8,99 €
Ein junger französischer Soldat wird 1914 zum Kriegsdienst einberufen. Als Zivilist war er studierter Maler. In Briefen an seine Mutter und Großmutter schildert er seine Naturbeobachtungen und Kriegserlebnisse an der Marne-Front vom 6. August 1914 bis zum 6. April 1915, dem Tag, an dem er spurlos verschwand. Das grauenhafte Gemetzel des industrialisierten Ersten Weltkrieges wird von ihm in seinem Tagebuch und seinen Briefen beschrieben. Diese Texte werden in diesem Band mit vielen Bildern und weiteren Informationen neu herausgegeben. – Rezession: Ich bin immer wieder begeistert von der "Gelben Buchreihe". Die Bände reißen einen einfach mit. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. oder: Sämtliche von Jürgen Ruszkowski aus Hamburg herausgegebene Bücher sind absolute Highlights. Dieser Band macht da keine Ausnahme. Sehr interessante und abwechslungsreiche Themen aus verschiedenen Zeit-Epochen, die mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt haben! Man kann nur staunen, was der Mann in seinem Ruhestand schon veröffentlicht hat. Alle Achtung!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 188
Veröffentlichungsjahr: 2023
André Chevrillon
Briefe eines französischen Soldaten an seine Mutter – Band 236e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski
Band 236e in der gelben Buchreihe
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort des Herausgebers
2021 Jürgen Ruszkowski
Briefe eines Soldaten
Vorwort von André Chevrillon
Die Briefe des Soldaten an seine Mutter
Briefe ab 3. Januar 1915
Die maritime gelbe Buchreihe
Weitere Informationen
Impressum neobooks
Vorwort des Herausgebers
Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuße der Hamburger Michaeliskirche.
Dabei lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.
Im Februar 1992 entschloss ich mich, meine Erlebnisse mit den Seeleuten und deren Berichte aus ihrem Leben in einem Buch zusammenzutragen. Es stieß auf großes Interesse. Mehrfach wurde in Leser-Reaktionen der Wunsch laut, es mögen noch mehr solcher Bände erscheinen. Deshalb folgten dem ersten Band der „Seemannsschicksale“ weitere.
Ruhestands-Arbeitsplatz
Hier entstehen die Bücher und Webseiten des Herausgebers
* * *
Briefe eines Soldaten
https://www.projekt-gutenberg.org/anonymus/briesold/briesold.html
Deutsche Ausgabe der
Lettres d’un soldat
* * *
1918 im Verlag Max Rascher in Zürich erstmals erschienen
Deutsche Übertragung von
Professor Dr. Schneegans, Neuchâtel
(Heinrich Schneegans, * 11. September 1863 in Straßburg – † 6. Oktober 1914 in Bonn, war ein deutsch-französischer Romanist und Schriftsteller)
* * *
Vorwort von André Chevrillon
André Chevrillon, * 3. Mai 1864 in Ruelle-sur-Touvre – † 9. Juli 1957 in Paris, war ein französischer Anglist, Reiseschriftsteller und Mitglied der Académie française.
https://www.projekt-gutenberg.org/anonymus/briesold/chap001.html
Die folgenden Briefe sind von einem jungen Maler geschrieben, der von September 1914 bis Anfang April 1915 an der Front war, wo er in einem der Kämpfe im Argonnerwald verschwunden ist. Soll man von ihm in der Vergangenheit oder in der Gegenwart sprechen? Wir wissen es nicht: seit dem Tag, wo sie die letzte von Schmutz befleckte Karte erreichte, welche den Angriff meldete, in dem er verschwinden sollte, – welche quälende Stille für diese Frauen, die während acht Monaten nur von den fast täglichen Briefen lebten! Doch für wie viele Mütter und Frauen ist eine solche Qual heute das tägliche Los?
In dem Atelier, unter den Bildern, in denen der junge Mann seine Träume, seine Künstlervisionen festgelegt hatte, habe ich, liebevoll auf einem Tisch geordnet, alle die weißen Kärtchen gesehen, aus denen dieser Briefwechsel besteht. Schweigende Gegenwart … Ich wusste damals noch nicht, welche Seele sich hier in ihrer Fülle ausgedrückt hat, um auf diesem Weg an den häuslicher Herd zurückzukehren: eine Seele, die dazu bestimmt war, dessen bin ich überzeugt, sich weit über den kleinen Kreis der Verwandten hinaus zu ergießen und weithin auf die Menschen zu strahlen. Die Seele eines fertigen Künstlers, aber auch eines Dichters, mit der Schüchternheit eines Jünglings, der schon mit dreizehn Jahren die Schule für das Atelier verlassen hat und ganz allein gelernt hat das, was ihn bewegt, in Tönen auszudrücken, deren Schönheit der Leser zu würdigen wissen wird. Herzensgüte, inbrünstige Verehrung der Natur, mystisches Verstehen ihrer Erscheinungsformen und ihrer ewigen Sprache, das ist es, was die Deutschen, die sich die Erben Goethes und Beethovens nennen, allein zu besitzen glauben und was uns in diesen, von einem jungen Franzosen für seine Teuersten und für sich geschriebenen Briefen ergreift.
Johann Wolfgang von Goethe
Ludwig van Beethoven
Das Rührendste dabei ist vielleicht, dass wir in dem seelischen, so ernsten, so religiösen Empfinden, das sich hier ausspricht, Züge wiedererkennen, die uns in manchen Briefen von der Front auffielen. In diesen Wochen, diesen endlosen Wintermonaten, die sie im Schlamm oder im Schnee der Schützengräben verbracht, beim täglichen Anblick des Todes, beim Gedanken an den Tod, der vielleicht in demselben Augenblick naht, um ihnen für immer die Augen zu schließen, scheinen diese Kinder angefangen zu haben mit eindringlicherem, empfänglicherem Auge die ewigen Dinge zu betrachten, wie wenn sie alle, in der Fülle ihrer Kraft und ihrer Jugend, glaubten sie zum letzten Mal zu betrachten:
„Und sterben sollte nun die Welt mit meinen Augen, den Spiegeln der Welt.“
Feierliche Stimmung des Menschen, der eben eine lange Nachtwache verbracht hat, irgendwo auf Vorposten, und der hinter der grauen, schweigenden, nordischen Ebene dort, wo der unsichtbare Feind in der Erde vergraben ist, die rote Sonne noch einmal über diese Welt aufgehen sieht. „O herrliche Sonne, ich möchte dich noch einmal sehen!“ schrieb am Abend des Tages, wo er in Frankreich einzog, ein junger schlesischer Soldat, der auf den Gefilden der Marne fiel und dessen Tagebuch veröffentlicht worden ist. Plötzlich entquillt dieser geheimnisvolle Herzenserguss, mitten unter pünktlichen deutschen Aufzeichnungen über Essen und Trinken, Tagemärsche, Fußleiden und der Aufzählung der verbrannten Dörfer. In wie vielen französischen Briefen haben wir diese tiefe Erleuchtung getroffen! Sie ist sich immer gleich auf allen Stufen des Ausdrucks: bei jenem Bauern von Seine-et-Marne, den ich mit Namen nennen könnte, der vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben für die Glut des Sonnenunterganges ein Auge hat, – bei jenem jungen Pariser, der bis dahin nur in Ausdrücken des Skeptizismus und der Ironie schien reden zu können, und bei dem jungen Künstler, der dieses Gefühl in ergreifende Verse umsetzt und es bis zur erhabenen Vorstellung steigert, an der die ganze stoische Philosophie hängt. Durch so viele Unterschiede hindurch, bei allen, dem deutschen Schullehrer, dem Bauern, dem Städter, dem französischen Maler, offenbart sich eine gemeinsame Grundlage und der vergängliche Lebende, im Vorgefühl der ewigen Nacht, sieht den Sinn und die Schönheit der Welt in ihm sich erweitern. O Wunder der Welt! göttlicher Friede dieser Ebene, dieser Bäume, dieser fernen Hügel, – wie man dieser unendlichen Stille lauscht! Oder es ist die nächtliche Unermesslichkeit, in der nichts als Feuersbrünste und ein Leuchten verbleibt. Unten ferne Glut von Bränden, oben die Sterne, ihre unwandelbaren Bilder, das Flimmern, die Harmonie und erhabene Ordnung des Weltalls.
Bald werden das Geknatter der Maschinengewehre, der Donner der Sprengstoffe, das Geheul des Ansturms wieder anheben; man beginnt wieder zu morden und zu sterben. Welcher Gegensatz der menschlichen Wut und der ewigen heitern Ruhe! Mehr oder weniger dunkel, während eines kurzen Augenblickes, wird eine tiefsinnige Beziehung zwischen den einfachen Erscheinungen am Himmel und auf Erden, deren langsame Entwicklung sich begreifen lässt, und dem Beschauer hergestellt. Fühlt dann der Mensch, dass alles, was er sieht, er selbst ist, dass sein kleines Dasein und das Leben des Baumes, der dort im Schauer des Morgengrauens erbebt und dem Menschen zuzuwinken scheint, sich miteinander verbinden im Fluss des ewigen Lebens?
* * *
Für den Künstler, von dem hier die Rede ist, waren diese Eingebungen und Visionen der Rausch jener langen, im Schützengraben verlebten Monate. Unter dem weiten Himmel, bei der Berührung mit der Erde, vor der Gefahr und dem täglichen Bild des Todes, erschien ihm das Leben plötzlich seltsam erweitert: „Wir haben von unserem Aufenthalt im Freien eine Frische der Auffassung, eine Großzügigkeit in den Bewegungen und Gedanken gewonnen, die den Überlebenden den Aufenthalt in den Städten grässlich wird erscheinen lassen.“ Auch der Tod zeigte sich schöner und schlichter; Tod der Soldaten, deren Gestalten er mitleidig betrachtete, während die Natur sie still, mütterlich wieder zu sich nahm und allmählich mit der Erde vereinigte. Von Tag zu Tag lebte er mehr in dem Gefühl des „Ewigen“. Er blieb freilich empfänglich für alle Gräuel und jedes Mitleides fähig, – und man wird sehen wie er seine Pflicht erfüllte. Aber „in gleichem Maß leidend“, flüchtete er „zu einem höheren Trost“. „Man muss“, sagte er zu denen, die ihn lieben und die er – mit welcher beständigen Fürsorge! – sich bemüht auf das Schlimmste vorzubereiten, „dazu gelangen, dass kein Unglücksfall aus unserem Leben etwas Trümmerhaftes, Abgebrochenes, Unharmonisches mache … Begnüge dich mit der herrlichen Versicherung, dass ich bis heute meine Seele zu einer Höhe gehoben habe, wo die Ereignisse ihr nichts mehr antun können“. Diese Höhe ist die Gegend, in der über die Unterschiede der Bekenntnisse und ihrer äußeren Formen hinaus, alle großen religiösen Gemeinschaften sich zusammenfinden, wo der eitle Schein verschwindet, wo der Mensch allen Behauptungen und Forderungen des Ichs ein Nein entgegenstellt und sich an das hält, was „wirklich ist“. „Unsere Leiden kommen daher, dass unsere schwache menschliche Geduld unseren Bedürfnissen, wenn auch den edelsten, zugewandt ist … Halte dich dabei nicht auf, den Wert der Persönlichkeit derer, die am Leben bleiben, derer, die gehen zu betrachten; das heißt die Dinge auf der menschlichen Waagschale abwägen. Man muss aber in uns die gewaltige Menge dessen unterscheiden, was besser ist als das Menschliche. (30. Oktober.) Im Grunde ist der Tod machtlos, weil auch er ein eitler Schein ist und „nichts vollständig verloren ist.“ So findet dieser junge Franzose, der übrigens die Sprache des Christentums nicht vergessen hat, in den Schrecken des Krieges den Stoizismus Mark Aurels wieder, jene Tugend, „die weder Geduld noch allzu großes Selbstvertrauen ist, sondern ein gewisser Glaube an die Ordnung der Dinge, ein gewisses Vermögen, bei jeder Prüfung zu sagen, dass es so recht ist.“
Mark Aurel
Und jenseits des Stoizismus ahnt er und erreicht den uralten, erhabenen Gedanken Indiens, der die Erscheinungen und trennenden Unterschiede leugnet, und dem Menschen seine eigene Person und die ganze Welt zeigend, ihn lehrt, dass er von der einen sage: „Das bin ich nicht“, von der anderen: „Das bin ich.“ Ergreifende Begegnung: durch alle Entfernungen der Jahrhunderte und Völker hindurch setzen die Betrachtungen dieses französischen Soldaten vor dem Feind, den er morgen angreifen wird, den seltsamen Zustand der Verzückung fort, in den der Krieger der Bhagavad Gîta [„Lied der Gottheit“ Episode des Mahâbhârata. (Der Übersetzer)] zwischen zwei Heeren, die aufeinanderprallen sollten, sich versenkte. Auch er sieht in der menschlichen Unruhe einen Traum, der uns den Anblick der höheren Ordnung und der göttlichen Einheit verschleiern wollte. Auch er hat sein Vertrauen in die Dinge gesetzt, die „weder Geburt noch Tod kennen“, in das was „nicht geboren, unverwüstlich ist, was nicht getötet wird, wenn der Leib getötet wird“. Das ist das ewige Leben, dessen Wirken sich fortpflanzt, stets gleich durch alle Formen hindurch, die es erzeugt, in jeder bestrebt, sich zu mehr Licht, Frieden, Bewusstsein zu erheben. Und dieses Ziel bedingt das Gesetz eines jeden denkenden Wesens, die Aufopferung seiner selbst zum Besten des allgemeinen und endlichen Wohles; daher bei dem Gedanken an das wirksame Opfer, jene tiefe Befriedigung derer, die ihr Leben hingeben, die für die Sache des Lebens fallen: „Sage M..., wenn das Schicksal die Besten trifft, dass das nicht ungerecht ist: diejenigen, die weiterleben, werden dadurch gebessert … Ihr wisst nicht, welche Lehre uns der gibt, der fällt. Ich weiß es aber.“ Und das Opfer ist noch vollständiger, wenn das Leben geben, wenn auf sich selbst verzichten, zugleich bedeutet auf das verzichten, was man mehr liebte als sich selbst, dem man mit seinem ganzen Leben hatte dienen wollen. „Fahnen der Kunst, der Wissenschaft“, die er als Kind vergötterte, die er zu tragen angefangen hatte, mit welchem stolzen, vertrauensvollen Schauer! Der Mensch lerne ohne Klage zu sterben! „Es genüge ihm zu wissen, dass die Fahne getragen werden wird!“
Der schlichte, gewöhnliche Gehorsam der gegenwärtigen Verpflichtung, das ist auch der praktische Abschluss der höchsten Weisheit der Inder, nachdem sie den Wahn des Scheins entschleiert hat. Sich nicht in die Einsamkeit und Untätigkeit zurückziehen, weil man den Wahn erkannt hat, mit seinen Brüdern kämpfen, an seinem Platz und Rang, mit offenen Augen, ohne Hoffnung auf Ruhm und Gewinn, einfach weil das Gesetz es so will, das ist der Befehl, den der Gott dem Krieger Arjuna gibt, als dieser zweifelt, ob er von der Betrachtung des Ewigen dem menschlichen Schreckbild der Schlacht sich zuwenden solle. „Für jedes Wesen ist Gesetz, das Werk zu vollführen, das seine eigene Form ihm vorschreibt. Jeder unterziehe sich dem Handeln, da er ein Teil ist dieser Natur, deren Beschaffenheit ihn zum Handeln zwingt!“
Arjuna spanne einfach seinen Bogen mit den anderen Kshettryas! Der junge Franzose hatte keinen Augenblick gezweifelt.
Arjuna ist eine der wichtigsten Heldengestalten im indischen Epos Mahabharata.
Aber in seinen Briefen sehen wir, wie er mitten in den Schrecken des Gemetzels und in den geduldigen und langweiligen Arbeiten des Minenganges oder des Schützengrabens seine Blicke „auf das Ewige“ stets zu richten wusste.
Schützengraben
Ich möchte nicht länger bei diesem Vergleich verweilen. Vielleicht hat er durch einige Auszüge aus dem Ramayana den erhabenen Gedanken des uralten Asiens vermuten können. Und doch zeigt in der ganz modernen Färbung, in den bestimmten Formen und dem so französischen Fluss der Sprache die Seele, die sich in diesen Briefen offenbart, wie die Amiels, Michelets, Tolstois, Shelleys, eine tiefinnerliche Verwandtschaft mit dem zarten und mystischen Genius Indiens. Seltsame Verwandtschaft, die sich nicht allein in dem tiefen Gefühl und Verlangen nach dem Allgemeinen und Ewigen offenbart, sondern auch in dem unmittelbaren Mitempfinden mit allem, was Leben ist, in den Ergüssen der Liebe zu der großen mütterlichen Seele der Natur und allen ihren Erscheinungen.
„Liebe“, das ist eines der Wörter, die am meisten in diesen Briefen wiederkehren. Liebe zu jenen Gefilden, jener Ebene, über die die Morgen und die Abende wie innere Regungen über ein Antlitz ziehen, Liebe zu den Bäumen, deren Bewegungen fast menschlich sind, – einem gewissen, unter seinen Wunden männlichen, geduldigen Baume, „der einem Soldaten gleicht“, – Liebe zu den hübschen Tierchen der Felder, die im Schweigen des frühen Morgens am Rand der Schützengräben spielend sich bewegen, – Liebe zu allen Dingen am Himmel und auf Erden, jenem beseelten Himmel, jener französischen Landschaft mit ihrer so übersichtlichen, so schlichten Linienführung, Liebe zumal zu denen, die er neben sich geduldig leiden und kämpfen sieht, zu den ernsten Bäuerinnen der Champagne, die alle ihre Söhne hingaben, die schweigen, ihre Tränen trocknen und die Arbeit der Vorfahren auf den Äckern, in den Weinbergen weiterführen, zu jenen Kameraden, deren „Scherze oder Lieder“ kein Elend entmutigt, „braven Leuten, denen mein schönes Künstlergewand arg hinderlich wäre, ihre Pflicht ehrlich zu tun, wie sie sie tun“, – zu allen jenen einfachen Menschen, die Frankreich ausmachen, mit denen man sich so gerne vereint fühlt. Liebe zu allen Lebenden (man fühlt wohl, dass er nicht hassen kann, auch nicht den Feind, Fleisch von seinem Fleisch, das, wie er selbst, an diese Erde sich anklammert, das in demselben Maß duldet). Und dann Liebe zu den Toten, deren Anblick er aufsucht, deren stille, von Schweigen und Geheimnis schwere Schönheit, sich in langer Betrachtung diesem eindringlichen Auge offenbart.
Durch diese der innerlichen, geistigen Bedeutung der Dinge zugewandte Aufmerksamkeit, erscheint uns dieser Maler in seinen Briefen besonders als ein Dichter, – ein religiöser Dichter, der in der Welt das Wesen der Dinge erfasst, alle unaussprechlichen Arten des Seins; auch als ein Musiker, der in den Schützengräben mit Beethoven, Händel, Schumann, Berlioz zusammenlebt, deren Melodien und Gedanken er in sich trägt – den „die schönsten Symphonien mit ihrer Orchesterbegleitung“ berauschen.
Innere Reichtümer, geheime Mächte des Trostes und der Freude, die in den trübsten Stunden, in der Nacht und dem Schlamm der langen winterlichen Wachen, so nahe zu der Seele zu reden vermögen oder sie mit einem Mal in solche Höhen und solche Fernen forttragen.
Georg Friedrich Händel
Berlioz
Robert Schumann
Ludwig van Beethoven
Schumann, Beethoven: zwischen diesen unsterblichen Geistern, die nur für alle Menschen zu singen wussten, und den unmenschlichen Pedanten, welche die Schönheit des Krieges und das starre Recht der Gewalt predigten, was bleibt noch Gemeinsames übrig? Haben wir sie nicht uns zu eigen gemacht, diese Genien, dadurch, dass wir sie immer tiefer verstanden und in uns eindringen ließen? Sind sie nicht unsere Freunde geworden? Begleiten sie uns nicht in alle gesegneten Einsamkeiten, in denen unser wahres Ich wieder zu leben beginnt, unsere innere Quelle wieder fließt?
Den Größten von allen ruft eine Schar französischer Soldaten wach, drei Tage vor der Schlacht, die sie voraussehen, in der mehrere verschwinden sollten. Sie sind in der Tiefe einer unterirdischen Kasematte: „Dort erwartet man in völliger Dunkelheit die Nacht zum Aufbruch. Plötzlich haben wir, meine Kameraden, die Unteroffiziere und ich, die Schauer der neun Symphonien von Beethoven erweckt! Eine unaussprechliche Begeisterung beseelte uns.“ Dieser fast heilige Gesang, diese heroische Begeisterung in einem solchen Augenblick, wie widerlegen sie die immer wiederholten Theorien der Deutschen über die Grenzen des französischen Gefühls! Welcher Dichter eines anderen Volkes hat die Natur mit einem brüderlicheren Auge, mit einem tieferen Widerhall im Herzen betrachtet, als der dessen Innerstes sich hier ausspricht?
* * *
Diese Tag für Tag geschriebenen und aus dem Schützengraben oder dem Quartier geschickten Briefe bilden zusammen eine fortschreitende Folge, gleichsam eine Dichtung oder einen Gesang. Ein tiefes inneres Leben birgt sich darin: das Leben einer Seele, die wir in der Eintönigkeit dieser außerordentlichen Verhältnisse, in denen sehr oft jedes Ereignis fehlt, über den gewöhnlichen Gedankenkreis sich erheben, sich selbst übertreffen und, je näher die schwersten Prüfungen herankamen, in Friede und heitere Ruhe sich hüllen sehen (Februar-April). Man muss diesen seelischen Fortschritt verfolgen, den er mit einem unerschütterlichen Willen leitet. Es gibt keine ergreifendere Geschichte eines inneren Erlebens. Sein ganzes Bemühen ist sich „anzupassen“, und wie fürchterlich es ihm oft wird, das spürt man unter der gewöhnlichen Ruhe und Schlichtheit des Ausdrucks. Er ist Dichter und Künstler; er hat das Leben aufgefasst, er hat sich entwickelt in einer dem Mann der Tat entgegengesetzten Richtung. Seine ganze Bildung, seine besonderen künstlerischen Übungen hatten als Folge die Verfeinerung einer an sich schon angeborenen äußersten Zartfühligkeit. Aus innerem Drang und einem selbstgewählten Gesetz folgend, hat er die Einsamkeit und Beschaulichkeit aufgesucht. Er fühlt und weiß wohl, dass er nur lebt, um ein bestimmtes Abbild der Welt zu sein, und hat sich immer, dem inneren Trieb gehorchend, bemüht, in sich selbst die reine Form und ursprüngliche Wölbung des Spiegels zu bewahren und zu vervollkommnen, der eine Neigung hat sich unter den Einflüssen der Umgebung zu verzerren und zu trüben. Jetzt heißt es im Gegensatz zu dem eigenen Gesetz leben, und zwar nicht weil die Not dazu zwingt, sondern durch einen freien Willensakt. Es heißt nun dieses Ich, das sich sorgfältig außerhalb der Welt und der Welt gegenüber bewahrt hat, preisgeben, ohne Murren es in das dichteste Gewühl werfen, Tag und Nacht nur noch in dem Atem und dem Gedränge der Soldatenschar leben, und sich dabei einer rein körperlichen Tätigkeit unterziehen für die furchtbaren Aufgaben des Krieges. Und für ein solches Dasein, das er von seinem früheren Standpunkt aus als ein Sklavenleben betrachtet hätte, muss er als den einzig möglichen Ausgang den Tod ansehen, in absehbarer Zeit. Er muss sich daran gewöhnen, in seinem verflossenen Leben, – jenem Leben, das seine Künstlerträume und -Hoffnungen erleuchteten, das wie in einem Rausch allen Regungen und dem Pulsschlag des Lebens des Weltalls entsprach – nur noch einen Traum zu sehen, einen Traum, der entschwunden ist und nie zurückkehren wird.
Das nennt er „sich anpassen“, und wie oft kehrt dieser Ausdruck in seinen Briefen wieder! Denn er bezeichnet die Pflicht, eine Pflicht, deren Schwierigkeit sich an dem Abstand zwischen Gegenwart und Vergangenheit bemessen lässt, zwischen dem angeborenen Trieb einer Seele und der Selbstüberwindung, die sie sich auferlegen will. „In voller Schaffenskraft, in dem Augenblick, wo das Leben für ihn eine Zeit fortwährender Blüte wurde, wird ein junger Mann herausgerissen und auf einen trockenen Boden verpflanzt, wo alles von seiner gewohnten Nahrung ihm fehlt. Nun denn! von dem Augenblick an, wo nach dem ersten Riss das Leben ihn nicht verlassen hat, bemüht er sich aus den dürftigen Säften seines neuen Bodens zu schöpfen. Die Anstrengung verlangt eine Anspannung aller Kräfte, die keinen Raum lässt für die Erinnerungen und Hoffnungen … Ich erreiche es, außer in rasch unterdrückten Stunden der Empörung, wo die Gedanken, die Handlungen meines vergangenen Lebens sich erheben, wie wenn ich sie nicht vergessen hätte. Ich brauche dann meine ganze Kraft, um meine herzzerreißenden Erinnerungen in der Ergebung in den gegenwärtigen Augenblick zu ertränken.“ Dazu braucht es eine rastlose Anstrengung. Denn „sich anpassen“ bedeutet für ihn nicht sich durchgreifend verwandeln, indem er den Einflüssen der neuen Umgebung nachgibt. Durch die fortgesetzte Tätigkeit seiner Lebenskraft will er, im Sinne seiner eigenen Persönlichkeit, den Stoff umgestalten, den er aus dieser Umgebung zieht; er will darin die Mittel finden trotz allem in der Richtung seines eigenen Wesens sich zu nähren und weiter zu bestehen. Er will allem entsagen und das Wesentliche bewahren, weil sein Ich weiter erhalten bleibt, treu dem selbstgeschaffenen Ideal, fähig nicht allein zu leben, sondern noch zu blühen, teilzunehmen an dem allgemeinen Fluss des Lebens, der sich in der Natur in rastlosem Erblühen offenbart, im Menschen in Regungen der Liebe, der Kunst, der Poesie. Um dieses Ziel zu erreichen, gilt es, unter den Drohungen und in den Unruhen des Krieges, sich für jede Erscheinung des Schönen empfänglich zu erhalten. Denn das Schöne ist für diesen frommen Dichter das Göttliche, das mehr oder weniger deutlich in allen Dingen durchleuchtet; daher auch die Kraft, die er in der Betrachtung des Schönen schöpft, die ihn allmählich über die Zufälligkeiten des Einzelwesens hinaushebt. Um den Eindruck voll zu empfangen, um in sich alle Unruhe zu bannen, muss er der Vergangenheit und der Zukunft Lebewohl sagen, nichts beklagen, nichts erhoffen, nur noch im „gegenwärtigen Augenblick“ leben, der an diesen Segnungen reich ist. „Ich nehme alles aus der Hand des Schicksals an, ich habe ihm aber alles genommen, was es in den Falten eines jeden Augenblickes an Glück birgt.“ In diesem Zustand der Einfalt, der fast der Zustand der Gnade ist, tritt er mit der lebendigen Wirklichkeit dieser Welt in Berührung. „Lasst uns essen und trinken von allem was ewig ist; denn morgen sterben wir allem ab, was menschlich ist“.
Tausende von E-Books und Hörbücher
Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.
Sie haben über uns geschrieben: