der Kritischen Diskursanalyse sowie an der permanenten Weiterentwicklung ihrer Methode zur Erforschung brisanter Themen und zur Intervention in gesellschaftliche Debatten.

Die Edition DISS wird im Auftrag des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung herausgegeben von Gabriele Cleve, Margarete Jäger, Wolfgang Kastrup, Helmut Kellershohn, Benno Nothardt, Jobst Paul, Katharina Peters, Regina Wamper.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Robert Tonks & Zakaria Rahmani:

Brexitannia

Edition DISS, Bd. 49

1. Auflage, Oktober 2022

eBook UNRAST Verlag, Oktober 2023

ISBN 978-3-95405-166-3

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST Verlag, Münster

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

Teil IBREXITANNIAGroßbritanniens Weg aus der EU

Vorwort

Erstes KapitelDer Feind im Inneren

Zweites KapitelAuf der Suche nach ›Middle England‹

Drittes KapitelGod save the NHS

Viertes KapitelRule Britannia!

Epilog: Den Brexit ›einfach‹ umsetzen – oder auch nicht ... Der aktuelle Stand am 7. Juli 2022

Part IIBREXITANNIAGreat Britain’s Exit from the EU

Preface

First ChapterThe Enemy Within

Second ChapterIn Search Of Middle England

Third ChapterGod Save The NHS

Fourth ChapterRule Britannia!

Epilogue: Simply Getting Brexit Done – Or NotThe State of Affairs on 7 July 2022

For Steve (1953 – 2021), best brother ever

Teil I

BREXITANNIA

Großbritanniens Weg aus der EU

Vorwort

Das vorliegende Buch basiert auf der Feature-Reihe als Audio-Podcast Brexitannia – Großbritanniens Weg aus der EU in der WDR 5-Serie Tiefenblick im Westdeutschen Rundfunk. Ausgestrahlt wurde die Reihe in vier Folgen zwischen dem 6. und 27. Dezember 2020.

Die Reihe ist abrufbar unter folgendem Link:

https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-tiefenblick/audio-brexitannia--der-feind-im-inneren-100.html

Die Feature-Reihe dokumentiert, wie ein Deutsch-Brite nach den Wahlmotiven der Britinnen und Briten sucht, die am 23. Juni 2016 für den Brexit gestimmt haben.

Wie konnte es so weit kommen? Dieser Frage gingen Robert Tonks, diplomierter Politikwissenschaftler und engagierter Europäer, und der Medienproduzent Zakaria Rahmani bei einer Rundreise durch Großbritannien Mitte 2020 nach. Sie führten ausführliche Interviews mit Menschen aus verschiedenen Lebenslagen und mit ExpertInnen durch.

Daraus ist ein Tiefenblick in die letzten Jahrzehnte europäisch-britischer Beziehungen entstanden.

Während der Audio-Podcast im Original auf Deutsch veröffentlicht wurde, erscheint das Buch nun auf Deutsch und Englisch.

Der Abdruck der Texte erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Westdeutschen Rundfunks. Die geschriebenen Texte basieren auf Transkriptionen und Übersetzungen der gesprochenen Originaltexte durch die Autoren.

Die Autoren danken dem WDR – und insbesondere der WDR-Redakteurin Leslie Rosin – für die Unterstützung bei der Produktion des Podcasts.

Die Autoren danken Iris Tonks für die Unterstützung bei der Produktion des Podcasts.

»Maggie Maggie Maggie Out Out Out!«, war der Schlachtruf der Bergleute und ihrer Frauen sowie der Unterstützenden vor den Werkstoren und bei zahlreichen Demonstrationen während des einjährigen Bergarbeiterstreiks 1984/1985. Der Slogan wurde von einer Vielzahl von DemonstrantInnen verwendet, die in den 1980er Jahren gegen Margaret Thatcher (Premierministerin 1979-1990) und ihre Politik protestierten. (Bild: Robert Tonks)

Erstes KapitelDer Feind im Inneren

Zu Beginn des Podcasts wird die Abschiedsrede von Nigel Farage vor dem Europäischen Parlament am 29. Januar 2020 eingespielt:

»Jetzt haben wir es, das letzte Kapitel – Endstation! Ein 47 Jahre altes Experiment, mit dem – ganz ehrlich – die Briten nie zufrieden waren, geht zu Ende.« (https://www.youtube.com/watch?v=LIgmfpHBiDw&t=183s)

Das letzte Kapitel eines 47-jährigen politischen Experiments geht zu Ende und Nigel Farage, Vorsitzender der britischen UKIP-Partei und EU-Abgeordneter hielt feierlich seine Abschiedsrede in Brüssel. Zwei Tage noch, dann sollte ein Teil der Briten den Austritt aus der EU feiern – und ich meinen 65. Geburtstag.

Nigel Farage: Abschiedsrede Europäisches Parlament

»Wir brauchen keine Europäische Kommission. Wir brauchen keinen Europäischen Gerichtshof. Wir brauchen diese Institutionen mit all der Macht nicht.«

Mein Name ist Robert Tonks und mein ganzes Leben habe ich mich für die europäische Idee eingesetzt. Am 31. Januar 1955 kam ich in einem verschlafenen Örtchen in Süd-Wales zur Welt. Als ich 1973 volljährig wurde, trat Großbritannien gerade der Europäischen Gemeinschaft bei. Das Festland Europa – the continent – rückte näher; politisch und emotional. Auch für mich. Ich zog nach Westdeutschland, um unabhängig zu sein und erwachsen zu werden. Dort studierte ich und dort bin ich geblieben. Ich heiratete eine deutsche Frau, wurde deutsch-britischer Doppelstaatler und EU-Beauftragter. Mein Job war eine Vermittlerrolle: Ich vertrat die Anliegen der Stadt Duisburg auf EU-Ebene, begleitete Maßnahmen zur politischen Bildung und steuerte europaweite Projekte. Mit anderen Worten: Die EU hat mein Leben geprägt.

Nigel Farage: Abschiedsrede Europäisches Parlament

»Dieser Freitag, der 31. Januar 2020, markiert den Schlusspunkt. Wenn wir einmal draußen sind, gibt es kein Zurück.«

Und ausgerechnet an meinem 65. Geburtstag, meinem letzten Arbeitstag als EU-Beauftragter verlässt Großbritannien die EU. Genau dafür hatte 2016 die Mehrheit der britischen WählerInnen gestimmt – mit knapp 52% der Stimmen. Was ist in diesen letzten 47 Jahren passiert? Warum wollte mehr als die Hälfte der Britinnen und Briten nicht mehr länger Teil einer europäischen Union sein – eines Jahrhundertprojektes? Bevor ich mich zur Ruhe setzte, beschloss ich auf die Suche nach Antworten zu gehen und reiste quer durch Großbritannien – mitten in der Corona-Krise. Ich habe mich mit Brexit-WählerInnen und -GegnerInnen unterhalten, mit ExpertInnen und ZeitzeugInnen, mit HeldInnen und VerliererInnen – und mit einem Professor, der als Erfinder des Brexit gilt. Um es vorwegzunehmen: Das erstaunlichste Ergebnis meiner Reise war, dass es beim EU-Austritt um vieles ging, weniger jedoch um die EU.

Barbara Tonks

»Ich bringe die historischen Daten durcheinander – Sie müssen mir verzeihen. Ich bin 93 Jahre alt.«

Das ist meine Mutter. Sie war jahrzehntelang Lehrerin in dem kleinen walisischen Dorf Caldicot – nahe der Grenze zu England. Wenn ich dort auf Einheimische über 30 treffe, kriege ich oft zu hören: Deine Mutter hat mich unterrichtet! Meine Mum war aber auch für etwas anderes bekannt: Sie nahm ausländische AustauschlehrerInnen bei uns auf. Sie bot ihnen eine Unterkunft und sowas wie eine Familie. Im Großbritannien der 60er-Jahre war das eine Seltenheit.

Barbara Tonks

»Nach dem Krieg waren die Menschen hier so nationalistisch. Sie waren nicht bereit Ausländer – insbesondere Deutsche – bei sich zuhause willkommen zu heißen. Sie hatten Angst vor Kontakten mit Deutschen. Es dauerte, bis dieses Vorurteil verschwand.«

An eine Austauschlehrerin kann ich mich besonders erinnern: Liz Theil. Sie brachte mir und meinem Bruder Steve beim Tee die ersten deutschen Redewendungen bei. Wir sind immer noch gute Freunde, telefonieren regelmäßig, besuchen einander.

Barbara Tonks

»So konnte ich viele Freundschaften schließen. Ich denke, dass unsere Söhne Steve und Rob deshalb britische Europäer wurden. Wir waren immer in Europa unterwegs. Schon als sie neun oder zehn waren, reisten wir mit einer Schulgruppe nach Deutschland. Das war unsere erste Auslandsreise mit der Schule.«

Das war Anfang der 1960er. Meine Eltern – Barbara und Harry – waren schon damals überzeugte Europäer. Für sie war die EU mehr als nur Binnenmarkt und Reisefreiheit. Beide mussten die Schrecken des Krieges durchleben. Sie wussten, wozu Nationen in der Lage sind, wenn sie auf Alleingang und Konfrontation setzen. Für Barbara und Harry war Europa ein Friedensprojekt. Das klingt für viele heute sentimental.

Als ich 2016 die ersten Hochrechnungen zum Referendum sah, traute ich meinen Augen nicht. Mein eigenes Weltbild passte nicht mehr zu der Welt, in der ich mich wiederfand. Deutungsmuster und – ja – lange geglaubte Überzeugungen waren plötzlich wertlos. Einen Tag nach dem Brexit-Referendum versuchte ich meine Gedanken zu ordnen; das Geschehene zu verstehen. In den Medien kursierten dutzende Erklärungen. Aus meinem Bekanntenkreis wurde ich mit Fragen bombardiert; Gesprächsbedarf mit einem ›Deutsch-Briten‹, Erklärungswünsche.

Ich zog mich zurück, gab mir die Kante mit einem gepflegten Single-Malt und blendete alles aus. Damals war ich nicht nur EU-Beauftragter der Stadt Duisburg, sondern auch Vize-Leiter des Duisburger Wahlamtes. Es gehörte zu meinem Job, Wahlergebnisse zu deuten.

Am Tag nach dem Referendum schaute ich mir die Landkarte genauer an. Wo konzentrierten sich die Pro-Brexit-Stimmen? Wo wurde mehrheitlich für den EU-Austritt gestimmt? Ich scrollte durch die Liste der Dörfer, Städte und Grafschaften in Großbritannien. Nach und nach konnte ich ein Muster erkennen. Viele Brexit-Hotspots waren ehemalige Bergarbeiter-Communitys. Das ging mir besonders nah. Ich selbst bin in Süd-Wales – einer Bergarbeiter-Region – aufgewachsen. Mein Großvater Sid war Bergarbeiter.

Mitte der 1980er reiste ich als Student von Deutschland aus in den Norden Englands. Dort unterstützte ich die Kumpel bei ihren Streiks gegen Grubenschließungen. Ich war berührt von der Solidarität und der Verbundenheit in diesen Communitys. Menschen sorgten für einander, opferten sich auf. Die Gemeinschaft ging vor – immer. Die Solidarität kannte keine Grenzen. Das prägte mich. So wurde ich politisiert.

Und jetzt – 40 Jahre später – sollen diese Communitys den nationalen Alleingang gewählt haben? Ich machte mich also auf den Weg nach Süd-Wales. Dort wollte ich mit Ex-Bergarbeitern sprechen, die für den Brexit gestimmt haben. Wie ging es ihnen jetzt? Und was erwarteten sie von einem Austritt – womöglich ohne Deal?

Caldicot ist eine verschlafene Kleinstadt in Süd-Wales mit römischen Wurzeln und einer mittelalterlichen Burg am Stadtrand. Nördlich der Burg befinden sich die vornehmeren Wohnsiedlungen der Stadt mit gepflegten Gärten und deutschen Autos in der Einfahrt; ein Kontrast zum ärmeren Westen Caldicots. Die Einkaufspassage im Zentrum der Stadt ist von Leerstand und Ein-Pfund-Shops geprägt. Viele AnwohnerInnen schlagen dort in den Mittagsstunden ihre Zeit tot. Vor kurzem wurde der Corona-Lockdown gelockert. Das öffentliche Leben hier fuhr langsam wieder hoch. Im Boden im Zentrum der Passage eingelegt befindet sich eine riesige Scheibe aus Bronze; eine Würdigung der Städtepartnerschaft mit dem deutschen Waghäusel, in der Nähe von Karlsruhe.

Diese Scheibe aus Bronze in der zentralen Einkaufsstraße in der südwalisischen Kleinstadt Caldicot (10.000 EW) würdigt die Städtepartnerschaft mit der deutschen Gemeinde Waghäusel (21.000 EW) im Landkreis Karlsruhe. Die Partnerschaft wurde 1973 amtlich; in dem Jahr, in welchem Großbritannien der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitrat. (Bild: Robert Tonks)

In einem anliegenden Café entdeckte ich zwei Männer in meinem Alter. Sie nippten gelegentlich an ihrer Kaffeetasse und starrten auf vorbeiziehende PassantInnen. Da einer von ihnen mir bekannt vorkommt, frage ich: »Du bist doch der Pete, oder?«

Phil 1 und Phil 2 gleichzeitig

»Nein, Phil.«

Phil 2

»Ich bin auch Phil. Wir sind zwei Phils.«

Ich

»Ihr verwirrt mich jetzt. Ihr solltet einen Phil-Verein gründen!«

Plötzlich schreit ein dritter Mann von hinten:

»Ich bin nicht Phil! Ich bin Pete.«

Die Stimmung ist super geeignet für ein Interview. Der große Phil, Phil 1, kommt sofort auf Politik zu sprechen. Er beschwert sich über die aktuelle konservative Regierung, PolitikerInnen aller Parteien und die momentane Lage der Welt. Er selbst nennt sich Mr. Angry. »Ich wähle nicht mehr, gar nicht!«, sagt Phil 1. Ich frage ihn, ob er trotzdem am Brexit-Referendum teilgenommen hat.

Phil 1

»Raus, ich wollte raus. Ich habe den Brexit gewählt. Ich wollte raus. Am Anfang war es ganz OK in Europa. Je mehr wir miteinander sprachen, umso unwahrscheinlicher ein Krieg. Aber plötzlich wurden wir immer stärker von Europa regiert. Das will ich nicht. Ich will nicht einmal, dass uns London regiert! Warum sollte ich von einer deutschen Frau regiert werden? Ich halte sie für bescheuert und die Franzosen hassen uns sowieso. Wenn wir raus gehen, werden sie uns bestrafen. Sie wollen, dass es uns so schlecht geht. Sie wollen uns bestrafen, damit andere Länder es nicht wagen, es uns gleichzutun. Andere Länder wie Spanien und Italien, die schauen zu, ob es uns gelingt. Dann werden sie auch aus Europa raus gehen wollen!«

Für den großen Phil sind die aktuellen europäisch-britischen Beziehungen in der Krise. Die EU stelle sich in den aktuellen Brexit-Verhandlungen absichtlich quer und wolle an Großbritannien ein Exempel statuieren, sich rächen. »Hört, hört!«, schreit jemand im Hintergrund.

Ich frage den kleinen Phil, Phil 2, wie die Zukunft nach dem Brexit aussehen wird. Er ist ebenfalls brennender Brexit-Befürworter.

Phil 2

»Wir sind draußen – entweder mit oder ohne Deal. Ich glaube nicht, dass das einen Unterschied machen wird. Die ganze Panikmache von wegen ›wir fallen vom Klippenrand den Abgrund runter‹; stimmt alles nicht. Ich denke nicht, dass der Handel mit Europa aufhören wird. Wenn die EU Zölle haben will, dann gehen wir dorthin, wo es keine gibt. Ware wird also immer noch ins Land kommen.«

Gegenüber dem großen Phil spreche ich die Hotspots in den Bergarbeiterregionen an. Sein Großvater war ein Bergarbeiter. Warum stimmten besonders viele von ihnen für den Brexit, frage ich ihn. Gibt es eine Gemeinsamkeit in diesen Regionen?

Phil 1

»Thatcher und die EU haben etwas Gemeinsames. Das sind Tyrannen. Sie sagen: Ihr werdet das so machen, wie ich will. So war Thatcher damals und so ist die EU heute. Das ist das Gleiche; beides Tyrannen.«

Margaret Thatcher war die erste weibliche Premierministerin des Landes. In den 1980er-Jahren prägte sie Großbritannien nachhaltig. Für Phil stehen sowohl Thatcher als auch die EU für ein System der Bevormundung.

Phil 1

»Ich habe noch nie jemandem den Tod gewünscht. Aber als dieses Miststück gestorben ist, war ich so glücklich. Ich habe alles an ihr gehasst. Als sie starb, war ich so glücklich. Ich habe gefeiert. Thatcher und die EU wollten beide dasselbe – uns schikanieren. Die EU will uns vorschreiben, was wir zu tun haben. Das wollte Thatcher auch. Die EU will uns arm machen, damit in Zukunft niemand auf die Idee kommt, die EU zu verlassen.«

Während ihrer 11-jährigen Amtszeit polarisierte Thatcher das gesamte Land. Es gab Proteste, Krawalle und einen Bombenanschlag auf ihre Person. Ich war nicht wirklich überrascht, dass der Hass gegen Thatcher auch nach 40 Jahren nicht abgeebbt ist, besonders in den ehemaligen Bergarbeiter-Communitys. Für den großen Phil ist dieser Hass die Erklärung, warum so viele Bergarbeiter den Brexit wählten. Wer diesen Hass auf Thatcher verstehen will, muss nach Nord-England fahren.

Mexborough ist eine typische ehemalige Bergarbeiter-Region – heruntergekommene Wohnsiedlungen, triste Innenstadt, vernachlässigte Straßen. Der Ort wirkt grau, die Einkaufspassage zusammengewürfelt. Spanplatten verhindern den Blick in baufällige Gebäude. Vor der Wettannahme hängen junge Menschen herum.

Bob Gilbert und seine Frau Anne wohnen in einer Neubausiedlung am Rande der Stadt – gemeinsam mit ihrem White Terrier. Sein Name – auch Bob. Seit dem Corona-Lockdown vor fünf Monaten bin ich ihr erster Kontakt zur Außenwelt.

Bob Gilbert

»Ich heiße Bob Gilbert. Ich arbeitete 25 Jahre lang im Bergbau.«

Anne Gilbert

»Ich bin Anne Gilbert ursprünglich aus der Grafschaft Northumberland.«

Bob und Anne sind glühende EU-Anhänger. Vor dem Brexit-Referendum versuchten sie die Menschen in Mexborough – mehrheitlich ehemalige Bergarbeiter – vom Verbleib in der EU zu überzeugen. Kein einfaches Unterfangen. Nach dem Referendum waren Bob und Anne genauso fassungslos wie ich damals. Sie mussten mitansehen, wie die ehemals sozialistische und solidarische Bergarbeiter-Community vom Brexit überzeugt werden konnte – eine Entwicklung, die für Anne ganz klare Ursachen hatte.

Anne Gilbert

»Die Straßen sind in einem schlechten Zustand, Wohnungen sind heruntergekommen, es gibt kaum Arbeit, geringe Bildung und marode Schulen. All das – und die EU soll schuld sein? Entschuldigung, aber das hier braut sich schon seit 20, 30 Jahren zusammen. Tut mir leid, aber das liegt an einem allmählichen Verfall dieses Landes. Wir fallen als Land immer weiter zurück, was die Infrastruktur und den Entwicklungsstand betrifft. Schauen Sie sich zum Vergleich bei Ihnen in Deutschland um. Wenn ich mich hier umschaue, schreit mich die Armut förmlich an. Die Einkaufsstraßen sind leer, die Läden geschlossenen. Man merkt einfach – das Geld fehlt. Bei Ihnen sieht alles elegant und wohlhabend aus. So viel ist unter den letzten Tory-Regierungen schief gelaufen, immer und immer wieder. Und dann kam der Brexit; das brachte das Fass zum Überlaufen.«

Das sind Probleme, deren Ursachen auf die politischen Reformen der 1980er zurückgehen. 1979 wurde Margaret Thatcher zur Premierministerin gewählt. Ihr Spitzname: Die eiserne Lady. Sie importierte den amerikanischen Kapitalismus nach Großbritannien: Der Staat muss sich zurückhalten und der Markt regelt den Rest. Der sogenannte Thatcherismus war geboren. Thatcher privatisierte staatliche Betriebe und lehnte es ab, den Kohlebergbau länger zu subventionieren. Gruben, die sich nicht rentierten, sollten geschlossen werden, auch wenn es zahlreiche Menschen in die Arbeitslosigkeit stürzen würde und zwar ohne sozialen Ausgleich. Daraufhin lehnte sich die Bergarbeitergewerkschaft auf und streikte ein ganzes Jahr. Zu keinem Zeitpunkt wollte sich Thatcher auf Verhandlungen mit den Arbeitern einlassen.

Margaret Thatcher am 258. Tag des Bergarbeiterstreiks

»Ich werde nicht mit Menschen verhandeln, die Nötigung und Gewalt einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Sie sind die Feinde der Demokratie. Sie sind nicht an der Zukunft der Demokratie interessiert. Ihr Interesse ist, die Demokratie für ihre eigenen Zwecke zu vernichten.« (https://www.youtube.com/watch?v=Uhsl0QHSDWE)

Thatcher und die Londoner Elite wurden zum Feind der Bergarbeiter. Als Reaktion auf die Proteste und den Streik griff Thatcher zu autoritären Mitteln. Und zwar mit Hilfe desselben Staates, der sich eigentlich raushalten sollte.

Bob Gilbert

»Wir sahen die Polizisten aus London, Devon und Cornwall und das waren ziemlich üble Leute. Sie kamen, um einen Job zu erledigen. Thatcher hatte ihnen kurz zuvor eine dicke Lohnerhöhung gegeben. Sie hatten einen Auftrag. Wir können gern über Orgreave reden.«

Wenn es einen entscheidenden Zusammenstoß während des Streiks gab, dann war es die Schlacht von Orgreave am 18. Juni 1984; eines der blutigsten Kapitel in der Geschichte des modernen Arbeitskampfes. Tausende Bergarbeiter versammelten sich als Streikposten vor der Kokerei Orgreave. Auf der anderen Seite formierte sich eine Truppe von 6.000 Polizisten; teilweise beritten, teilweise in Begleitung von Hunden und mit Schlagstöcken und Schilden ausgestattet. Die Stimmung war angespannt.

Dieser Teebecher wurde zur Unterstützung der britischen Bergarbeiter-Gewerkschaft National Union of Mineworkers NUM hergestellt. Die abgebildete Szene zeigt einen Polizisten in Kampfausrüstung zu Pferd, der in der Schlacht von Orgreave am 18. Juni 1984 mit einem Schlagstock auf eine Grubenlampe einschlägt. Sie markiert eines der blutigsten Kapitel in der Geschichte des modernen Arbeitskampfes in Europa. (Bild: Iris Tonks)

Bob Gilbert

»Ich weiß noch, es war ein brüllend heißer Tag im Juni. Wir kamen rein nach Orgreave, nicht über die Straße, sondern hinten rum über die Halden. ›Wie komisch‹, dachten wir, ›wir kommen in die Kokerei rein, aber da war keine Polizei. Wieso eigentlich nicht?‹ Sie ließen uns nämlich absichtlich rein. Plötzlich tauchte eine Formation von Polizisten auf, eine Mauer schwarzer Uniformen.«

Bob Gilbert

»Auf einmal öffneten sich die Reihen der Polizisten und sie kamen auf Pferden von hinten angestürmt, verdammt groß waren ihre Pferde! Immer wenn ich meiner Frau von Orgreave erzählt habe, ist mir das Herz in die Hose gerutscht. In Orgreave haben sie uns geschlagen. Wir konnten einfach nicht mehr.«

Es kam zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Bilder der blutüberströmten Bergarbeiter gingen um die Welt; berittene Polizisten, die mit ihren Schlagstöcken ausholten; Rauchschwaden und fliegende Ziegelsteine. Es herrschte pures Chaos.

Poster des Dokumentarfilms Still the Enemy Within, GB, 2014

›Still the Enemy Within‹ gibt einen einzigartigen Einblick in eines der dramatischsten Ereignisse der Geschichte: den Streik der britischen Bergleute von 1984-85. Keine Experten. Keine Politiker. Dreißig Jahre später ist dies die direkte Erfahrung derjenigen, die Großbritanniens längsten Streik miterlebt haben.‹ (https://www.imdb.com/title/tt3815426/)

 Im Bergarbeiterstreik 1984/1985 kämpften die Bergleute, von denen die meisten Mitglieder der Bergarbeitergewerkschaft National Union of Mineworkers (NUM) waren, um das Überleben der Bergbauindustrie. Sie wollten ihre Arbeitsplätze retten, die Margaret Thatcher, bekannt als die Eiserne Lady, radikal abbauen wollte. Der Streik dauerte ein Jahr. Thatcher bezeichnete die NUM als The Enemy Within, den Feind im Inneren. (Bild: Iris Tonks).

Bob Gilbert

»Thatcher sagte das Unglaubliche: ›Die Bergarbeitergewerkschaft ist der Feind im Inneren‹. Das hat sie genauso gesagt. ›Der Feind im Inneren.‹«

Am 5. März 1985 – ein Jahr nach Beginn des Bergarbeiterstreiks – gaben die Arbeiter auf. Die Bergarbeitergewerkschaft wurde zerschlagen und die Bergarbeiter wurden praktisch entmachtet. Keine einzige ihrer Forderungen wurde erfüllt. Sie blieben zurück – gedemütigt und enttäuscht; erklärt zum Feind im Inneren. Thatcher hatte den Kampf gewonnen, ohne auch nur einen einzigen Kompromiss einzugehen – mit einer bitteren Bilanz.

Anne Gilbert

»Niemand wollte nach dem Streik darüber reden – wie Menschen, die aus dem Krieg zurückkommen. Bob hat versucht ein paar Gespräche aufzunehmen, aber niemand wollte mit ihm reden. Sie haben Dinge gesehen, die sie vergessen wollen. ›Wir sind gescheitert, wir haben verloren und wollen nicht darüber reden‹, dachten sie. Als ob all das nicht geschehen war. Also gingen alle wieder wie gewohnt zur Arbeit. Und dann kamen die ersten Entlassungen.«

Bob Gilbert

»Am Anfang des Streiks gab es 53 Bergwerke in Yorkshire. Zehn Jahre später waren nur noch fünf in Betrieb. Heute gibt es gar keins mehr!«

Anne Gilbert

»Und dann machten die Zechen dicht und die sozialen Missstände folgten ziemlich schnell. Heute gibt es überall Drogenprobleme, aber damals hatten wir keine. Die Leute hatten keine Zeit für Drogen – sie haben gearbeitet. Aber die Bergwerke sind jetzt zu und es gibt auch keine Arbeit mehr. Das werde ich der konservativen Regierung nie verzeihen. Sie haben unserer Gemeinschaft das Herz rausgerissen.«

Die neoliberalen Reformen der Thatcher-Regierung haben in den ehemaligen Bergarbeiterregionen tiefe Wunden hinterlassen. Eine ganze traditionsreiche Industrie wurde schlagartig zerstört, ohne dass für andere Arbeitsplätze gesorgt wurde. Der einjährige Streik hinterließ Spuren: Das Vertrauen in Politik, Staat und Polizei ist unter den Bergarbeitern seitdem erschüttert. Erklärt dieses Trauma die Brexit-Hotspots in diesen Regionen? Ist das der Grund, warum Großbritannien am 31. Januar 2020 aus der EU ausgetreten ist?

Ich erzähle Anne, dass der 31. Januar 2020 mein 65. Geburtstag war.

Anne Gilbert

»Oh Robert! Dann würde ich meinen Geburtstag ändern! Der 31. Januar 2020 war auch für uns ein schwerer Tag. Wir trafen uns an dem Abend als Europagruppe in Doncaster. Wir haben eine kleine Party gefeiert. Jeder brachte Spezialitäten aus verschiedenen Ländern Europas mit. Wir hatten ein fantastisches Buffet, mit Wein natürlich auch. Das haben wir gebraucht – diesen Abend zusammen zu verbringen.«

Ich bin wieder zurück in Süd-Wales. Nur einige Meilen entfernt von dem stillgelegten Steinkohle-Bergwerk, in dem mein Großvater schon mit 13 Jahren sein erstes Geld verdiente. Nach dem Lockdown wagen sich hier die ersten Gäste in die wiedereröffneten Pubs. Schräg gegenüber prangt eine aufgegebene Plakatwand, sie ist angerostet und die Reklame vergilbt.

Ich fahre über eine holprige Straße, vorbei an rußigen Häuserreihen ehemaliger Bergarbeitersiedlungen – Steinfassaden und dunkele Schieferdächer. Hier treffe ich Martin Parsons. Martin verbrachte sein gesamtes Berufsleben im Bergbau. Über vierzig Jahre. Er arbeitete in einer der letzten Zechen des Landes und ist überzeugter Brexiter.

Martin Parsons

»Im Pub diskutieren wir immer, da kommt alles raus. Vor allem vor dem Referendum gab es viele heftige Debatten, aber die Mehrheit wollte den Brexit. Sie wollten raus!«

Wie die meisten Bergarbeiter streikte auch Martin im Jahre 1984 – gegen Grubenschließungen und gegen Thatcher. Ich will von Martin wissen, ob er die Wut von damals immer noch verspürt.

Martin Parsons

»Auf alle Fälle! Guck dich hier in der Gegend um. Die Verzweiflung kannst du immer noch spüren. Nichts wurde ersetzt. Sie machten die Zechen dicht. Im Schnitt haben 1000 Leute in jeder Zeche gearbeitet. Neue Arbeitsplätze wurden nie geschaffen. Heute zahlen einige Arbeitgeber gerade den Mindestlohn oder sogar weniger. Damals waren die Arbeitsplätze im Bergbau besser bezahlt, als die meisten anderen Jobs. Unsere Communitys werden sich so schnell nicht erholen. Die Verelendung ist hier überall zu spüren, in allen Tälern.«

Für Martin und viele ehemalige Bergarbeiter war die EU ein Club globaler Eliten. BürokratInnen, die sich in Brüssel nur selbst bereichern. Abgehoben, unkontrollierbar und gleichzeitig kontrollwütig – autoritär. So wie die Londoner Elite der 80er, so wie Thatcher. Wird der Widerstand gegen Thatcher im Kampf gegen die EU fortgeführt?

Martin Parsons

»Ja auf jeden Fall. Die EU ist ein Angriff auf unsere sozialistischen Werte. Sie ist ein Elite-Club. Sie sollte aber eigentlich da sein, um den Menschen in jedem Land zu dienen. Und sie sollte den Lebensstandard von allen anheben. Stattdessen machen die Eliten dabei nur Reibach ohne Ende.«

Die EU symbolisierte alles, wogegen Martin und andere Bergarbeiter schon in den 1980ern gekämpft hatten. Die Politik der EU wurde zunehmend als Diktat von ›denen-da-oben‹ empfunden: Eine autoritäre Elite, die mit der Lebensrealität und den sozialistischen Idealen der Menschen in den Bergarbeiter-Communitys nichts zu tun hatte. Das erinnerte viele an die Thatcher-Jahre. Das Brexit-Referendum war die Möglichkeit, sich diesem neuen Diktat zu widersetzen. Dabei sehen die Bergarbeiter ihre sozialistischen Vorstellungen in der Tradition der Labour-Partei. Es ist ein Sozialismus des Arbeitskampfs und des Widerstands.

Martin Parsons

»An der Europäischen Union ist nichts sozialistisch, oder? Sie soll den armen Mitgliedsstaaten angeblich helfen. Deshalb bezahlen wir, und zwar mehr als andere Länder. Aber unsere Industrie wurde zerschlagen, teilweise durch die Konservativen und teilweise durch die EU. Sie akzeptierten Billigstahl aus China und machten unsere Stahlwerke zu. Und es gab keinen Widerstand – weder von der EU noch von den Konservativen. Die EU und die Tories sind gleich. Das war ein Angriff auf die Prinzipien der Arbeiterklasse und der sozialistischen Bewegung. Ich glaube, dass es uns vor dem EWG-Beitritt besser ging und auch in Zukunft ohne die EU besser gehen wird. Wir werden den Austritt schon überleben.«

Die EU wurde als neoliberales Projekt verstanden, das durch offene Grenzen und freien Handel die heimische Industrie bedrohte. Ein Großteil der EU-Fördergelder floss in Prestigeprojekte, meinte Martin. Das Geld komme aber weder den Menschen noch dem Arbeitsmarkt zugute.

Martins Vorwurf gegenüber der EU stimmt nur teilweise: Die EU erlaubte einerseits tatsächlich den Import günstigeren Stahls aus Asien. Was Martin aber nicht erwähnte: Auf der anderen Seite schaffte es die britische Schwerindustrie nicht mehr, wettbewerbsfähig zu bleiben. Schuld daran waren Misswirtschaft und fehlende Modernisierung. Das öffnete dem günstigeren Import aus China Tür und Tor; eine Entwicklung, die die EU nicht aufhalten konnte, da sie nie als Schutzmacht gegen die neuen Erfordernisse des Weltmarktes gedacht war. Hinzu kommt: Anders als im Ruhrgebiet wurde der Strukturwandel in Großbritannien sozial nie abgefedert; ein Defizit, das durch EU-Projekte ausgeglichen werden sollte. Darüber sprach ich mit Wayne Thomas – Vorsitzender der Bergarbeitergewerkschaft NUM in Süd-Wales.

Wayne Thomas

»Ich bin Wayne Thomas. Ich wurde im Swansea-Tal in Süd-West-Wales geboren. Mein Großvater war Bergarbeiter, mein Vater auch. Ich fing direkt nach der Schule mit 16 Jahren unter Tage an und war 20 Jahre lang im Bergbau tätig.«

In Waynes Büro steht eine beleuchtete Glasvitrine. Darin sind zahlreiche Bergarbeiter-Souvenirs aus aller Welt ausgestellt – Wimpel aus Russland, Anstecker der polnischen Gewerkschaft und eine Grubenlampe aus dem Ruhrgebiet. Er zeigt mir stolz seine historische Sammlung abgegriffener Poster aus Streikzeiten. Auf einem Aktenschrank liegt ein Schwarz-Weiß-Foto von Wayne – ein rußverschmiertes Gesicht, ein melancholischer Blick in die Leere. An diesem Tag wurde die letzte Zeche des Landes geschlossen. Für den Bergarbeiter Wayne endete damals eine besondere Ära, erzählt er während er mir noch einen Tee eingießt. Auf der weißen Tasse glänzt der Protestruf der Bergarbeiter: Coal not Dole (›Kohle statt Arbeitslosengeld‹).

›Kohle statt Arbeitslosengeld‹, Coal not Dole, war eine zentrale Forderung und ein verbreitet verwendeter Schlachtruf der Bergarbeiter und ihrer Familien – nicht nur während ihres einjährigen Streiks gegen Grubenschließungen, sondern auch lange danach. In den Jahren nach dem Streik 1984-1885 wurde in Großbritannien eine komplette traditionsreiche Industrie zerstört, ohne dass für alternative Arbeitsplätze gesorgt wurde. Anders als im schwerindustriell geprägten Ruhrgebiet wurde der Strukturwandel in Großbritannien sozial nie abgefedert. (Bild: Iris Tonks)

Wayne kennt Martin Parsons gut. Beide haben in den letzten Jahren oft hitzige Debatten geführt – über den Brexit und die EU.

Wayne Thomas

»Ich sehe die massiven Vorteile der EU-Gelder, die nach Süd-Wales geflossen sind. Und wenn du dich umguckst, siehst du überall an den Projekten die EU-Fahnen. Während der Brexit-Debatte sagte ich den Leuten: ›Dieses oder jenes Projekt wurde von der EU finanziert. Die Antwort war oft: Das habe ich nicht gewusst‹.«

Zwischen dem Jahr 2000 und dem EU-Austritt erhielt Wales über 4 Milliarden Pfund EU-Fördergelder. Diese Mittel flossen in den Straßenbau, in Bildungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und in Unternehmensförderung. Mit dem Brexit werden diese Gelder für Wales künftig entfallen. Das wird besonders die Bergarbeiter-Region hart treffen, befürchtet Wayne.

Wayne Thomas

»Ich verstehe immer noch nicht, warum Martin seine Grundhaltung so stark geändert hat. Er war mal ein Bergarbeiter an der vordersten Front der Streikposten und führt nun ein bequemes Leben. Das gönne ich ihm ja. Aber sich politisch von der einen Seite zur anderen zu bewegen, dem kann ich nicht folgen.«

Auch für Bob Gilbert aus Süd-Yorkshire stellt der Brexit das Wertesystem der Arbeiter auf den Kopf: Werte wie Einheit und bedingungslose Solidarität stünden jetzt auf dem Spiel.

Bob Gilbert

»Ich habe da ein Buch. Es zeigt die alten Banner der Bergarbeiter. Auf fast allen steht ›Stärke durch Zusammenhalt‹. Und plötzlich wird den Leuten weißgemacht: Wenn wir die Europäische Union verlassen, heißt es ›Stärke durch Spaltung‹. Wir seien viel stärker, wenn wir unsere Freihandelsabkommen im Alleingang aushandeln würden, als wenn wir dies als Teil einer Gemeinschaft von 28 Mitgliedsstaaten täten. Das stellt alles, was du in deinem Leben je gelernt hast, auf den Kopf.«