Briten und Deutsche - Claus Robert Krumrei - E-Book

Briten und Deutsche E-Book

Claus Robert Krumrei

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Beschreibung

Deutschland und Großbritannien sind zwar verwandte Nachbarn, sie teilen nordeuropäische, ja teilweise gleiche sächsische Ursprünge, deutsche dynastische Linien und das gleiche schlechte Wetter - doch alte Familienfotos sucht man auf beiden Seiten schon lange vergebens. Noch im 19. Jahrhundert war diese Verwandtschaft äußerst populär gewesen - bis die Erinnerung daran schon 1914 schlagartig erlosch und 1945 ausradiert wurde. Die Beziehungsgeschichte lief aber auch mit den demokratischen Deutschen schief - Missverständnisse und enttäuschte Hoffnungen auf beiden Seiten enthüllen, wie fremd und unwissend die Nordseevettern sich geworden sind. Der Brexit wirkt wie ein Schlusspunkt - und doch entkommen beide sich nicht. Sie müssen für Europa einen gemeinsamen Weg finden - aber dazu heißt es erst einmal, sich verstehen zu lernen. Da stehen beide auch über sieben Jahrzehnte nach den Weltkriegen wieder ganz am Anfang.

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Seitenzahl: 333

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Über den Autor

Claus Robert Krumrei, Jahrgang 1955, Studium der Rechtswissenschaften und Geschichte, hat sich beruflich als Diplomat, in historischen Studien zur Diplomatiegeschichte und aufgrund familiärer Verbindungen mit dem einerseits verwandtschaftlichen, andererseits aber seit einem Jahrhundert tief gestörten Verhältnis von Briten und Deutschen beschäftigt.

Die vorliegenden Skizzen über entscheidende oder auch nur typische Episoden beider Geschichte bis in die Gegenwart sind die Frucht jahrzehntelanger Begegnung mit den Vettern - privat und beruflich. Sie fügen sich zum kritischen Porträt zweier gegensätzlicher Wege durch die Geschichte und einer beiderseits heute verleugneten, einer „entfernten“ Verwandtschaft. Sie sind auch ein aktueller Kommentar zur notwendigen, aber bisher ausgebliebenen Wiederherstellung freundschaftlicher Nähe zweier naher und doch sehr verschiedener Völker - und ein Appell für den gemeinsamen Einsatz für den gemeinsamen Kontinent Europa. Krumrei lebt in Hamburg.

Für Victoria

Inhalt

Einleitung

Erster Teil:

Prägungen

I. Namen sind Politik

II. Self-made kings

III. Kriegerische Nordseewelt

IV. Krieger und Politiker

V. Machthaber und Rechthaber

VI. Luther und Wolsey

VII. Cromwell und Wallenstein

VIII. Eisenbahn und Weihnachtsbaum

Zweiter Teil:

Pax Germano-Anglicana

IX. Disraeli und Bismarck

X. Co-Geschäftsführer Europas

XI. Kehraus in Caxton Hall

XII. Karrierepolitik

XIII. Bülows Sündenfall

XIV. Crowes Kuckucksei

Dritter Teil:

Vom Vetter zum Feindbild

XV. 28.10.1908

XVI. Wilhelms Fall

XVII. Bethmanns Sisyphosarbeit

XVIII. Diplomatischer Leerlauf

XIX. Fliegenfischer Grey

XX. Die Sprengfalle

Vierter Teil:

Die Entzweiung

XXI. Der goldene Rahmen

XXII. Die Hoyos-Depesche

XXIII. Das Ende der Diplomatie

XXIV. In der Falle

XXV. Ein „entfernter“ Verwandter

Fünfter Teil:

Das Drama der Konservativen

XXVI. Verlierer überall

XXVII. Chancen und Chimären

XXIII. Zweierlei Parlamente

XXIX. Hindenburgs Drehbuch

XXX. … und Hitlers Inszenierung

Sechster Teil:

Falsche Rechnungen

XXXI. Deutsche Irrtümer

XXXII. Britische Irrtümer

XXXIII. Zwei Planeten

XXXIV. Hitlers Irrtümer

XXXV. Preußische Irrtümer

XXXVI. Chamberlains Irrtümer

XXXVII. Das böse Ende

Siebter Teil:

Ein neuer Anfang?

XXXIII. Churchills Plan

XXXIX. London und Rhöndorf

XL. Glorious Revolution

XLI. Churchill geht leer aus

Achter Teil:

Metamorphosen

XLII. Macmillans Irrfahrt

XLIII. Imperiales Begräbnis

XLIV. Helgoländer Requiem

XLV. Thatchers Irrfahrt

XLVI. Britannia außer Dienst

XLVII. Soft Power oder no power

XLVIII. Stereotypen

XLIX. Epilog?

L. …oder Prolog?

Fazit: Entfernte Verwandte

Ausgewählte Literatur

Anmerkungen

Henry Palmerston

I am firmly persuaded that among nations, weakness will never be a foundation for security.1

Influence abroad is to be maintained only by the operation of one or other of two principles hope and fear. We ought to teach the weaker Powers to hope that they will receive the support of this country in their time of danger. Powerful countries should be taught to fear that they will be resisted by England in any unjust acts either towards ourselves or towards those who are bound in ties of amity with us.2

We have no eternal allies, and we have no perpetual enemies. Our interests are eternal and perpetual, and those interests it is our duty to follow.3

Otto von Bismarck

Das Vertrauen ist eine zarte Pflanze; ist es zerstört, so kommt es sobald nicht wieder4.

Die Pflicht des Diplomaten besteht in wechselseitigen und unaufhörlichen Konzessionen.

Die Vermittlung des Friedens denke ich mir nicht so, daß wir nun bei divergierenden Ansichten den Schiedsrichter spielen und sagen: So soll es sein, und dahinter steht die Macht des Deutschen Reiches, sondern ich denke sie mir bescheidener, ja – (…) – mehr die eines ehrlichen Maklers, der das Geschäft wirklich zustande bringen will. (…)5

Friedrich von Schiller

Was du dem Augenblicke ausgeschlagen, bringt keine Ewigkeit zurück.6

Winston Churchill

We British have our own Commonwealth of Nations… And why should there not be a European group which could give a sense of enlarged patriotism and common citizenship to the distracted peoples of this mighty continent?

We all know that the two World Wars arose out of the vain passion of Germany to play a dominating part in the world. But there must be an end to retribution. There must be what Mr Gladstone many years ago called a „blessed act of oblivion“.

But I must give you warning, time may be short7.

Konrad Adenauer

Das Geschick Deutschlands ist auch das Geschick Europas8.

Verflechtung bedeutet gegenseitiges Geben und gegenseitiges Nehmen9.

John Lennon

You may say I'm a dreamer/But I'm not the only one/ I hope some day you'll join us/And the world will be as one

Einleitung

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts - mitten im vielgescholtenen wilhelminischen Zeitalter - waren Deutsche und Briten Freunde, politische Partner, gegenseitige Bewunderer ihrer Kulturen. Innerhalb weniger Jahre kippte dies dann jäh in eine tiefe, umfassende Feindschaft. Plötzlich erschien auf der europäischen Bühne ein feindseliger deutsch-britischer Antagonismus, den es nie zuvor gegeben hatte. Ihn zu überwinden wurden nach dem Ersten Weltkrieg einige erfolglose Anstrengungen unternommen, paradoxerweise selbst noch durch und mit dem deutschen Diktator, bevor gerade er durch eine unerhörte Gewaltpolitik diesen Antagonismus auf die Spitze treiben sollte. Überraschenderweise sollte es aber auch nach 1945 niemals richtig gelingen, wenigstens zu einer Normalität im gegenseitigen Verhältnis zurückzukehren. Zwar konnte nicht verwundern, daß der Weg zurück lang sein mußte, wie mit anderen Nachbarn auch, denen Hitlers Reich Schreckliches zugefügt hatte, denn abgesehen von den britischen Opfern des Krieges mußten die Briten auch mit dem von Hitler mindestens beschleunigten Niedergang ihres Weltreiches fertigwerden. Warum aber wurde dieser Weg von Briten und Deutschen bis heute nicht zu Ende gegangen wie mit anderen europäischen Nachbarn auch?

Diese für Europa zentrale Frage wird überraschenderweise kaum mehr gestellt - scheint es doch inzwischen aussichtslos, noch eine Antwort zu finden. Dabei stehen sich ausgerechnet diese zwei einander tief entfremdeten Länder im verschütteten Grunde ihres Herzens wohl näher als allen anderen großen Ländern. Wichtige historische Ursprünge Englands lagen schließlich in Deutschland und daraus rührende verwandte Züge sind bis heute unübersehbar. Die die Deutschen tief beeinflussende globale britische Präsenz hatte das deutsche Interesse immer wieder neu intensiviert, so wie umgekehrt die deutsche Rolle in Europa. Das deutsch-britische Verhältnis war für Europa immer wieder schlechthin ausschlaggebend - in der Wiederherstellung Europas 1814/15 ebenso wie während der Auslösung der Katastrophen der Weltkriege, in denen die fatalen Entscheidungen stets mit dem Blick auf den anderen fielen. In Wahrheit brauchen sie einander, gerade weil ihre so entgegengesetzten Ängste, Chancen und Talente sich gegenseitig ergänzen.

Seit 1945 sah es zwar bei oberflächlicher Betrachtung mitunter so aus, als ob die gegenseitigen Sorgen und Erwartungen aneinander geklärt und neue gemeinsame Perspektiven möglich geworden seien - doch war und ist das auch ein Dreivierteljahrhundert nach Kriegsende nicht im Ernst der Fall. Die letzte, öffentliche Bestätigung dafür ist der Brexit. Hier trafen die unterschiedlichen Perspektiven offen feindlich aufeinander, in einer brüsken Deutlichkeit, die jahrzehntelang öffentlich vermieden worden war. Die zuverlässig wiederkehrenden Vorzeichen waren lange als persönliche oder zufällige Ereignisse eingehegt worden. Dies geht nun nicht mehr. Zwar besteht ein inoffizieller Konsens in der britischen Publizistik, daß das Referendum doch eher eine innere Angelegenheit, daß es tatsächlich ein Referendum in disguise gegen die Einwanderung nach Großbritannien gewesen sei. Umfragen scheinen dies auch zu stützen. Zugleich läßt sich diese Sicht schwer rechtfertigen, wenn der Inhalt eines Referendums die Frage ist, ob man sich mit dem eigenen Kontinent verbinden will, oder nicht. Und nun ist die Gestalt des europäischen Kontinents seit Jahrzehnten die Europäische Union - die wiederum in Großbritannien spätestens seit den siebziger Jahren wesentlich als ein deutsches Unternehmen betrachtet worden ist - und das war sie ja auch tatsächlich. Die europäische Integration und die umfassenden Vertragswerke haben die Bundesregierungen immer entschlossen mit vorangetrieben, oft sogar angeführt, wenn auch nicht allein. Schließlich ist die Bundesrepublik in der Flüchtlingskrise, dem Jahr der Brexitabstimmung, tatsächlich führend pro immigration hervorgetreten. Der Brexit hat darum zentral mit dem deutsch-britischen Verhältnis zu tun.

In Wahrheit haben beide sich über ein Dreivierteljahrhundert - zur westlichen Kameradschaft zwangsverpflichtet - so gut wie möglich ignoriert. Die Zusammenstöße und Frustrationen dieser langen Nachkriegszeit wurden verdrängt, sind aber nicht vergessen. Ein paar gutwillige Versuche der Annäherung sind verweht. Der Brexit ist nur die letzte, aufrüttelnde Gelegenheit, um wahrzunehmen, daß auch diese gegenseitige Ignoranz kräftig dazu beigetragen hat, daß die innereuropäische Einigung nun an Grenzen stößt - und Europa in dieser Zeit seine sicherheitspolitische Unabhängigkeit wie seine Weltrolle verspielt hat. Anderes fällt in diesen sieben Jahrzehnten auf. Persönliche Beziehungen zwischen deutschen und britischen Spitzenpolitikern sind seit Churchill und Adenauer kaum mehr zu erkennen, immerhin nun schon über drei Generationen. Ähnlich sieht es zwischen den Parlamenten aus. Das britische Bild der Deutschen in Publikums-Publizistik und Unterhaltungsindustrie ist, milde gesagt, überholt, unrealistisch und oft abwertend oder komplett desinteressiert. Umgekehrt pflegen die Deutschen merkwürdig-überhebliche Ironie und Klischees gegenüber der britischen Elite; Pop-Musikern dagegen gilt eine unkritische Bewunderung und englische Sprachfetzen finden sich überall. Umgekehrt wird man vergeblich einen jüngeren deutschen Musiker als Brahms oder Weill in der BBC finden, ein deutsches Wort schon gar nicht. Eine merkwürdig verquere Haltung besteht gegenüber der Monarchie: 70 % der Briten stehen zur Monarchie, halten aber die untergegangene deutsche Monarchie für einen Ursprung allen Übels. Ebenso groß ist der Anteil der Deutschen, die Monarchien ablehnen, vor allem ihre eigene alte - aber das britische Königshaus interessiert verfolgen und oft bewundern. Offensichtlich wird hier einerseits der Wunsch nach Nähe, auf der anderen Seite ihre Ablehnung. Die Liste der Merkwürdigkeiten liesse sich fortsetzen.

Dahinter steht weit mehr als die Wechselfälle der Politik, der Abscheu vor deutschen Verbrechen, insulare Ignoranz oder deutsche Nabelschau. Fundamentale Erfahrungsunterschiede, überhebliche Selbstglorifizierung und gleichgültiges Unverständnis hatten das Ende der Freundschaft vorbereitet und den Zusammenprall von 1914 möglich gemacht. Eine völlig verschieden voneinander verlaufene Geschichte hatte schon früh den distanzierten Blick aufeinander zur Gewohnheit gemacht - obwohl Dynastien, Interessen und kluge Politiker sie immer wieder in notwendige Gemeinschaften gezogen hatten. Beide hielten sich gegenseitig schon früh für Antipoden, für Pragmatiker und Traumtänzer, Opportunisten und Prinzipienreiter, Unternehmer und Handwerker, Piraten und Missionare, Helden und Psychopathen, Weltmenschen und Provinzler. Bis heute verstehen sie voneinander nicht viel. Manches bewundern sie aneinander fast wider Willen, heimlich-fasziniert, über vieles aber rollen sie mit den Augen. Nur wenige verlieben sich furchtlos in den Charakter und die offensichtlichen Spitzenleistungen des anderen, die meisten aber teilen eine kühle, ironische Gleichgültigkeit oder unterdrückten, gar verächtlichen Groll, der schon lange nicht mehr genau hinsieht. Die emotionalen Beziehungen der Briten und Deutschen zueinander sind nicht erst seit dem 20. Jahrhundert von Unkenntnis, Missverständnissen und Fehlurteilen geprägt.

Das lange historische Auseinanderwachsen ist dem Gedächtnis der Gegenwart ebenso verloren wie der lange deutsch-britische Sommer des 19. Jahrhunderts, das historische Drama der ehrgeizigen Intrigen, verzweifelten Rettungsbemühungen und hochmütigen Fehlkalkulationen vor 1914, das Verwirrspiel zwischen Diktator, deutscher Opposition und britischer Elite vor 1939, die wundersame heimliche Allianz zwischen Churchill und Adenauer, das von den Deutschen völlig ignorierte Sterben des Weltreiches ihres einstmals besten Freundes und schließlich auch der von den Briten ebenso gern ignorierte Aufstieg der Bundesrepublik zu einer Handels- und Soft-Power-Weltmacht.

Im folgenden wird in fünfzig historischen Skizzen an diese Vorgeschichte des Brexit erinnert, die auch weithin die Vorgeschichte der Weltkriege war. Nach einem Blick auf die verwandten Ursprünge beider Länder und Stationen ihrer Prägung geht es um den historischen Glücksfall deutsch-britischer Kooperation in Bismarcks Epoche. Tief erschrecken muß, mit welcher Leichtigkeit daraus in wenigen Jahren eine angeblich unausweichliche Gegnerschaft entstehen konnte, in einem Wechselspiel von egoistischen Interessen, Ahnungslosigkeit, Missverständnissen und den Intrigen anderer europäischer Mächte. Über die aus dem Ersten Weltkrieg entstandenen feindlichen Schablonen stolperten die deutschen Konservativen, denen nicht wie ihren britischen Counterparts der affenstehende Weg in die Demokratie gelang. Die folgenden, beiderseits unaufrichtigen Annäherungsversuche des Diktators und der regierenden Klasse in London blieben ein Spiel der Illusionen. Das 1945 dann restlos verbrannte britische Vertrauen schlug in tief verwurzeltes Desinteresse um - und doch öffnete der erstaunlich weitsichtige Pragmatismus Churchills der Bundesrepublik die Tür in den Westen, unterstützt vom kreativen und flexiblen Adenauer - bis die Entwicklung über die zu eigensinnigen Briten hinwegging. Es folgte jene sterile lange Phase, in der Briten und (West-) Deutsche ihren eigenen Weg verfolgten - der eine den Abstieg von der Weltmacht in eine isolierte Position im Westen, der andere den unaufhaltsamen Aufstieg zu einer führenden Wirtschaftsmacht und schließlich der Position des mächtigsten EU-Mitglieds. Wenig später stieg Großbritannien dann aus der EU aus.

Die Folgen griffen stets tief in das normale Leben ein. Bei Ausbruch des ersten Weltkrieges befand sich mein junger Großvater aus einer Hamburger Familie beim Onkel in London, wo dieser als Kaufmann etabliert war. Dies sollte der letzte Kontakt beider Familienzweige sein: der Krieg zerschnitt das Tischtuch für immer. 1957 heiratete die Kusine meines Vaters einen britischen Arzt, zog nach Manchester und bekam zwei Kinder. Beide pflegten gute Beziehungen zu den deutschen Eltern, doch als die Söhne heranwuchsen, entstand bei einem meiner Vettern eine Ablehnung seiner deutschen Mutter, aufgrund ihrer Nationalität. Bis zu ihrem Tode löste sie sich nicht mehr. Mein britischer Großonkel, noch in der guten alten Zeit des britischen Weltreiches geboren, ein kluger und freundlicher Mann, der seine Frau geliebt hatte, sollte 2016 im Brexit-Referendum für Leave stimmen. Befragt, warum, antwortete er: es gab schon immer zu viel Einwanderung, zu viel Veränderung und dann kam die Rede auch auf das Jahr der Flüchtlingskrise, 2015. Und da war er wieder, der Hader mit Deutschland, sogar bei ihm. Inzwischen ist auch meine Tochter in London verheiratet. Gott sei Dank.

Denn Deutsche und Briten gehören zusammen. Wünschen wir ihnen - und uns - Glück und Klugheit.

— Erster Teil — Prägungen

I.

Die Erinnerung an die sagenhaften ersten germanischen Ankömmlinge auf der britischen Insel, Hengest und Horsa, ist ebenso untergegangen wie ihre Heimat in den Sturmfluten der Nordsee, auf längst nicht mehr existierenden Inseln vor Sylt 10 . Denn nicht ihr Volk, die jütländischen Angeln, sondern ihre südlichen Verwandten zwischen Ems und Elbe spielten dann die Hauptrolle in der Eroberung der großen westlichen Insel in den Jahren um 450. Nur an diese erinnern die Namen, die die vertriebenen Kelten den Invasoren gaben: Sassenach sagten die Schotten, Sais und Saeson die Waliser, Saoz und Saozon die Bretonen: die Sachsen 11. Auf sie muß die Insel wie ein Magnet gewirkt haben, so schnell und gründlich drängten sie die romano-keltische Bevölkerung an ihren unwirtlichen westlichen Rand12. Ihre Sprache, sahsisk13, ist die Basis des heutigen Englisch - und wird bis heute noch im norddeutschen Niedersachsen gesprochen. Die historischen Angeln dagegen scheinen vom Winde verweht, der unablässig über die Nordsee streicht.

Als sich später dänische Wikinger und noch später, 1066, ihre gallisierten normannischen Vettern die sächsische Insel holten, hieß sie dennoch plötzlich „England“. Warum aber nicht „Saxony“? Namen sind Politik. Die Geschichte der Völker- und Ländernamen ist eine Vernebelung wahrer Zusammenhänge zugunsten politischer Ziele. Ursprünglich hießen inselsächsische Kleinkönigreiche Wessex (Westsachsen), Sussex (Südsachsen) und Essex (Ostsachsen), nur am sumpfigen östlichen Rand (East-) Anglia. Da gehörte man noch zusammen mit den Vettern an Weser und Elbe und Eider. Doch gegen die Wikinger bekam - oder wollte? - man keine Hilfe vom Kontinent. Wessex’ nur knapp überlebende Könige beriefen sich darum plötzlich auf mythische keltische Gründerkönige - und warben um germanische wie keltische Nachbarn und Untertanen im Namen der Zusammengehörigkeit von ganz Englaland - der ältere Name der Angeln schien harmlos, herrenlos, besser geeignet, politische Gemeinsamkeit gegen die Wikinger herzustellen, vielleicht auch gegen die Konkurrenz der bald zu Königen Ostfrankens aufsteigenden14 Festlands-Sachsen. Auch die übrigens verzichteten dabei auf den sächsischen Namen, der nach Oberherrschaft klang; regnum teutonicorum umschloß ihre germanischsprachigen Völker; das kam von thiudisc: „die Volkssprache sprechend“. Man sagte hier „diutschi man“, und „diutsche lant“15, woraus „teutsch“, dann „deutsch“ wurde. Das übernahmen die „english“ umgetauften Inselsachsen, korrekt, als dutch. Von den Festlands-„Sachsen“ sprach dort keiner mehr. Denn Anglo-Saxon war man nun ja selbst. Hony soit qui mal y pense.

Mit der altfranzösischen Sprache der normannischen Eroberer kam 1066 auch ein neuer Name für die sächsisch-deutschen Verwandten: almain oder alman. Nur die tausend wichtigsten Worte der sich neu bildenden englischen Sprache blieben altsächsisch16, die deutsche Nordseeküste war plötzlich weit weg. Was interessierten Dänen und Normannen die allemands, und ob sie Vettern der saxons waren? So wuchs die Distanz noch mal ein gutes Stück. So konnte noch später, die Hanse hatte enge Verbindungen neu geschaffen, ein anderes, abfälliges Wort auftauchen: easterlings17, die Leute aus dem Osten. Von Gleichgültigkeit zeugt auch Shakespeares Sprachgebrauch um 1600: dutch und almaind gehen hier durcheinander. Erst als Shakespeare begraben war, kam schließlich langsam der neueste Name auf: german. Der alte Name dutch blieb an den Holländern hängen, die gerade in dieser Zeit unabhängig vom Reich wurden - das ironischerweise allerdings Römisches Reich hieß.

Dieses „Germany“ stammte aus der damals lateinischen Gelehrtensprache, in der historische römische Bezeichnungen für alles mögliche dominierten. Hinter der Übernahme in den allgemeinen Gebrauch steckte nun mehr als Gleichgültigkeit: Wer nämlich die Deutschen, nicht aber sich selbst „germans“ nannte, also Germanen, übernahm damit auch die alte römische Unterscheidung zwischen Zivilisation und Barbaren, romani und barbarii, unter ihnen die historischen germanii östlich des Rheins. Kurz: England, nun „Britannien“, zählte sich selbst zum alten römischen Kulturkreis - aber Deutschland nicht. Das blieb kleben18.

Paradoxerweise lagen die Dinge genau anders herum. Die Länder des regnum teutonicorum lagen ja viel näher an der römischen Quelle der Zivilisation - während Londiniums Mauern lange unaufhaltsam verfielen, entstand in Aachen längst wieder ein Dom mit freitragender Kuppel, die man in England nur bestaunen konnte. Das von den Altsachsen begründete Reich umfaßte bald Italia propria - weshalb mit den Stauffern und schließlich den Habsburgern sich sein politisches Zentrum nach Süden verlagern sollte, weit weg von der Nordsee, mitten hinein in altes römisches Kerngebiet. Das Heilige Römische Reich hieß so aus guten politischen, katholischen und kulturellen Gründen. Die Bezeichnung Germany für so ein Land stellte also die Dinge auf den Kopf. Namen sind Politik.

Trotz solcher Politik: so enge Verwandtschaft ließ sich bei geradem Verstand schwer leugnen. Nicht umsonst bezeichnet im Englischen „cousin german“ einen first cousin oder ersten Vetter - oder „something closely related“. Um die tiefe Entfremdung der Nordseevettern im 20. Jahrhundert möglich zu machen, waren lange Jahrhunderte kräftiger Vorarbeit nötig - aber dann reichten wenige Jahrzehnte voller Schlafwandler, Ehrgeizlinge und Schurken dafür.

II.

Der Name Wilhelm „der Eroberer“ war lange archetypisch für die englische Oberschicht. Ein Mann der Tat, nicht bekannt dafür, sich zu viel oder überhaupt mit Büchern zu beschäftigen. Stark genug, einen Langbogen zu spannen, die schwierig zu beherrschende Waffe, mit der seine Nachkommen Frankreich lange beherrschen sollten, „without equal as a fighter and a horseman“, wie sein Zeitgenosse Geoffrey Martel, Herzog von Anjou ihn beschrieb, für seine Zeit ungewöhnlich groß (1,78 m) - ein Kämpfer. Mehr noch: ein „self made man“, der als uneheliches Kind eines in Nordfrankreich herrschenden Normannenherzogs eigentlich leichte Beute für seine besser geborenen Konkurrenten war; einer, der eigentlich überhaupt keine Chance oder gar Rechte auf irgendetwas besaß - und sich doch 1066 zum König von England machte. Das ganze Land samt allem was drin war gehörte nun ihm, dem Sieger. „The winner takes it all“.

Die Geschichte Englands erzählt vor und nach 1066 viel von solchen Männern, die ganz aus dem Vertrauen auf die eigene Kraft lebten und aus sich etwas machen wollten. Shakespeares Königsdramen sind voll davon. Die Geschichte Wilhelms ist eine, wenn nicht die großartigste dieser Geschichten, denn was wäre toller, als sich aus dem Nichts ein Königreich zu erobern - und für immer zu behalten. Bis heute ist das der Kern der nationalen Mythologie der Briten. Noch der Filmheld James Bond ist ein Wiedergänger Wilhelms, auch er „a fighter without equal“, von dem das Schicksal des Königreiches abhängt. Eine seit vielen Jahren äußerst erfolgreiche historische Romanserie Bernhard Cornwells erzählt von einem Helden im sächsisch-dänischen England, Uthred of Bebbanburg, der sich, vom bösen Onkel enterbt und verfolgt, sein Fürstentum mit List und Schwert zurückholt und nebenbei dafür sorgt, daß es überhaupt ein Land namens England gibt.

Solche Romane sind fiktiv - und folgen doch insgesamt historischen Gestalten. Auch nach Wilhelms faszinierender Fahrt über den Kanal ging es noch fast tausend Jahre weiter darum, Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen und sich zu holen, was dem zusteht, der mutig genug ist. Darauf beruhte das Königtum, nicht auf Büchern. Nie hatte England eine geschriebene Verfassung - wozu auch? Denn auf mutigen Männern beruhte das Empire: Francis Drake holte sich den kolonialspanischen Reichtum der Silberflotten, William Clive die Reichtümer der Maharadschas, viele von der britischen Geschichtsmythologie notorisch unterschlagene skrupellose Männer die Sklaven Afrikas und das Opium Chinas. Irgendwann war England reicher als alle anderen - und das reichte noch nicht, denn die englische Staatsschuld zur Zeit des empire hatte ein legendäres Ausmaß. Die Zeiten änderten sich zwar im 20. Jahrhundert, aber die Eroberer-Geschichten gingen nahtlos über in die Geschichte der britischen Finanzwelt - Geld schreibt nun die Geschichten englischer Helden: Es sind heute die Männer und nun auch Frauen der Londoner City, die, immer neuen Finanzkrisen trotzend, sich in China und auf allen Kontinenten lukrative Geschäfte holen, was dem Listigeren, dem Mutigeren eben gelingt - wozu sollte man selbst Fabriken aufbauen und sich um Kunden kümmern? Man kann sich auch gleich das Geld holen. Das hat Tradition.

Freilich sind das Klischees - und doch wieder nicht: sie überliefern reale Ursprünge und Prägungen. Englands Elitenprägung verlief von Beginn an anders als auf dem Kontinent.

Dort, nur eine kurze Überfahrt und einige Tagesritte entfernt und doch so fern, liegt im langen nordwestlichen Küstenstreifen des Kontinents, Wilhelms Geburtsort Falaise, und weiter nordöstlich sein Sterbeort Rouen. Wieder ein gutes Stück nordöstlich lag das Kerngebiet der Franken, und irgendwo der Geburtsort eines ähnlich kriegerisch-vitalen Pfundskerls aus unwahrscheinlich obskuren Ursprüngen, aus unehelicher Geburt, vielleicht sogar als Bastard einer Amme, der es, dank des Staatsstreichs seines Vaters, vorbei am eher berufenen Bruder zum allmächtigen König, gar Kaiser geschafft hatte: Frankenkönig Karl, Carolus Magnus. Auch er ein Riese für seine Zeit, 1,92 m wie man heute schätzt 19 , ein leidenschaftlicher Reiter, Jäger, gar Schwimmer, ein Feldherr und Schlachtenlenker, ein Sammler von Heldengeschichten der Vorfahren - aber in der Biographie seines Zeitgenossen Einhard20 treten die körperlichen Lobpreisungen des Kriegers zurück hinter den Latein lernenden, mühsam sich im Schreiben versuchenden Karl, der gebildete Gespräche schätzte und Besäufnisse verabscheute, Frauen und Kinder liebte - und aufständische Adlige leben ließ - fast alles natürlich spätere Propaganda. Aber eben nicht ganz: Schon sein Vater hatte den letzten Merowingerkönig bei Absetzung nicht töten oder blenden, sondern ins Kloster schicken lassen, natürlich nach Einholung eines päpstlichen Gutachtens. Zwischen Kanalküste, Elbe und Italien arrangierten die germanischen Fürsten sich zunehmend mit römischen bürokratischen Überlieferungen, römischer Kirche und Papst und lange etablierten Oberschichten - da verlor und eroberte man nicht sein Königreich durch einen Bogenschuss, da reichte ein Schwertstreich nicht für alles. Nicht zufällig bevölkerten die deutsche Populärkultur seit Walter von der Vogelweide keine kämpferischen Widergänger des Helden Karl - die bezeichnenden Ausnahmen, Siegfried und Roland, sterben tragische Tode - noch prägen bis heute kühn abenteuernde Oberschichten hier soziale Mentalitäten.

England ist anders.

III.

Schulbücher, Nationalmythos und Hollywood lassen Englands Geschichte 1066 beginnen, mit Wilhelms Normannen. Doch als Wilhelm schließlich kam, gab es England ja schon, es war nicht weniger als 600 Jahre alt. Die englische Geschichte dieser sächsischen und bald dänischen Zeiten erzählt von endlosen Kriegen, Feuer und Blut. Von diesen dreckigen Ursprüngen schweigen die nationalen Überlieferungen allerdings gern.

Es war vielleicht um 450 herum gewesen, als die Angeln Hengest und Horsa ihre schlanken, offenen Boote bestiegen und am andern Rand der Nordsee das soeben von den Römern verlassene Land mit Gewalt in Besitz nahmen - ein reiches Land, mit gepflasterten Überlandstraßen, Städten mit Steinhäusern, Ziegeldächern, Bädern und kunstvollen Mosaiken, mit Bergbau und Landgütern. Die Angeln, Sachsen und Friesen hatten so etwas zuhause nicht. Sie waren eng miteinander verwandte Bauern und Fischer - und früher gelegentlich auch Piraten, Beutemacher am Rand der unermesslich reichen römischen Welt. Die mächtigsten unter ihnen waren die Sachsen. Sie hatten ihren Namen nicht zufällig von ihrer Waffe, einem praktischen kurzen Schwert, dem „Sax“. Die Angel-Sachsen griffen sofort zu, als sie verstanden, daß die große Insel im Westen plötzlich wehrlos und zu haben war, ein frühes Amerika, ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die ungeschützte römische Provinz Britannia hatte einige sächsischen Piraten ursprünglich zum Schutz gegen ihre eigenen beutemachenden Verwandten angeheuert - aber bald machten Angreifer und Beschützer gemeinsame Sache und siegten schnell über eine kampfungewohnte, friedliche Bevölkerung. Man nahm ihre Frauen - und bereits die nächste Generation sprach statt Latein nur noch altsächsisch, einen Dialekt des Althochdeutschen. Wer sich unter der keltischen Bevölkerung wehrte, wurde weit abgedrängt, nach Wales und Cornwall und in die Bretagne. In diesem „frontierland“ ging das zivilisatorische Erbe der Römer beinahe über Nacht unter.

Doch die Eroberer, ohne Oberhaupt, verstrickten sich in unaufhörliche Kleinkriege untereinander und mit den keltischen Vertriebenen. Erst als vier Jahrhunderte später auch Dänen und Norweger die Insel für sich wollten, wurde aus den sich verteidigenden angel-sächsischen Kleinkönigreichen langsam ein Volk. Die Dänen eroberten nur den Norden und überfielen jedes Jahr den Süden. Für Jahrhunderte herrschte permanenter Krieg auf der Insel. Erst mit Wilhelm dem Eroberer sollten die Kämpfe um England 1066 endgültig enden.

In die lange Zeit der Unsicherheit fällt nicht nur die Erfindung der Burg (altangelsächsisch „burh“), um der von Überfällen heimgesuchten Bevölkerung Zufluchtsorte zu bieten, sondern auch die Bildung der englischen Mentalität. Den bereits Härten gewohnten sächsischen Bauern-Kriegern wie den nüchternen dänischen Wikingern prägte sich ein praktischer, nüchtern-robuster Sinn ein, der für das Leben unter widrigen Umständen und in endloser Gefahr überlebenswichtig wurde. Die Sachsen übernahmen aber auch die scharf ausgeprägten Gemeinschaftswerte aus der klimatisch rauhen Heimatwelt der Wikinger: Selbstverständliche Hilfsbereitschaft unter Gleichen, absolute Loyalität innerhalb der Gruppe und fraglose militärische Gefolgschaft. In der Elite dagegen schufen die endlosen Kämpfe einen Autoritäten mißtrauenden, selbstbewußten Individualismus, förderten unsentimentalpragmatisches Handeln zum eigenen Vorteil, belohnten persönliche Leistung und hohe Risikobereitschaft, harten Kampfgeist und nicht zuletzt heftige materielle Gier (Beute machen gehörte zum Krieg und nur gute Bezahlung hielt die ständig ihr Leben riskierende Elitekrieger zusammen und garantierte damit Herrschaft). Aus dem Krieger-Adel entwickelte sich eine auf Leistung beruhende Klasse furchtgebietender Kämpfer, die von den von ihnen geschützten Bauern absoluten Gehorsam verlangte. So entstanden schon in den sechs Jahrhunderten vor 1066 die Klassengesellschaft und die typischen, „englischen“ Mentalitäten der Ober- und der Unterklasse.

Diese neuen Prägungen kündigten allmählich das Ende der Epoche einer eng verbundenen angelsächsischnorddeutsch-dänischen Nordseewelt an, lange bevor Wilhelm die Insel vom Festland unabhängig machte. Schon vorher hatte Karl der Große um 800 die alte sächsische Heimat zwischen Nordsee, Elbe und Gebirgen blutig unterworfen und damit den Strom neuer Festland-sächsischer Krieger auf die Insel beendet - eine entscheidende Voraussetzung für den anschließenden Erfolg der Wikinger in England. Karl zwang die Festlands-Sachsen ins fränkische Reich, weg vom Meer und der Insel auf den Kontinent. Viel später erst durchtrennte Wilhelm der Eroberer auch noch die Nabelschnur der Wikinger nach Dänemark und Norwegen. Den Blick der eroberten Insel richtete er fortan nach Süden, in das zerfallende Frankenreich, von wo er gekommen war. Hier sah er neue Beute.

Herrscher und Namen wechselten, auf der Insel wie auf dem Festland. Was da links und rechts der südlichen Nordsee im 10. und 11. Jahrhundert heranwuchs, waren dennoch nichts anderes als zwei große, von Sachsen gegründete und bevölkerte Königreiche: England und das heilige Römischer Reich - Großbritannien und Deutschland.

Schon jetzt aber zeigte sich: da wuchsen bereits sehr verschiedene Vettern heran.

IV.

Wie die sächsisch-englischen waren auch die sächsisch-deutschen Könige zunächst vor allem eines: Kämpfer. Otto der Große hatte schon als Jugendlicher Slawen und Ungarn besiegt. Mit Lanze und Schild sehen wir ihn auf seinen Siegeln, er hatte einen „gewaltigen Körperbau“, er konnte „Schrecken verbreiten“ und „ging gern auf die Jagd“ wie der sächsische Mönch Widukind schrieb. Aber dann trat auf dem Festland ein anderer Geist hervor als in England. Lanze und Schild traten zurück. Aus den Schrecken verbreitenden Männern der Tat wurden die neuen deutschen Könige zu Diplomaten. Otto der Große, schreibt Widukind weiter, hatte „bewundernswerte Geistesgaben. Er lernte so gut die Buchstaben…daß er Bücher die Menge lesen und verstehen konnte… außerdem wußte er in der romanischen und slawischen Sprache zu reden.“

Kämpfer, die Bücher lesen? Dafür gab es gute politische Gründe. Die ehrgeizigen sächsischen Herzöge hatten es eben nicht mit brutalen normannischen Rivalen zu tun, sondern mit ganz anders gestrickten ostfränkischen Adligen. Sachsenherzog Heinrich verdankten seinen Aufstieg zum König der Sachsen und Franken 919 in Fritzlar klugen Allianzen und konnte sich so ganz von Karls Reich trennen - dieses Königtum wurde in Verträgen geboren, nicht in Blut. Selbst mit gefährlichsten Feinden, Slawen und Ungarn, nutzte man oft taktische Winkelzüge - bis man dann doch die Klingen kreuzen mußte. Rivalen wurden nicht - wie bei Hastings der arme englische König Harald - einfach erschlagen, sondern mit Entzug ihrer Rechte bestraft. Beinahe nur mit Verträgen und Heiraten, Diplomatie und Bündnissen verschob sich nun die Reichsgrenze weit nach Westen, südwärts durch Italien, und wanderte weit nach Osten - in nur fünfzig Jahren verdreifachte sich das Reich, wurde der König Römischer Kaiser und verheiratete sich mit dem reichen Byzanz. An seinem Hof wimmelte es bald von gelehrten Mönchen, Beratern und Diplomaten, Juristen, Bischöfen und Gesandten.

Und dieser Zug beschleunigte sich: Während die Angelsachsen sich noch mit den Nordmänner stritten, gerieten die deutschen Könige schnell in den Sog von römischen Päpsten, italienischem Gold und der komplexen Innenpolitik eines Riesenreiches nördlich und südlich der Alpen - und so schließlich an die erstarkte süddeutsche Konkurrenz: Zwei Jahrhunderte nach Heinrichs Königskrönung wanderte die Krone für immer nach Süden, zu den Stauffern zunächst, die mehr Zeit in Italien als im Norden verbringen sollten. Ohne Diplomatie, ohne römische Raffinesse war in diesem Reich kein Staat mehr zu machen.

Als England gerade erst seine Einheit fand, wuchs auf dem Kontinent das umständlich, aber aus guten juristischen und propagandistischen Gründen neu titulierte „Heilige Römische Reich“ schon zu einem rechtlichen Gebäude heran. Das zähmte innere und äußere Machtkämpfe. Nur wenige Jahre nach dem Tod des letzten angelsächsischen Königs durch einen normannischen Pfeil trickste Kaiser Heinrich IV. den weltpolitischen Rivalen Papst Gregor VII. nur durch einen diplomatischen Schachzug aus, den Bußgang nach Canossa. In der Propagandaschlacht um Adel und Städte in Reichs-Italien half es eben nicht, immer nur Burgen zu erobern und Mailand nochmals niederzubrennen - wie in Frankreich die Engländer, die selbst mit einer Nationalheiligen kurzen Prozess machten: hier entschied nur militärische Macht. Im Reich aber brauchte Macht den Segen der Kirche und Fürsten. Kaiser mußten werben, gewählt und gesegnet werden. Ein Jahrhundert später beugte Kaiser Friedrich II., „Barbarossa“, erneut vor einem Papst das Knie und brach sogar zum Kreuzzug auf, um seine imperiale Reputation als „Sohn der Kirche“ wiederherzustellen. So ruhte das Reich der Deutschen schließlich ganz auf rechtlichen wie christlich-frommen Fundamenten. Gegen innere politische Gewalt rief es nicht mehr nur geharnischte Macht zu Hilfe, sondern tatsächlich die heilige Dreifaltigkeit - und ein Grundgesetz, die „Goldene Bulle“ am 10. Januar 1356 auf dem Nürnberger Hoftag verkündet, wohl Europas älteste Verfassung:

„Auch du Neid und Haß / hast das Christliche Kayserthum / so von GOtt / gleich der H. unzertheilten Dreyfaltigkeit / mit den göttlichen Tugenden des Glaubens / der Hoffnung und Liebe gestärckt auf dessen Grund-Fest alle Reich und Gewalt ruhen / mit Gifft / welches du als ein Schlang in des H. Reichs (zweien) Zweige und nächste Gliedmassen boßhafftig ausgegossen / verunreinigt / auf daß / wann die Seulen zerschlagen / der gantze Bau zum Fall (gericht und) sich (neiget) neige. Gleichergestalt hast du zwischen des H. Reichs sieben Chur-Fürsten/ durch welche / als sieben Leuchter / das H. Reich in Einigkeit des siebenförmigen Geistes solt erleuchtet werden / mancherley Zerstörung angerichtet.

…So haben Wir hernach beschrieben Gesetz/ Einigkeit unter den Churfürsten zu pflantzen / und einmüthige Wahl einzuführen“21

Militärische Logik dagegen erledigte noch jahrhundertelang Aufstieg und Fall englischer Könige. Manchmal endete einer, weil ihm in der Schlacht ein Pferd fehlte, wie Richard III.22:

„A horse! A horse! My kingdom for a Horse23“.

Von wegen Magna Charta. Shakespeare schien nicht sie erwähnenswert, dafür die schier endlose Reihe blutiger Königsdramen, gut für viele Staffeln game of thrones.

V.

Nachdem König Wilhelm „the Conqueror“, in Rouen gestorben war, versank die germanische Welt der Nordsee in der Vergangenheit, wurde angelsächsische Vorgeschichte, Humus eines neuen Zeitalters, wie einst die lange römische Periode. Harald sollte nie mehr ein englischer König genannt werden, auch nicht Sven oder Knut, Aethelred oder Alfred. Wilhelm hinterliess England nicht nur andere Namen wie Richard, Robert, John, Henry und Charles, sondern gleich für Jahrhunderte eine ganz andere Leidenschaft: Frankreich. Darum drehte sich von nun an die Phantasie der normannischen Herrenschicht auf den eroberten Landgütern der angelsächsischen Verlierer. Bis 1265 sprach man im englischen Parlament französisch, bis 1453 kämpfte man um die französische Krone; Jeanne d’Arc starb auf englisches Geheiß und erst 1558 wurden die Engländer aus Calais hinausgeworfen. Frankreich war die neue englische „frontier“ des Mittelalters, und der französische Boden wurde durch Jahrhunderte mit dem Blut englischer Ritter und Bogenschützen getränkt. Vergeblich zwar am Ende, doch lebte hier die geerbte Faszination der Vorväter weiter, ins Ferne aufzubrechen. Später sollte sie sich auf die Welt in Übersee richten, immer weiter weg von den Vorvätern im Osten der Nordsee. Noch 1819 beschäftigte sich die dreibändige Geschichte des europäischen Mittelalters des Henry Hallam, Esq.24 vor allem mit Frankreich - und hatte für den bei weitem größten Staat des Kontinents nur hier und da ein kleines Kapitel übrig: Das Heilige Römische Reich, dessen Grenze das Mittelalter hindurch so nah verlief, ungefähr von Nizza nach Lyon und von da nach Verdun und Cambrai. Es war damals zwar vier bis fünfmal so groß wie England und enthielt im Mittelalter mit den Niederlanden, dem Rheinland, Oberdeutschland und Norditalien die reichsten Gebiete Europas - und doch war es 1819 auf der Insel vergessen, so uninteressant wie Finnland und die Walachei.

Das war gegenseitig. Für die Deutschen wurde England im langen Mittelalter zu einer nebligen, kleinen Insel voller Schafe; als England mit aller Kraft um Frankreich kämpfte, war es dem mächtigsten Fürsten Europas, dem Kaiser, nur der kleine, eifersüchtige Bruder, den man nicht so ernst nahm. Die Deutschen beschäftigten sich mit etwas Besserem: mit Italien und dem Osten - hier war grenzenloser Reichtum, dort unendliche Territorien zu finden. Mit Italien erging es ihnen zwar irgendwann so wie den Engländern mit Frankreich, aber Ostelbien wurde immerhin so deutsch wie Irland und Schottland englisch. Die deutsche Wanderung nach Osten verlief allerdings bemerkenswert anders als die immer wieder blutige Geschichte der Engländer in Irland: fast lautlos, fast ohne Schlachten, durch Verträge und feudale Mechanismen. Die altdeutsche Methode der Politik kostete sehr viel Zeit, aber sie war relativ versöhnlich. Darum war der Osten schon seit Otto dem Großen keine „frontier“ mehr. Das Reich der Deutschen wurde im Mittelalter so groß und überlegen, damals auch so politisch geschickt, daß sich die slawischen Reiche oder Teile von ihnen, Böhmen, Mähren, Teile Polens wie Schlesien nicht etwa nach großen Kriegen, sondern durch Heiraten, Erbschaften und Verträge, friedliche Besiedlungen und Städtegründungen nach und nach über zwei Jahrhunderte als Teile des Reiches wiederfanden. Als Martin Luther geboren wurde, umfaßte es fast halb Europa - kein Wunder, daß ein kleiner Wittenberger Mönch so wichtig werden konnte, sein englisches Pendant John Wycliff aber nicht.

Links und rechts der Nordsee hatten die sächsischen Vettern sich dabei weit entfremdet. Sie blickten in verschiedene Richtungen, sie machten andere Politik, sie glaubten an andere Ziele. Francis Drake und Martin Luther waren Zeitgenossen - Pirat, Seemann und Sklavenhändler der eine, Theologe, Reformator der Kirche und Autor frommer Lieder der andere - kann man sich zwei unterschiedlichere Nationalhelden denken? Die Deutschen bauten Dome und Gerichte, Hand- und Kunstwerke jede Menge, schrieben Verfassungsgesetze, Verträge, Toleranzordnungen, Moralspiegel und Prozessakten, die normannischen Lords und Earls aber Segelschiffe, Kanonen und Lagerhäuser, raubten bald fremde Kolonien aus und begannen, Vermögen anzuhäufen, von denen sie sich überall im Land Landsitze errichteten, von französischem, spanischem, holländischem Gold. Nicht, daß im kontinentalen Reich keine Ritter, Hasardeure und Räuber ihre Bischöfe und Pfeffersäcke ausplünderten - aber ihre Helden und mutigen Pioniere und unternehmenden Kaufleute, Fürsten und Landsknechte sollten die Deutschen nicht prägen - und die Engländer nicht ihre tiefen Denker, rechtschaffenen Politiker und idealistischen Mönche. Nicht ohne Grund malten die Dichter so verschiedene Bilder: Bei Shakespeare beherrschen die Bühne Leidenschaften, Politik und Macht - Hans Sachs’ Figuren hingegen suchten, typisch deutsch würden wir sagen, Frieden, Ordnung und die richtige - gottgefällige - Lebensführung. Anders gesagt: Die Könige auf Englands Thron sammelten jedes Pfund Gold und Macht für sich ein, die auf dem deutschen Thron gaben es aus, um ein gottgefälliges Kaiserreich zusammenzuhalten.

Als immer mehr Deutsche von Bischöfen regiert wurden, plünderten englische Freibeuter und Kaperschiffe immer öfter die amerikanischen Silberflotten des spanischen Königs und Kaisers des Heiligen Römischen Reiches, Karls V. So kamen die Briten auf den Weg zum Weltreich, während die Deutschen den Weg ins Himmelreich suchten. Auf diesem Weg fanden sie statt dessen etwas anderes: die Freiheit des Wortes und den Rechtsstaat.

VI.

Als der Doktor der Theologie und Augustinermönch Martin Luther am 16. April 1521 aus Wittenberg in Worms eintraf, hatte er eine 14 Tage dauernde triumphale Reise mit vielen öffentlichen Auftritten hinter sich. Auch hier jubelten ihm die Bürger zu, während päpstliche Legaten auf der Straße angepöbelt wurden. Am nächsten Tag wollten alle dabei sein, wenn der Mönch im Wormser Bischofshof Kaiser Karl V. vor der Versammlung der Stände des Reiches die Stirn bot; Luther konnte nur durch einen Hintereingang eintreten. Durch seine klare Haltung - „Sind die Bücher dein? Ja. Willtu sie widerrufen oder nicht? - Nein“ - zog er Kaiser und Kirchenadvokaten gegen ihren Willen in eine weitere Diskussion. Luther endete mit den berühmten Worten:

„… wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, daß sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!“

Luther wußte da noch nicht: der Kaiser hatte bereits ein „Sequestrationsmandat“ erlassen, seine Papstkritischen Schriften hatte die Kirche schon im Voraus verurteilt; nach dem Reichstag sollten sie eingezogen und vernichtet werden. Aber Luther wußte: Kaiser und Kirche mußten mit der inzwischen militant kirchenkritischen öffentlichen Meinung in Worms wie im ganzen Reich rechnen. Viele Menschen, selbst Bauern, konnten lesen und waren durch das neue Mittel des Flugblatts informiert; überall gab es schon begeisterte Unterstützer der Kirchenreform. Vor allem aber war eine reichsweite Verurteilung Luthers gar nicht gegen den Reichstag möglich und der hatte die Sequestration seiner Schriften bereits zweimal abgelehnt. Der Kaiser war ohne den Reichstag weder berechtigt, einem schlichten Mönch den Prozess zu machen, noch etwa Steuern zu erheben: auch Karls Verlangen nach umfangreichen Geldmitteln für seine Kriege stieß auf dem Reichstag auf erfolgreichen Widerstand - die Stände interessierte weit mehr die Lösung innerer Probleme. 25 Auch jetzt gelang es Karl in dreiwöchigen Verhandlungen nicht, die prolutherischen Stände auf seine Seite zu ziehen. So griff er zu einem zwielichtigen Trick: unmittelbar nach Ende des Reichstages, als kein entgegengesetzter Beschluss mehr möglich war, verhängte Karl die „Reichsacht26“ über Luther und datierte sie um drei Wochen zurück. Nur mit schäbigen Tricks, durch Rechtsbeugung konnte sich der Kaiser helfen - und selbst das blieb ohne Erfolg.

Der englische König, Heinrich VIII., fackelte dagegen nicht lange mit einem renitenten Theologen. Wenige Jahre nach Luthers Termin in Worms lud auch er einen Kirchenmann und Reformer vor: Thomas Wolsey, eben noch Kardinal, Lordkanzler, Erzbischof von York und mächtigster Staatsmann Englands, hatte den Zorn der jüngsten Ehefrau des Königs erregt: Anne Boleyn sah Wolsey als Anstifter eines päpstlichen Briefes, der den König aufforderte, sich von ihr zu trennen. Der Haftbefehl war begründet mit Hochverrat, “