Briefe von Oliver Sacks - Oliver Sacks - E-Book

Briefe von Oliver Sacks E-Book

Oliver Sacks

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Beschreibung

Oliver Sacks' Briefe sind brillant, offen, intim – sie liefern einen einmaligen Einblick in die schillernde Gedankenwelt des gefeierten Neurologen und in die Anfänge der modernen Neurowissenschaften. Oliver Sacks ist ein «Man of letters». Ein Literat, ein Erzähler, ein Autor. Aber er ist es auch ganz wörtlich: ein Mann, der viele Briefe geschrieben hat, an ganz unterschiedliche Menschen. Die meisten waren Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller und sogar Staatsmänner: Francis Crick, Antonio Damasio, Jane Goodall, W. H. Auden, Susan Sontag, Stephen Jay Gould, Björk und sein Cousin ersten Grades, Abba Eban. Viele der eindrucksvollsten Briefe in dieser Sammlung sind jedoch an die Menschen gerichtet, die ihm von ihren erstaunlichen Symptomen berichtet haben und denen er stets mit einem Gefühl der Großzügigkeit und des Staunens antwortete. Durch die Augen von Oliver Sacks sehen wir die Anfänge der modernen Neurowissenschaften und folgen den Gedankengängen eines der großen Intellektuellen unserer Zeit, dessen Sicht auf das Leben und seine Patienten stets von überbordender Neugierde und Nächstenliebe geprägt war.

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Seitenzahl: 1284

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Oliver Sacks

Briefe von Oliver Sacks

 

 

Aus dem Englischen von Hainer Kober

 

Über dieses Buch

«Oliver Sacks’ ‹Briefe› ist kein Buch des Jahres – es ist ein Buch fürs Leben.» New Statesman

Oliver Sacks war ein «Man of Letters», ein Literat, Erzähler, Autor. Aber er war es auch ganz wörtlich: ein Mann, der viele Briefe geschrieben hat, an ganz unterschiedliche Menschen. Darunter Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller und sogar Staatsmänner: Francis Crick, Antonio Damasio, Jane Goodall, W. H. Auden, Susan Sontag, Stephen Jay Gould, Björk und sein Cousin Abba Eban. Er schrieb aber auch an seine Eltern, seine geliebte Tante Len, an seine Freunde und Kollegen in London, Oxford, Kalifornien und in der ganzen Welt. Viele der eindrucksvollsten Briefe in dieser Sammlung sind jedoch an die Menschen gerichtet, die ihm von ihren erstaunlichen Symptomen berichtet haben und denen er stets interessiert und einfühlsam antwortete. Durch die Augen von Oliver Sacks sehen wir die Anfänge der modernen Neurowissenschaften und folgen den Gedankengängen eines großen Intellektuellen, dessen Sicht auf das Leben und seine Patienten stets von überbordender Neugierde und Nächstenliebe geprägt war. 

Vita

Oliver Sacks arbeitete mehr als fünfzig Jahre lang als Neurologe und schrieb Bücher über die neurologischen Probleme und Erkrankungen seiner Patienten, darunter den Weltbestseller «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte». Die New York Times bezeichnete ihn als «poet laureate der Medizin». Im Rowohlt Verlag sind von ihm u.a. «Dankbarkeit», «Der einarmige Pianist» und «Migräne» in deutscher Übersetzung erschienen. Kurz vor seinem Tod im August 2015 veröffentlichte er seine Memoiren «On the Move».

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel «Letters by Oliver Sacks» bei Alfred A. Knopf, New York

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg 

«Letters by Oliver Sacks» Copyright © 2024 by The Oliver Sacks Foundation 

Vorwort und Anmerkungen der Herausgeberin © 2024 by Kate Edgar

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München, nach dem Original von Penguin Random House

Coverabbildung Rosalie Winard

ISBN 978-3-644-05781-4

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

In memoriam Dan Frank

Inhalt

Vorwort 9

Vorbemerkung der Herausgeberin 17

 

1 Eine neue Welt | 1960–1962 21

2 Los Angeles | 1962–1965 84

3 Jenö | 1965 131

4 Analyse | 1966–1968 169

5 Erwachen | 1969–1971 223

6 In der Gesellschaft von Schriftstellern | 1971–1973 283

7 Astronom der Innenwelt | 1974–1975 370

8 Atavismen | 1975–1977 422

9 Aufarbeitung | 1978–1979 483

10 Klinische Geschichten | 1980–1984 527

11 Vertiefung | 1985–1988 589

12 Anpassungen | 1989–1995 657

13 Syzygy | 1995–2003 747

14 Schnappschüsse | 2003–2006 833

15 Visionen | 2006–2015 888

16 Dankbarkeit | 2015 962

 

Danksagung 989

Bibliographie Oliver Sacks 994

Namensregister 999

Bildnachweis 1008

Vorwort

Kate Edgar

Oliver Sacks liebte Briefe. In London, wo er in den 1930er und 1940er Jahren aufwuchs, blieben die Menschen durch Briefe und Postkarten in Verbindung. Nur relativ wenige Haushalte verfügten über ein Telefon, aber die Post kam zweimal am Tag, deshalb konnte man, wenn erforderlich, noch am selben Tag antworten.

Als Oliver sechs Jahre war, lebte er in einem Internat, und ich denke, da wird jeder Brief von zu Hause große Bedeutung für ihn gehabt haben. Selbst als Erwachsener machte es ihm Freude, jeden Tag seine Post zu holen, um zu sehen, was sie ihm brachte.

Ihm war es immer ein Anliegen, jeden seiner Briefe zu beantworten – wenn möglich sofort. (Das lag wohl an einer Mischung aus Anstand und unwiderstehlichem Kommunikationsbedürfnis.) Es war sogar bekannt, dass er seinem Monatsscheck für die Elektrizitätsgesellschaft stets ein paar Zeilen beifügte. Er sammelte Briefumschläge, besonders wenn sie von wichtigen Leuten oder aus exotischen Orten kamen, und bewahrte interessante Briefmarken auf (in seinem Büro taten wir später das Gleiche und legten sie für ein oder zwei besondere Patienten beiseite, die Sammler waren).

Sein Leben lang bewahrte Oliver den größten Teil seiner eingehenden Korrespondenz auf und gab sich große Mühe, seine Antworten auf Durchschlagpapier, handschriftlichen oder getippten Entwürfen und – später – Fotokopien aufzubewahren. Natürlich war das Anfang der 1960er Jahre, in denen das vorliegende Buch beginnt, nicht immer möglich. Viele der Briefe in den ersten Kapiteln liegen als leichte Luftpostfaltbriefe vor, die er nach seiner Ankunft in Nordamerika nach London geschickt hatte. Damals wäre es schwierig gewesen, Kopien von ihnen anzufertigen, es sei denn, man hätte sie fotografiert. Glücklicherweise haben seine Eltern die Briefe aufgehoben. Später wurden sie O.S. zurückgegeben.

Schon rein zahlenmäßig war seine Briefproduktion enorm. Die Korrespondenzakten in seinem Archiv umfassen ungefähr zweihunderttausend Seiten – rund siebzig volle Bankers Boxes.

Olivers literarischer Stil war – obwohl lebhaft und empfindsam – selten prägnant, sondern komplex in Hinblick auf Struktur und Inhalt. Im persönlichen Gespräch neigte er zu langen Absätzen mit umständlichen Abschweifungen, die aber schließlich wieder zum Thema zurückführten; wenn er an einem Essay oder Buch arbeitete, war es sehr ähnlich. Allerdings hatte er Schwierigkeiten, seine eigenen Texte zu überarbeiten. Wenn ihn also ein Redakteur bat, eine Passage etwas klarer zu formulieren oder zu kürzen, spannte er einfach eine neue Seite in die Schreibmaschine und begann von vorn. Schließlich saß der Redakteur vor einem ganzen Stapel von Entwürfen, ganz zu schweigen von all den Briefen mit neuen Fußnoten und Ergänzungen. Es war schwierig, zwischen ihnen eine Auswahl zu treffen, denn die meisten enthielten wundervolle Passagen, gingen aber alle in unterschiedliche Richtungen.

Als ich um das Jahr 1983 als junge Lektorin für ihn zu arbeiten begann, schien mir, dass es nur eine einzige Lösung gebe: die verschiedenen Entwürfe mittels Cut and Paste zu bearbeiten (in dieser Zeit vor Einführung der Computer hielten wir uns an die altmodische Methode, das heißt an Schere und Klebstoff), um die verschiedenen Gedankenstränge miteinander zu verbinden. Und genau so machte ich es – im Gedanken an seine wundervollen Geschichten und philosophischen Überlegungen oder indem ich einfach wiederholte, was er mir gerade gesagt hatte. Im Laufe der Zeit entwickelten wir eine dialogische Form der Textbearbeitung.

Das war neu für mich. Ich bekam üblicherweise ein mehr oder weniger vollständiges Manuskript vom Autor, las es mehrfach durch, machte dabei meine Anmerkungen und überprüfte sie noch einmal, bevor ich sie dem Autor zur Begutachtung zurückschickte. Oliver dagegen verlangte, dass ich mich neben ihn setzte, während er die fertigen Seiten aus der Schreibmaschine zog: «Hier! Was hältst du davon?» Ich begann, es «Kampf-Lektorat» zu nennen.

Wenn ich nach einem Tag mit Oliver abends nach Hause kam, war ich von dem unablässigen Versuch erschöpft, acht Stunden lang mit seinem ruhelosen Verstand Schritt zu halten. Aber es war auch eine höchst anregende Arbeit, und wenn er mich ein oder zwei Stunden später anrief und mir neue Gedanken präsentierte, war ich schon wieder bereit, mich auf sie einzulassen. Was für mich als freiberufliche Tätigkeit von ein oder zwei Tagen begann, wuchs sich schon bald zu einer Vollzeitbeschäftigung von mehreren Tagen aus.

Damals erzählte mir Oliver viel über seine Jugend und Anfänge als Arzt und Schriftsteller. Er hatte bereits zwei Bücher veröffentlicht, beide über Patienten, die er als Neurologe behandelt hatte. Migraine, 1970 (Migräne, 1970) und Awakenings, 1973/1990, (Awakenings – Zeit des Erwachens, 1990) ließen bereits den patientenorientierten Ansatz in seiner Arbeit und seine umfassende Belesenheit erkennen. Zwar war Awakeningsein literarischer Erfolg gewesen, hatte aber wenig oder keine Anerkennung in der medizinischen Gemeinschaft gefunden – ganz im Gegenteil. Zum Teil aus diesem Grund bemühte er sich, A Leg to Stand On(Der Tag, als mein Bein fortging, 1989) fertigzustellen, ein Buch, an dem er seit fast einem Jahrzehnt arbeitete. Damals dürfte er kaum damit gerechnet haben, dass er eines Tages ein leuchtendes Vorbild für junge aufstrebende Ärzte in aller Welt sein oder mit seinen «klinischen Geschichten», wie er sie nannte, eine ganze Gattung begründen würde.

Die Briefe in diesem Band sind voller Widersprüche; sie sind heftig, zärtlich, achtsam. Sie verraten ein gerüttelt Maß an Selbstbefangenheit – von jener Art, die viele von uns in ihrer Jugend an den Tag legen –, doch meist erweist sich Oliver als interessiert und großherzig, besonders gegenüber Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben: jungen Menschen, alten Menschen, in ihrer Freiheit eingeschränkten Menschen und, natürlich, Menschen, die mit ungewöhnlichen Syndromen oder Krankheiten leben. Diese Briefe sind sehr aufschlussreich, selbst für mich, trotz all der Jahrzehnte mit Oliver. Dort ist die Rede von Büchern, die geplant waren, aber nie geschrieben wurden, von Büchern, die geschrieben wurden, aber verloren gingen oder vernichtet wurden, von leidenschaftlichen Liebesaffären und von den inneren Kämpfen, die er ausfocht, als es um die Entscheidungen über seine Berufswahl ging. Einmal, 1961[1], schreibt der Mann, der eines Tages zur Verkörperung des mitfühlenden Arztes werden sollte: «Ich beobachte an mir weit intensiver als jemals zuvor (bis dahin waren es bloße Andeutungen) einen heftigen Widerwillen gegen Patienten, Krankheiten, Krankenhäuser und insbesondere Ärzte […]. Wisst Ihr, in Wahrheit hätte ich nie Arzt werden sollen.»

Doch 1970[2] hat er sich wieder gefangen und schreibt: «Ich denke, dass ich ein guter (und in sehr seltenen, magischen Augenblicken ein großartiger) Lehrer bin: Nicht weil ich Tatsachen verkünde, sondern weil ich in gewisser Weise meine Leidenschaft für Patienten und ihre Befindlichkeiten vermittle und ein Gefühl für die Beschaffenheitder Patienten, für die Art, wie sich die Symptome mit ihrem ganzen Sein verschränken und dieses seinerseits mit dem gesamten Umfeld verschränkt: Kurzum, die Art und Weise, wie alles ineinandergreift(so vollkommen ineinandergreift wie die Teile eines wundervollen Puzzles), erweist sich als eine Art Wunder und Beglückung.»

Man erkennt, dass er von Anfang an hohe Ansprüche an sich als Autor gestellt hat, vielleicht noch bevor er seine wahre Berufung als Arzt fand. Man kann verfolgen, wie sich seine Gedanken im Laufe von Jahrzehnten entwickelten, und begreift, dass sie erst mit den Fortschritten der modernen Neurowissenschaft in den 1980er Jahren zur vollständigen Entfaltung kamen. Manchmal dienen ihm die Briefe dazu, neue Ideen oder Ausdrucksformen zu erproben; gelegentlich scheinen seine Briefe eher Zeitschriftenbeiträgen oder halb fiktionalen Erzählungen zu ähneln. Dann wieder sind sie Versuche zur Analyse der eigenen Psyche, besonders als er Mitte der 1960er Jahre die Reise in die eigene Psychoanalyse beginnt.

Man merkt, wie sich seine Prosa entwickelt, wie sie sicherer und fokussierter wird, nicht zuletzt durch seine außerordentlich umfangreiche Korrespondenz mit vielen Tausend Menschen, von Nobelpreisträgern bis zu Schulkindern. Mitte der 1980er Jahre, nach der Veröffentlichung von The Man Who Mistook His Wife for a Hat (Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte) nahm die Schar seiner Briefpartner sprunghaft zu, als zahllose Bewunderer hinzukamen, wobei ihm viele dieser Menschen ihre eigenen Geschichten erzählten. Oliver machte es großes Vergnügen, die Korrespondenz mit ihnen fortzusetzen. Ihre Briefe wurden zu einer Erweiterung seiner medizinischen Praxis. So wie Darwin mit Ornithologen und Taubenzüchtern in der ganzen Welt korrespondierte, um sein Verständnis für die natürliche Selektion zu vertiefen, antwortete Oliver ihnen allen, um die Vielfalt menschlicher Erfahrung und Individualität auszuloten.

Sich selbst und anderen gegenüber wies Oliver mit Nachdruck darauf hin, dass seine eigenen Beobachtungen, so exotisch sie auch erscheinen mochten, richtungweisend für seine Praxis waren. In diesem Punkt war er sehr entschieden. (Häufig verglich er sich mit Naturforschern wie Humboldt, Bates oder Darwin, den Forschungsreisenden, die er als Junge begeistert las; seine Aufgabe sah er im Beobachten und Beschreiben.) Lange vor dem Gros seiner Kollegen beschrieb er die Wirkung von Musik und Malerei als Therapie für die Patienten, mit denen er so viele Stunden arbeitete. Er entwickelte neue Ansätze zu Erkrankungen, die kaum bekannt waren, etwa dem Tourette-Syndrom, der Migräne-Aura und der Prosopagnosie. Für lange missverstandene Störungen wie Autismus und «Farbenblindheit» fand er neue Zugänge und erklärte sie seinen Lesern mit der für ihn charakteristischen Mischung aus Staunen und tiefem Mitgefühl. Er brach sogar mit seinen medizinischen Kollegen, indem er solche Phänomene nicht als Krankheiten beschrieb, sondern einfach als andere Seinsweisen.

Eines geht aus seinen Briefen sehr deutlich hervor (Oliver selbst weist darauf hin): Er hatte eine erheblich verlängerte Pubertät. Dafür könnte es viele verschiedene Gründe geben. Als Kind wurde er während des Krieges von Angehörigen und Freunden getrennt und auf ein weit entferntes Internat geschickt, wo er Schläge bekam und hungerte, aber sich aus Furcht nicht zu beklagen wagte; als schwuler Jugendlicher und Erwachsener in einer homophoben Kultur musste er seine sexuelle Orientierung verheimlichen. Als brillanter, aber etwas unkonventioneller Erwachsener schien er sich den Neid und die Rivalität aller seiner Vorgesetzten zuzuziehen, während ihm sein Berufsstand mit offener Ablehnung oder Totschweigen begegnete. Seine Stimmungen schwankten zwischen Kreativitätsschüben und Zeiten der Zurückgezogenheit.

Oliver war sich dessen durchaus bewusst. Er habe einen sehr erheblichen Teil seines Lebens, so berichtete er mir, in lähmender Depression verbracht, nur unterbrochen von manischen Kreativitätsschüben. Hatte er vielleicht an einer bipolaren Störung gelitten und sie dann irgendwie abgeschüttelt, als er auf die vierzig zuging? Manchmal fragte er sich, ob es sich so verhalte – oder ob er vielleicht schizophren sei wie sein Bruder Michael –, obwohl sein Therapeut, den er seit fast fünfzig Jahren aufsuchte, weder das eine noch das andere für zutreffend hielt. Dann waren da die Amphetamine, Opiate, Halluzinogene, mit denen er während der 1960er Jahre hemmungslosen Missbrauch trieb. Seine Briefe aus dieser frühen Zeit sind manchmal bombastisch, melodramatisch, möglicherweise entstanden, als er auf Speed war.

Von diesen Selbstzweifeln begann er sich Anfang der 1970er Jahre zu befreien, vor allem nach dem plötzlichen Tod seiner Mutter und der Veröffentlichung von Awakeningsan seinem vierzigsten Geburtstag. Wie seine Korrespondenz zeigt, stellt er sich der Tatsache, dass er erwachsen ist, und akzeptiert sie; zwar kommt es noch immer zu Stimmungsschwankungen, aber sie sind gemäßigter. Seine Briefe werden prägnanter und selbstgewisser. (Hilfreich waren sicherlich der allmähliche Amphetamin-Entzug, die jahrelange Analyse, der größere Erfolg in der literarischen Welt und die wachsende Anerkennung in medizinischen Kreisen.)

Als Oliver später eine öffentliche Person wurde, beklagte er sich manchmal über die wachsende Zahl der Briefe, die er erhielt (und die zu beantworten er sich genötigt fühlte). Gewiss entstand gelegentlich der Eindruck, dass die Korrespondenz ihn von den «größeren» Schreibprojekten ablenkte, an denen er jeweils arbeitete, doch grundsätzlich galt, dass es seine persönliche Art war, mit anderen in Verbindung zu treten. Häufig regte ihn ein zufälliger Brief vollkommen unerwartet zu einem ganz neuen Essay oder sogar einem Buch an. Dann wieder erinnerte er sich an einen Brief, der Jahre zurücklag, suchte ihn heraus und griff einen Gedanken auf, der unbewusst herangereift war und nun ins Bewusstsein drängte. Dennoch, die Briefe blieben für ihn, wie seit jeher, ein fester Halt und eine nie versiegende Inspirationsquelle. Selbst im hohen Alter liebte Oliver es, sich mit einer Handvoll frisch eingetroffener Briefe, einem Stapel Briefpapier und seinem Füllfederhalter hinzusetzen und an die Antworten zu machen.

Vorbemerkung der Herausgeberin

O.S. konnte unglaublich schnell schreiben, wobei er nur die beiden Zeigefinger in einem maschinengewehrartigen Stakkato benutzte. Dabei machte er viele Tippfehler und bewies eine fast deutsche Vorliebe für die Großschreibung bestimmter Substantive, gewöhnlich, wenn sie Begriffe bezeichneten wie «Handlung» und «Wille» und wenn er sie hervorheben wollte. Außerdem verwendete er viele Satzzeichen austauschbar: Bindestriche, Kommas, Auslassungszeichen, Doppelpunkte und Anführungszeichen (ganz zu schweigen von Unterstreichungen, Doppelunterstreichungen, Füllerschnörkeln und GROSSBUCHSTABEN) – sie alle hat er freigebig und willkürlich über seine Texte verstreut.

Im vorliegenden Buch werden all seine unterschiedlichen Ausdrucksformen für Emphase kursiv wiedergegeben. Offensichtliche Tippfehler oder ausgelassene Wörter habe ich meistens stillschweigend korrigiert. Im Interesse besserer Lesbarkeit bereinigte ich auch weitgehend die Zeichensetzung seiner Briefe, ließ aber einige Beispiele für seine eigenwillige Interpunktion und Rechtschreibung stehen, um einen gewissen Eindruck von seinem Stil und seinen sprachlichen Eigenheiten zu vermitteln. Häufig bringt O.S. die Schreibweise von Namen durcheinander, selbst von denen enger Freunde. In den meisten Fällen habe ich sie korrigiert; wo ich fehlerhafte Namen habe stehen lassen, werden sie im Kontext erklärt. Im Laufe der Zeit hat er die englischen Schreibweisen durch die amerikanischen ersetzt.

Von den Briefen, die ich für diesen Band gekürzt habe, gehen nicht wenige über ein Dutzend oder mehr Schreibmaschinenseiten. (Mindestens einer brachte es auf vierzig Seiten.) Alle editorischen Kürzungen sind, ob groß oder klein, durch Auslassungszeichen in eckigen Klammern gekennzeichnet (Auslassungszeichen ohne Klammern stammen aus dem Original).

Gewisse Standardsätze oder -gedanken, die O.S. in seinen Briefen häufig wiederholte, habe ich in der Regel fortgelassen. Beispielsweise begann er seine Briefe wiederholt mit einer Entschuldigung für die verspätete Antwort. (In einigen Fällen umfasste diese «Verspätung» einige Tage oder Wochen, manchmal aber auch einige Jahre. Doch er nahm dann den Austausch mit einer Unmittelbarkeit wieder auf, die die inzwischen verstrichene Zeit vergessen machte.) Entsprechend schloss er einen Brief häufig mit Entschuldigungen für seine Handschrift oder die Länge seines Antwortschreibens; einige Beispiele habe ich stehen lassen.

Sehr gern hat er alle möglichen Leute zitiert und dabei manchmal übertrieben: Zu seinen bevorzugten Autoren gehörten Freud, Darwin, Goethe, Dickens, Lewis Carroll und William James. Manche dieser Zitate habe ich beibehalten, aber weit mehr gestrichen. Meistens hat er aus dem Gedächtnis zitiert, und das häufig ungenau. Gelegentlich habe ich kleinere Abweichungen korrigiert, ohne es anzumerken; in anderen Fällen habe ich in einer Fußnote das tatsächliche Zitat angegeben, das ihm vorschwebte.

Jeder Briefpartner wird bei seiner ersten Erwähnung oder dem ersten an ihn gerichteten Brief kurz vorgestellt – gelegentlich auch in einer Fußnote. Einige der hier berücksichtigten Briefpartner waren Menschen, die ihm sehr nahestanden, doch der Umkehrschluss wäre nicht unbedingt richtig: Mit vielen seiner besten Freunde kam er häufig persönlich zusammen – da ergab sich selten die Notwendigkeit, ihnen mehr als eine kurze Notiz zu schreiben.

In vielen Fällen, besonders in dem Zeitraum, als O.S. noch keine Unterstützung durch ein Sekretariat hatte, lässt sich nur schwer bestimmen, ob ein Brief irgendwann an seinen vorgesehenen Empfänger geschickt wurde. Zu einigen frühen Briefen enthält sein Archiv verschiedene Entwürfe, da ihm das Briefeschreiben dazu diente, sich laut an eine imaginäre Hörerschaft zu wenden oder nach besonders vernichtenden oder geistreichen Wörtern zu suchen, um eine vermeintliche Ungerechtigkeit anzuprangern, was ihm erlaubte, seinen Emotionen gefahrlos auf einem Stück Papier freien Lauf zu lassen. In Fällen, in denen ich sicher war, dass die betreffenden Briefe nie abgeschickt worden sind, habe ich es angemerkt. In anderen Fällen überlasse ich dem Leser die Entscheidung.

1 Eine neue Welt

1960–1962

Im Juli 1960, einige Tage vor seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag, verließ Oliver Sacks England mit der Absicht, sich eine Zeitlang in Kanada oder in den Vereinigten Staaten niederzulassen – einerseits, um dem Wehrdienst in England zu entgehen, und andererseits, um sich in einer neuen Umgebung neu zu erfinden, ohne die erstickende Nähe seiner umfangreichen Familie. Er hatte vier Jahre in Oxford studiert, anschließend eine medizinische Hochschule besucht und dann zwei Jahre als Assistenzarzt in London und Birmingham gearbeitet. Während dieser Zeit begann er sich für Gewichtheben und Motorräder zu interessieren und hatte sexuelle Begegnungen, die er verheimlichte, denn im Nachkriegsengland galten homosexuelle Aktivitäten als Straftaten und wurden mit Gefängnis oder (wie im empörenden Fall von Alan Turing) mit chemischer Kastration bestraft. Zuvor hatte er einen Sommer in einem Kibbuz verbracht, weite Wanderungen und Reisen durch Europa unternommen und sich das erste von vielen Motorrädern gekauft. Im Kopf hatte er die Bilder von den Weiten des nordamerikanischen Westens, die er von Ansel Adams’ Fotos, von Cowboyfilmen und Albert Bierstadts Gemälden kannte.

Als er 2015 in seiner Autobiographie On the Move auf diesen Lebensabschnitt zurückblickte, schrieb er: «Ich verspürte ein sonderbares, noch nie empfundenes Gefühl von Freiheit: Ich war nicht mehr in London, nicht mehr in Europa; dies hier war die Neue Welt, und – innerhalb gewisser Grenzen – konnte ich tun und lassen, was ich wollte.»

Seinen Eltern und Auntie Len, seiner Lieblingstante, schickte er regelmäßig Briefe nach Hause, in denen er seine Reisen mit einer Mischung aus Übertreibung, düsterer Romantik und Parodie schilderte und bewies, wie geschärft sein Blick für Einzelheiten war.

An Elsie Sacks, Samuel Sacks und Helena Landau

O.S.s Eltern und seine Tante[1]

2. August 1960

Qualicum Beach, Vancouver Island

Liebe Ma, lieber Pa und, natürlich, liebe Auntie Len,

ausgestattet mit einer Pause und einer Schreibmaschine, werde ich mich hinsetzen und Euch einen langen und überfälligen Brief schreiben […].

Ich glaube, ich habe Euch zuletzt aus Toronto geschrieben, allerdings habt Ihr inzwischen einige Postkarten bekommen. […]

Von Toronto bin ich nach Calgary geflogen und nachts über die Prärie gegangen. In Winnipeg und Regina gab es kleine Zwischenlandungen, eine Prise Prärieluft, für mehr reichte die Zeit nicht. In Toronto ist die Luft feucht und riecht nach Hektik, Schweiß und Benzin. In der Prärie ist es trocken, warm und wohlduftend – ein Hauch von Zimt und geröstetem Buchweizen –, als stünde die Tür eines riesigen Backofens offen. Doch das sind keine Eindrücke, von denen man wichtige Entscheidungen abhängig macht! Die Sonne ging langsam auf, nachdem wir Regina verlassen hatten, denn wir jagten mit 650 Stundenkilometern nach Westen; wären wir doppelt so schnell unterwegs gewesen, hätte sich das Wunder des Joshua wiederholt, und die Sonne hätte bewegungslos am Himmel verharrt. In der Dämmerung erblickte ich zum ersten Mal den grenzenlosen Ozean unter mir – reifender Weizen auf mehr als tausend Meilen in jede Richtung, ein Anblick, der einem nur im Mittleren Westen zuteilwird. Wir drehten ab, um einem Präriesturm auszuweichen, der vollkommen isoliert und abgegrenzt in einem wolkenlosen Himmel hing, eine Qualle in luftiger Höhe, die ihre Fäden nach einer kleinen Siedlung unter ihr ausstreckte. Um sechs Uhr früh landeten wir in Calgary [… das] gerade seine jährliche «Stampede» beendete. Die Straßen sind voller müßiger Cowboys in Jeans und Buckskins, die den lieben langen Tag mit zerbeulten Hüten über den Gesichtern herumlungern. Aber Calgary hat auch 300000 Einwohner. Es ist eine Boomtown. Das Öl hat Heerscharen von Ölsuchern, Investoren und Ingenieuren angelockt. Der Westen alter Prägung wird von Raffinerien, Fabriken, Bürohäusern und Wolkenkratzern überwältigt. Wenn sie ein paar Dollar sicher anlegen wollen, kaufen sie Albertan Oil, das im Begriff ist, den Weltmarkt für Öl auf den Kopf zu stellen. Außerdem gibt es gewaltige Vorkommen an Uranerz, Gold, Silber und Nichtedelmetallen. In den Schenken sieht man kleine Beutel mit Goldstaub von Hand zu Hand gehen und Männer, die hinter ihren sonnengebräunten Gesichtern und schmutzigen Overalls aus reinem Gold bestehen. Ein paar Worte zum ortsüblichen Trinken. Ihr kennt die Saloons in den Cowboyfilmen, die niedrigen Schwingtüren, drinnen die toughen Jungs, die rauchen und streiten, würfeln und spielen und schießen. Das stimmt nicht, zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Kanadas Gaststätten haben die strengsten Auflagen der Welt. Man darf in einer Bar nicht stehen, sich nicht an einen anderen Tisch begeben, nicht mit einem Fremden sprechen. Ebenso sind Singen, Kartenspielen oder Darts verboten. Nicht zu vergleichen mit der gelassenen Atmosphäre und guten Laune eines englischen Pubs. In Kanada wird nicht gesellig getrunken. Es ist ein ernstes und einsames Geschäft. Bei Trunkenheit und Alkoholismus liegt das Land weltweit an der Spitze. Ich weiß nicht, ob ich schon die anderen sozialen Einschränkungen erwähnt habe: Beispielsweise darf eine Frau in Quebec nicht wählen, sich nicht von ihrem Mann scheiden lassen, kein eigenes Bankkonto einrichten und sich nicht wundern, wenn sie verhaftet wird (was durchaus geschieht), weil sie kurze Ärmel oder Röcke trägt. Im Vergleich dazu ist das «old country» (der zugleich nostalgische und spöttische Ausdruck, den hier jeder verwendet) sehr nachsichtig.

Nicht nur Alkoholiker, sondern auch Spinner, Irre, Sonderlinge, religiöse Fanatiker in unabsehbarer Zahl. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich nahm die Canadian Pacific Railroad nach Banff und wanderte aufgeregt im «Scenic Dome» des Zugs umher. Aus den endlosen flachen Prärien gelangten wir, ständig steigend, in die Ausläufer der Rocky Mountains, die mit niedrigem Fichtengehölz bedeckt waren. Allmählich wurde die Luft kühler und die Ausrichtung der Landschaft zunehmend vertikaler. Die sanften Anhöhen verwandelten sich in Hügel und die Hügel in Berge, die mit jedem Kilometer, den wir vorwärtskamen, immer höher und schroffer wurden. Mühsam schnauften wir durch eine Talsohle, während die schneebedeckten Berge gewaltig vor uns aufragten. Die Luft war so klar, dass wir Gipfel sehen konnten, die Hunderte von Kilometern entfernt waren, und die Berge neben uns schienen direkt über unseren Köpfen hochzuwachsen. Banff liegt auf einer Höhe von 1700 Metern in einem Talkessel, der auf allen Seiten von 2000 bis 3500 Meter hohen Gipfeln überragt wird. Es ist ein Touristen-Mekka mit dicken Amerikanern und ihren dicken Autos und dicken Brieftaschen. Dort habe ich einen Tag und eine Nacht verbracht, nicht geschlafen, sondern geschrieben und geschrieben, mehr als vierzehn Stunden am Stück, während sich das geschmacklos-kostspielige Nachtleben zu regen begann, sich entfaltete und gegen zwei Uhr morgens wieder verstummte, woraufhin sich das Schweigen der Berge und Sterne auf die kleine Stadt senkte, die ich jetzt als mein Eigen empfand, ein stilles Banff unter den Bergen und Sternen, das mir niemand nehmen konnte. Um vier ließ sich ein echter Kuckuck mit einer übermäßigen Quarte vernehmen, dann folgte das Geschnatter der Wasservögel auf dem Fluss und um fünf der alte indigene Straßenreiniger mit seinem kurzgeschorenen weißen Kopf, der seine Karre die Straße entlangzog und den Abfall der Zivilisation aufsammelte – die Bierflaschen und Zigarettenkippen und die komischen Hüte, wie die Überreste einer Party. Um sechs wurden die Frühausgaben ausgerufen, während sich Wanderer mit nackten Beinen über ihre Karten beugten und alte Damen auftauchten, die früh aufgestanden waren, um den Sonnenaufgang über den Bergen zu bewundern. Ab sieben fuhren die großen Autos die Straße entlang, von Ost nach West, von West nach Ost, auf Fahrten, die einem Reisenden in Europa maßlos, undenkbar erschienen. Um acht öffneten die Hamburger-Imbisse und Eisdielen, während die Selbstbedienungsläden für Lebensmittel und Fleisch noch geschlossen waren. An jeder Straßenecke standen die dicken Amerikaner in ihren Hawaiihemden und fotografierten. Es war ein faszinierender Querschnitt durch eine Nacht, die Banffs Entwicklung von der winzigen Siedlung zum betriebsamen Touristenzentrum nachzuzeichnen schien.

An meinem zweiten Tag ging ich, von ihrem Namen angelockt, in die Sunshine Lodge. Es war eine luxuriöse Hütte auf 2200 Metern Höhe, mit einer Fülle von Jagdtrophäen und einem Kaminfeuer von Ausmaßen, die ich aus England nicht kannte. Als ich am nächsten Morgen erwachte und die Vorhänge aufriss, um zu sehen, ob die Sunshine Lodge ihrem Namen Ehre machte, blickte ich in dichtes Schneetreiben und sah gar nichts. Doch um 8 hatte es aufgeklart, und nach einem überwältigenden Frühstück (Melone, Fruchtsaft, Kellogs-Müsli, Forelle, Pfannkuchen mit Ahornsirup, Schinken mit drei Eiern, Toast und Marmelade, kubanischem Kaffee, drei Zigarren und meinem viszeralen Himmel ganz nah) stand die Sonne hoch am wolkenlosen Himmel und das Thermometer auf über dreißig Grad[2] […]

Ein Exkurs über die Natur, speziell für Auntie Len: Die Lodge liegt in einer riesigen Bergwiese, die Anfang Juli ihre schönste Blüte erreicht. Vorherrschende Blumen sind Alpen-Silberwurz (als ich dort war, hatten sie ihren Fruchtstand ausgebildet und sahen aus wie riesige Löwenzahnköpfe, die in der Morgensonne leuchteten und schwebten). Indianerpinsel, in jeder Farbschattierung, von Cremefarben bis Zinnoberrot. Goldkelche, Trollblumen, Spornblumen, Steinbrechgewächse, Läuseblume (bezaubernd, trotz ihres Namens!) und Schmalblättriger Klebalant. Arktische Himbeeren und Erdbeeren, die selten Früchte tragen; die dreiblättrigen Erdbeeren sammeln und bewahren in ihrer Mitte oft einen glitzernden Tautropfen. Herzförmige Arnikas, Nornen, Akeleien und Fingerkräuter. Großblütiger Hundezahn und Alpen-Ehrenpreis. Die Felsen sind mit üppigen Sedumbüscheln bedeckt. Die Sträucher sind hauptsächlich Weiden und Wacholder, Blaubeeren und Büffelbeeren. Verschiedene Tannen und Fichten bis zur Baumgrenze und darüber nur noch Lärchen mit ihren anfangs weißen Stämmen und flaumigen Blättern.

Die Vögel sind unnatürlich zahm oder einfach natürlich zahm (denn sie wachsen in einem Nationalpark auf, in dem kein aggressives Verhalten geduldet wird). Ich ging direkt auf ein Schneehuhn zu, das gerade sein Wintergefieder abgeworfen hatte und von fünf Küken begleitet wurde. […]

Hoch oben sah ich durchs Fernglas eine Schneeziege, die auf einem unvorstellbar schmalen Felssims oder Grad balancierte, die vier Beine eng zusammengepresst. Schwarz- und Braunbären erblickte ich in Hülle und Fülle, aber keine Grizzlys. Elche und Wapitis grasten auf den tiefer gelegenen Wiesen, besonders wenn diese von Bächen durchzogen waren. […] Ich habe Bäume gesehen, die von Stachelschweinen völlig verwüstet worden waren, und das Fleisch der Übeltäter vom Grill gegessen, aber nie ein lebendes Tier erblickt.

Alles pflanzliche und tierische Leben erstirbt, wenn man weiter zu den Gipfeln emporsteigt, abgesehen von den Polsternelken und verschiedenen Moosen und Flechten. […] Man kann einen Berg hinablaufen – eine der erregendsten Erfahrungen, die uns Menschen möglich sind. Und wie ich diesen Berg hinablief, schien abzuheben, sprang von Felsbrocken zu Felsbrocken, schrie und weinte und lachte, alles auf einmal, wundersam gefeit gegen Furcht und Verletzung und Erschöpfung. Daneben erschienen die Erfahrungen, die Golf, Lumbalpunktionen und all die anderen Paraphernalien eines normalen, nicht-transzendenten Lebens zu bieten haben, recht öde.

Ich muss hier die amerikanische Familie einführen, die sich um mich kümmerte. Es gab zwei Magoo-ähnliche Männer, einander ähnlich wie Zwillinge, die sich auch mit Bruder ansprachen, obwohl sie keine waren, wie ich später erfuhr, sondern nur Freunde. Der eine war Juraprofessor in Philadelphia, der andere Präsident der Anwaltskammer von New Jersey, aber ich hatte das Glück zu entdecken, was für liebenswerte Begleiter sie waren, bevor ich herausfand, mit was für bedeutenden Juristen ich es zu tun hatte. Sie nahmen mich unter ihre Fittiche, und wir begaben uns auf viele gemeinsame Ausflüge. Zum ersten Mal auf einem Pferderücken seit Braefield[3], begleitete ich sie auf den Saumpfaden zum Lake Egypt und zum Mount Assiniboine.

Reiten ist eine wunderbare Sache; leider habe ich es lange vernachlässigt. […] Aber allmählich kriege ich den Dreh wieder raus. Wir ritten auf ein riesiges Gebirgsplateau hinauf, so hoch, dass viele Kumuluswolken unter uns blieben. «Hier hat der Mensch noch nichts verändert», rief der Professor, «er hat nur die Ziegenpfade verbreitert.» Seltsam war die Gewissheit – die ich wohl zum ersten Mal hatte –, dass wir vielleicht die einzigen Menschen in einem Umkreis von vielen Hundert Quadratkilometern waren. Hoch oben auf dem Plateau, über den Bäumen und den Insekten, schienen wir uns auf dem Dach der Welt zu befinden. Dann ging es allmählich wieder talwärts, vorsichtig setzten die Pferde ihre Hufe, hinab zu der Kette von Eiszeitseen mit den seltsamen Namen: Lake Egypt, Lake Sphinx usw., und darüber die hoch aufragenden Pharaoh Mountains, deren alte Felswände mit gigantischen Hieroglyphen bedeckt sind. Die Warnungen der anderen in den Wind schlagend, tauchte ich in die klaren Wasser des Egypt ein (du, Pop, hättest auch nicht widerstehen können), und das Destillat aus Kälte und Klarheit und Stille war reine Lust. Man treibt auf dem Rücken in einem Bergsee und schaut auf die Gipfel rundum, die noch keine Namen tragen und vielleicht auch keine bekommen werden, denn warum Namen für Berge ersinnen, auf denen niemand leben könnte?

Anregend ist auch, dass Kanada sich noch in der Epoche der Namensgebung befindet. Alles in England ist seit einem halben Jahrtausend benannt und abgehakt, aber hier sind die Namen lebendig und zeitgenössisch: Kicking Horse Canyon und Sorefoot Lake. Sie berichten von Ereignissen, die noch in der Erinnerung der Menschen fortleben.

Der Professor war ein wunderbarer Reisegefährte. In praktischer Hinsicht brachte er mir bei, Gletscherkare und unterschiedliche Moränenformen wahrzunehmen, die Spuren von Elchen und Bären zu lesen und die aufschlussreichen Verwüstungen von Stachelschweinen zu erkennen; das Gelände aufmerksam auf sumpfige und trügerische Beschaffenheit zu prüfen, das Wetter anhand von Wolken vorherzusagen (man hüte sich vor den sinistren linsenförmigen Wolken, diesen Vorboten heftiger Unwetter) und mir Orientierungspunkte einzuprägen, um mich nicht zu verirren. Doch sein Wissenshorizont war enorm, eigentlich umfassend. Wir sprachen über Recht und Soziologie, über Wirtschaft und Politik, über Werbung und Geschäftsleben. Ich habe nie einen Menschen kennengelernt, der so vertraut mit jedem materiellen und menschlichen Aspekt seiner Umwelt war, dabei aber eine so ironische Einstellung zu den eigenen Erkenntnissen und Beweggründen besaß, dass alles, was er sagte, relativiert wurde und einen äußerst persönlichen Charakter gewann. Sein älterer «Bruder», der Marshall genannt wurde (ich hielt ihn tatsächlich für einen im Ruhestand), war ein kräftiger, älterer Mann von fast fünfundsiebzig Jahren im Vollbesitz seiner hervorragenden geistigen Fähigkeiten, der vor dem Frühstück rauchte, unter der Dusche mit einer imposanten Bassstimme sang, uns alle im Essen übertrumpfte, den Kellnerinnen in die Hintern kniff und endlos Anekdoten von seinen Reisen und Abenteuern zum Besten gab, wobei er Übergenauigkeit und groteske Übertreibung so zu mischen verstand, dass wir am Ende vor Lachen unter dem Tisch lagen. Old Marshall hatte vor dreißig Jahren die Rockies praktisch im Alleingang für den Tourismus erschlossen und kannte noch immer jeden Weg und Steg weit besser als unsere Führer.

Eine Zeitlang setzte ich die Tour allein zum Lake Louise fort, dabei folgte ich den Pfaden zum Lake Agnes, zum «Kleinen Bienenstock» (einem Feuerausguck, von dem aus man in jeder Richtung einige Hundert Kilometer weit ins Gebirgstal blicken kann) und dann zu einem märchenhaften Teehaus oben auf der Plain of the Six Glaciers – der Ebene der sechs Gletscher –, so hoch und leicht und luftig, dass man sich in Shangri-La[4] wähnte. Beim Abstieg von der Ebene überholte ich einen bärtigen Mann, der sich stark hinkend auf seine zierliche Frau stützte. Gleichzeitig stieß ein schlanker Golders-Green-Typ, der vom See aufstieg, zu uns dreien.[5]

«Ich bin Arzt», sagte ich, «kann ich helfen?»

«Ich bin auch Arzt», sagte der andere Typ, «und ich kann auch helfen.»

Durch einen unglaublichen Zufall traf also der einzige verletzte Mensch im Umkreis von mehreren Tausend Quadratkilometern im selben Augenblick mit den einzigen beiden Ärzten im Umkreis von mehreren Quadratkilometern zusammen. Er war in eine Lawine geraten und ihr samt seiner Frau glücklich entkommen. Dabei hatte er sich nur eine Rückenprellung und einen Bruch des Kahnbeins (auf den wir uns einigten) am linken Handgelenk zugezogen. Der Kollege hieß Elman (ja, ein jüdischer Junge!) und war ein Absolvent der Universität in Nova Scotia. Am Abend trafen wir uns auf ein paar Drinks und unterhielten uns ein wenig. Er wollte als Frauenarzt nach Hawaii gehen; viel Glück dabei. Gegenwärtig hat er eine eigenartige Doppelfunktion inne. Zwei junge Ärzte kümmern sich abwechselnd um das Banff Springs Hotel und Chateau Lake Louise, die beiden nobelsten Hotels der Rockies, und schenken ihre Aufmerksamkeit fast ausschließlich älteren, reichen Hypochonderinnen. Dabei hat man die jungen Ärzte nicht nur wegen ihrer beruflichen Fähigkeiten ausgesucht, sondern auch wegen ihrer besänftigenden Ausstrahlung und ihres guten Aussehens, sodass sie nebenbei den einsamen alten Damen auch als Gigolos dienstbar sein können, wobei diese ergänzenden Eigenschaften wohl manchmal lukrativer sind als die rein medizinischen.

Letzte Woche wurde ich von den Parks (den Juristen aus Philadelphia) in ihre Lodge am Lake Bow eingeladen. Sie hieß Num-Ti-Jah, das indianische Wort für schwarzer Zobel, so nannten die Indianer den ehrwürdigen Jimmie Simpson, dem die Lodge gehört. Jimmie Simpson ist ein eigenes Buch wert und wird es auch bekommen, dessen bin ich sicher. Er ist fünfundachtzig, obwohl er läuft und schwimmt wie ein Zwanzigjähriger. Er entstammte einer Patrizierfamilie in Lincolnshire und wurde – wie so viele zweite Söhne solcher Familien – im Teenager-Alter hierhergeschickt, bis der älteste Bruder einen Sohn gezeugt und damit die Erbfolge gesichert hatte. Rasch gelangte er in den Westen (es waren die frühen [Achtzehnhundert-]Neunziger) und brachte es als Pelzjäger, Bergsteiger, Entdecker und Geologe zu einiger Berühmtheit. Er markierte den Weg von Banff nach Jasper, der erst jetzt als Straße befestigt wird. Außerdem schoss er (durch Zufall) das größte Schaf der Welt, das heute im New Yorker Natural History Museum eine Heimstatt gefunden hat. Außerdem dürfte er einer der begnadetsten Geschichtenerzähler der Welt sein. Er hat eine ähnliche Stimme wie Jonathan, wenn dieser Moore oder Russell[6] imitiert, und den gleichen Sinn für Komik; es war schon merkwürdig, solch abenteuerliche, hin und wieder apokalyptische[7], jedoch überwiegend wahre Geschichten über Grizzly-Jagden, Schießereien, haarsträubende Klettertouren und ähnliche Erlebnisse von einer so unverkennbar britischen Stimme erzählt zu hören. Er ist ziemlich unberechenbar, manchmal zieht er sich tagelang zurück, und dann wieder überwältigt ihn sein Mitteilungsdrang. Am ersten Tag meines Aufenthalts wurde ich um sechs Uhr morgens von der Lautstärke seiner Erzählung geweckt und ging auf Zehenspitzen hinunter, um mich zu den Parks zu gesellen, die ihm lauschten. Zunächst versuchte ich, mir die Geschichten zur späteren Verwendung zu merken, doch sie waren so zahlreich und so vielfältig, dass es sich als unmöglich erwies, so erlag ich einfach dem Zauber seiner Persönlichkeit. Er ist der allerletzte der Wildwesthelden und war mit den berühmtesten dieser Zunft persönlich befreundet, einschließlich des allerberühmtesten – Bill Peyto, nach dem ein Berg und ein See benannt wurden.

(In Klammern: Ich muss Euch von Peytos Hütte erzählen, die uns der alte Marshall auf dem Rückweg vom Egypt zeigte. Nur wenige wissen, wo sie sich befindet oder dass es sie überhaupt noch gibt, denn offiziell wurde sie auf sein Geheiß verbrannt. Peyto war ein Nomade und Misanthrop; ein Spötter; ein großer Jäger und Kenner der Tierwelt und der Vater unzähliger unehelicher Kinder. Seine Hütte hat er im unzugänglichsten Teil des Waldes erbaut, und solange er lebte, wusste niemand außer ihm, wo sie stand. 1936 fühlte er sich seit einiger Zeit krank. Daraufhin kritzelte er an seine Tür «Bin in einer Stunde zurück» und ritt nach Banff hinab. Er kehrte nie zurück. Die handschriftliche Nachricht ist noch immer schwach lesbar, und im Inneren seiner dunklen und verrottenden Hütte sahen wir seine Kochutensilien und die Konserven, die Mineralienproben (er betrieb eine kleine Talkmine), Teile einer Zeitung, die Illustrated London News, hoch gestapelt, von 1890 bis 1926, ein leeres Tintenfass mit verdunstetem Inhalt und diese unheimliche, an die Marie Celeste gemahnende Atmosphäre einer verlassenen Wohnstatt. Es war ein sehr berührendes Erlebnis.)

Mit den Parks suchte ich das Columbia-Eisfeld auf, eines der wenigen Eisfelder, die man erreichen kann, ohne ein geübter Bergsteiger zu sein. Es trug seinen Namen zu Recht, metallisch grau und grenzenlos, im Unterschied zum Märchengrotten-Look der Schweizer Gletscher. Auf Schneemobilen fuhren wir gut vier Kilometer hinein (ich schick Euch eine Postkarte von ihnen) und erfuhren, dass wir nun 340 Meter Eis unter den Füßen hätten. Ich sah ein Loch, in das sich ein Bach ergoss, und das war 250 Meter tief. Man konnte sehen, wie das Blau immer intensiver wurde und in Schwarz überging, hörte das Rauschen, aber nicht den Aufprall des Wassers. Mein erster Gedanke galt törichterweise dem Tunnel mit dem Marmeladentöpfchen an der Wand, durch den Alice fiel.[8]

Schließlich nahm ich Abschied von den freundlichen Parks, nicht ohne ihnen zu versprechen, dass wir uns in Philadelphia sehen würden, und versuchte mich ein wenig im Trampen. Damit kam ich bis Radium Hot Springs, einer Thermalquelle für Menschen mit Gicht und systemischem Lupus, wo ich wenig später zur Brandbekämpfung rekrutiert wurde. In British Columbia hatte es seit mehr als dreißig Tagen keinen Regen gegeben, und überall wüteten Waldbrände (davon habt Ihr wahrscheinlich gelesen). Dort gibt es eine Art Kriegsrecht, das der Forstkommission erlaubt, jeden zur Brandbekämpfung zu verpflichten, der ihr geeignet erscheint. Ich begrüßte das Erlebnis und verbrachte zusammen mit anderen verdutzten Zwangsverpflichteten einen Tag in den Wäldern damit, Schläuche hin und her zu schleppen und mich nach Möglichkeit nützlich zu machen. Allerdings beanspruchten sie mich nur für ein Feuer, und als wir schließlich mit einem Bier bei den rauchenden Resten zusammensaßen, empfand ich einen echten Anflug brüderlichen Stolzes ob unseres Sieges. Zu dieser Jahreszeit wirkt British Columbia, als wäre es verhext. Der Himmel ist selbst am Mittag vom Rauch unzähliger Brände niedrig und violett gefärbt. Lähmend lastet die schreckliche Hitze auf der Ortschaft. Schleppend und kriechend wie in Zeitlupe bewegen sich die Menschen umher, und stets ist das Gefühl von einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr gegenwärtig. In allen Kirchen wird um Regen gebetet, und Gott weiß, was für seltsame Rituale in privaten Zirkeln praktiziert werden, um ihn herbeizurufen. Jede Nacht schlägt irgendwo der Blitz ein, woraufhin wieder wertvoller Baumbestand hektarweise wie Zunder in Flammen aufgeht. Manchmal kommt es auch zu scheinbar spontanen Selbstentzündungen, die sich wie multifokaler Krebs in einer befallenen Region entwickeln. […]

Gestern kam ich in Vancouver an, das Toronto gleicht, das wiederum jeder anderen Stadt in Nordamerika gleicht (ausgenommen Montreal, Quebec, Victoria, San Francisco, New Orleans, Boston und New York, die als einzige einen eigenen Charakter haben). Vom rasenden Verkehr entsetzt, fuhr ich nach Vancouver Island hinüber. Ich muss Euch von einer kleinen, an Leacock[9] erinnernden Episode in Vancouver erzählen. Ich ging in einen funkelnden und glitzernden Friseursalon, eine hair clinic, wo achtzehn entschlossene junge Männer ihre anonymen Kunden in reich geschmückten und technisch hochgerüsteten Friseursesseln rasierten und stutzten. Meiner, kurz angebunden: «Wie soll’s sein, der Herr?» – und ich, kurz angebunden: «Manhattan, bitte.» Und als er sagte, er habe noch nie davon gehört und was das bitte sei, sagte ich kleinlaut: «Hinten und an den Seiten kurz.» Und nach dem Schneiden begann er ohne Rückfrage, mir die Haare zu versengen, zu legen, zu shampoonieren und schließlich Kopfhaut und Nacken einer Vibromassage zu unterziehen – während ich immer wieder rief: «Nein, nein!» – und mich schließlich mehr als flüchtig abzubürsten (meine Kleidung, Shorts und T-Shirt, waren unglaublich schmutzig) und mir eine Rechnung über vier Dollar fünfzig zu präsentieren, die ich klaglos bezahlte, da mir aller Kampfesmut abhandengekommen war.

Vancouver Island ist in Hinblick auf Tempo und Charakter ganz anders als der Rest Nordamerikas. Die Meerengen wirken wie ein Ventil, sie gewähren freien Zugang zum Festland, erschweren aber Besuche auf der Insel. Der Verkehr ist langsamer, und der enorme Einfluss der Supermärkte, der Volldampfwerbung und des aggressiven, ruhelosen Motel-Lebens, das uns seit Lolita so vertraut ist, ist spürbar geringer. Nach Qualicum Beach führte mich die Ähnlichkeit des Namens mit Colchicum, der Herbstzeitlosen, und Thudichum, dem großen Chemiker und Universalgelehrten. (Klangassoziationen, die hoffentlich nicht auf Frühschizophrenie schließen lassen!)[10] Und ich wohnte im Sunset Inn, für das ich mich ebenfalls des Namens wegen entschlossen hatte.

Jetzt haben wir den Sunset, und die untergehende Sonne leuchtet auf den Malven und den Krockettoren im Garten hinter dem Haus. Jenseits des Weges spielen müde, glückliche Männer Golf. Drinnen haben sie ein Broad-Klavier mit einem Stapel Beethoven- und Mozartsonaten darauf. Einige sonnenbeschienene Wolken liegen hier und da bewegungslos über den Atollen. Nach den Eiszeitseen ist der Pazifik warm (rund 32 Grad) und langweilig. Heute war ich mit einem hiesigen Augenarzt fischen, Nortz heißt er und war früher am Marys und National[11]; heute praktiziert er in Victoria. Er nennt Vancouver Island ein «kleines Stück Himmel, das irgendwie übriggeblieben ist», und ich glaube, damit hat er gar nicht so unrecht. Es gibt Wälder und Berge und Bäche und Seen und Meer. Die Insel hat vermutlich den höchsten Lebensstandard der Welt und ist gegen die Hektik und Raserei abgeschirmt, die nahezu gleichbedeutend ist mit dem American Way of Life. Vom ganzen Kontinent strömen die älteren Menschen dorthin, doch so heiter und gelassen sie auch ist, ich glaube, für mich taugt sie nicht. Ich habe übrigens sechs Lachse gefangen; nur einer wollte nicht, ansonsten aber beißen sie, diese zauberhaften silbrigen Schönheiten, die ich morgen zum Frühstück verspeisen werde.

In zwei oder drei Tagen will ich nach Kalifornien aufbrechen, wahrscheinlich mit dem Greyhound-Bus, denn ich glaube, sie haben nicht viel über für Tramper und schießen gelegentlich, wenn sie einen sehen. […]

Ich hoffe und erwarte, ein paar Briefe von Euch vorzufinden, wenn ich in San Francisco bei Cook’s[12] vorbeischaue, obwohl ich annehme, dass sie erhebliche Verspätung haben könnten. […]

Ich hoffe, Auntie Len, dass Du mir auch schreiben wirst, erzähl mir, was Du vorhast und was Du machen wirst, jetzt, da Du zu Hause bist und Dich auf deinen Indian Summer[13] vorbereitest […]

Grüßt mir alle Angehörigen und Freunde, vor allem Michael.[14]

Falls sich die Gelegenheit ergibt, wäre es nett, wenn Ihr diesen Brief Jonathan[15] zugänglich machen würdet und durch ihn vielleicht noch anderen Freunden von mir. Ich bin ständig unterwegs und weiß daher nicht, wann ich das nächste Mal Gelegenheit haben werde, so einen Mammutbrief wie diesen in die Maschine zu tippen.

Passt auf Euch auf.

In Liebe

OLIVER

Anfang August kam O.S. nach San Francisco und mietete ein Zimmer im CVJM-Heim im Embarcadero-Viertel, in dem er zwei Monate blieb. Es hatte ein gut ausgestattetes Fitnessstudio und war bekannt als Treffpunkt für schwule Männer. Später erzählte er Freunden, er habe dort zahlreiche sexuelle Begegnungen gehabt; er verbrachte auch viel Zeit in Schwulenbars, wo er häufig unter seinem zweiten Vornamen, Wolf, verkehrte. Natürlich hat er diese Begegnungen nicht seinen Eltern geschildert (oder ihnen von seinen immer häufigeren Drogenexperimenten erzählt). Trotzdem gab es viele andere Abenteuer, von denen er berichten konnte.

An Elsie und Samuel Sacks

24. August 1960

c/o Thomas Cook, 175 Post St., San Francisco

Liebe Ma, lieber Pa,

[…] Nun bin ich seit zweieinhalb Wochen in San Francisco und habe eine Menge von Stadt und Land gesehen, mir Krankenhäuser und Universitäten angeschaut, verschiedene Nachforschungen angestellt und Kontakte geknüpft […]. Nachdem ich hier lebe, bin ich jetzt fast davon überzeugt, dass die Staaten im Allgemeinen und Kalifornien im Besonderen meine endgültige Heimat werden, ungeachtet dessen, was ich unmittelbar tun werde. Kanada und die Staaten gleichen sich insofern, als sie Raum, Wohlstand und Berufschancen in einem Maße bieten, die in England fast undenkbar wären. Ihr wisst so gut wie ich, wie mühsam und langwierig es in England ist, die berufliche Leiter zu erklimmen, was für die Neurologie mehr als für alle anderen Fachgebiete gilt: die langen, vergeudeten Jahre als Assistenzarzt in verschiedenen Weiterbildungsstätten usw. In England bietet sich der einzige ähnlich leichte Weg zum Status des behandelnden Arztes in der Psychiatrie, und obwohl ich mich leicht für ihn entscheiden könnte (in England, Kanada oder den Staaten), und damit für den sicheren beruflichen Erfolg, neige ich aufgrund meiner Wesensart und Ausbildung eher zu einem konkreteren Fachgebiet, in dem ich weniger Gefahr laufe, mich an oberflächlichen oder beliebigen Maßstäben zu orientieren, und in dem ich auch wieder experimentelle Laborarbeit leisten kann. Vielleicht täusche ich mich auch selbst. Vielleicht besitze ich gewisse therapeutische Neigungen und Fähigkeiten, zähle sie aber gegenwärtig nicht zu meinen besonderen Fähigkeiten. Auf jeden Fall hat diese Entscheidung keine besondere Eile.

Im Vergleich zu Kanada sind die USA ein Land mit vielen dicht zusammenliegenden intellektuellen Zentren […]. In einem so spärlich besiedelten Land wie Kanada gibt es die Neurologie als eigenständiges Fachgebiet so gut wie gar nicht, während hier in Kalifornien alle großen Universitäten und zahlreiche nicht angeschlossene Krankenhäuser riesige klinische und experimentelle Fachbereiche haben. In den Staaten wird die Forschung mit enormen Geldmitteln finanziert, was zum Teil eine Art Steuerhinterziehung ist. Fette Industriegewinne werden in alle vielversprechenden (und weniger aussichtsreichen) Projekte gesteckt, damit sie nicht in den Tresoren von Fort Knox landen.

Und noch einmal: Kalifornien vereinigt in sich alle natürlichen Vorteile und Schönheiten eines ganzen Kontinents. Bergsteigen, Skilaufen, Wüste, Meer, Wald, Weinberge – alles liegt im Umkreis einer Tagesfahrt. San Francisco selbst hat einzigartige natürliche Vorteile, wie Ihr wahrscheinlich wisst. Das Temperaturgefälle zwischen Meer und kochendem Inneren treibt zweimal am Tag eine Nebeldecke in die Stadt und wieder hinaus, daher herrscht in San Francisco das ganze Jahr hindurch eine gleichbleibende und fast vollkommene Temperatur. Die Stadt hat wie London alle Vorteile eines riesigen Ballungsgebietes, obwohl seine Einwohnerzahl unter einer Million liegt, was nicht übermäßig ist. Es hat eine vielfältige und faszinierende Geschichte, die auch einer viel älteren Stadt gut zu Gesicht stünde. Innerhalb seiner Grenzen und in seiner näheren Umgebung gibt es Naturschönheiten jeder Art.

Ich habe mich in der Medizinischen Hochschule der University of California umgesehen, eine Dreiergruppe gigantischer weißer Häuser über dem Golden Gate Park, aus deren oberen Stockwerken sich ein unvergleichlicher Blick auf San Francisco (Neur. ist ganz weit oben!) und seine fernen Brücken, Ozeane und Hügel bietet. Dort gibt es zwei Neurologen. [… Außerdem] drei neurologische Assistenzärzte, alle Gewichtheber! (Ich habe immer gefunden, dass die beiden Disziplinen gut zusammenpassen.) Die Gebäude der Medizinischen Hochschule sind erst dieses Jahr wieder aufgebaut worden und könnten einer Art Walter-Mitty-Phantasie[16] entsprungen sein, seiner Vorstellung vom Aussehen solcher Bauwerke. Die Assistenzärzte sind keineswegs überlastet, einen Acht-Stunden-Tag und die meisten Wochenenden frei (würde das auf den Seiten des Lancet[17] erwähnt, käme es zu einem Aufstand!).

Auch das Mt. Zion Hospital habe ich mir angesehen. […] Die Mitarbeiter sind größtenteils Juden, obwohl das Krankenhaus in allen Teilen der Bevölkerung außerordentlich beliebt ist. Zwei Drittel des gesamten Krankenhausbetriebes sind der Forschung gewidmet (es verfügt über ungefähr 500 Betten), ein Anteil, der von keiner medizinischen Hochschule übertroffen wird. Ich hatte ein langes Gespräch mit Feinstein[18], dem stellvertretenden Leiter des Fachbereichs Neurochirurgie (und Neurologie), ein brillanter, wenn auch etwas obsessiver Typ, und beobachtete ihn bei einigen stereotaktischen Operationen (das MZ ist das führende Zentrum für solche Eingriffe in Kalifornien). Er verfügt über umfangreiche Versuchseinrichtungen, eine Vielzahl von Elektronikingenieuren usw. und scheint hervorragende Forschungsarbeit zu leisten. Mit stereotaktischen Operationen ist es übrigens möglich, an jeder beliebigen Stelle des menschlichen oder tierischen Gehirns sehr präzise Läsionen hervorzurufen, weshalb sie in gleichem Maße experimentellen wie therapeutischen Zwecken dienen. In gewisser Weise sind das die bestmöglichen Voraussetzungen, denn man ist immer mit Patienten und therapeutischen Perspektiven befasst, woraus sich natürlich eine unendliche Zahl von experimentellen Herausforderungen ergibt. Oder, wie Feinstein sagt, ein neurochirurgischer Patient ist ein Präparat, das sprechen kann.[19] Er bot mir an, meine Tätigkeit auf dem Papier als Assistenzzeit auszuweisen, sie in Wirklichkeit aber in größerer Nähe zur Neurologie und Neurophysiologie anzusiedeln und dafür ein etwas anständigeres Einkommen zu bewilligen, als es ein Assistenzarzt bekäme.[20] Das scheint eine sehr günstige Möglichkeit zu sein, wenn sie denn so klappt.

Zum Schluss habe ich mir noch die Medizinische Hochschule der Universität Stanford angesehen, die gerade aus Stanford in ein imposantes Gebäude auf dem Campus in Palo Alto umgezogen war (einer hübschen Ortschaft von 40000 Einwohnern in bezaubernder Landschaft, rund 60 schnelle Kilometer von Stanford entfernt). Gegenwärtig gibt es keine eigenen neurologischen Betten, nur einige, die aus der Allgemeinmedizin ausgeborgt sind (eine Folge des kürzlich erfolgten Umzugs), doch im nächsten Jahr werden sie mit dem örtlichen Veterans Administration (V. A.) Hospital fusionieren und dadurch insgesamt 140 neurologische Betten erhalten, wodurch Stanford zum größten neurologischen Zentrum im Westen werden wird. Stanford genießt übrigens einen ausgezeichneten akademischen Ruf, gilt aber als sehr «nachsichtig» und versnobt, zumindest im Hinblick auf die Zulassungskriterien. […]

Ärzte, die einwandern wollen, werden durch einen ungeheuren Aufwand an bürokratischen Vorschriften behindert und zur Verzweiflung gebracht. Man muss unzählige Dokumente vorlegen, ein vorläufiges Examen ablegen (das nur alle Vierteljahr stattfindet und dessen Ergebnisse weitere zwei Monate auf sich warten lassen), bevor man sich um eine Assistentenstelle bewerben kann. Andererseits besteht die Möglichkeit, eine nicht-klinische Beschäftigung anzunehmen, während man darauf wartet, das Examen abzulegen und die Ergebnisse zu erhalten. […] Morgen werde ich nach Sacramento in die Ärztekammer fahren und versuchen, etwas Bewegung in meine Angelegenheit zu bringen. Wenn der Prozess in Gang gekommen ist und ich eine Stellung in Aussicht habe, werde ich, falls dann noch genügend Zeit ist, durch die Staaten reisen.

Eine letzte Möglichkeit wäre der Eintritt in den Militärdienst als Freiwilliger: Mindestzeit zwei Jahre. Das erspart mir viel Bürokratie bei der Einbürgerung usw., verschafft mir ein ausgezeichnetes Einkommen (etwa 6000 Dollar mit allen Zulagen) und vielleicht sogar die Möglichkeit, meine Assistenzzeit zu absolvieren, während ich gleichzeitig eine Spezialausbildung erhalte. Ließe sich das alles in einem Militärkrankenhaus in Kalifornien machen, […] spräche in der Tat einiges dafür. Doch im Gegensatz zu den kanadischen Streitkräften, die klein und fein sind und vertrauenswürdig, ist der amerikanische Militärapparat eine gigantische und verkrustete Organisation, die nicht mit sich handeln lässt.

Nun, das sind die Aussichten. Schreibt mir bitte, was Ihr von ihnen haltet […]

Zeit zum Abendessen, und vor mir liegen die unzähligen kulinarischen Herrlichkeiten von Stanford. Tiefseebarsch unten in Fischerman’s Wharf, japanisches Essen, italienisches, chinesisches, Haute Cuisine oder ein Dreieinhalb-Pfund-Steak mit hellem Bier runtergespült. Für einen Magen-gesteuerten Typen wie mich gibt es nur ganz wenige Orte, die Stanford übertreffen. Bevor ich das CVJM verlasse, werde ich noch bei dem Friseur nebenan vorbeischauen, der nie irgendwelche Kunden zu haben scheint, sondern im Friseursessel sitzt und den ganzen Tag Geige spielt. Ich werde mich bemühen, nicht auf die besinnungslosen «Wermutbrüder» zu treten, die auf dem Bürgersteig herumliegen, und den bettelnden Trinkern im Hafenviertel mit steinernem Gesicht zu begegnen. Auf einer Strecke von zehn Metern höre ich Satzfetzen in ebenso vielen Sprachen. Fisherman’s Wharf hat das Rennen gemacht, der Bogen der Golden Gate Bridge gegen den Sonnenuntergang, das Alcatraz-Gefängnis auf seiner Festungsinsel, in den Rinnsteinen die knisternden Schalen von Krabben und Krebsen und überall der scharfe Geruch des Muschelsaftes, der (so heißt es) am ehesten das Wesen des Pazifiks verkörpert.

Bitte schreibt mir, wenn Ihr diesen Brief erhalten habt, und grüßt die ganze Familie von mir […]

MACHT EUCH KEINE SORGEN!

In Liebe

Oliver

An Elsie und Samuel Sacks

29. September 1960

Mount Zion Hospital, San Francisco[21]

Liebe Ma, lieber Pa,

ich hoffe, es geht Euch gut, und Ihr seid in Form für die bevorstehende Fastenzeit.[22] […]

Über das Wochenende war ich im Yosemite-Nationalpark, der von hier gut dreihundert Kilometer entfernt ist. Nach dem glühend heißen Sommer sind die Wasserfälle ausgetrocknet und die Pflanzen ziemlich verdorrt. Im Frühjahr und Sommer ist er ein Paradies für Botaniker (beigefügt, besonders zum neidvollen Entzücken von Ma und Auntie Len, ein Büchlein über die Blumen der Sierra Nevada), im Sommer für Bergsteiger, im Winter für Skifahrer und das ganze Jahr hindurch für Geologen und Naturfreunde. Der letzte Sonntag war ein Tag so klar, wie man ihn in England nicht kennt, ein Tag, an dem man das Tal in ganzer Länge überblicken konnte, 150 Kilometer in beide Richtungen. Ferne Objekte so klar zu sehen, überstieg meinen Erfahrungshorizont so sehr, dass mir die ganze Szenerie irreal vorkam, auch in Verbindung mit einer extremen Übergenauigkeit. Ich fuhr zum Mariposa Grove der großen Bäume und sah den «Grizzly Giant», 35 Meter im Umfang und 4000 Jahre alt, so alt, dass man meinte, er müsse irgendeine Art von Bewusstsein haben, und wenn auch nur für Licht, Wachstum und Verletzungen. […] Kein Wind dringt in die Welt der großen Bäume ein, innerhalb des Waldes herrscht vollkommene Stille. Man begreift, warum Menschen Objekte verehren, die so alt, so riesig und so schön sind. Die Sequoia-Zapfen sind übrigens ganz winzig, während einige Kiefern in Kalifornien Zapfen von fast einem Meter Länge haben. Der erste Schnee fällt in der Sierra Nevada Ende dieses Monats.

Gestern bin ich ins Krankenhaus eingezogen und finde mich allmählich zurecht. Ich bekomme Kost, Logis und Wäsche, aber darf noch kein Geld verdienen. Allerdings wird mir Levin[23] aus eigener Tasche 60 Dollar im Monat zahlen, was helfen sollte. Er ist wirklich sehr nett, sagt, wenn ich mehr brauche, soll ich es sagen. Trotzdem werde ich mich freuen, wenn ich endlich ein reguläres und normales Gehalt verdienen darf.

Die meisten Mitarbeiter sind Juden, obwohl sich ihr Judentum auf gehackten Hering, jüdische Witze und leidenschaftliche politische Streitgespräche beschränkt. Besonders Letztere, die auf den Stationen, in der Kantine und im Aufenthaltsraum immer wieder aufflammen und abebben, stehen in krassem Gegensatz zu der nichtssagenden politischen Apathie der Assistenzärzte in England. Alle sind sehr aufgeschlossen und reden sich überwiegend mit Vornamen an. Die Institution scheint sich sehr fürsorglich um uns zu kümmern, denn man kann kostenlos Theater- und Konzertkarten bekommen und kann Veranstaltungen an der University of California und anderen Einrichtungen besuchen. Fünfzig Schritte von hier gibt es ein riesiges mit Flutlicht beleuchtetes Schwimmbad, wo ich sicherlich regelmäßig zu Gast sein werde. Das Essen wird appetitlich zubereitet, schmeckt ausgezeichnet und ist in unbegrenzter Menge vorhanden. Der letzte Punkt birgt eine potenzielle Gefahr, und ich muss mich gewaltig zusammenreißen, wenn ich nicht in ein paar Monaten drei Zentner wiegen will. Anbei übrigens ein Foto von mir, das in Monterey aufgenommen wurde, ich steige wie eine haarige, übergewichtige Venus aus dem Wasser einer Pazifik-Lagune. Habe ich Euch eigentlich in einem der vorigen Briefe von Monterey und der Cannery Row berichtet oder nicht? Ich habe dort ungefähr fünf Tage verbracht und die Meeresbiologie beobachtet und verspeist.

Nächste Woche, wenn ich mich besser eingewöhnt habe, werde ich die zahllosen Angebote nutzen, die das Krankenhaus macht – EKG-Konferenzen, proktologische Seminare und verschiedene andere furchteinflößende Veranstaltungen. Man bietet hier ein hervorragendes Postgraduierten-Programm an, und wir können im Gegenzug alle Universitätsveranstaltungen besuchen. […]

Gestern eine lange, faszinierende Sitzung mit einer Frau, die unter einer tumorbedingten Epilepsie leidet.[24] Dabei wurden verschiedene Teile ihres Gehirns stimuliert (sie war natürlich bei vollem Bewusstsein): Zunächst kartierte man die motorischen und sensorischen Areale, dann löste man durch Stimulation verschiedener Regionen des Temporallappens komplexe Halluzinationen aus, ähnlich denen, die ihren Anfällen normalerweise vorausgehen. Es war phantastisch, sie dort dick und glücklich in dem neurochirurgischen Stuhl sitzen zu sehen und zu lauschen, wie sie mit nüchterner Stimme ihre grotesken Halluzinationen beschrieb, während Feinstein mit seiner Elektrode in ihrem Gehirn herumstocherte.

Ich muss jetzt abbrechen, weil ich auf die Stationen will, um einige Patienten und ihre Leiden kennenzulernen. […]

Heute kam der erste Regen, und das Klima ist jetzt wie London im September. Obwohl ein paar Kilometer landeinwärts, in Sacramento beispielsweise, noch Temperaturen um die dreißig Grad herrschen. Wenn etwas Geld kommt, gehe ich in einen Supermarkt und schicke Euch das riesigste und interessanteste Esspaket, das Ihr jemals gesehen habt. Glaubt mir, John Barnes[25] kann noch nicht einmal den Vergleich mit einem hiesigen Kleinstadt-Supermarkt aushalten, und die größeren haben einen unfassbaren Überfluss an allem, was sich irgendwo auf der Welt essen, verschlingen, kauen, rauchen, schnupfen oder trinken lässt.

Ich werde Euch bald wieder schreiben und freue mich inzwischen darauf, bald wieder von Euch zu hören und die verschiedenen Bescheinigungen zu erhalten, ohne die ich den Einbürgerungsprozess nicht beginnen kann. […]

Grüße an alle.

In Liebe

Oliver

An Elsie und Samuel Sacks

3. Oktober 1960

Mount Zion Hospital, San Francisco

Liebe Ma, lieber Pa,

ich hoffe, Ihr habt während der Fastenzeit ab- und an Tugend zugenommen; bis Chanukka müsste jetzt alles glattgehen, wenn ich nichts vergessen habe.

Ich habe gestern kurz in eine orthodoxe Shul[26] geblickt und fand sie ziemlich leer (es war nachmittags), obwohl sie freitagabends, dem wohl feierlichsten Teil des Fastens, proppevoll war. Ich muss erklären, dass es hier drei Kategorien gibt, das orthodoxe, konservative und liberale (oder Reform-)Judentum. Bei den Konservativen gibt es eine Art Kantor, keine Trennung von Männern und Frauen und die Beibehaltung von etwas Hebräisch und Yammelkas: Insofern sind sie ein nützlicher Kompromiss für diejenigen, die nicht die nötigen Kenntnisse besitzen, um am orthodoxen Ritus Freude zu haben, andererseits aber noch zu sehr unter dem Einfluss des Brauchtums stehen, um zu den Liberalen überzulaufen, mit anderen Worten, für die große Mehrheit hier.

Einer meiner Chefs, Bert Feinstein, hat mich zum Fastenbrechen bei seiner Familie eingeladen.[27] Ursprünglich kommen sie alle aus Winnipeg. Jetzt führen seine Eltern hier ein Hotel, während sein Bruder Radiologe ist. Natürlich kommen sie nicht wirklich aus Winnipeg; 1920 haben sie Rumänien mit der Prärie vertauscht. Seine Leute leben in einem prachtvollen Haus im spanischen Stil mit einer überwältigenden Terrasse, von der aus man auf die Golden Gate Bridge blickt. Wir brachen das Fasten mit Bourbon (eine Abkehr vom Tee), mit dem wir uns auf leeren Magen alle einen tüchtigen Schwips einhandelten, dann folgten die üblichen Gespräche – wie falsch der Chasan[28] sang, wie absurd der Rabbi war, wie heiß es in der Shool[29] gewesen war. Das Mahl war überwältigend, mit Knishes und Tscholent, mit Paprika, gefüllt mit Fleischbällchen, und in Wein gedünstetem Huhn, dazu ein paar amerikanische Gerichte wie in Cornflakes gebratenes Hähnchen (unangenehm) zusammen mit ein paar amerikanischen Spezialitäten wie Hähnchenteilen in Cornflakes frittiert (unschön) und Maismehlbrot (um einem Cousin aus dem tiefen Süden eine Freude zu machen). […] Die ganze Sippe wird nächste Woche nach Las Vegas fahren, wo Bert einen Vortrag über seine Arbeit halten wird. Ich kann mir die Neurophysiologie nur schwer in dieser exotischen Umgebung von Glücksspiel, Scheidung und dem allgegenwärtigen, schillernden Laster vorstellen: L. V. sei ein sehr unwirklicher Ort, hat man mir gesagt, eine vollkommen künstliche Oase, die wie eine Haschischvision von Samarkand mit Springbrunnen und vergüldeten Türmen inmitten der Wüste emporsteigt. Und ein sehr beliebter Veranstaltungsort für wissenschaftliche Kongresse.

Gestern Abend war ich zu einer Party auf Treasure Island eingeladen, einer vollkommen künstlichen Insel mitten in der Bucht, die für die Weltausstellung 1939 angelegt wurde, und heute Morgen bin ich einige Stunden auf einem Fischtrawler mitgefahren. Ich verbot ihnen, den Abfall wieder zurückzuwerfen, und sichtete mit großer Freude die Seesterne und was sich sonst noch in den Netzen verfangen hatte.