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DER MITTLERE WEG wurde erstmals explizit durch den Buddha gelehrt. Der Mittlere Weg ist die erste Unterweisung, die Gautama, der historische Buddha in seiner ersten Lehrrede gab. Er bildet die Grundlage seiner praxisbezogenen Methode in Hinblick auf Meditation, Ethik und Weisheit. Das vorliegende Buch versucht, die Bedeutung des Mittleren Weges auch jenseits der buddhistischen Lehren darzulegen. Der Mittlere Weg erschließt sich sowohl aus dem Leben Gautamas, des historischen Buddha, als auch aus seinen Lehren. Sein frühes Leben ist geprägt von einer symbolträchtigen Suche im Spannungsfeld der Extreme von Luxusleben im Palast und Askese im Wald, gefolgt von der Entdeckung des Mittleren Weges. Seine Parabeln und Metaphern, wie etwa das Floß oder die Lautensaiten sind nicht nur Allegorien buddhistischer Lehren, sondern Sinnbild für einen erfahrungsbasierten ethischen Lebensweges. Dieses Buch übt auch Kritik. Obwohl die buddhistische Tradition den Mittleren Weg überliefert hat, hat sie ihn oft nicht beachtet oder verzerrt. Der Mittlere Weg ist erfahrungsbezogen, authentisch und kreativ. Damit bedroht er das Machtgefüge einer Tradition, die bevorzugt die Autorität des Buddha als Quelle abstrakter, absoluter Offenbarung betont. "Buddhas Mittlerer Weg" zeigt den universellen Charakter des Mittleren Weges, der unabhängig von der buddhistischen Tradition allen Menschen offen steht. ROBERT M. ELLIS ist der Gründer der "Middle Way Society" und Autor einer Reihe von Büchern zur Philosophie des Mittleren Wegs, sowohl innerhalb als auch jenseits des Buddhismus. Das zuletzt veröffentlichte Buch von 2018 beschreibt den christlichen Mittleren Weg. Er ist promovierter Philosoph und hat in Cambridge einen BA in Orientalistik und Theologie erworben. Er hat in vielen verschiedenen Fachbereichen gelehrt und war früher Mitglied des buddhistischen Ordens Triratna. Die BUDDHASTIFTUNG für säkularen Buddhismus und ihr VERLAG MITTLERER WEG haben das Buch übersetzt und herausgegeben.
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Seitenzahl: 473
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Ich möchte folgenden Personen für Ihre wertvollen Korrekturen und Kommentare zum Manuskript im Vorfeld der Veröffentlichung danken: Jim Champion, Barry Daniel, Susan Averbach, Viryanaya Ellis, Eric Hoogcarspel, Mark Leonard, Kamalashila Matthews, Francis Gastmans, Winton Higgins und Stephen Batchelor. Ich möchte außerdem Tony Morris für seine Unterstützung, die Veröffentlichung zu ermöglichen, danken. Jochen Weber und Saskia Graf von der Buddha-Stiftung danke ich für die Übersetzung und Veröffentlichung der deutschen Ausgabe.
Robert M. Ellis
Ich möchte Saskia Graf und der Buddha-Stiftung meine große Dankbarkeit dafür aussprechen, dass sie die langwierige und komplexe Aufgabe der Übersetzung meines Buchs ins Deutsche übernommen haben. Es ist schon schwierig genug zu versuchen, den Mittleren Weg präzise in einer Sprache auszudrücken, noch viel schwieriger ist es, all die komplexen Unterschiede zwischen zwei Sprachen zu berücksichtigen. Dank ihrer Arbeit ist es nun möglich, dass deutschsprachige Leser in ihrer Muttersprache über den Mittleren Weg lesen können – über den derzeit leider niemand sonst als eigenständiges Gestaltungsprinzip (und nicht als ein anderen Prioritäten untergeordnetes) zu schreiben scheint. Ich hoffe, dass diese Übersetzung dazu beiträgt, mehr Diskussionen über den Mittleren Weg in deutschsprachigen Ländern anzuregen und mehr Menschen dazu zu bewegen, ihn als Beurteilungsprinzip zu nutzen, wobei die Ideen direkt auf Deutsch weitergegeben werden.
Mein Buch wurde Ende 2017 bis Anfang 2018 geschrieben und 2019 in englischer Sprache veröffentlicht. Nun ist es Ende 2020 und in diesem Zeitraum hat sich das Ausmaß an Polarisierung im Weltgeschehen immer weiter verschärft. Die Notwendigkeit eines konsequenten Verständnisses dessen, was hinter Dogma, Unterdrückung, Konflikten und Raubbau an der Umwelt steht, und wie man mit einer wirkungsvollen und ausgewogenen Praxis (anstelle eines gut gemeinten Gegendogmas) Abhilfe schaffen kann, ist umso vordringlicher geworden. Der Buddha bietet einen möglichen und gleichermaßen hilfreichen und gut entwickelten Weg hin zu dieser wirkungsvollen und ausgewogenen Praxis, aber er darf nicht einfach zu einem weiteren fruchtlosen, konkurrierenden „Ismus“ werden. Ich ermutige Sie nachdrücklich, den Mittleren Weg zu einem Teil Ihrer Praxis zu machen, solange uns noch Zeit bleibt.
Robert M. Ellis, Malvern Großbritannien, Oktober 2020.
Während der letzten 20 Jahre hat Robert M. Ellis seine Philosophie des Mittleren Wegs stetig weiterentwickelt. Seine Gedanken finden sich in seinen bekannteren Büchern wieMigglismundTruth on the Edgesowie im kürzlich erschienenen SammelbandMiddle Way Philosophy, der mehr als 700 Seiten mit anspruchsvollen Ausführungen und Überlegungen umfasst. Um seine Gedanken in Formen der Praxis umzusetzen, die den Herausforderungen des Lebens in der gegenwärtigen Welt gerecht werden, hat Ellis auch die Middle Way Society gegründet, die Podcasts, Online-Diskussionen, Retreats und andere Aktivitäten anbietet:
http://www.middlewaysociety.org
Ellis ist ein eigenständiger, konsequenter Denker. Obgleich er anerkennt, dass er dem Buddha als erstem Verfechter des Mittleren Wegs zu Dank verpflichtet ist, hat er sich vom Buddhismus distanziert und bezeichnet sich nicht mehr als Buddhisten. Er hat versucht, die Prinzipien des Mittleren Wegs offenzulegen, wie sie überall in der menschlichen Kultur zu finden sind: im Christentum und Judentum, in zahlreichen säkularen Philosophien sowie in der Psychologie und in den Naturwissenschaften. Da der Mittlere Weg darüber hinaus im Rahmen unseres täglichen Lebens als ethische Wesen praktiziert werden soll, wendet Ellis dessen Prinzipien auf unsere politische und wirtschaftliche Lebensweise, unser Geschichtsverständnis und unsere Beschäftigung mit den Künsten an.
InBuddhas Mittlerer Wegkehrt Ellis zu buddhistischen Quellen zurück und liefert uns einen überzeugenden Bericht darüber, wie der Buddhismus in seiner derzeit gelehrten Form sowohl dazu dienen kann, den Mittleren Weg zu verdunkeln als auch dazu, ihn zu erhellen. Indem er zu einer Weltreligion wurde, die sich auf metaphysische Glaubensinhalte stützt, hat der Buddhismus aus Ellis‘ Sicht oftmals den Kontakt zum Prinzip des Mittleren Wegs, das er zu verkörpern beansprucht, verloren. Indem er sich auf die pragmatische und skeptische Dimension buddhistischen Denkens konzentriert, die Kraft seiner klassischen Gleichnisse wiederherstellt und hervorhebt, wie Gotama mit seinen Zeitgenossen interagierte, enthüllt Ellis, wie das Prinzip des Mittleren Wegs die Gesamtheit dessen durchdringt, was der Buddha gelehrt hat.
Den Mittleren Weg zu praktizieren bedeutet weit mehr als nur die Extreme von Genusssucht und Selbstkasteiung zu vermeiden, wie sie in Buddhas erster Lehrrede im Hirschpark von Sarnath beschrieben werden. Solche Extreme zu vermeiden, dient lediglich als nützliches Beispiel, um ein weit umfassenderes Prinzip zu veranschaulichen. Für Ellis ist der Mittlere Weg eine Metapher für eine ganzheitliche Lebensweise, die auf alle metaphysischen Verabsolutierungen verzichtet. In Ellis‘ Worten ist er „ein Bewertungsprinzip, das sich darauf konzentriert, wie wir auf unsere Erfahrungen reagieren, und keine Aussage darüber, wie Dinge letztendlich sind.“ Als solches entfaltet sich der Mittlere Weg vollständig innerhalb der vorläufigen, mehrdeutigen Welt unseres Lebens als unsichere und doch ethische Lebewesen.
Ich hoffe, dass dieses provokante Buch Buddhisten dazu ermutigen wird, den Mittleren Weg, der den Kern ihrer Tradition verkörpert, neu zu überdenken, und wertzuschätzen, wie dieses Prinzip ihre Tradition mit vielen anderen antiken und modernen, säkularen und religiösen verbindet.Buddhas Mittlerer Wegbietet gleichzeitig auch eine ausgezeichnete kritische Einführung in Buddhas Leben und Lehren für diejenigen, die mit dem Buddhismus weniger vertraut sind. Dank Ellis' bahnbrechender Arbeit wird der Mittlere Weg möglicherweise nicht mehr als eine ausschließlich buddhistische Leitidee betrachtet werden, sondern stattdessen als ein universelles Vermächtnis des Menschseins verstanden werden.
Stephen Batchelor
Aquitaine, September 2018
Soweit wir wissen, wurde der Mittlere Weg wohl erstmals explizit vom Buddha gelehrt. Der Buddha war ein Mensch, der vor etwa 2.500 Jahren auf dem nordöstlichen indischen Subkontinent gelebt haben soll. Es ist jedoch wichtig, den Mittleren Weg in Hinblick auf die Probleme unserer und nicht seiner Zeit zu verstehen und zu praktizieren. Der Mittlere Weg kann einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, unser Leben in allen Erfahrungsbereichen angemessener zu leben.
Wie können wir mit Stress fertig werden und indes unsere Leistungsfähigkeit für eine anstrengende Arbeit bewahren? Indem man den Mittleren Weg in der Meditation praktiziert, bewahrt man ein Zeitfenster wirkungsvoller Erholung zwischen starren, willentlichen Handlungsweisen und unangemessener Hingabe. Wie können wir in einer Welt, in der sich alte Gewissheiten aufgelöst haben, moralische Urteile fällen? Indem wir den Mittleren Weg finden, in dem kein moralisches Prinzip absolut ist, sondern alle moralischen Prinzipien uns mögliche Denkanstöße geben können, um moralische Angemessenheit zu fördern. Wie gehen wir mit einer polarisierten politischen Debatte um? Indem wir einem Mittleren Weg der kritischen Reflexion folgen, von dem wir erwarten, dass gewisse Sachverhalte aus allen Perspektiven beleuchtet werden. Nichtsdestotrotz müssen wir die die Notwendigkeit eines entschiedenen Urteils erkennen, um den gegenwärtigen Bedingungen möglichst gut gerecht zu werden. In der persönlichen Praxis, in der Wissenschaft, in Beziehungen und in unserer Reaktion auf Umweltkrisen brauchen wir heute den Mittleren Weg.
Lange Zeit habe ich über den Mittleren Weg an sich geschrieben, aber vermieden, über den Buddha zu schreiben. Warum? Weil zu viele Menschen an ersteren nur in Abhängigkeit von letzterem denken. Der Buddha hat den Mittleren Weg nicht erschaffen, genauso wenig wie Newton die Schwerkraft erschaffen hat. Dem Mittleren Weg an sich muss die Hauptaufmerksamkeit gelten. Dieser Punkt wird auch allzu leicht in voreingenommenen Debatten zwischen buddhistischen Gelehrten oder Schulen vergessen. Über den Buddha zu schreiben, bedeutet oft, sich belanglosen, voreingenommenen Reaktionen auszusetzen.
Es gibt jedoch auch ausgesprochen gute Gründe, über den Buddha zu schreiben. Als Menschen sind wir geschichtenerzählende Wesen und brauchen Geschichten, die uns inspirieren. Der Buddha liefert nicht nur eine großartige, archetypische Geschichte, durch die man beginnt, den Mittleren Weg zu verstehen, viele Menschen werden vom Mittleren Weg überhaupt erst gehört haben, weil sie von Buddha und vom Buddhismus gehört haben. Trotz all der komplexen Fragen, die der Buddhismus als Tradition aufwirft, bleibt er weiterhin eine wichtige Quelle für das Verständnis des Mittleren Wegs. Erst durch den Buddhismus habe ich selbst überhaupt angefangen, ihn zu verstehen. Menschen, die sich dem Mittleren Weg aus dieser Richtung nähern, benötigen oft eine Klärung von Sachverhalten.
In diesem Geiste möchte ich über den Mittleren Weg in Verbindung mit dem Buddha schreiben. Obwohl es an vielen Stellen kritische Aspekte gibt, besteht mein Hauptanliegen darin, eine klare und positive Darstellung des Mittleren Wegs zu vermitteln, indem ich ihn durch die beispielhaften Erzählungen über den Buddha und seine Lehren veranschauliche. Mit dem, was der Buddha getan und gesagt hat zu beginnen, ist eine Möglichkeit, eine grundlegende Wertschätzung des Mittleren Wegs zu erlangen. Dann können wir dazu übergehen, andere mögliche Ansätze zu betrachten, aus denen heraus wir den Mittleren Weg verstehen können. Ich werde das frühe Leben des Buddha schildern, um den Prozess der Entdeckung des Mittleren Wegs zu veranschaulichen, bis ich dann in Kapitel 1.f eine erste detaillierte Darstellung seiner Bedeutung gebe.
Dank der Arbeit mehrerer westlicher und säkularer buddhistischer Lehrer und Autoren hat die nützliche Neuinterpretation des Buddha und des Buddhismus für die heutige Zeit in den letzten Jahren beträchtliche Fortschritte gemacht. Diese haben sich zu einem klareren und hilfreicheren Verständnis der Lehren des Buddha, frei von dogmatischen Beifügungen, vorgearbeitet. An erster Stelle ist hier Stephen Batchelor zu nennen. Batchelors neustes Buch „Jenseits des Buddhismus“ bietet, meiner Ansicht nach, den bisher besten Ansatz, den hilfreichen Pfad von traditionellen Dogmen zu befreien.
Allerdings scheint es keinem dieser Autoren gelungen zu sein, sich von der letzten Last der Buddha-Debatte zu befreien – dem Rückgriff auf historische Autorität. Der Buddha, für den sie eintreten, soll der wahre Buddha sein, der maßgebend ist, weil er in den frühesten (oder kanonischsten) Texten zu finden ist. Alle derartigen Argumente sind Geiseln des Schicksals, abhängig von wechselnden historischen oder textuellen Aussagen. So begründet diese Aussagen jetzt auch erscheinen mögen, sie sind Gegenstand widersprüchlicher Beweise und endloser wissenschaftlicher Auseinandersetzungen über deren Interpretation. Darüber hinaus sind sie ohne Belang für den Inhalt der Einsichten des Buddha, welche – sofern sie von Wert sind – sehr wohl für sich selbst stehen können sollten. Deshalb möchte ich mit diesem Buch etwas anbieten, von dem ich wünschte, dass es schon zuvor jemand anderes geschrieben hätte: eine Interpretation der überlieferten Lehren des Buddha, die nur auf praktischen Erwägungen fußt und nicht auf umstrittenen Annahmen über den „wahren“ historischen Buddha.
Warum geht es mir in erster Linie um den Mittleren Weg und nicht so sehr um die anderen Lehren des Buddha? In buddhistischen Darstellungen kommt allgemein den Vier Edlen Wahrheiten, dem Achtfachen Pfad, der Dreifachen Zuflucht, Abhängigem Entstehen, usw. mehr Bedeutung zu. Die Begründung dieser Schwerpunktsetzung wird im weiteren Verlauf des Buchs immer deutlicher hervortreten. Das Schlüsselargument ist, dass all diese anderen Lehren eine hilfreiche Interpretation des Mittleren Wegs erfordern. Beginnen wir mit diesen und interpretieren den Mittleren Weg in ihren Begriffen, mündet dies möglicherweise in einem Dogma, das ungeeignet ist, um den Menschen in ihren sich verändernden Lebensbedingungen hilfreich zu sein. Der Mittlere Weg ist jedoch eine wahrhaft universelle Lehre, die sich auf menschliches Urteilsvermögen und nicht auf Behauptungen über die Wirklichkeit stützt. Er bietet somit einen Ausgangspunkt, um jede andere Lehre auf hilfreiche Weise zu interpretieren.
Der Mittlere Weg, so wie ich in hier verstehe und darstelle, ist eine Metapher für eine praktische Methode zur Verbesserung unseres Urteilsvermögens in allen Lebenslagen. Der Weg beginnt genau jetzt, an welchem Ausgangspunkt Sie auch immer stehen mögen, und er erstreckt sich unbeschränkt auf zukünftige Entscheidungen. Dieser Weg ist nicht deshalb der „mittlere“ Weg, weil er notwendigerweise gemäßigt oder vermittelnd im herkömmlichen Sinne ist. Vielmehr vermeidet er sowohl positive als auch negative Absolutheitsansprüche. Wie wir sehen werden, bieten das Leben und die Lehren des Buddha viele inspirierende Demonstrationen dieses grundlegenden, praktischen, universellen Mittleren Wegs. Der Mittlere Weg wurde jedoch auch auf weniger hilfreiche Weise dargestellt. Auf vergleichende Aspekte verschiedener Modelle des Mittleren Wegs im Buddhismus wird später in diesem Buch eingegangen (Abschnitt 4).
Dieses Buch möchte daher zunächst eine Darstellung des Mittleren Wegs durch den Buddha geben. Es gibt jedoch verschiedene andere Dinge, auf die ich eingangs hinweisen sollte, um mögliche Missverständnisse zu vermeiden. Es ist weder eine Fürsprache für den noch eine Rechtfertigung des Buddhismus. Ich habe viel vom Buddhismus gelernt und war in einer früheren Phase meines Lebens offizieller Anhänger, bin es aber nicht mehr. Mein Ziel ist es, einige Dinge, die ich aus der buddhistischen Praxis gelernt habe, zu vermitteln und sie mit anderen Quellen der Inspiration in Beziehung zu setzen, und nicht, buddhistische Tradition an sich zu fördern.
Andererseits handelt es sich auch nicht um ein wissenschaftliches Buch in der Tradition buddhistischer Studien, auch wenn es eine ernsthafte akademische Argumentation liefert. Wie bereits erwähnt, will ich nicht den „wahren“ oder „historischen“ Buddha durch Textanalyse oder irgendeine andere Methode enthüllen. Ich beziehe mich auf Texte über Leben und Lehren des Buddha (hauptsächlich die aus dem Pali-Kanon), um Quellen der Inspiration zu erschließen. Ich versuche nicht, irgendetwas mittels Autorität zu beweisen, sei es explizit oder implizit. Dieser Punkt sollte zu Beginn betont werden, da er von Lesenden, die mit dem traditionellen Buddhismus und seiner Gelehrsamkeit vertraut sind, beim Lesen dieses Buchs leicht vergessen zu werden scheint. An keiner Stelle sollte in meine Argumente ein Berufen auf Autorität hineininterpretiert werden und aus meiner Textauswahl sollte nicht gefolgert werden, dass ich diesen mehr historische Autorität bemesse als anderen.
Im Allgemeinen wähle ich aus, was gemeinhin als frühere Texte angesehen wird, weil diese meist eine klarere, konsistentere und ausgewogenere Sicht auf den Buddha bieten, nicht wegen ihres Alters an sich. Statt nach einem „Beweis“ im Sinne der Tradition oder ihrer akademischen Interpretation suche ich nach einer praktisch hilfreichen Interpretation dessen, was uns die Traditionen über den Buddha berichten. Kulturelle Akzeptanz ist daher auch ein Faktor bei meiner Auswahl von Texten, weil ich hilfreiche Interpretationen von Texten, die bereits eine tiefe Bedeutung für Menschen haben, fördern möchte.
Daher werde ich meist mit übersetzten Texten arbeiten, die englischen Lesenden zur Verfügung stehen. Ich werde mich nicht allzu sehr auf Fragen zur Herkunft oder zu den Übersetzungen dieser Texte einlassen. Der Grund dafür ist nicht, dass ich mir der sprachlichen und textuellen Fragestellungen, die die Texte begleiten, nicht bewusst wäre (ich habe Pali in Cambridge beim großen Gelehrten K.R. Norman studiert). Vielmehr bin ich der Meinung, dass diese Fragestellungen in den meisten Fällen wenig praktische Bedeutung haben. Nur wenn wir die Autorität religiöser Texte verabsolutieren und unterstellen, sie seien die unumstößliche Quelle der Wahrheit, müssen wir uns unangemessene Sorgen um ihre Authentizität machen. Wie ich darlegen werde, schließt die konkret praktisch hilfreiche Botschaft des Mittleren Wegs an sich eine solch absolute Autorität von Texten aus.
Ich bin in erster Linie ein praxisorientierter Philosoph und weniger ein Gelehrter. Ich bin für die bisherigen Arbeiten der Gelehrten bei der Übersetzung der buddhistischen Schriften dankbar. Dennoch führte mich meine Erfahrung mit buddhistischer Gelehrsamkeit zur Einsicht, dass ihre übliche Wirkung oft unnötig konservativ ist. Indem sie die Aufmerksamkeit der Menschen ständig auf Fragen der Sprache und historischen Autorität von Texten lenkt, bestärkt sie den wenig hilfreichen Glauben, wir sollten diesen Texten als Quellen des Glaubens eine übergeordnete Autorität verleihen. Meiner Erfahrung nach vermeiden es Gelehrte gewöhnlich, den praktischen Inhalt von Texten kritisch zu untersuchen oder ihn gar symbolisch zu würdigen.
Ich interessiere mich für den praktischen Inhalt der Texte in Hinblick darauf, was sie uns sagen können, was uns helfen wird, unser Leben zu entwickeln und zu verbessern. Auf viele andere Materialien zu Texten kann und sollte verzichtet werden – nicht erst, wenn die Texte als Quellen anerkannt wurden, sondern schon lange bevor die Auseinandersetzung mit ihnen zum Selbstzweck wird. Natürlich ist es immer möglich, dass wir uns bei der Interpretation alter Texte irren (was uns übrigens auch bei modernen Texten passieren könnte). Ein nachvollziehbarer Ansatz, den Bedeutungsumfang entscheidender Pali-, Sanskrit- oder anderer Wörter zu verstehen, reicht jedoch aus, ehe es zum Selbstzweck wird. Wir sollten einen Punkt erreichen, an dem es anerkanntermaßen weit wichtiger ist, eine praktisch hilfreiche Interpretation zu finden als eine, die bloß durch eine wie auch immer gerechtfertigte „Genauigkeit“ bestimmt wird.
Ich mache mich an diese Aufgabe, kurz nachdem ich etwas Ähnliches in Bezug auf das Christentum fertiggestellt habe (Der christliche Mittlere Weg{1}). Sollten Sie glauben, der Mittlere Weg sei im Wesentlichen buddhistisch, sehen Sie sich bitte meine Ausführungen über das Christentum an, um durch Gegenbeispiele widerlegt zu werden. Dort habe ich in ähnlicher Weise eine Interpretation der Evangelien und der Schöpfungsgeschichte der Genesis dargeboten, die sich an der praktisch hilfreichen Bedeutung, die wir daraus gewinnen können, orientiert. Ich habe den Kontext in ausreichendem Maße berücksichtigt, um eine kohärente Interpretation des Texts zu liefern, aber ohne in irrelevante wissenschaftliche oder sektiererische Dispute hineingezogen zu werden. Der Mittlere Weg kann in Hinblick auf jegliche Tradition dargelegt werden, unabhängig davon, ob es sich um eine religiöse, philosophische, politische oder künstlerische handelt, er ist nicht die alleinige Domäne oder das Monopol irgendeiner Tradition. Allerdings befassen sich Traditionen in sehr unterschiedlichem Ausmaß mit ihm („Der Mittlere Weg im Nationalsozialismus“ wäre wohl eine ziemlich überschaubare Untersuchung).
In diesem Buch ziele ich also darauf ab, die Elemente des Mittleren Wegs, die ich in den Traditionen über den Buddha finde, zu untersuchen und nicht unkritisch irgendeinen buddhistischen Standpunkt zum Mittleren Weg zu übernehmen. Wie jede Tradition wartet der Buddhismus mit Elementen des Mittleren Wegs auf, mit deren Hilfe er Bedingungen, auf die er trifft, gerecht wird, fällt aber andererseits in Dogmen zurück. Um diese Elemente in einer Tradition zu unterscheiden, ist ein kritischer Prozess unabdingbar. Dennoch ist bei der Betrachtung des Buddhismus eine besondere Wertschätzung, wie weit und wie explizit die buddhistische Tradition den Mittleren Weg befördert hat, angebracht.
An wen richtet sich also dieses Buch? Ich erwarte, dass hauptsächlich Buddhisten es lesen werden. Diese Buddhisten müssen offen dafür sein, den Buddha auf am Mittleren Weg ausgerichtete Weise zu verstehen. Das heißt, geleitet vom praktischen Wert der Lehren und der Notwendigkeit, abstrakte Absolute zu vermeiden. Ich hoffe, dass Sie dann in der Lage sein werden, solch eine praktische Lesart der Bedeutung des Buddha zu übernehmen oder sich zumindest davon beeinflussen zu lassen. Dabei wird ihnen eine neue Ressource an die Hand gegeben, um einerseits traditionalistischem Dogma und andererseits wissenschaftlicher Zerstreuung entgegenzuwirken. Es ist durchaus möglich, sich von Buddhas Mittlerem Weg in einer Weise inspirieren zu lassen, die wir mit allen Menschen, ob Buddhisten oder nicht, gemeinsam haben. Auf diese Weise können wir auch die Bedeutung dieser Inspiration auf eine Weise verstehen, die über den Mittleren Weg mit der Inspiration und Ausrichtung anderer diskursiver Traditionen kompatibel ist.
Dieses Buch könnte aber auch für Menschen von Interesse sein, die keine Buddhisten sind, die von der Vorherrschaft traditioneller Autorität und Dogmen im Buddhismus abgeschreckt wurden. Ich hoffe, dieses Buch kann diesen Menschen helfen herauszufiltern, was für ihr Leben in der buddhistischen Tradition am hilfreichsten und relevantesten ist, und dessen Beziehung zu dem, was in anderen Traditionen zu finden ist, besser zu erfassen. Auch hier sollte Menschlichkeit an erster Stelle stehen und buddhistische Tradition dahinter. Dinge auf diese Weise anzugehen kann Menschen helfen, sich mit der buddhistischen Tradition auseinanderzusetzen, die dies sonst nicht tun würden.
Das Buch beginnt daher mit den grundlegenden Erzählungen über das Leben und die Lehren des Buddha. Diese werden aus ihrem ursprünglichen Kontext entnommen mit besonderem Augenmerk auf ihre praktischen Einsichten in Hinblick auf den Mittleren Weg. Die Erörterung einiger der bekanntesten Analogien des Buddha und des Achtfachen Pfads soll ebenfalls dazu beitragen, eine vom Mittleren Weg geleitete Interpretation einiger anderer buddhistischer Schlüssellehren zu bieten. In diesem Zusammenhang muss ich mich dann unweigerlich eingehender und kritischer mit den Beschränkungen der traditionellen buddhistischen Lehre befassen und der Art und Weise, wie sie sich entwickelt hat, was offensichtlich im Widerspruch zum Mittleren Weg steht. Sehr oft ist dies eine Frage der Interpretation, aber dennoch muss klar anerkannt werden, dass einige sehr verbreitete Interpretationen buddhistischer Lehre mit dem Mittleren Weg unvereinbar sind. Diese Kritikpunkte waren das Thema meines früheren Buchs, The Trouble with Buddhism{2}. In diesem Buch versuche ich jedoch, diese Kritikpunkte viel umfassender in den breiteren Kontext einer konstruktiven Darstellung der wertvollen Ressourcen zu setzen, die buddhistische Lehren bieten.
Der letzte Teil des Buches zieht Parallelen zwischen Buddhas Mittlerem Weg und einer Reihe anderer möglicher Modelle für den Mittleren Weg. Einige von ihnen gehen auf die antike Philosophie und Religion zurück, aber die meisten gründen sich auf neuere Erkenntnisse wissenschaftlicher Theorie. Selbst diejenigen, die sich anfangs hauptsächlich ausschließlich für den Buddha interessierten, sollten das Buch dann im Bewusstsein der vielfältigen Formen, die der Mittlere Weg annehmen kann, und seiner vielfältigen Ausdrucksformen menschlicher Erfahrung zu Ende lesen.
In diesem ersten Abschnitt dieses Buchs werde ich mich mit der überlieferten Lebensgeschichte des Mannes auseinandersetzen, der bekannt wurde als der „Buddha“ oder Erwachte – Siddhartha, bis zum Augenblick, den die Buddhisten als seine Erleuchtung oder sein Erwachen bezeichnen. Meine Hauptquelle für diese Schilderung ist der Pali-Kanon, mit gelegentlichen Verweisen auf die spätere und viel ausführlichere Darstellung in Ashvaghoshas „Taten des Buddha“ aus dem 1. Jahrhundert{3}. Der nordöstliche Teil des indischen Subkontinents vor etwa 2.500 Jahren bildet den Handlungsrahmen.
Es ist eine Geschichte, wenn auch eine symbolisch bedeutungsvolle Geschichte. Die Geschichte wuchs beim Erzählen, aber ich habe versucht, bei ihren einfacheren und grundlegenderen Elementen zu bleiben, wie sie im Pali-Kanon zu finden sind. Im Großen und Ganzen handelt die Geschichte von einem Prinzen, der ein überbehütetes Leben führte, der mit diesem Leben unzufrieden wurde, ausstieg und im Wald nach religiöser Wahrheit suchte. Im Wald wurde er jedoch auch unzufrieden mit den Antworten, die ihm gegeben wurden. Er fand dann nur noch einen weiteren Weg vorwärts, nämlich indem er sich zwischen den Extremen, symbolisiert durch Palast und Wald, bewegte.
Ich möchte hier nur die Bedeutung dieser Erzählung untersuchen, nicht ihre Historizität. Zur Untersuchung dieser Bedeutung skizziere ich die Ähnlichkeiten zwischen der Situation Siddhartha Gautamas und der jedes anderen Menschen. Ich werde auch Parallelen zwischen der damaligen Situation und der heutigen ziehen, in der Buddhas Mittlerer Weg nunmehr verstanden und angewandt werden soll. Die Dinge, die ich über die Bedeutung der Erzählung zu sagen habe, wären von genauso großem Wert, wenn sich die ganze Geschichte als reine Fiktion erweisen würde.
Die Universalität dieser Erzählung wird in der buddhistischen Tradition dadurch unterstrichen, dass sie nur als eine von zahlreichen, sich wiederholenden Geschichten betrachtet wird. Diese Geschichten handeln von der Entwicklung aufeinanderfolgender Buddhas in aufeinanderfolgenden vergangenen Äonen. Diese vergangenen Buddhas sollen in ihren Grundzügen die gleiche Geschichte haben, die nur in geringfügigen Details abweicht. Tatsächlich finden sich viele Details der weitverbreiteten Erzählung über Siddhartha Gautama nur im Pali-Kanon als Teil einer Erzählung über einen früheren Buddha, Vipassi{4}. Lassen wir hier die Glaubensinhalte über Geschichte und Kosmologie beiseite und betrachten wir, was diese Wiederholung der Geschichte uns heutzutage sagt. Es geht in erster Linie darum, dass der von einem Buddha gewählte Entwicklungspfad für jeden zu jeder Zeit und an jedem Ort zugänglich ist. Wir sollten daher nicht davon ausgehen, dass Siddhartha Gautamas eigener Pfad einzigartig ist oder an die spezifischen Vorgaben einer Kultur oder Religion gebunden ist.
Dieser Erzählung wurde von Buddhisten zu Recht eine besondere (aber nicht einzigartige) Bedeutung beigemessen. Dies begründet sich darin, was sie uns über das Menschsein und die beste Art und Weise, auf diesen Umstand zu reagieren, zu sagen hat, obgleich es wohl auch andere Wege gibt, dieselben Punkte zu vermitteln. Lassen Sie also bitte nicht zu, dass irrelevante kulturelle Vorgaben Ihr Verständnis dieser universell bedeutsamen Geschichte beeinträchtigen.
Stellen Sie sie sich an einer Schwelle stehend vor. An der Schwelle könnten Sie Ihre schmutzigen Stiefel ausziehen. Bitte entledigen Sie sich zusammen mit Ihren matschigen Stiefeln jeglicher Besessenheit von einer unerreichbaren historischen „Wahrheit“ (die Sie ermutigen würde, sich Siddharta als einzigartig bedeutsam zu widmen, was er nicht ist). Befreien Sie sich auch von der Abhängigkeit gegenüber der Autorität der buddhistischen Tradition oder ihrer Lehrer (was Ihren Geist gegenüber der Universalität der Geschichte verschließen würde – eine Geschichte, nicht nur für Buddhisten). Wenn Sie diese Dinge einstweilen am Eingang ablegen, können Sie sie auf dem Weg nach draußen jederzeit wieder mitnehmen, wenn Sie möchten, aber im Haus wären sie nur störend. Sie betreten jetzt das Haus der Bedeutung, in dem es uns einzig und allein um die praktische Bedeutung der Erzählung für unser Leben geht.
Siddhartha Gautama soll ein Prinz gewesen sein, der in einem Palast im Land der Shakya, nördlich des Ganges-Tals, wohlbehütet aufwuchs. Ashvaghosha berichtet ausführlich über den Luxus und Komfort dieser Umgebung. Der Pali-Kanon gibt zwar eine wesentlich kürzere Darstellung, die jedoch ausreicht, um uns einen tiefen Eindruck davon zu vermitteln:
Ich wurde fein erzogen, ihr Mönche; höchst fein, überaus fein war meine Erziehung. Im Haus meines Vaters wurden Lotosteiche angelegt: in einem blühten blaue Lotosblumen, in einem anderen weiße Lotosblumen und in einem dritten, rote Lotosblumen, nur zu meinem Vergnügen. Ich verwendete nur Sandelsalbe aus Benares und meine Kopfbedeckung, meine Jacke, mein Untergewand und meine Tunika waren aus Benares Musselin. Tag und Nacht wurde ein weißer Schirm über mich gehalten, damit mich Kälte und Hitze, Schmutz oder Tau nicht bekümmerten. Ich hatte drei Paläste: einen für den Sommer, einen für den Winter und einen für die Regenzeit. Während der vier Monate des Regens wurde ich im Palast für die Regenzeit von Musikerinnen unterhalten und ich verließ in diesen Monaten nicht den Palast. Während in den Häusern anderer Leute Diener und Sklaven eine Mahlzeit aus Bruchreis und saurem Haferbrei erhielten, wurde ihnen im Haus meines Vaters Reis und Fleisch nach Belieben angeboten.{5}
Die Lotosteiche und Paläste suggerieren überbordenden Reichtum, die Kleidung Luxus und Komfort, der Schirm Überbehütung, die Tatsache, dass er den Palast während der Regenzeit nicht verließ, Isolation. Es gibt ein Anklingen sexueller Schwelgerei bei den „Musikerinnen“, das bei Ashvaghosha{6} zu einem ganzen Kapitel sexueller Versuchung exzessiv ausgearbeitet wurde. Es gibt auch Großzügigkeit oder zumindest Freigiebigkeit bei der Behandlung der Dienerschaft im Vergleich zur gesellschaftlichen Norm der damaligen Zeit.
Auch wir sind Siddhartha Gautama. Wenn wir die volle Bedeutung einer Geschichte erfassen wollen, die aus einem zeitlich und räumlich entfernten Kontext stammt, müssen wir ihre Bedeutung in Bezug auf unsere eigene Erfahrung in jeder Phase untersuchen. Was ist in diesem Zusammenhang unser Palast?
Der augenscheinlichste Aspekt des Palastes ist Reichtum und Luxus, was Buddhisten über Jahrhunderte hinweg mit Maßlosigkeit in Verbindung gebracht haben. Wir könnten diese Maßlosigkeit mit dem konsumorientierten Lebensstil all derer vergleichen, die es in der heutigen Welt zumindest bequem oder es besser haben. Wir mögen keine drei Paläste haben, aber wir können uns zerstreuen, indem wir an verschiedene Orte in Urlaub fahren, an denen es neue Vergnügungen gibt. Wir mögen keine Bediensteten haben, aber Maschinen erledigen einen Großteil der Arbeit, die diese in der damaligen Zeit geleistet hätten. Wir mögen keine drei Lotosteiche haben, aber wir haben maßgeblichen Einfluss auf unsere häusliche Umgebung, können sie gestalten, wie wir es wünschen. Wir können diesen Einfluss auf unsere konkrete Umgebung auch zunehmend auf virtuelle Umgebungen ausdehnen, in denen es quasi unbegrenzte Möglichkeiten zur Wunscherfüllung gibt. Wir mögen keine „Musikerinnen“ haben, aber wir haben Musik, Dating-Apps, sinnliche Filme und sogar Pornografie zur Verfügung, wann immer wir wollen.
Gleichwohl ist es nicht die physische Umgebung des Palastes an sich, die dessen umfassende Bedeutung ausmacht. Vielmehr sind es die kulturellen Prägungen und gewohnheitsmäßigen psychischen Zustände, die sie begleiten. Diejenigen, die in einer armen Gesellschaft reich sind, müssen ihren Reichtum in besonderem Maße schützen. Da sich ihr Leben so sehr von anderen in ihrer Umgebung unterscheidet, entwickeln sie auch ideologische Mittel, um diese Werte zu verteidigen. Wie Marx herausstellte, werden die sozialen und wirtschaftlichen Interessen derer, die Reichtum und Ressourcen kontrollieren, oft durch die Kontrolle über Lehren aufrechterhalten, die dem Rest der Gesellschaft durch soziale Konditionierung von Kindesbeinen an eingebläut werden.
Es gibt zwei leicht unterschiedliche Vorgehensweisen, um solch eine herrschende Ideologie aufrechterhalten zu können. Eine Methode besteht darin, seine privilegierte Position mit einer universellen Quelle von absolutem Wert zu legitimieren – Gott hat sie verliehen, sie ist „natürlich“ oder „unumgänglich“. Eine andere besteht darin, seine Position als eine nur für sich und seine Gruppe in einzigartiger Weise gerechtfertigte darzustellen. Das bedeutet, unterschiedliche Werte anzuführen, die unterschiedliche Positionen für verschiedene Gruppen festlegen („es ist unsere gewohnte Praxis, derartige Dinge zu tun, auch wenn die Gewohnheiten anderer sich davon unterscheiden“). Diese beiden Ansätze sind nicht immer völlig voneinander zu trennen, weil natürlich unterschiedliche Werte als Teil eines größeren letztendlichen Werts beansprucht werden können. Wie dem auch sei, die Ideologie verhindert, das unangenehme Fragen, hinsichtlich möglicher Veränderung der Gesellschaftsordnung aufgeworfen werden.
In Siddhartha Gautamas Umfeld scheint es in der Gesellschaft bereits konkurrierende Werte gegeben zu haben. Wir wissen dies schlicht aufgrund der zahlreichen Debatten, die der Buddha später mit Vertretern verschiedener anderer Sichtweisen führte, die alle im Pali-Kanon niedergeschrieben sind. Wo es unterschiedliche Werte gibt, ist es für die herrschenden Klassen schwieriger, einfach zu behaupten, dass ihre Position gottgegeben, natürlich und notwendig sei. Die Alternative besteht jedoch darin, sich überhaupt nicht mit universellen Fragen zu beschäftigen, sondern die eigenen Werte auf einen bestimmten, begrenzten Kontext zu gründen. Je isolierter oder abgeschirmter dieser Kontext ist, desto leichter ist es, diese begrenzten Werte als die einzig denkbaren aufrechtzuerhalten. Die abgeschirmte Lebensweise von Siddhartha im Palast stellt eine Möglichkeit dar, Überzeugungen gegen Kritik zu immunisieren.
Eine moderne Analogie dazu ist vermutlich weniger geographische Isolation, sondern vielmehr der „Echokammer“-Effekt in sozialen Medien. Dieser Effekt entsteht dadurch, dass Menschen in sozialen Medien nur die Inhalte sehen, die für sie ausgewählt wurden – entweder gezielte Werbung oder Freunde, die sie ausgewählt haben, weil sie wie sie sind, oder ihre Interessen teilen. Wenn Menschen nicht mit gegensätzlichen Ansichten in Kontakt kommen und sich mit diesen auseinandersetzen müssen, sehen sie ihre Annahmen als die einzig möglichen und vernünftigen an. Einmal mehr scheint der Palast Kernelemente des modernen Lebens zu repräsentieren: nicht nur konsumorientierte Bequemlichkeit, sondern auch intellektuelle Isolation.
Als Produkt dieser Umstände repräsentiert der Palast auch die Überzeugung, dass es keinen besseren oder universelleren, über den spezifischen Kontext hinausgehenden Wert gibt, an dem man arbeiten kann. Der Palast ist somit ein tief konventioneller Ort, an dem die Werte der königlichen Familie absoluten Vorrang haben. Diese Konventionalität ist möglicherweise sehr stark mit Pflichten verbunden und ritualisiert, wie es bei der britischen Königsfamilie oft dargestellt wird. Dennoch könnte sie auch ein hohes Maß an hedonistischer Genusssucht befördern, wie sie in Ashvaghoshas weiterentwickelter Version von Buddhas Lebensgeschichte dargestellt wird.
Der Glaube, es gebe keine berechtigten Werte, die höher als Konvention sind, ist Relativismus, den ich als eine Ansicht verstehe, dass kein bestimmter Wert besser gerechtfertigt ist als irgendein anderer. Man kann sich vorstellen, dass Siddhartha von seinen Eltern, anderen Verwandten oder sogar treuen Dienen gedrängt wird, „ein anständiger Prinz“ zu sein. Das würde bedeuten, die Werte seiner Vorväter allein auf Grund seiner Position aufrechtzuerhalten. Sie würden sagen, ein Priester oder religiös Suchender zu sein, mag für andere das Richtige sein, aber nicht für dich. Es gibt kein allgemeineres moralisches Ziel, das alle Menschen einschließen sollte, würden sie unterstellen, es gibt nichts Höheres, das man anstreben kann.
Wiederum ist dieser Relativismus ein Standardmerkmal modernen Lebens. Um Konflikte zu entschärfen, greifen wir nur allzu gerne darauf zurück, wenn wir Menschen mit anderen Wertvorstellungen treffen: „Es ist OK für dich, aber nicht für mich.“ Hindus können arrangierte Ehen eingehen, Muslime Halal-Fleisch essen und Vietnamesen Hunde – nicht meine Gepflogenheit, aber jedem das Seine. Solch eine Haltung mag oft nur in angemessener Toleranz gegenüber harmlosen Unterschieden bestehen, aber sie kann auch eine weitere Bewertung oder Beurteilung unterbinden, wenn diese vonnöten sind. Relativismus mag weniger selbstverständlich gegenüber Nazis sein, die Juden massakrieren oder gegenüber Verstümmlern weiblicher Genitalien in vielen Teilen des heutigen Nordafrikas. Wir können es uns nicht leisten, die Möglichkeit, zu urteilen, zu unterbinden.
Wir stellen nun fest, dass der Palast nicht für einen einzelnen Glauben oder eine Glaubensrichtung steht, sondern für eine ganze Reihe voneinander abhängiger. Es gibt Maßlosigkeit, aber diese Maßlosigkeit braucht die Unterstützung einer isolierten Konventionalität. Diese Konventionalität ist auch in der Lage, jeglichen Konflikt mit anderen Werten durch Relativismus abzuwehren.
Vielleicht haben Sie auch bemerkt, dass diese Werte in recht enger Beziehung zu dem stehen, was oft als ihr Gegenteil angesehen wird. Gerade die Tatsache, dass diese Werte und ihre Gegenteile voneinander getrennt werden und nicht hinterfragbar sind, ist das Bedeutsamste an ihnen. Es wäre überhaupt nicht schwer, sich Siddhartha in Folge der Isolation als streng und pflichtbewusst vorzustellen, wie es viele Palastbewohner tatsächlich waren. Die Konventionalität könnte auch genauso gut mit Absolutismus wie mit Relativismus in Verbindung gebracht werden. Die Palastbewohner könnten also davon überzeugt sein, im Besitz universeller Wahrheit (über Gottes Gebote oder die Natur oder was auch immer) zu sein und, dass dies ihnen ihre erhabene gesellschaftliche Stellung verleiht.
Letztlich ist das Bedeutsamste am Palast dessen Verhältnis zur Macht. Die Machthaber werden eine Ideologie aufrechterhalten, mit deren Hilfe sie ihre gesellschaftliche Stellung behaupten können. Macht wird erhalten, indem alternative Ansprüche derer, die sie anfechten könnten, nicht mehr gelten. Wir erhalten Macht über andere oder unterdrückte Teile unserer selbst, indem wir uns weigern, alternative Werte anzuerkennen, die diese Macht angreifen könnten. Der Palast ist an der Macht und er bleibt es, indem er sich isoliert und den Glauben aufrechterhält, das müsse so sein.
Solange wir uns sicher fühlen, gibt es nur wenig Beweggründe, unsere Einstellungen zu ändern. Wir neigen dazu, die Welt im Sinne der willfährigen Weltanschauung zu interpretieren, die diese Sicherheit aufrechterhält. Es braucht schon etwas, das zumindest unbequem und herausfordernd, vielleicht sogar traumatisch ist, um diese Selbstgefälligkeit zu erschüttern und uns zu zwingen, unsere Annahmen zu überdenken. So war es auch bei Siddhartha Gautama. Sein Leben im Palast war solide und sicher, solange es nicht durch von außen einwirkende Bedingungen in Frage gestellt wurde. Aber es wurde in Frage gestellt – in Form der sog. „Drei Erkenntnisse“ oder „Vier Zeichen“.
Die „Drei Erkenntnisse“ werden im Pali-Kanon als Teil der Erzählung über Siddhartha dargelegt. Die „Vier Zeichen“ hingegen finden sich nur als Teil der Erzählung über Vipassi, den früheren Buddha eines vergangenen Zeitalters. Die „Drei Erkenntnisse“ bestehen nur in neuen Gedanken, die Siddhartha in Form einer Einsicht kommen, dass seine Standpunkte zu Altern, Krankheit und Tod unangemessen sind. Es gibt einige wichtige Gegebenheiten, die sein Leben im Palast ausblendet, und ihm eröffnen sich, möglicherweise im Eiltempo, unterdrückte Erkenntnisse.
Inmitten solcher Pracht und eines völlig unbeschwerten Lebens, ihr Mönche, kam mir dieser Gedanke: „Ein unkundiger Weltling, obwohl selbst dem Alter unterworfen, ohne dem Alter entrinnen zu können, fühlt sich abgestoßen, beschämt oder angewidert, wenn er einen alten oder gebrechlichen Menschen sieht, lässt seine eigene Situation dabei außer Acht. Doch auch ich bin dem Altern unterworfen, kann dem Altern nicht entgehen. Wenn ich beim Anblick eines alten und gebrechlichen Menschen abgestoßen, beschämt oder angewidert wäre, wäre dies nicht angemessen für jemanden wie mich.“ Als ich so dachte, Mönche, schwand all mein Stolz auf meine Jugendlichkeit.{7}
Genau das gleiche wird dann über die Einstellungen zu Krankheit (beseitigt Siddharthas „Stolz auf seine Gesundheit“) und Tod (beseitigt seinen „Stolz auf sein Leben“) gesagt. Besonders interessant an dieser Fassung ist, dass sie sich nur auf die Erkenntnis Siddharthas konzentriert, dass er sich nur wegen begrenzter Bewusstheit vom Alter abgestoßen, beschämt und angewidert fühlt. Er hat Jugendlichkeit, neben Gesundheit, Alter und Leben als gegeben angenommen und seine gegenwärtige Annahme, diese seien dauerhaft, verabsolutiert.
Die „Vier Zeichen“ ist eine alternative Fassung derselben Erkenntnisse. Sie inszeniert die „Drei Erkenntnisse“ so, wie sie Menschen in der Welt jenseits des Palastes erleben. Sie fügt auch eine vierte Person hinzu – einen Shramana oder Hauslosen, religiös Suchenden, der ein neues Modell alternativer Denk- und Lebensweise bietet. Diese Fassung der Geschichte wird im Pali-Kanon über den früheren Buddha Vipassi erzählt{8}. Hier wird die Begegnung des Protagonisten mit Alter, Krankheit und Tod zu einer neuen Erkenntnis, indem sie auf diese Weise nach außen hin in Szene gesetzt wird. Er wird als auf naive Weise damit nicht vertraut dargestellt. Er macht seinen ersten Ausflug mit dem Wagen aus einem Palastmilieu heraus, wo er in völliger Unkenntnis darüber gehalten wurde, dass so etwas wie Altern, Krankheit und Tod überhaupt vorkommt.
Diese Geschichte wird bei Ashvaghosha noch weiter ausgearbeitet. Hier veranlassen die Götter das Erscheinen eines alten Mannes, eines kranken Mannes und eines Leichnams, Siddhartha begegnet ihnen nicht wirklich{9}. In Ashvaghoshas Fassung ist alles eine theatralische Inszenierung oder bloße Scheinwelt, um Siddharthas Gedanken zu manipulieren. Während Siddharthas Eltern alles versuchen, um die gefällige Sicherheit im Palast nicht zu erschüttern, arrangieren die Götter, die das Wohl der Welt anstreben, Gegendarstellungen, um ihn daraus aufzurütteln. Seine Eltern sind entschlossen, Siddhartha wegen einer bei seiner Geburt gemachten Prophezeiung abzuschirmen. Diese Prophezeiung besagte, er würde entweder ein großer König werden oder, wenn er das königliche Leben verließe, stattdessen eine große, erleuchtete Persönlichkeit. Ihr Motiv ist offensichtlich, ihn zu einem großen König zu machen, und auf diese Weise die unkonventionelle und störende Gefahr zu bannen, dass ihr Sohn sich auf eine persönliche spirituelle Suche begibt.
Sehr leicht wird man durch diese Ausgestaltung der Geschichte dazu verleitet, Siddharthas Einsichten hier als Teil einer scheinbar vorbestimmten Entwicklung für die ganze Welt zu betrachten. Aber das große Kino betont lediglich die Bedeutung von Siddharthas Einsichten. Man könnte leicht annehmen, dass sie wichtig sind, weil sie die Grundlage einzigartiger Offenbarungsansprüche in der buddhistischen Tradition bilden. Wenn wir uns jedoch auf die eigentlichen Einsichten konzentrieren, gewinnen sie weit mehr Einfachheit und Universalität. Sie sind wegen dieser Universalität wichtig. Wenn wir anfangen, sie nur in Hinblick auf die Behauptungen einer Tradition zu betrachten, verlieren sie sogar an Bedeutung. Sie werden dann bloß zu entfernten historischen Ereignissen von anthropologischem Interesse innerhalb spezifischer Kulturen.
Die buddhistische Tradition neigt zudem dazu, Siddhartha hier als die Wahrheit des „Leidens“ (Dukkha) erkennend darzustellen, verkörpert durch Vergänglichkeit (Annica). Alter, Krankheit und Tod sind letztlich Veränderungen, die Leiden verursachen, und sie zu verleugnen könnte dazu führen, die Tatsache des Wandels zu ignorieren. Wäre dies tatsächlich alles, hätte die Geschichte immer noch eine universelle Bedeutung. Wahrscheinlich haben wir alle schon einmal den Rausch der Jugend, Gesundheit oder des Lebens empfunden, über den Siddharthas „Erkenntnisse“ ihn hinausführen. Das Versäumnis, das Leid des Wandels zu erkennen, ist jedoch nur eine mögliche Form des umfassenderen Täuschungsmusters, über das Siddhartha hier hinausgeht. Wäre das nicht der Fall, wäre seine Geschichte nicht relevant für diejenigen, die sich konsequent mit Alter, Krankheit und Tod auseinandergesetzt haben, statt ihre Auswirkungen auf uns zu verdrängen. Siddhartha erkennt nicht nur das „Leiden“ – die Bedeutung seiner Erkenntnis hat einen breiteren Geltungsbereich als das. Es ist vielmehr ein Erkennen der Begrenztheit von Verabsolutierung und der Notwendigkeit, eine kritische Haltung einzunehmen, die darüber hinausgeht, unabhängig von der Annahme, die wir verabsolutiert haben. Wir könnten durchaus denken, dass Jugend, Gesundheit oder Leben alles sei. Wir könnten auch denken, dass unsere Nation oder unser geliebter Partner oder katholisches Dogma oder der Sturz des Kapitalismus oder sogar Buddhismus alles sei. Jedes Mal können wir ein böses Erwachen erleben, in dem die Begrenztheit dessen, was wir für das Ganze hielten, plötzlich offenbar wird. Nur wenn wir Siddharthas Drei Erkenntnisse so interpretieren, erhalten wir ein Bild von universeller Relevanz und vollständiger Flexibilität.
Das vierte Zeichen fügt auch ein Element hinzu, das in den Drei Erkenntnissen nicht vorhanden ist – eine Alternative. Nur wenn wir eine Alternative zu den begrenzten zuvor erwogenen Optionen haben, können wir darüber hinausgehen. Wenn wir uns vorstellen, Siddhartha nähme nur die Begrenztheit seiner Annahmen über Jugend, Gesundheit und Leben wahr, ohne eine Alternative Sichtweise zu haben, könnte das Ergebnis lediglich ein Gefühl sein, in der Falle zu sitzen. Negative Gefühle gegenüber unseren Annahmen zu haben, ohne einen Ausweg daraus, könnte quälend sein. In genau diesem Zustand sind wir oft gefangen, wenn wir mit einer Sichtweise unzufrieden sind, die unseren Bedürfnissen nicht mehr gerecht wird. Unsere Erfahrung oder Vorstellungskraft kann dann zu begrenzt sein, um uns über die bloße Verneinung dieser Sichtweise hinauszuführen. Denken Sie an einen religiösen Gläubigen, dessen ganzes Leben auf absoluten Überzeugungen gründete, der dann aber „seinen Glauben verliert“, nicht mehr länger in der Lage ist, diese Überzeugungen aufrechtzuerhalten. Er könnte zu denken anfangen, Gott sei theoretisch unmöglich und absurd. Gleichzeitig aber kann er ohne Gott nur Nichtigkeit sehen – ein Leben ohne die einzige Art von Bedeutung, die er bisher erfahren konnte. Infolgedessen fühlt er sich vor die Wahl gestellt, entweder an einem Glauben festzuhalten, den er intellektuell betrachtet für bankrott hält, oder ihn für eine Welt der Sinnlosigkeit aufzugeben. Welch grausames Los! Aber eins, das nur durch unsere falsche Beschränkung auf zwei gegensätzliche Möglichkeiten (eine Sichtweise und ihre Verneinung) und das Unvermögen, die Möglichkeit der Existenz dritter Optionen auch nur in Betracht zu ziehen, verursacht ist.
Glücklicherweise hat der Buddha eine dritte Option zwischen einem Weiterleben in den allseitigen Zwängen der Palast-Sichtweise und der potenziellen Nichtigkeit, die jenseits des Palastes liegen könnte. Diese dritte Option wird durch die vierte Sichtweise offengelegt:
Als er in den Lustgarten gefahren wurde, sah Prinz Vipassi einen kahlköpfigen Mann, einen, der fortgegangen war, in einer gelben Robe. Und er sagte zum Wagenlenker: „Was ist mit diesem Mann los? Sein Kopf ist nicht wie der anderer Männer und seine Kleidung ist nicht wie die anderer Männer.“
„Prinz, man nennt ihn einen, der fortgegangen ist.“ „Warum nennt man ihn einen, der fortgegangen ist?“
„Prinz, mit einem, der fortgegangen ist, meinen wir einen, der wahrhaft dem Dhamma folgt, wahrhaft Gelassenheit lebt, gute Handlungen ausführt, verdienstvolle Taten vollbringt, harmlos ist und wahrhaft Mitgefühl für lebende Wesen hat.{10}
Es ist der bloße Unterschied zwischen dem Shramana und dem ihm zuvor Bekannten, der das Interesse des Prinzen weckt. Er sieht anders aus und sein andersartiges Aussehen deutet auf einen abweichenden Lebensstil mit abweichenden Annahmen hin. Im alten Indien dürfte dieser Unterschied weit mehr als nur eine andere Berufswahl gewesen sein, vielmehr ist es ein grundlegender Unterschied in Tradition und Kultur. Die Tradition, als hausloser Wanderer fortzugehen, wurde oft mit Urvölkern im alten Indien in Verbindung gebracht – denjenigen, die den dominanten Eindringlingen vorausgingen, von deren Nachkommen Siddhartha Gautama möglicherweise abstammt. Was auch immer die historische Erklärung für kulturelle Unterschiede zwischen Siddharthas Hintergrund und dem des Shramana sein mag, was zählt ist die erstaunliche Tiefe der kulturellen Kluft. Heute wäre möglicherweise die naheliegendste Analogie der Spross eines Mitglieds der sozioökonomischen Elite, der aus Oxford oder Harvard „aussteigt“ und sich einer Gemeinschaft schäbiger Landstreicher anschließt.
Neben der kulturellen Kluft gibt es jedoch auch eine Idealisierung der Shramanas. Was immer dieser Mann macht, er macht es „wahrhaft“. Er wird nicht als eine Person gesehen, die einen Entwicklungsprozess durchläuft, der darauf abzielt, besser und argloser zu sein, sondern einfach als eine absolute Verkörperung von Tugend und Mitgefühl. Die Idealisierung findet sich nicht nur in den Worten des Wagenlenkers, sondern auch in der Eilfertigkeit, mit der Siddhartha hierauf beschließt, denselben alternativen Lebensstil anzunehmen. Obwohl also der Shramana eine echte Alternative bietet, ist es eine idealisierte Alternative. Im Fortgang der Geschichte werden wir sehen, welche weiteren Beschränkungen durch diese Idealisierung entstehen und wie Siddhartha sie überwindet.
Während Siddhartha dieses alternative Leben wählt, indem er aus dem Palast in den Wald „fortgeht“, entwirft er bereits implizit die Vorstufen zur Auseinandersetzung mit dem Mittleren Weg. Er tut dies, obwohl der Mittlere Weg noch nicht explizit Teil seines Denkens ist. Denn der Mittlere Weg beginnt, wo auch immer wir anfangen, und er ist der hilfreichste Pfad, der vor uns liegt. Es mag unmöglich sein, direkt vom Erkennen der Begrenzungen einer Reihe von Annahmen zu einer ausgewogenen Position zu gelangen, in der wir auch die Begrenzungen des Gegenentwurfs sehen. Wir müssen uns von der ersten Palette absoluter Annahmen befreien, bevor wir die zweite mit gegensätzlichen überhaupt klar genug verstehen können. Um uns auf den Mittleren Weg einzulassen, müssen wir also vermutlich damit beginnen, vom anfänglichen Kontext mit all seinem Ballast absoluter Annahmen „fortzugehen“. Dabei ist es schwierig, die Alternative nicht zu idealisieren, weil alle Erwartungen auf ihr lasten.
In Ashvaghoshas erweiterter Fassung des „Fortgehens“ wird der Konflikt auf Grund absoluter Annahmen auf beiden Seiten durch einen zusätzlichen moralischen Konflikt betont. Es wird verdeutlicht, dass Siddhartha durch sein „Fortgehen“ seine Frau und seinen kleinen Sohn im Stich ließ sowie seine Eltern und zukünftige Pflichten. Siddharthas Wagenlenker, Chanda, erinnert ihn an diese sozialen Verantwortlichkeiten und versucht erfolglos, ihn davon abzuhalten, dem weltlichen Leben zu entsagen.{11} Dies bringt heutige Lesende, die sich voll und ganz mit Siddhartha als Helden identifizieren wollen, oft in moralische Konflikte, da er ein für viele heutige Lesende zentrales moralisches Tabu gebrochen hat. Die alten Inder mögen seine Familie zu verlassen, nachsichtiger beurteilt haben (vorausgesetzt, sie wurden von anderen Verwandten versorgt), vor allem, weil sie „Fortgehen“ demgegenüber idealisierten. Für heutige Lesende, die sich schwertun, den universellen, spirituellen Helden zu finden, den sie in solch einer präfeministischen Figur suchen – offensichtlich konsultiert er nicht einmal seine Frau, um ihre Unterstützung und Zustimmung zu erhalten, bevor er sie verlässt - dürfte dies jedoch ein schwacher Trost sein
Es gibt aber eine weitere Lesart des Fortgehens, die diesen Wunsch, Siddhartha zu idealisieren, loslässt. Bei dieser Lesart muss Siddhartha nicht perfekt sein und somit müssen wir seine Fehler nicht wegrationalisieren. Er findet Wege nach vorn, die unweigerlich verworren und unbefriedigend sind, und die Opfer vielerlei Art erfordern. Aber genau in der Verworrenheit dieses Prozesses liegt die Universalität des Mittleren Wegs. Siddhartha stellt in Frage, was er bisher für absolut hielt – die Werte des Palastes. Er hat sein ganzes Leben lang auf diese Werte gesetzt. Um sich von der absoluten Macht dieser Werte zu befreien, muss er das Extrem der Loslösung wählen. Vielleicht können wir uns andere mögliche Wege vorstellen, die er hätte einschlagen können, die kompromissorientierter gewesen wären. Wäre es so schwierig gewesen, vorerst im Palst zu bleiben, während er Alternativen kennenlernt und sogar seine Macht im Palast nutzt, um schrittweise seine Werte zu verändern? Aber wahrscheinlich hätte Siddhartha dies nicht praktisch umsetzen können. Stattdessen würde seine psychische Gewöhnung an die Werte des Palastes ihn weiterhin beherrschen. Nur durch seine Flucht und zunächst, indem er das Extrem gegensätzlicher Werte ausprobiert, kann er verhindern, in die alles verzehrende, absolute Umgebung, die ihn umgibt, hineingezogen zu werden. Um wegzukommen, muss er Opfer bringen, selbst solche, die sich auf andere auswirken, und es kann sich durchaus als Fehler erweisen oder als etwas, das man später bereut. Alles, was wir also tun können, ist zu versuchen, die Gesamtheit der Bedingungen zum Zeitpunkt unseres Urteils zu berücksichtigen. Wenn wir nur einer starren moralischen oder sonstigen Regel folgen, könnten wir wichtige Bedingungen außer Acht lassen.
Ein universeller Wert, den die Vier Zeichen vermitteln, ist Vorläufigkeit. Wenn unsere Urteile nur vorläufig sind, können wir eine kritische Sichtweise auf unsere gewohnheitsmäßigen Annahmen einnehmen (wie durch die Drei Erkenntnisse verdeutlicht). Entscheidend ist jedoch, dass wir auch neue Alternativen erkennen und in Betracht ziehen können (wie durch das Vierte Zeichen verdeutlicht).
Indem Siddhartha über einen verabsolutierenden Kontext hinausgeht, in dem er gezwungen wäre, in der alten Weise zu denken, schließt sein „Fortgehen“ auch den ersten Schritt anderer grundlegender Prinzipien ein, die ich (im weiteren Verlauf) als Aspekte des Mittleren Wegs erörtern werde. Dazu gehört Skepsis, mit der wir unseren fehlbaren, menschlichen Status anerkennen und so die Gewissheiten in Frage stellen, die wir nur übernommen haben, weil wir diese Fehlbarkeit in der Vergangenheit ignoriert haben. Dazu gehört auch die Integration, die eigentliche Konfliktbewältigung, indem wir über festgefahrene Positionen hinausgehen, entweder bei uns oder anderen. Fest verwurzelte Spaltungen zu beseitigen ist relativ einfach, wenn wir bereits zivilisierte Bedingungen für Dialog und Reflexion geschaffen haben. Es ist sehr viel schwieriger, wenn wir durch die Macht einer Gruppe gefangen sind, die enormen Druck auf uns ausübt, damit wir weiterhin in einer bestimmten absoluten Weise, in Übereinstimmung mit ihren Werten denken. Der erste Schritt zur Integration muss darin bestehen, uns von den Werten dieser Gruppe so weit zu trennen, dass ein breiteres Bewusstsein entstehen kann. In dieser Phase hat Siddhartha sowohl in Hinblick auf seine Skepsis als auch auf seine Integration noch Wegstrecke vor sich, aber er beginnt, sie implizit zu erkennen und anzuwenden.
Dieser erste Schritt ist wahrscheinlich der schwierigste und riskanteste des Mittleren Wegs. Er macht uns anfällig für Frustration, Ablehnung, Spott, moralische Ächtung oder fast jede Strafe, die uns die Gruppe auferlegen kann. Es ist zugleich der schwierigste Schritt, sich sicher oder gelassen zu fühlen, wenn wir ihn gehen, weil wir immer noch von absolutem Denken herumgeschubst werden. Wir haben vielleicht nur ein schwaches und vorläufiges Bewusstsein unserer umfassenderen Erfahrung.
Es gibt aber immer einige Mutige, die bereit sind, diese ersten Schritte zu gehen. Denken Sie an den Whistleblower, der Korruption in einer großen und mächtigen Organisation aufdeckt. Denken Sie an den Priester, der die Grundannahmen seiner Kirche zu überprüfen beginnt und riskiert, seinen Gläubigenstatus zu verlieren, den er sich während seines ganzen Lebens und seiner Karriere aufgebaut hat. Denken Sie an den Junioroffizier, der beschließt, Befehle zu missachten, auf die Gefahr hin, wegen Hochverrats hingerichtet zu werden. Diese Menschen sind sich weder bewusst, Helden zu sein, noch wissen sie, dass es gut ausgehen wird. Dennoch gehen sie Risiken ein – sie blicken über den eigenen Tellerrand hinaus und wagen es, anders zu denken. Auf diese Weise bleiben sie mit dem Kern moralischer Motivation verbunden, auch wenn sie Regeln missachten. „Fortgehen“ kann für all das stehen, wenn wir unseren Geist für diese Inhalte öffnen, und sie nicht nur für Handlungen des zur Erleuchtung vorbestimmten Buddhas halten. Man sollte das „Fortgehen“ lieber als Fehler betrachten, als es im Nachhinein zu rechtfertigen, denn seine Hauptbedeutung liegt in der Bereitschaft, Fehler zu machen.
Der „Wald“ repräsentiert die unkultivierten, unzivilisierten Gebiete, die im alten Indien offensichtlich wesentlich ausgedehnter waren als heute. Wenn man sich nun im Wald aufhält, beginnt man, sich jenen Erfahrungsbereichen zu stellen, die zuvor von kultivierten Konventionen und Annahmen verdrängt wurden. Der Wald wird oft mit Angst assoziiert – vor wilden Tieren, Verhungern, Orientierungslosigkeit. Daher ist er auch der beste Ort, um seinen Ängsten zu begegnen sowie zu beginnen, diese zu integrieren{12}. Diejenigen, die „fortgehen“ in die „Hauslosigkeit“, sollten die Möglichkeit schaffen, die üblichen Annahmen der menschlichen Gesellschaft hinter sich zu lassen. Zusammen mit diesen schwinden Sicherheit und Schutz der von der Gesellschaft geschaffenen Umwelt, auch wenn sie de facto nahe genug bei menschlichen Behausungen bleiben müssen, um Nahrung zu erhalten.
Es gibt heutzutage vielfältige Möglichkeiten, wie Menschen in den „Wald“ „fortgehen“, um gleichermaßen Befreiung von sozialen Vorgaben zu erlangen und dadurch ihr Bewusstsein über die Grenzen ihres sozialen Kontexts hinaus zu erweitern. So gibt es Wildnis-Erfahrungen und -Entdeckungsreisen, individuelle und gemeinschaftliche Retreats, Wanderungen und Pilgerreisen – ob lang oder kurz, „religiös“ oder „säkular“. Religiöse Gebäude wie Kirchen, Moscheen und Tempel erinnern in ihrer Konstruktion und Raumnutzung oft an den Wald. Sie bieten Inseln der Besinnung inmitten der obsessiven Atmosphäre moderner Städte. In gewisser Weise können Museen, Kunstgalerien, Gärten und Parks die gleichen Möglichkeiten bieten. Sogar Zuhause kann ein Meditations- oder Gebetsraum, ein Arbeits- oder Schlafzimmer einen Raum schaffen, in dem der Druck sozialer Erwartung und Glaubensvorstellungen vorrübergehend aufgehoben werden kann. Wir können in größerem oder kleinerem Rahmen fortgehen, anfangs vielleicht zur Entspannung. Durch Entspannung wird jedoch die Vorstellungskraft wiederhergestellt und wieder geöffnet und es können alternative Sinngehalte entstehen, so dass wiederum alternative Überzeugungen möglich werden.
Siddhartha Gautama ging jedoch sehr entschlossen und idealistisch in den Wald fort. Anstatt sich vorübergehend dorthin zu begeben, um eine andere Perspektive auf sein übliches Leben zu gewinnen, gab er dieses frühere Leben vollständig auf:
… Obwohl meine Mutter und mein Vater es sich anders wünschten und heftig weinten, rasierte ich mir Haare und Bart ab, zog die gelbe Robe an und ging fort aus dem häuslichen Leben in die Hauslosigkeit.{13}
Dabei übernahm er eine Reihe kultureller Konventionen, die damals im alten Indien üblich waren: die der Shramanas. Die Shramanas eröffneten der übrigen Gesellschaft einen wertvollen Zugang zur sonst unterdrückten alternativen Perspektive jenseits der Normen, Konventionen und Verantwortlichkeiten des Haushaltslebens. Innerhalb der indischen Kultur stand (und steht) diese umfassende Sicht religiösen Lebens in einem Spannungsfeld zum brahmanischen Modell. Ein Brahmane ist ein Priester, der aus einer gesellschaftlichen Führungsposition heraus rituelle Dienste leistet. Das brahmanische Modell muss sich auf dogmatische Gewissheiten über eine natürliche Ordnung berufen, wobei passende hinduistische Rituale durchgeführt werden. Der Shramana ist hingegen in der Position, all diese Gewissheiten in Frage zu stellen. Zur Zeit Buddhas gab es offensichtlich eine große Vielfalt an Shramana-Schulen, die sehr unterschiedliche Theorien über religiöses Leben boten{14}. Dennoch ist es der Kontrast zwischen dem Lebensstil des Shramanas und des Haushälters an sich, der eine starke Dichotomie geschaffen hat. Diese Dichotomie zeigte sich sowohl im Umfeld des Buddha als auch im Modell religiösen Lebens, dass sich im frühen Buddhismus etablierte{15}. Indem Siddhartha in den Wald fortgeht, überwindet er die gewaltige Kluft zu einem alternativen und sehr viel offeneren religiösen Lebensstil.
In diesem offenen Lebensstil, der nur durch eine individuelle Suche bestimmt war, stand es jedem Shramana frei, allein zu meditieren und zu reflektieren oder sich Gruppen anderer Shramanas anzuschließen. Unerfahrene Shramanas fühlten sich jedoch offensichtlich davon angezogen, die relative Sicherheit eines spirituellen Lehrers zu suchen. Ein Lehrer konnte dem frischgebackenen Aussteiger helfen, sich erfolgreich mit diesen neuen Bedingungen auseinanderzusetzen. Der Unterrichtsrahmen (und die Solidarität mit anderen Schülern) konnte aber auch im Kleinen die gleichen Bedingungen schaffen, die sie gerade in der Mehrheitsgesellschaft aufgegeben hatten, die in allen vergleichbaren menschlichen Lebenswelten anzutreffen sind: feste Führungs- und Gesellschaftsrollen, Annahmen und Konventionen, die von der Gruppe geteilt werden, und Fragen der Abgrenzung, wer in die Gruppe aufgenommen werden sollte. Diejenigen, die ihren ursprünglichen sozialen Kontext auf so entschiedene Weise verlassen, sind anfällig für neue Formen der Ausbeutung durch etwas, was wir heute „religiöse Sekte“ nennen würden. Das liegt daran, dass sie noch keine hinreichend verwurzelten alternativen Wege gefunden haben, um ihre menschlichen Bedürfnisse nach sozialer Unterstützung zu befriedigen.
Dies ist der Handlungsrahmen, in dem wir die nächste Phase von Siddharthas Geschichte interpretieren müssen. Hier gibt es aufeinanderfolgende Begegnungen mit zwei spirituellen Lehrern, die (in den Pali-Fassungen) Alara Kalama und Udaka Ramaputta heißen. In der Darstellung des Pali-Kanons{16} werden die beiden Begegnungen in exakt den gleichen Worten beschrieben, der einzige Unterschied ist die von den Lehrern vertretene „Basis“: „Nicht-Sein“ bei Alara Kalama und „weder Wahrnehmung noch Nicht-Wahrnehmung“ bei Udaka Ramaputta. In beiden Fällen kommt Siddhartha zum betreffenden Lehrer auf der Suche nach Unterweisung darüber, wie man „das heilige Leben in diesem Dhamma und dieser Disziplin“ führt. Er lernt schnell über die jeweils vermittelten Lehren „aus dem Wissen und der Gewissheit heraus zu sprechen“. Dann erkennt er, dass die Lehrer mehr als das erreicht haben, sie haben „direktes Wissen“ der „Basis“, die sie lehren. Siddhartha erlernt dann auch dieses „direkte Wissen“ auf gleichhohem Niveau wie seine Lehrer. In beiden Fällen erkennt der Lehrer dies an und ehrt daraufhin Siddhartha, indem er anbietet, die Führung seiner Gemeinschaft mit ihm zu teilen. Jedes Mal ist Siddhartha aber mit dem Ergebnis unzufrieden und geht auf der Suche nach weiterführender Weisheit fort.
Die „Basis“, auf die sich jeder Lehrer beruft, muss in Beziehung zum Schema der vier „immateriellen Zustände“ oder „höheren Jhanas“ (oder Dhyanas, Stufen meditativer Vertiefung) verstanden werden, die in der buddhistischen Lehre zu finden sind. Die vier niederen Jhanas bestehen aus Vertiefungsstufen, die durch ausdauernde Meditation unter guten Bedingungen erreicht werden können. Sie weisen bestimmte, definierbare Merkmale auf (Einspitzigkeit, anfängliches und fortgesetztes Denken, Verzückung, Glückseligkeit und Gleichmut), die zunehmend präsent sind. Die höheren Jhanas werden dann in der frühen buddhistischen Literatur als höhere und subtilere Errungenschaften dargestellt. Sie können von Mönchen erreicht werden, die auch über das vierte Jhana hinaus, weiterhin Fertigkeiten und Anstrengungen auf die Meditation verwenden. Diese höheren Jhanas werden als „die Basis, die aus grenzenlosem Raum besteht“, „die Basis, die aus grenzenlosem Bewusstsein besteht“, „die Basis, die aus dem Nicht-Sein besteht“ und „die Basis, die aus weder Wahrnehmung noch Nicht-Wahrnehmung“{17} besteht, beschrieben. Nichtsdestotrotz werden diese höheren Jhanas als nicht zum Ziel letztendlichen Erwachens führend wahrgenommen. Ihre traditionelle Bedeutung in der Geschichte von Siddharthas Begegnungen mit seinen Lehrern besteht darin, zu zeigen, dass sie Siddhartha zu äußerst subtilen Ebenen meditativer Verwirklichung führen, aber nicht darüber hinaus. Traditionell war also die Erklärung für Siddharthas Weiterziehen, dass seine Lehrer nicht weit genug gegangen waren und nicht in der Lage waren, ihm den vollständigen Pfad zu letztendlichem Erwachen zu lehren.
Solche Darstellungen des Pfades beginnen jedoch mit Annahmen über die letztendliche Verwirklichung des Erwachens und leiten daraus umgekehrt ein Verständnis des Pfads ab. Dabei besteht die Gefahr, die Universalität des Mittleren Wegs zu untergraben. Sie verwandeln ihn bestenfalls in eine technische Beschreibung der Errungenschaften, die im begrenzten kulturellen Rahmen buddhistischen Klosterlebens anzustreben sind. Schlimmstenfalls verwandeln sie ihn in ein Dogma, das den Mittleren Weg an sich untergräbt. Ich möchte behaupten, dass aus den Begebenheiten mit Alara Kalama und Udaka Ramaputta eine ganz andere und viel universellere Bedeutung abgeleitet werden kann, und nicht nur, dass Siddhartha sie bloß übertroffen hat, weil sie noch nicht erleuchtet waren. Beim Mittleren Weg geht es nicht darum, was erreicht wird, sondern vielmehr darum, wie wir es beurteilen. Die Art und Weise, wie wir über die Schlussfolgerungen urteilen, die wir aus meditativer Erfahrung ziehen können, ist hier weitaus bedeutsamer als die Frage, welche Kategorie von meditativer Erfahrung sie angehören.
Alara Kalama und Udaka Ramaputta hatten beide tiefgreifende Erfahrungen, die, wie man annehmen muss, ihr Leben positiv verändert und sie vielleicht in die Lage versetzt haben, neue Ebenen der Weisheit und des Mitgefühls zu entwickeln. Nichtsdestotrotz besteht das Scheitern beim Urteil in jedem Fall darin, dass sie zu dem Schluss kamen, dass diese Erfahrungen schon alles waren. Jede Erfahrung eines endlichen Wesens ist zwangsläufig sowohl hinsichtlich der Informationen, die sie liefert, als auch hinsichtlich des Ausmaßes, in dem sie psychische Zustände angemessen und verlässlich macht, begrenzt. Diese Erfahrungen, so tiefgründig sie auch sein mögen, können keine Ausnahme sein. Die buddhistische Tradition neigt zur Schlussfolgerung, die Unterweisungen dieser beiden Lehrer seien nur deshalb unzureichend gewesen, weil sie das wahre und letztendliche Ziel noch nicht erreicht hatten. Eine fundiertere und universellere Schlussfolgerung wäre jedoch, dass sie nur deshalb unzureichend waren, weil sie glaubten, das wahre und letztendliche Ziel schon erreicht zu haben.
Zweifellos muss derselbe Einwand auch gegenüber Siddhartha vorgebracht werden, so nützlich, positiv und ehrfurchtgebietend seine Erfahrungen auch sein mögen. Da er menschlich und begrenzt ist, müssen alle Erfahrungen, die er macht, denselben Kriterien unterworfen werden, die Siddhartha auf Alara Kalama und Udaka Ramaputta angewandt haben soll. Wir müssen die Schlussfolgerung ziehen, dass sie nicht perfekt, absolut oder endgültig sind. Damit schmälern wir weder ihn noch seine Verdienste in irgendeiner Weise, sondern erkennen einfach an, dass es sich um große menschliche Errungenschaften handelt. Um dem Mittleren Weg zu folgen, müssen wir dem Beispiel Siddharthas folgen, statt ihn zu idealisieren.
Als Siddhartha die einzelnen Lehrer verlässt, sagt er:
Dieser Dhamma führt nicht zu Ernüchterung, zu Leidenschaftslosigkeit, zu Aufhören, zu Frieden, zu direktem Wissen, zu Erleuchtung, zu Nibbana, sondern nur zu Wiedererscheinen auf der Basis von Nicht-Sein [oder Weder-Wahrnehmung-Noch-Nichtwahrnehmung]. Weil ich mit jenem Dhamma nicht zufrieden war, ließ ich ihn zurück und ging fort.{18}
Dies wirft eine zentrale konzeptionelle Frage auf, die für das Verständnis des Mittleren Wegs wichtig ist. Stellen wir eine negative Behauptung auf, herrscht eine grundlegende Ambivalenz. Diese Behauptung kann entweder als Bekräftigung eines negativen Gegenteils verstanden werden oder einfach so, dass etwas Positives nicht bejaht wird. Zum Beispiel kann „ich glaube nicht, dass Hunde immer Fleisch essen“ entweder bedeuten, dass ich glaube, dass Hunde nicht immer Fleisch essen, oder, dass ich nicht genug Informationen zu diesem Thema habe, um definitiv daraus schließen zu können, dass sie es tun. Im obigen, dem Buddha zugeschriebenen Zitat kann sein Glaube, dass die Lehre (Dhamma oder Dharma) von Alara Kalama und Udaka Ramaputta nicht zu Ernüchterung, etc. führt, einerseits dahingehend interpretiert werden, dass es einen Dhamma gibt, der zu Ernüchterung, etc. führt, diese aber nicht. Andererseits kann es so gelesen werden, dass er einfach nicht abschließend erkennen kann, dass dieser Dhamma nicht zu Ernüchterung, etc. führt, wobei er unsicher bleibt, ob es eine Alternative gibt, die zu Ernüchterung, etc. führt.
Siddhartha ist auf einer Suche. Er hat ein Ziel vor Augen, das für ihn von Bedeutung ist. Das setzt aber nicht voraus, dass die Erfüllung seines Strebens darin besteht, dieses Ziel zu erreichen, wie er es sich ursprünglich vorgestellt hat. Es bedeutet auch nicht notwendigerweise, dass ein Scheitern darin, Erleuchtung zu erreichen, ein vollständiges Scheitern in diesem Streben wäre. Gerade in den Erfahrungen mit Alara Kalama und Udaka Ramaputta muss er die Natur dieses Strebens erneut überdenken. Sollte er sich ausgemalt haben, es würde ihn im Wald zu einer vollständigen Antwort führen, die im Palast nicht verfügbar war, wäre er nicht nur einmal, sondern zweimal enttäuscht worden. Dies bedeutet aber nicht, dass er auf seiner Suche nicht weiter vorangekommen ist. Es bedeutet vielmehr, dass er beginnt, sich vom Streben nach absoluten Antworten abzuwenden, und stattdessen versucht, Verblendungen zu überwinden, die er durch Erfahrung erkennen kann. Wie mir hier scheint, beginnt sich die Bedeutung dieses Strebens bereits in eine zu verwandeln, die durch den Mittleren Weg bestimmt wird, statt durch das Positiv-Absolute, das durch die Idee des Erwachens repräsentiert wird.
Siddharthas Enttäuschung über religiöse Lehrer spiegelt sich in der Erfahrung jedes anderen Menschen wider, der jemals eine Autoritätsperson idealisiert hat und desillusioniert wurde. Die meisten von uns wählen Stellvertreter, um sich von der Autorität der Eltern zu lösen, aber auch diese werden dann als unzulänglich empfunden. Das kann der Fall sein, wenn wir die Begrenztheit eines Lehrers oder Hochschulprofessors erkennen, den wir in unserer Jugend gekannt oder idealisiert haben. Es kann passieren, sexuellem Missbrauch durch einen Guru zum Opfer zu fallen. Möglicherweise führt die kritische Perspektive, die Geschichtswissenschaft und Philosophie in Bezug auf fundamentalistische Überzeugungen über Jesus oder den Buddha bieten dazu, dass sie nicht mehr als die absolut makellosen Persönlichkeiten erscheinen, als die wir sie idealisiert hatten.