Buddhistische Basics für Psychotherapeuten - Ulrike Anderssen-Reuster - E-Book

Buddhistische Basics für Psychotherapeuten E-Book

Ulrike Anderssen-Reuster

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Beschreibung

Achtsamkeit, Meditation und Mitgefühl in ihren Ursprüngen erfassen - Einzigartige Übersicht: Kompakt und gehaltvoll zugleich - Online: Anleitungen, Übersichten und Audio-Files In vielen Psychotherapien werden Elemente angewandt, die ursprünglich aus dem Buddhismus stammen. Achtsamkeit und Meditation wie auch Übungen zur Förderung von Mitgefühl in Bezug auf sich selbst und andere gehören zu diesem therapeutischen Repertoire. Dennoch sind die buddhistische Lehre und Praxis, die den Hintergrund dieser Methoden bilden, den meisten PsychotherapeutInnen kaum bekannt. Das vorliegende Buch möchte diese Lücke schließen und eine Brücke von einer alten Weisheitstradition zur modernen Psychotherapie schlagen. Das Buch vermittelt aus einer säkularen und interkulturellen Perspektive einen Überblick über die Kernelemente dieser "rationalen Religion", die auch als eine Lebenskunst verstanden werden kann. Dabei geht es darum, glücklich zu werden, soziale Widersprüche auszubalancieren und den eigenen Geist zu kultivieren. Die Wirksamkeit dieser Ansätze wird wissenschaftlich begründet und durch Forschungen belegt. Praktische Übungen, die als Audiodateien zugänglich sind, ergänzen den theoretischen Überblick. Sie sollen sowohl den Patienten als auch deren Therapeuten nützen! Dieses Buch richtet sich an: PsychotherapeutInnen (psychologische wie ärztliche), PsychosomatikerInnen, PsychiaterInnen, Coaches, BeraterInnen, HeilpraktikerInnen

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Seitenzahl: 547

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Ulrike Anderssen-Reuster ■ Michael von Brück

Buddhistische Basics für Psychotherapeuten

Mit einem Geleitwort des Dalai Lama

Impressum

Dr. med. Ulrike Anderssen-Reuster

Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie

Städtisches Klinikum Dresden

Heinrich-Cotta-Straße 12

01324 Dresden

[email protected]

Prof. Dr. Michael von Brück

Ludwig-Maximilians-Universität München

[email protected]

Die digitalen Zusatzmaterialien haben wir zum Download auf www.klett-cotta.de bereitgestellt. Geben Sie im Suchfeld auf unserer Homepage den folgenden Such-Code ein: OM40055

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Besonderer Hinweis

Die Medizin unterliegt einem fortwährenden Entwicklungsprozess, sodass alle Angaben, insbesondere zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren, immer nur dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches entsprechen können. Hinsichtlich der angegebenen Empfehlungen zur Therapie und der Auswahl sowie Dosierung von Medikamenten wurde die größtmögliche Sorgfalt beachtet. Gleichwohl werden die Benutzer aufgefordert, die Beipackzettel und Fachinformationen der Hersteller zur Kontrolle heranzuziehen und im Zweifelsfall einen Spezialisten zu konsultieren. Fragliche Unstimmigkeiten sollten bitte im allgemeinen Interesse dem Verlag mitgeteilt werden. Der Benutzer selbst bleibt verantwortlich für jede diagnostische oder therapeutische Applikation, Medikation und Dosierung.

In diesem Buch sind eingetragene Warenzeichen (geschützte Warennamen) nicht besonders kenntlich gemacht. Es kann also aus dem Fehlen eines entsprechenden Hinweises nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe

Schattauer

www.schattauer.de

© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von © Hilma af Klint »Buddhas Standpunkt auf Erden«

Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Altusried-Krugzell

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

Lektorat: Dr. Petra Kunzelmann

Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani

ISBN 978-3-608-40055-7

E-Book ISBN 978-3-608-11685-4

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20531-2

Inhalt

Foreword of the Dalai Lama

Vorwort des Dalai Lama

Einleitung

1 Religiosität und Spiritualität in der psychotherapeutischen Praxis

1.1 Religiosität und Spiritualität als Ressource

1.2 Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie

1.3 Empfehlung zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in der klinischen Praxis

1.4 Die rationale Religiosität des Buddhismus

2 Buddhismus im Überblick

2.1 Kultureller Hintergrund

2.2 Buddha als Person

2.3 Die Anfänge des Buddhismus

2.4 Ausbreitung des Buddhismus

2.4.1 Theravada

2.4.2 Mahayana

2.4.3 Tantrayana

2.4.4 Buddhismus im Westen

2.5 Der Pali-Kanon

I. Vinaya Pitaka – Ordensregeln (Vin)

II. Sutta Pitaka – Lehrreden des Buddha

III. Abhidhamma Pitaka – Abhandlungen, Höhere Lehrreden (Abh)

2.6 Das zentrale Anliegen des Buddhismus

2.7 Religion oder Wissenschaft vom Geist?

2.8 Der Ochs und sein Hirte

3 Leiden (Dukkha)

3.1 Umgang mit den Zumutungen des Lebens

3.2 Zwei Arten des Leidens

3.3 Die Vier Edlen Wahrheiten

3.4 Formen des Leidens

3.5 Die veredelnden Wahrheiten

3.6 Dukkha in verschiedenen Kontexten

4 Der Achtfache Pfad

4.1 Anschauung (samma ditthi)

Fünf Hindernisse, fünf Fähigkeiten

4.2 Entschlossenheit (samma sankappa)

4.3 Rede (samma vaca)

4.4 Handeln (samma kammanta)

4.5 Lebensführung (samma ajiva)

4.6 Anstrengung (samma vayama)

4.7 Achtsamkeit (samma sati)

4.7.1 Die Grundlagen der Achtsamkeit

4.8 Konzentration (samma samadhi)

5 Bedingtes Entstehen und Beendigung des Kreislaufs des Leidens

5.1 Die Lehre vom bedingten Entstehen – paticcasamuppada

5.1.1 Die Kausalkette des bedingten Entstehens

5.2 Das Rad des Werdens (bhavacakra)

5.2.1 Der umfassende Dämon der Zeit

5.2.2 Die Antriebskräfte

5.2.3 Ursache und Wirkung

5.2.4 Der Kreis der sechs Welten

5.2.5 Zwölf Glieder des bedingten Entstehens (nidanas)

5.3 Beendigung des Kreislaufs des Leidens

5.4 Leidüberwindendes bedingtes Entstehen

6 Die »Wissenschaft vom Geist«

6.1 Gehirn und Geist

6.2 Bewusstsein im psychotherapeutischen Kontext

6.3 Bewusstseinskonzeptionen in Ost und West

6.4 Die fünf Gruppen der Anhaftung – Skandhas

6.5 Vom Theravada- zum Mahayana-Buddhismus

6.6 Vijnanavada und Yogacara

6.6.1 Zustände des Bewusstseins

6.6.2 Die Zehn Vollkommenheiten (paramitas)

6.6.3 Die Natur des Bewusstseins

6.6.4 Yogacara

Herz Sutra

7 Psychoanalyse und Buddhismus

7.1 Buddhismus und Psychotherapie im Nationalsozialismus

7.2 Psychoanalyse im Exil: Rebellion – Kreativität – Spiritualität

7.3 Erich Fromm

7.4 Diskurs Psychoanalyse und Buddhismus

7.4.1 Anfängergeist

7.4.2 Gedanken ohne den Denker

7.4.3 Psychoanalytiker und spirituelle Lehrer im Vergleich

7.4.4 Mangel und Frustration

7.4.5 Offene Weite

8 Buddhismus und Verhaltenstherapie

8.1 Entwicklung der Verhaltenstherapie und Bezüge zum Buddhismus

8.2 Methoden der Verhaltensänderung im frühen Buddhismus

8.3 Dritte Welle der Verhaltenstherapie

8.3.1 Achtsamkeitsbasierte Psychotherapieverfahren

8.3.2 Achtsamkeitsintegrierende Psychotherapieverfahren

8.4 Buddhistische Psychotherapieverfahren

8.5 Spirituelle Aspekte in der Therapie

9 Meditation und Wissenschaft

9.1 Definitionen

9.2 Meditationsmethoden

9.3 Mind and Life Dialog: Buddhismus und Wissenschaft im Austausch

9.4 Meditationsforschung

9.5 Achtsamkeitsforschung

9.5.1 Definitionen

9.5.2 Wirkmechanismen von Achtsamkeit im psychotherapeutischen Zusammenhang

9.5.3 Effektstärken von achtsamkeitsbezogenen und achtsamkeitskorrelierten Methoden

9.5.4 Messinstrumente zur Messung von Achtsamkeit

9.5.5 Unerwünschte Nebenwirkungen

9.5.6 Schlussbemerkung

10 Achtsamkeit in der klinischen Praxis

10.1 Begriffsklärung

10.2 »McMindfulness«

10.3 Geistesgegenwart (sati)

10.3.1 Sati in Gleichnissen

10.4 Achtsamkeit als mentale Fertigkeit

10.5 Heilsversprechungen

10.6 Achtsamkeit und Unachtsamkeit im psychotherapeutischen Kontext

10.7 Das Wunder der Achtsamkeit

10.8 Die vier Grundlagen der Achtsamkeit in der Praxis

10.9 Achtsamkeit in verschiedenen Therapieformen

10.10 Praktische Übungen

1) Body Scan 

2) Atemmeditation 

3) Achtsamkeit auf Gefühle 

4) Achtsamkeit auf Gedanken 

5) Achtsamkeit auf Geisteszustände 

6) Rosinenübung 

11 Grenzenlose Geisteszustände – gütige (Selbst-)Zuwendung

11.1 »Alle Wesen wollen glücklich sein«

11.2 Das affiliative System

11.3 Abwehrprozesse

11.4 Mitleid, Empathie und Mitgefühl in der Psychotherapie

11.5 Mitgefühlsbasierte Psychotherapie

11.5.1 Vom Mitgefühl zum Selbstmitgefühl

11.5.2 Compassion Focused Therapy (CFT) – Mitgefühlsbasierte Psychotherapie

11.5.3 Konzeptionalisierung von Mitgefühl

11.6 Die vier grenzenlosen Geisteszustände

11.7 Praktische Übungen

12 Erkenntnis und Selbsterkenntnis

12.1 Differenzierung von Ich und Selbst

12.2 Entwicklung des Ich-Bewusstseins

12.3 Ich-Identität

12.4 Veränderungen des Ich-Erlebens

12.4.1 Ich-Bewusstsein

12.4.2 Dimensionen des Ich-Bewusstseins

12.5 Das Selbst als Illusion

12.6 Orchester ohne Dirigent

12.7 Selbst und Nicht-Selbst im Buddhismus – Anatta

12.8 Flexibler Umgang mit sich selbst

12.9 Abstand zu sich selbst entwickeln

12.10 Praktische Übungen

Quellen

Fachliteratur

Weblinks

Sachverzeichnis

Denke das Nicht-Denken und sei, was Du noch nicht bist.

Meiner Tochter Lea-Sophie

Ulrike Anderssen-Reuster

Meinen Kindern und Enkeln

Michael von Brück

Foreword of the Dalai Lama

I am often asked whether the teachings of the Buddha, which he gave in India more than 2500 years ago, continue to be relevant in this present day and age. I believe they are because the ultimate purpose of Buddhism is to serve and benefit humanity. Even more important is how Buddhists can contribute to society according to our own values and ideas.

The key is inner peace. If we have peace of mind, we can face whatever happens with calm and reason, our tranquillity undisturbed. The teachings of love, kindness and tolerance, the conduct of non-violence, and especially the Buddhist theory that all things are relative and dependently arisen are a source of that inner peace. Buddhist teachings can be viewed as dealing with Buddhist science, philosophy and religion. The first two categories may be of interest to scientists and other researchers, whereas the third is only the concern of Buddhists.

There is a great deal to be learned from the Buddhist science of mind. I think our emotions today are much the same as they were a couple of thousand years ago. Buddhist science has much to teach about how to control our destructive emotions and prevent their disturbing our peace of mind. So, when I speak of Buddhist science what I really mean is ›science of the mind‹. This is something modern scientists, and especially neuroscientists and psychotherapists, are showing increasing interest in.

The important thing for us to know, if we are to achieve mental health and well-being, is how the mind works and how the emotions affect it; which ones calm and assist the mind and which ones cause disturbance. This book, drawing on Buddhist sources, seeks to show how we can use our human intelligence in the best way we can and how emotions can be transformed in a positive way.

3 July 2021

Vorwort des Dalai Lama

Man fragt mich häufig, ob die Lehren, die der Buddha vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren in Indien verkündete, in unserer heutigen Zeit überhaupt noch relevant sind. Ich bin sicher, dass dies der Fall ist, denn das letztgültige Ziel des Buddhismus ist es, der Menschheit zu dienen und zu nutzen. Von größerer Bedeutung ist daher die Frage, wie sich Buddhisten im Einklang mit ihren Werten und Vorstellungen für die Gesellschaft einsetzen können.

Der Schlüssel zu allem ist der innere Frieden. Wenn wir geistigen Frieden finden, können wir allem, was geschieht, mit Vernunft und innerer Ruhe begegnen, ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten. Eine Quelle dieses inneren Friedens sind die Lehren der Liebe, Güte und Toleranz, das Eintreten für Gewaltlosigkeit und vor allem die buddhistische Theorie, dass alle Dinge relational sind und in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander entstehen. Der gesamte buddhistische Dharma kann als Lehre über buddhistische Wissenschaft, Philosophie und Religion betrachtet werden. Die beiden ersten Bereiche können für Naturwissenschaftler und andere Forscher von Interesse sein, während der dritte nur Buddhisten selbst betrifft.

Von der buddhistischen Wissenschaft des Geistes können wir sehr vieles lernen. Ich denke, dass unsere Emotionen weitgehend die gleichen sind wie vor mehreren tausend Jahren. Die buddhistische Wissenschaft hat eine Fülle von Erkenntnissen darüber gewonnen, wie wir unsere destruktiven Emotionen kontrollieren können, um so zu verhindern, dass sie unseren Geistesfrieden stören. Wenn ich hier von der buddhistischen Wissenschaft spreche, meine ich damit die »Wissenschaft vom Geist« – etwas, für das sich moderne Wissenschaftler und insbesondere Neurowissenschaftler und Psychotherapeuten mehr und mehr interessieren.

Eine wichtige Voraussetzung, um geistige Gesundheit und mentales Wohlbefinden zu erreichen, ist die Kenntnis davon, wie unser Geist funktioniert und wie er durch Emotionen beeinflusst wird – welche Emotionen ihn beruhigen und stärken und welche Emotionen Störungen verursachen. Gestützt auf buddhistische Quellen, versucht dieses Buch zu zeigen, wie wir unsere menschliche Intelligenz bestmöglich nutzen können und unsere Emotionen auf positive Weise transformieren können.

3. Juli 2021

Einleitung

Psychotherapie ist im Wandel. Psychotherapeuten sind es auch. Nichts bleibt, wie es ist, auch wenn uns das gelegentlich Unbehagen bereitet. Diese Sätze scheinen trivial. Nicht aber die Frage, was daraus für die konkrete Lebensgestaltung folgt und was es für die psychotherapeutische Praxis bedeutet: Warum bin ich, wie ich bin? Geprägt von der Vergangenheit, vom kulturellen wie individuellen Gedächtnis zutiefst konditioniert – oder gar determiniert? Unfrei und vorbestimmt – oder dem Zufall ausgesetzt? Es sind Augenblicke, die, aneinandergereiht, das Leben ausmachen, und ein einziger Augenblick kann das Leben radikal verändern, zum Guten wie zur Katastrophe. Jedes Ereignis hat aber Ursachen und Wirkungen, die wiederum die Ursachen verändern. Und gibt es das: den Wink des Schicksals? Oder geschieht alles ohne erkennbaren Sinn? Wie können Psychotherapeuten dazu beitragen, diesbezüglich Licht in so viel Dunkel zu bringen, das uns nicht nur umgibt, sondern durchaus auch in uns selbst wahrzunehmen ist?

Menschen tendieren dazu, das Erleben in der Gegenwart im Licht der Erfahrungen der Vergangenheit zu interpretieren oder mit Erwartungen auf Zukünftiges zu befrachten. So wird das Wachsein in der Gegenwart versäumt, und es fehlt an Präsenz. Vergangenheit und Zukunft wirken in unserem Geist in die Gegenwart hinein, doch alles Erleben, das daraus folgt, wird bestimmt vom Zustand unseres Bewusstseins. Haben wir Möglichkeiten, diese Zustände zu beeinflussen, zu verändern? Denn dann, und nur dann, könnten wir auch unser Erleben, unsere Gefühle, unsere Euphorie und Depression, kurz unsere Interpretation unserer selbst und unserer Welt gestalten, um freier zu werden von bedrückenden Vergangenheiten und Zukunftserwartungen.

Es ist das Anliegen des Buches zu erforschen, wie innere Befreiung gelingen kann und ob eine moderne, wissenschaftlich fundierte und interkulturell inspirierte Psychotherapie zu einer Praxis beitragen kann, die Lösungen anbietet, die mehr sind als Symptombehandlungen. Können wir uns Ziele setzen, die Schritte zu mehr Freiheit und Erfahrung von Schönheit, zu mehr Toleranz und Verbundenheit, vielleicht auch zur Wahrheit ermöglichen? Und das trotz unserer psychischen Belastungen durch Ängste, durch Traumata, durch Verunsicherung? Schritte, die sich dann auch hilfreich auf unsere Mitwelt auswirken?

Lebe deinen Traum! Was aber, wenn die Träume Albträume sind, Ängste und apokalyptische Untergangsphantasien? Menschliches Handeln, auch wenn es von besten Absichten gelenkt ist, geht mit Folgen einher, die mitunter weder erwünscht noch beabsichtigt sind. Pandemien, ökologische Krisen und soziale Verwerfungen gehören dazu, denn sie sind Folgeerscheinungen unseres menschlichen Zusammenlebens. Individuelle wie auch soziale Krisen erzeugen meist Leiden; sie sind jedoch auch Antrieb der Veränderung und des Wandels. Sie fordern uns heraus und können dadurch Kräfte freisetzen, die eine veränderte Lebensweise ermöglichen, zum Beispiel eine achtsame Umgangsweise mit der begrenzten Zeit und den Ressourcen der Natur. Ein solcher Wandlungsprozess kann uns dazu zwingen, den bisherigen Lebensstil infrage zu stellen und die Komfortzone gegenwärtiger Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten zu verlassen. Das betrifft unsere geistige Innenwelt ebenso wie unsere Um- und Mitwelt.

Soziale Umbrüche und kultureller Wandel mit teils dramatischen Folgen kennzeichnen die Geschichte der Menschheit. Philosophische Weisheitstraditionen und Religionen haben sich dabei die Frage gestellt, wie das Leben trotzdem gelingen kann, wie die Herausforderungen klärend und formend kreatives Potential freisetzen können. Wie kann man – trotz Unsicherheit und Angst – psychisch stabil und belastbar bleiben und die Verantwortung für das eigene Leben, seine Nachkommen, seine Schüler sowie seine Patienten in einer guten Weise wahrnehmen? Wie kann man im eigenen Bewusstsein und im persönlich gestalteten Leben zur Balance der widerstreitenden Kräfte gelangen? Immerhin war auch für antike Philosophen und religiöse Reformer klar, dass ihr Denken und ihre Handlungsempfehlungen einen Zweck hatten: die Therapie, also die Heilung von Verletzungen und Krankheiten, von Unwissenheit, lähmendem Gefühlschaos und Vertrauensverlust, die einem guten Leben im Wege stehen.

Auch der Buddhismus hat sich in einer Zeit des Umbruchs und der Veränderung entwickelt und ein System geformt, das das menschliche Leiden als Ausgangspunkt für einen individuellen und sozialen Transformationsprozess gesetzt hat. Leiden bezeichnet dabei die Frustration daran, dass die Dinge nicht so sind, wie wir sie gerne hätten. Diese Unzufriedenheit kann abgewehrt, verleugnet und mit egozentrischem Agieren kompensiert werden, was die sozialen Verwerfungen nur noch verschärft. Es gelingt aber nicht, die »Welt da draußen« von sich fernzuhalten, denn die äußeren sozialen und ökologischen Folgen einer falschen Lebensführung bleiben nicht äußerlich und die inneren psychischen Folgen bleiben nicht innerlich. Außenwelt und Innenwelt bilden sich gegenseitig ineinander ab und prägen unser gemeinsames Leben und Erleben.

Die buddhistische Antwort auf diese Herausforderungen ist eine Lebenskunst, die manches zusammenführt, das in unserer Kultur üblicherweise auseinandergehalten wurde: rationale Erkenntnis, das Bemühen um eine sozial ausgewogene Lebensführung sowie introspektive meditative Vertiefung(1). (1)Das Hauptanliegen der buddhistischen Lehre ist es, dem Leiden nüchtern zu begegnen, menschliches Leben zur Reife zu bringen und eine Dynamik der Freiheit zu eröffnen, in der die Begrenzungen der Zeitlichkeit in einem grenzenlosen Bewusstseinsraum aufgehoben sind. Der Buddhismus verzichtet auf das Postulat eines Schöpfer-Gottes, er richtet all seine Energie vielmehr darauf, die Potentiale des Bewusstseins auszuschöpfen. Seine Kausalitätslehre orientiert sich an einem logisch einsichtigen Bedingungsgefüge von Ursache und Wirkung, das individuell beeinflussbar ist. Dogmatische Wahrheiten stehen nicht im Zentrum, sondern überprüfbare Erkenntnis und meditative Praxis.

Wir nähern uns dem Buddhismus aus einer psychotherapeutischen Perspektive und verfolgen das Ziel, seine Erkenntnisse in den Dienst der Heilung psychischen Leidens zu stellen, das allerdings immer mit gesellschaftlichen Konstellationen verknüpft ist. Es geht um ein gutes oder zumindest ein besseres Leben. Dabei stehen anwendungsorientierte und praktische Aspekte im Vordergrund und keine historisch-systematischen Fragestellungen. Dies gilt auch für die Übersetzungen der Texte, die natürlich verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zulassen. Um zur Überwindung des Leidens konkret beizutragen, hat sich die Lehre des Buddhismus den Bedürfnissen und Prägungen der Menschen immer wieder neu angepasst. So scheint es uns erlaubt, den großen Schatz der Weisheiten und geschickten Mittel auch für die klinische Praxis zu übersetzen. Obgleich der Bezugsrahmen theoretisch anspruchsvoll ist, kann die Praxis im klinischen Kontext gut anwendbar sein. Die Lehre ist kein Selbstzweck, sie soll – unserem Verständnis nach – dazu dienen, Orientierung und praktische Hilfestellungen für Menschen mit verschiedenen Nöten zu bieten. Glaubensbasierte Aspekte spielen dabei keine Rolle. Man muss also weder Buddhist sein noch werden, um von dieser »Religion ohne Gott« zu profitieren.

Im Umgang mit alten Texten sowie deren Übersetzungen zeigt sich, dass Sprache immer im Fluss ist. Die Übertragungen und Auslegungen sind jeweils abhängig von den eigenen expliziten und impliziten Voraussetzungen des Verstehens. Auch die Sprache, die wir gebrauchen, ist davon betroffen und kann unterschiedlich empfunden werden; dies gilt beispielsweise auch für die aktuelle Debatte zur genderkorrekten Sprache. Wir erleben dabei, dass alte Regeln hinterfragt werden, neue Gepflogenheiten aber noch nicht eingespielt sind. Wir lassen uns leiten von dem, was wir selbst als sprachlich stimmig empfinden. Selbstverständlich wollen wir dadurch niemanden sprachlich ausgrenzen und hoffen, dass sich das im Text inhaltlich zeigt.

Wir beschränken uns bei der Vermittlung der buddhistischen Basics auf die wesentlichen Grundlagen, die von allen Schulen anerkannt werden. Die ersten Kapitel dienen dieser Übersicht. Im mittleren Teil wird ein Überblick über die bisherige Auseinandersetzung verschiedener psychotherapeutischer Strömungen mit dem Buddhismus sowie zur aktuellen Forschung dargelegt. Der letzte Teil beleuchtet die Kernelemente von Achtsamkeit, Mitgefühl und (Selbst-)Erkenntnis für die klinische Praxis. Dazu werden Übungen, die auch als Audio-Datei heruntergeladen werden können, vermittelt. Manchmal wird es Wiederholungen geben, da auf zentrale Aspekte der Lehre immer wieder aus verschiedenen Perspektiven geblickt wird. Buddhistische Kernbegriffe werden in ihrer ursprünglichen Sprache vermittelt. Dabei stehen die Pali-Begriffe in den Klammern vor den Sanskrit-Begriffen, abhängig vom Kontext steht manchmal nur der Pali- oder Sanskrit-Begriff. Auf diakritische Zeichen wird verzichtet. Die Kapitel bauen zwar aufeinander auf, können aber auch unabhängig voneinander gelesen werden.

Beide Autoren praktizieren buddhistische Meditationswege, vor allem die Achtsamkeits- und Mitgefühlspraxis und das Zen, haben aber unterschiedliche professionelle Voraussetzungen und Lebenserfahrungen. Wir versuchen hier, dieselben in einem gemeinsamen Text zusammenzuführen. Unser Ziel ist es, den großen Erfahrungsschatz der buddhistischen Welt vor allem für unsere Klienten und Patienten fruchtbar zu machen. Dabei hat die klinische Psychotherapeutin und Ärztin einen anderen Hintergrund als der Religionshistoriker, Hochschullehrer und Zen-Lehrer. All das setzt unterschiedliche Rahmenbedingungen. Aber uns eint ein gemeinsamer Horizont, zumindest suchen wir die »Horizontverschmelzung«, ein glücklicher Begriff, den Hans-Georg Gadamer für das Verstehen des anderen, mithin auch des Fremden, geprägt hat. Und das ist therapeutische Praxis: Im Austausch verschiedener fachlicher Perspektiven bildet sich eine Brücke von einem Ufer zum anderen. Diese Brücke soll auch für den Leser begehbar sein – von beiden Seiten her. Wir hoffen, diese »Übersetzung« möge spannend und aufschlussreich sein, und wünschen uns, dass die Erkenntnisse zum Wohle der Patienten wirken.

Am Ende bleibt der Dank unseren Lehrern gegenüber, die uns geprägt haben. Wir stehen auf den Schultern derer, die uns gelehrt haben, über eigene Beschränkungen und die unvermeidlichen perspektivischen Differenzen hinausblicken zu können. Dazu gehören die Lehrer der Meditation ebenso wie die der professionellen Ausbildung, die ungezählten Lektüreerlebnisse wie menschliche Begegnungen, die unsere Biografien als unentwegten Dialog erscheinen lassen. Sie alle zu nennen, ist nicht möglich und auch nicht nötig – ihre Präsenz wird in den folgenden Erörterungen spürbar sein. Es sind aber vor allem auch die Begegnungen mit unseren Patienten, Klienten und Schülern. Im gemeinsamen Ringen um ein erfülltes Leben lernen alle, die sich dieser Dynamik aussetzen, Leben zu gestalten. Die Leser werden eingeladen, sich diesen Prozessen anzuschließen, so sie denn mögen.

Besonderer Dank gilt den Kollegen Sabine Meck, Matthis Wankerl, Senta Kästner sowie Antje Völkel für ihr Probelesen und Mitdenken. Danken möchten wir auch Nadja Urbani vom Schattauer Verlag, die das Projekt ermöglicht und von Anfang bis Ende engagiert unterstützt hat.

1 Religiosität und Spiritualität in der psychotherapeutischen Praxis

Die Lampen mögen verschieden sein, doch das Licht ist gleich.

(Rumi)

In früheren Zeiten bot die selbstverständliche Zugehörigkeit zu einer Kirche oder Religionsgemeinschaft die Möglichkeit, sich angesichts existentieller Ängste auszutauschen und durch Glauben und Rituale Sinnstiftung zu erfahren. Dies ist heute schwieriger geworden, da immer weniger Menschen konfessionell gebunden sind. Die Amtskirchen geben den meisten Menschen keine Orientierung mehr, verfügen sie doch kaum noch über die erforderliche Autorität. Menschen mit existentiellen Fragen tauchen deshalb immer häufiger in psychotherapeutischen Praxen auf und treffen dort auf Behandler, die unsicher sind, wie sie mit diesen Anliegen professionell umgehen sollen.

1.1 Religiosität und Spiritualität als Ressource

In einer bundesweiten Befragung (1)(1)niedergelassener Psychologischer Psychotherapeuten wird berichtet, ein Fünftel der Patienten(1)(1) bringe religiöse oder spirituelle Themen(1)(1) in die Behandlung ein (Hofmann 2009). Die befragten Psychotherapeuten vermitteln aber auch, dass der Umgang mit religiösen und spirituellen Themen für sie selbst ungewohnt und tendenziell überfordernd sei, denn diese Thematik sei kein Inhalt des Psychologiestudiums oder der Psychotherapieausbildung. Wenn Patienten also über Fragen sprechen wollen, die mit therapeutischen Techniken nicht »behandelbar« sind, führt das nicht selten zur Unsicherheit aufseiten der Behandler und zur Vermeidung dieses Themenkomplexes. Zu vermuten ist darüber hinaus, dass diese existentiellen – also berechtigten und nicht-neurotischen – Ängste der Patienten die eigenen Ängste(1) und die eigene Ratlosigkeit aktivieren, was ein weiterer Grund dafür sein kann, sich nicht näher auf entsprechende Themen einzulassen.

Fragen ohne Antworten und Probleme ohne Lösungen sind schwer auszuhalten. Da es der Anspruch von Helfern ist, Veränderung zu ermöglichen und Wege aus Krisen aufzuzeigen, fehlt manchmal die Fähigkeit, in einer gemeinsamen Verbundenheit einfach bei den Fragen zu verweilen und den Sorgen Raum zu geben – ohne gleich Lösungen anzubieten. Zudem gilt in Deutschland die religiöse und weltanschauliche Neutralität auch für die Richtlinienpsychotherapie. Es steht weder Ärzten noch Psychologen zu, eigene religiöse Überzeugungen zu vermitteln oder therapeutische Arbeit mit spirituellen oder religiösen Ansätzen zu vermengen.

In anderen Ländern ist das anders. Besonders in den USA hat sich eine Szene entwickelt, die bewusst religiöse Themen(2) und Glaubensvorstellungen in die Psychotherapie einbringt und davon überzeugt ist, dass es der Glaube und die damit verbundenen Erfahrungen sind, die Heilung ermöglichen. Unterdessen lassen sich in Deutschland auch schon einige glaubensbasierte Psychotherapieangebote finden. Genannt seien zum Beispiel die christlich-integrativen Angebote der de ’ignis-Kette, die den Anspruch hat, fachliche Kompetenz mit Gottvertrauen zu verbinden (https://www.deignis.de/). Auch eine islamische Psychologie und Psychotherapie(1) scheint sich herauszubilden (Rothman & Coyle 2018), ebenso wie eine »Buddhistische(1) Psychotherapie« (BPT)(1), (Ennenbach 2011). Neben diesen Verfahren, die sich an den religiösen Lehren ihrer Tradition orientieren, gibt es eine große Fülle von Therapiemethoden, besonders aus der humanistischen Richtung, die explizit spirituelle Erfahrungen vermitteln wollen. Transpersonale Psychotherapi(1)emethoden, wie zum Beispiel die »Initiatische Therapie(1)« von Graf Dürckheim, sowie Holotropes Atmen(1)(1) und psycholytische Psychotherapien, die von Stanislav Grof entwickelt wurden, gehören beispielsweise dazu. Bei letzteren werden mitunter auch bewusstseinserweiternde Drogen genutzt.

In den vergangenen Jahren hat es auch immer wieder glaubwürdige Berichte über Schäden religiöser Praktiken im Zusammenhang mit psychotherapeutischen Interventionen gegeben, so dass sich das österreichische Gesundheitsministerium veranlasst sah, vor der Aufgabe wissenschaftlicher Standards in der Psychotherapie ausdrücklich zu warnen und esoterische Inhalte, spirituelle Rituale und religiöse Methoden in der Psychotherapie(1)(1)(1) zu verbieten (Österreichisches Bundesgesundheitsministerium 2014). Diese Situation hat die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) dazu bewogen, 2013 ein »Referat für Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie« ins Leben zu rufen. In diesem sollten sowohl das gesundheitsfördernde Potential von Religiosität und Spiritualität als auch die damit verbundenen Gefahren und Fragen wissenschaftlich untersucht werden. Dabei wurden die verwendeten Begriffe folgendermaßen definiert:

Unter Religion wird (1)eine Gemeinschaft verstanden, die Traditionen, Rituale, Texte teilt (Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus u. a.).

Religiosität meint(2) über die institutionelle Religionszugehörigkeit(1)hinaus eine persönliche Gestaltung und Lebenspraxis von Religion.

Spiritualität wird in den (2)Gesundheitswissenschaften allgemein als Container-Begriff verstanden, der die persönliche Suche nach dem Heiligen, nach Verbundenheit oder Selbsttranszendenz(1) meint und ausdrücklich auch Weltanschauungen außerhalb der institutionalisierten Religionen einschließt (Bucher 2014; Pargament et al. 2013).

Existentiell werden (Grenz-)Erfahrungen genannt, die mit Sinn-Krisen(1)(1) einhergehen, insbesondere im Kontext von Krankheit und Tod (La Cour 2012; Schnell 2016).

1.2 Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie

Die Geschichte der Auseinandersetzungen(1)(1) zwischen Religion und Psychotherapie reicht ins 19. Jahrhundert zurück und kann hier nicht behandelt werden: Wir haben es sowohl mit gegenseitiger Kritik, Abgrenzung und Polemik als auch mit vorsichtiger Annäherung zu tun.

Psych-Fächer in Bezug auf Glaubensfragen sind insgesamt ambivalent. Einige Gründerväter der Psychologie und Psychotherapie wie William James, Pierre Janet oder auch Carl Gustav Jung haben sich höchst differenziert mit der menschlichen Religiosität und Sehnsucht nach Transzendenz auseinandergesetzt. Sie trafen aber auf das psychoanalytische Lager, das seinerzeit ein Bollwerk gegen die »schwarze Schlammflut des Okkultismus« errichten wollte und Irrationalismen aller Art bekämpfte. Freud betrachtete religiösen Glauben als infantil und regressiv. Die psychoanalytisch geprägte Psychotherapie(1), aber auch die Verhaltenstherapie haben deshalb religiöse Themen bis zur Jahrtausendwende weitgehend ausgeklammert.

Das kritische und aufklärerische Potential der Psychoanalyse hat nach dem Zweiten Weltkrieg sicherlich maßgeblich dazu beigetragen, dass die Auseinandersetzung mit autoritären und faschistischen Strukturen stattfinden konnte. Man hat aber im Bemühen, alle Irrationalismen zu vermeiden, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und viele wirksame nonverbale Methoden der Selbsterfahrung(1) ignoriert oder ausgegrenzt. Etliche therapeutische Strömungen, die Körperarbeit oder Meditation integrierten, mussten sich im außerakademischen Raum weiterentwickeln, was zur Folge hatte, dass in den verschiedenen Nischen mancherlei unüberprüfter Wildwuchs gedieh. Es fehlte in diesem Umfeld die wissenschaftliche Ergänzung durch Theoriebildung, Grundlagenforschung und kritischen Diskurs. Umgekehrt entwerteten die geschmähten »Schmuddelkinder« die empirische Forschung und deren Vertreter. Die ideologischen Auseinandersetzungen zwischen diesen Lagern dauerten ungefähr bis zur Jahrtausendwende.

Seit etwa 20 Jahren gibt es mehr Begegnung und Austausch. Die frühere skeptisch-kritische Haltung von analytisch und verhaltenstherapeutisch geprägten Psychiatern, Psychosomatikern und Psychotherapeuten in Bezug auf Religion(2)(1) und Spiritualität ist in den vergangenen Jahren einem lebhaften Interesse an Begegnung und Austausch gewichen. Die Zahl der Veröffentlichungen zur Thematik steigt ständig, Vorträge und Workshops dazu sind meistens ausgebucht. Im Rahmen der Psychotherapie wird man sich der psychoprotektiven Wirkung von Glaube und Religion bewusster. Auch mit Blick auf sich selbst suchen viele Therapeuten eine Haltung, die ihnen helfen kann, mit den aktuellen existentiellen und ökologischen Fragen umzugehen. Ferner spielt die veränderte Zusammensetzung unserer Gesellschaft eine Rolle; die wachsende kulturelle Vielfalt verlangt mehr interkulturelle Kompetenz der Behandler. Und dies wiederum setzt mehr Interesse und Wissen hinsichtlich der religiösen Vorstellungen der Patienten voraus.

2016 wurde das Positionspapier der Expertengruppe für »Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie(1)« für die DGPPN erstellt. Dessen Kernthesen lauten, dass Religiosität und Spiritualität als anthropologische Universalien angesehen werden müssen (Bucher 2014). Sie gehören zum Menschsein und sind im Rahmen einer ganzheitlichen Betrachtung zu würdigen – unabhängig von einem möglichen Einfluss auf die Effizienz der jeweiligen Interventionen. Dies wird in existentiellen Krisen und Grenzsituationen besonders deutlich, wenn alle verfügbaren Kräfte benötigt werden. Um mit den religiösen und spirituellen Ressourcen eines Patienten gut arbeiten zu können, müssen sich die Therapeuten selbst ihrer weltanschaulichen Überzeugungen bewusstwerden und verstehen, wie der eigene Verständnishorizont die Interpretation der Patientenäußerungen formt.

Es gibt eine Fülle von Studien zum Zusammenhang von religiös-spirituellem Coping(1) und Gesundheit. Pargament belegt mit mehr als 150 empirischen Studien, dass religiöse Menschen mit Trennung und Trauer sowie Gewalt und Einsamkeit besser umgehen können als Menschen ohne ein Glaubensgerüst (Pargament 1997). Sie verfügen offenbar über größere Ressourcen und vielfältigere Bewältigungsstrategien. Dies veranlasst psychiatrische und psychotherapeutische Berufsverbände im Rahmen des schon länger anhaltenden »spiritual turn« darüber nachzudenken, wie die positive Ressource der Religion oder der spirituellen Praxis psychotherapeutisch genutzt werden kann, ohne dass die Behandler selbst missionarisch aktiv werden. Angestrebt wird eine Haltung, die einerseits sensibel in Bezug auf religiöse Themen ist und andererseits abstinent von persönlicher Meinungsäußerung. Den wissenschaftlichen Fachverbänden fällt dabei die Aufgabe zu, die Studien kritisch zu analysieren, denn manche Geldgeber sind nicht frei von Eigeninteressen und missionarischen Tendenzen.

Bei der Sichtung der englischsprachigen Literatur zum Verhältnis von Religiosität und Psychotherapie (z. B. Anderson et al. 2015; Goncalves et al. 2015; Lim et al. 2014; Ross et al. 2015) fällt auf, dass religiöse Elemente häufig als modulare Bestandteile der Psychotherapie selbst auftauchen – zum Beispiel im Rahmen von kognitiver Verhaltenstherapie(1) – oder sogar als wesentlicher Wirkfaktor der Heilung dargestellt werden. Dies ist im deutschsprachigen Raum – noch – anders. Hier besteht eine viel größere Zurückhaltung gegenüber spirituellen Interventionen in der Psychotherapie. Eine Ausnahme stellen die achtsamkeitsbasierten Therapieverfahren dar (Anderssen-Reuster 2011a; Anderssen-Reuster 2011b; Harrer & Weiss 2016), die zwar aus dem buddhistischen Kontext stammen, aber keine religiösen Botschaften vermitteln. Aktuell werden buddhistische Ansätze daraufhin untersucht, ob ihre große Vielfalt an Lehren und geschickten Mitteln für die westliche Psychotherapie hilfreich sein könnte. Zumeist wird der weltanschauliche Hintergrund dabei ignoriert, was Vor- und Nachteile hat.

Religion selbst ist vielfältig definiert worden, und die Ambivalenz von Religion(3) – repressiv einerseits, voller Befreiungspotential andererseits – ist deutlich (von Brück 2008). Man unterscheidet heute zwischen Religion (das Institutionelle und Glaubensbasierte) und Spiritualität (die Kultivierung des Bewusstseins(1)), aber auch hier ist die Bandbreite der Wahrnehmungen und Interpretationen groß. Insgesamt wird deutlich, dass religiöse und spirituelle Anliegen nicht guten Gewissens aus der Psychotherapie verbannt werden können, denn religiöse und spirituelle Übungen können Menschen helfen, Krisen zu bewältigen, Sinnzusammenhänge zu erkennen und tiefgreifende innere Erfahrungen zu machen. Die Weisheitstraditionen, die in viele Glaubenslehren eingeflossen sind, vermitteln einen Bezugsrahmen, der das individuelle Problem in einen größeren Kontext stellt. Aber es ist notwendig, religiös-spirituellen Ansätzen nicht unkritisch zu begegnen und die Gefahren zu kennen, die mit einer religiösen oder spirituellen Praxis verbunden sein können.

1.3 Empfehlung zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in der klinischen Praxis

Nachdem Fragen des Glaubens und der Religiosität lange Zeit in Psychiatrie und Psychotherapie ausgeblendet wurden, ist aktuell ein »spiritual turn« zu beobachten. Die genannte Taskforce des »Referats für Religiosität und Spiritualität(1)(1) in Psychiatrie und Psychotherapie« hat 2016 folgende Empfehlung veröffentlicht:

Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie

Interkulturelle Kompetenz

Da Religiosität(1) und Spiritualität(1) kulturell(1)(1) geprägt sind, sollten die individuellen Gesundheits- und Krankheitskonzepte in einer kultur- und religionssensiblen Weise erfragt werden. Dazu gehört die Fähigkeit des Therapeuten zum Perspektivenwechsel. Anregend erweist sich diesbezüglich das Cultural Formulation Interview (CFI),(1) das im Rahmen des DSM-5 entwickelt wurde (APA American Psychiatric Association 2013). Kultur- und sprachgebundene Missverständnisse sollten ausgeräumt werden.

Anamnese

Die Erfassung der Wertvorstellungen(1) und religiösen Überzeugungen(1) sowie deren Relevanz im Leben gehört zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Anamnese (Frick et al. 2002).

Religiosität und Spiritualität im Behandlungsplan

Der Behandler sollte in der Lage sein, Religiosität(1) und Spiritualität(1) als Ressource und/oder Belastungsfaktor für Patienten zu erkennen und in die Behandlungsstrategie einzubinden. Dies gilt auch, wenn er selbst areligiös ist oder einer anderen Weltanschauung verpflichtet ist als der Patient. Insofern müssen die Sicht des Patienten auf Religiosität und Spiritualität sowie seine diesbezüglichen Wertungen verstanden und im Behandlungsplan berücksichtigt werden. Auch bei Patienten ohne religiöse/spirituelle Anbindung ist eine Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen oft erforderlich. Die Akzeptanz von religiösen/spirituellen Überzeugungen bei Patienten findet dort ihre Grenzen, wo Selbst- und Fremdgefährdung vorliegen.

Grenzverletzungen aus religiösen oder spirituellen Motiven

Die therapeutische (1)Beziehung sowie die therapeutische Behandlung in Institutionen brauchen eindeutige Regeln. Wenn diese aufgrund religiöser und spiritueller Überzeugungen (z. B. religiösem Fanatismus(1)(1)/Fundamentalismus) verletzt werden, muss der Patient mit den geltenden Regeln als Teil des Realitätsprinzips konfrontiert werden. Je nach Setting (Ambulanz, stationäre Akutpsychiatrie, Praxis usw.) sind differenzierte Interventionen erforderlich, die Grenzen schützen beziehungsweise wiederherstellen.

Professionelle Grenzen

Psychiater und Psychotherapeuten haben sich durch ihre Berufsethik verpflichtet, innerhalb des Methodenspektrums ihrer Profession tätig zu sein.

Dies schließt religiöse oder spirituelle Interventionen aus. Das stellt eine sinnvolle und notwendige Selbstbeschränkung dar. Dabei muss trotzdem sichergestellt werden, dass die Religiosität/Spiritualität des Patienten in der Therapie Raum haben kann. Die Taskforce hält es für geboten, dass die deutschsprachige Psychiatrie und Psychotherapie sich stärker mit diesem Thema beschäftigen als bisher.

Diversity Management

Angesichts des Marktes vielfältiger psychospiritueller Angebote(1)(1) mit zum Teil fragwürdigen Versprechen und Rahmenbedingungen empfiehlt die Taskforce die Transparenz des jeweiligen weltanschaulichen Hintergrundes, die Wahrung der professionellen und wissenschaftlichen Standards sowie ein kultur- und religionssensibles Vorgehen.

Neutralität

Der Behandler sollte auf eine respektvolle Weise religiös neutral bleiben, aber aufgeschlossen sein für einen möglichen Transzendenzbezug seines Patienten.

Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen einerseits und Seelsorge und spirituelle Führung andererseits sollten unterschieden werden und getrennt bleiben. Eine Zusammenarbeit im Interesse des Patienten kann aber in vielen Fällen sinnvoll sein. Hierfür ist es hilfreich, wenn Seelsorger ihr psychiatrisches und psychotherapeutisches Grundwissen erweitern.

Passung in der therapeutischen Beziehung

Die Fragen der Wechselwirkung und Passung der religiösen/spirituellen Grundhaltung(1) zwischen Patienten und Behandlern sollten in der Selbsterfahrung(1) reflektiert werden. Voraussetzung dafür ist, dass Psychiater und Psychotherapeut ihre eigene weltanschauliche Orientierung kennen und kritisch reflektieren. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Kontext den Übertragungs(1)- und Gegenübertragung(1)sphänomenen zu. In Selbsterfahrung und Supervision sind besonders das Spannungsfeld zwischen der weltanschaulichen Neutralität und der religiösen oder spirituellen Selbstdeklaration des Psychiaters und Psychotherapeuten sowie Wahrheits- und Wertefragen zu reflektieren.

Aus-, Fort- und Weiterbildung

Die psychiatrische, psychotherapeutische und psychosomatische Aus-, Fort- und Weiterbildung sollte sowohl hinsichtlich eines Grundwissens von Religions- und Weltanschauungsfragen(1) und insbesondere hinsichtlich diesbezüglicher Selbsterfahrungs-Angebote verbessert werden. Kompetenzen in Bezug auf Haltungen, Wissen und Fähigkeiten (attitudes, knowledge and skills) zu Religiosität und Spiritualität sollen geschult und entwickelt werden. Entsprechende Lernziele sollten in das Medizinstudium sowie in die Weiterbildungsordnungen integriert werden.

Forschung

Forschung über die Bedeutung von Weltanschauungen(2) und Sinngebungsmodellen als Belastung und Ressource im deutschsprachigen Bereich ist sinnvoll und notwendig.

Ein interdisziplinärer Dialog zwischen Religionspsychologie, Theologie und Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik ist erwünscht und notwendig. Folgende Forschungsthemen erscheinen u. a. wichtig: (1) Wahrnehmen von religiösen/spirituellen Bedürfnissen der Patienten, (2) Religiosität und Spiritualität(1) als Behandlungshindernis(1) und (3) Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe mit Seelsorgeangeboten(1)(1) (Utsch et al. 2016).

1.4 Die rationale Religiosität des Buddhismus

Religiosität(3)(1) in der Psychotherapie kann sowohl eine wertvolle Ressource als auch ein Hindernis für rationale Erkenntnisprozesse sein. Religiöse Erfahrungen(1) können wunderbare Erfahrungen von Verbundenheit und Selbsttranszendenz(2) ermöglichen und somit nicht nur Heilung – im klinischen Sinne – sondern Heil – in einem umfassenderen Sinne – vermitteln. Wenn Glaubensüberzeugungen allerdings metakognitives Reflektieren(1) verhindern und mit verbohrtem Starrsinn einhergehen, dann ist Psychotherapie fast unmöglich. In diesem Dilemma wünschen sich viele Menschen eine rationale religiöse Praxis, die kognitive, emotionale und soziale Offenheit sowie den Zugang zu tiefsten inneren Erfahrungsräumen ermöglicht und zugleich die kritische Prüfung von Lehre und Lehrern gestattet. Ein Buddhismus, der sich als »Wissenschaft vom Geist(1)« begreift, der auf persönliche Erkenntnisprozesse und individuelle Entwicklungsschritte setzt, wird genau deshalb für immer mehr Menschen im Westen interessant.

Obgleich der Buddhismus zu den großen Weltreligionen gehört, kommt er ohne einen Schöpfer-Gott oder eine lenkende göttliche Kraft aus, die die Geschicke der Menschen oder der Erde aktiv steuert. Die Kausalitätslehre des Buddhismus orientiert sich an einem Bedingungsgefüge von Ursache und Wirkung, das rational weitgehend zugänglich ist und ohne Transzendenzbezug auskommen kann. Obgleich im Volksglauben Bodhisattvas(1) verehrt werden und den Göttern im Lebensrad ein eigener Bereich zugeordnet wird, ist eine Anbetung höherer Mächte oder Wesen nicht notwendig. Es sind also nicht die metaphysischen Themen, die den Kern dieser Lehre ausmachen, sondern die aktive Einübung von Reflexion und Selbstreflexion, prosozialem Verhalten und innerem Frieden. Diese Elemente werden im Achtfachen Pfad (1)vermittelt.

Das primäre Anliegen der buddhistischen Lehre ist es, Menschen zu helfen, weniger zu leiden. Dogmatisch fixierte Wahrheiten stehen nicht im Vordergrund, sondern eher verschiedene pragmatische Methoden und geschickte Mittel des Umgangs mit Konflikten und Fragen aller Art. Und wie schon der Buddha seine Lehrreden dem Verständnishorizont seiner jeweiligen Zuhörer immer wieder neu angepasst hat (s. Pali-Kanon(1)), so scheint es auch heute legitim, den großen Schatz an Weisheiten und geschickten Methoden, die der Buddhismus kennt, dazu zu nutzen, das Leiden von Menschen mit psychischen Problemen zu lindern. Man muss dazu weder Buddhist sein noch werden; aber es kann hilfreich sein, mehr vom Hintergrund dieser Lehre zu verstehen, die sich selbst als »Wissenschaft vom Geist(2)« bezeichnet.

2 Buddhismus im Überblick

Die Lehre gleicht einem Floß, das man benutzt, um ans andere Ufer überzusetzen. Es dient der Überfahrt und nicht dem Festhalten.

(MN 10)

Von »dem« Buddhismus im Allgemeinen zu sprechen ist schwierig, denn es gibt unzählige Schulrichtungen, Traditionslinien und Formen der Praxis. In allen Strömungen finden sich zwar die gleichen Kernelemente der buddhistischen Lehre (dhamma, dharma),(1)(1)(1)aber sie werden in Abhängigkeit von zeitlichen Entwicklungslinien und kulturellen Einflüssen unterschiedlich interpretiert und praktiziert. Die gemeinsamen Grundelemente sollen in den nächsten Kapiteln im Überblick vermittelt werden. Die Komplexität der Thematik wird dabei besonders auf die Aspekte reduziert, die von psychotherapeutischem Belang sind; also auf die Elemente, die dazu beitragen, psychische Erkrankungen aus buddhistischer Perspektive zu verstehen und seelisches Leiden zu lindern.

2.1 Kultureller Hintergrund

Der Buddhismus(1)(1) hat sich vor etwa 2300 Jahren im Norden Indiens entwickelt und von dort her zunächst in Indien, dann in Asien, später weltweit ausgebreitet. In jener Region hatte eine frühe Hochkultur bestanden (Harappa-(1) bzw. Indus-Kultur(1) ca. 2800–1800 v. Chr.), die wohl aufgrund von Abholzung der Wälder, Klimawandel, Dürre und vielleicht auch Seuchen erlosch. In das entstehende Vakuum strömten ab ca. 1800 v. Chr. indo-europäische Stämme (aryas), die technisch weiterentwickelt waren und beispielsweise schon Pferdewagen nutzten. Diese Invasoren brachten auch eigene religiöse Riten und Liedersammlungen mit, die Veden, die zunächst mündlich und später schriftlich tradiert wurden. Es bildete sich ein hierarchisches Kastensystem(1)(1) aus mit der Priesterkaste der Brahmanen(1)(1) an der Spitze, den Adligen und Kriegern (kshatriyas) darunter sowie den Händlern und Bauern (vaishyas), den landlosen Arbeitern und Dienern (shudras) und schließlich den Kastenlosen (parias). (1)Die hellhäutigeren aryas nahmen die Position der noblen Oberschicht ein, die über religiöse Regeln und Riten die Ordnung der Gesellschaft kontrollierten und vorgaben, darüber den Lauf des Schicksals zu lenken. Ihnen oblag es, die Götter durch Opfergaben wohlwollend zu stimmen und die Ordnung der Dinge (Jahreszeiten, Aussaat und Ernte, familiären Zusammenhalt und gesellschaftliche Systeme) günstig zu beeinflussen. Regelbrüche galten als schwerwiegende Verstöße, die das Gefüge der Gesellschaft in Unordnung zu bringen drohten. Soziale Veränderungen oder Reformen waren in diesem statischen Gesellschaftssystem nicht vorgesehen.

Die heiligen Texte und Rituale sowie die Glaubenslehren und Verhaltensvorschriften dienten der Stabilisierung des herrschenden hierarchischen Systems. Priester hatten die Aufgabe, die als unumstößlich geltenden Wahrheiten zu bewahren und damit die Weltordnung zu schützen. Die sakralen Texte wurden auswendig gelernt und gemeinsam rezitiert; die wesentlichen Lehren wurden in einem lebendigen Austausch von Schülern und Lehrern persönlich vermittelt. Das Kastensystem zementierte die soziale Ungleichheit(2) und verhinderte – sowohl im Sozialgefüge als auch in individueller Hinsicht – dynamische Entwicklungen, es verbürgte aber auch die Stabilität der Gesellschaft. Ab etwa 1000 v. Chr. boten neue metaphysische Vorstellungen – zum Beispiel von Karma(1) und Reinkarnation(1) – einen erweiterten Deutungsrahmen für die Geschehnisse in der Welt und des individuellen Schicksals. Großes Gewicht kam dabei den religiösen Mythen zu, die das Supernarrativ bildeten, in das sich die individuellen Biografien und sozialen Ordnungssysteme einfügten. Spätestens in der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends kam es aber zu Umbrüchen, und alte Gewissheiten wurden fragwürdig.

Der Buddhismus hat sich in einer wirtschaftlichen und politischen Umbruchzeit entwickelt, in der sich neue Lebensformen herausbildeten. Städte wurden errichtet, in denen Manufakturen entstanden und ein lebhafter Fernhandel gedieh. Neue Bevölkerungsschichten, wie zum Beispiel Händler, Staatsbeamte und auch Kastenlose, kamen nun zum Zuge, die sich gegen das von der Priesterkaste dominierte hierarchische Gesellschaftssystem auflehnten, in dem sie sich nicht repräsentiert sahen. Diese Gruppen waren für die sozialreformatorischen Impulse des Buddhismus offen und förderten seine Ausbreitung. Die neue Religion bot mehr Entwicklungsmöglichkeiten und individuelle Freiheiten, denn sie stellte die feudalen Machtstrukturen sowie die Dominanz der Priesterkaste infrage. Das Kastensystem, das die sozialen Hierarchien zementierte, sowie die kultischen Reinheitsgebote spielten im Buddhismus keine Rolle. »Edel« war man nun nicht aufgrund der Zugehörigkeit zur Brahmanen(2)kaste oder durch Befolgung von Reinheitsritualen, sondern wegen seines entsprechenden Lebenswandels (Side 2010).

2.2 Buddha als Person

Durch textkritische (1)und historische Analysen ist es möglich, eine gewisse Vorstellung von der frühen buddhistischen Bewegung und ihrem Begründer zu erlangen, obwohl wir über die Lebensgeschichte des Buddha(2) selbst fast nichts wissen (von Brück 2007). Traditions- und Legendenbildungen haben das Bild des Gründers geformt. Die historische Person und der Mythos sind nicht mehr zu trennen. Zudem wird im späteren Mahayana-Buddhismus(1) von weiteren Buddhas berichtet, die als Erwachte die Verpflichtung auf sich genommen haben, alle Lebewesen vom Leiden zu befreien. Die typisierte Lebensgeschichte von Siddhartha Gautama (Geburtsname) Shakyamuni(1) (der schweigende Weise aus dem Geschlecht der Shakyas), genannt der Buddha(3) (der Erwachte), wird folgendermaßen erzählt:

Die überlieferte Lebensgeschichte von Shakyamuni Buddha

Siddhartha (ca. 450–370 v. Chr.) wurde(2) als Sohn eines Fürsten im nördlichen Indien, dem heutigen Nepal, geboren. Er stammt aus der Kshatriya-Kaste und dem führenden Geschlecht der Shakyas, die den damaligen Staat Kapilavastu führten. Geboren und aufgewachsen ist er in der Stadt Lumbini. Es wird berichtet, dass seine Mutter Maya nach seiner Geburt verstarb. Er wuchs behütet im Palast seines Vaters Shuddhodana auf. Gemäß einer Weissagung des Heiligen Asita sollte er entweder ein weltlicher Herrscher (cakravartin) oder ein geistiger Führer (Buddha) werden. Der Vater bevorzugte ersteres, und so sollte Gautama nicht zu früh mit der äußeren Welt in Kontakt kommen, weshalb er das eingegrenzte Areal des väterlichen Geländes nicht verlassen durfte.

Als künftigem Herrscher wurde ihm eine besonders sorgfältige Erziehung zuteil. Er lernte verschiedene Sprachen, studierte die alten Schriften, erhielt Unterricht in Mathematik, Astronomie, Philosophie und den damals notwendigen Kenntnissen zur Verwaltung eines Fürstentums. Er entwickelte offenbar auch sportliche Fähigkeiten wie Ausdauer, Kraft, Kampftechniken und Reiten. Siddhartha war hochintelligent. Er lebte im Rahmen seiner Kultur ein privilegiertes Leben. In der Pubertät soll er, unter einem Rosenapfelbaum sitzend, dem Vater beim Pflügen zugeschaut haben und dabei spontan in einen meditativen Bewusstseinszustand eingetreten sein, der ihn mit tiefer Freude erfüllte. Im Alter von 16 Jahren wurde er mit der Prinzessin Yasodhara verheiratet und zeugte einen Sohn – Rahula.

Dennoch war er offenbar nicht glücklich. Er lebte zwar ein privilegiertes Leben, aber er war unfrei, unzufrieden und gelangweilt. In der Legende wird berichtet, dass er im Alter von 29 Jahren endlich das umfriedete Gelände des väterlichen Anwesens verließ, um zu erfahren, was sich jenseits der Mauern befand. Es wird von vier Ausfahrten erzählt, welche jeweils in eine andere Himmelsrichtung führten. Bei der ersten Ausfahrt begegnete er einem Greis, bei der zweiten einem Kranken, bei der dritten einem Leichenzug und bei der vierten einem Wanderasketen.

Diese Erfahrungen erschütterten ihn zutiefst. Er verstand, dass ein angenehmes Leben, Jugend und Gesundheit vergänglich sind und Krankheit, Alter und Tod unweigerlich auf ihn selbst wie auch auf jeden anderen Menschen zukommen würden. Ab diesem Zeitpunkt befasste er sich mit der Frage, wie es möglich sein kann, trotz dieses Leids, das aus dem menschlichen Leben nicht wegzudenken oder zu verdrängen ist, ein glückvolles Leben zu führen. Die letzte Begegnung mit dem friedlichen und gelassenen Mönch ließ in ihm den Entschluss reifen, selbst ein Leben jenseits der familiären Bindungen zu führen und in die »Hauslosigkeit« zu gehen.

Er sagte sich von seiner Familie und den an ihn gestellten Erwartungen los und entschloss sich, als Wanderasket zu leben und verschiedenen renommierten Gurus, die ihn in die theoretischen und praktischen Lehren seiner Zeit einführten, zu folgen. Von all diesen Lehrern lernte er, ohne jedoch eine Antwort auf die Frage zu finden, wie man dem Leid begegnen und trotz Alter, Krankheit und Tod glücklich werden könne. Er wurde immer verzweifelter und schloss sich schließlich einer Gruppe von Asketen an, die durch extremes Fasten, yogische Körperübungen und andere Praktiken versuchten, ihre sinnlichen Bedürfnisse zu unterdrücken, um dadurch mehr geistige Klarheit zu erlangen. Nachdem er sechs Jahre lang diesen Weg der Verneinung körperlicher Bedürfnisse gegangen war, geriet er in einen desolaten Zustand und wäre beinahe verhungert.

Es wird berichtet, er sei in dieser Situation durch den Duft von Rosen an den Garten seiner Kindheit erinnert worden und an das Gute und Liebevolle, das er in jungen Jahren erfahren hatte. Die Zartheit und Schönheit dieser Erinnerung führten ihn zu der Erkenntnis, dass nicht Selbstkasteiung und Härte der richtige Weg sein können, sondern dass die körperlichen Bedürfnisse ebenfalls gewürdigt werden müssen und ein »mittlerer Weg« zwischen Askese und Völlerei angemessen sei. Als ihm ein Hirtenmädchen eine Schale Milchreis anbot, kam er wieder zu Kräften. Und in dieser – nunmehr körperlich und psychisch ausgeglichenen – Verfassung machte er unter dem Bodhi-Baum in Bodhgaya eine transformative spirituelle Erfahrung.

Nach sechs Tagen und Nächten in tiefer Meditation erfuhr er in der Morgendämmerung des siebten Tages die Erleuchtung beziehungsweise das Erwachen und wurde fortan Buddha (der Erwachte) genannt, oder auch Shakyamuni, der (3)schweigende Weise aus dem Geschlecht der Shakyas. Die wachsende Schar seiner Anhänger lehrte er danach, wie es Menschen gelingen kann, trotz der unvermeidbaren Zumutungen des Lebens, glücklich zu sein und gedeihlich miteinander auszukommen. In seiner ersten Predigt nach dem Erwachen vermittelte er die Lehre von den Vier Edlen Wahrheiten, welche den Kern seiner Botschaft enthält. In den folgenden 45 Jahren zog er durch den Norden Indiens und sprach zu Menschen aus allen Gesellschaftsschichten. Er lehrte, dass das Leid der Menschen nicht primär durch äußere Umstände verursacht ist, sondern vor allem durch die Reaktionen darauf, also die eigenen Denk- und Verhaltensweisen, die veränderbar sind. Wie das gelingen kann, ist die Botschaft beziehungsweise Praxis des Buddhismus.

2.3 Die Anfänge des Buddhismus

Shakyamuni Buddha(4)(1) hat keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen, sondern ca. 45 Jahre lang ausschließlich mündlich gelehrt. Immer mehr Schüler folgten ihm, und eine Gemeinschaft entstand, die sich Regeln und Strukturen gab und einen hohen Organisationsgrad erreichte. Die Gründung einer stabilen, in festen Regeln lebenden Mönchsgemeinschaft ist die große Neuerung, die der Buddha in die indische Religionsgeschichte eingeführt hat (von Brück 2007). Die Gemeinschaft der Ordensleute (sangha(1)) war relativ demokratisch organisiert, teilte das Vermögen und ermöglichte Menschen aus allen sozialen Schichten die Zugehörigkeit. Damit verkörperte sie einen Gegenentwurf zu der auf Status und Geburt gegründeten Kastengesellschaft.

Der Buddha wanderte über 40 Jahre lang durch Nordindien und predigte allen Menschen, die ihn hören wollten. Er ging auf die Fragen von Laien, Mönchen, Priestern und Königen ein und nahm die jeweilige Situation zum Anlass, um mit seinen Zuhörern in Kontakt zu treten. Seine Lehrreden sind hinsichtlich des Komplexitätsniveaus seiner jeweiligen Zuhörerschaft angepasst; oft verwendete er Beispiele aus dem bäuerlichen Leben oder von Handwerkstechniken, also aus dem Alltagsleben der Menschen. Offensichtlich wollte er verstanden werden. Man darf davon ausgehen, dass der junge Siddhartha als Wanderasket und Schüler verschiedener Gurus die philosophischen Systeme und religiösen Praktiken seiner Zeit gründlich studiert hat. Was er lernte, hat ihn nicht hinreichend überzeugt, insbesondere weil alle Erkenntnis und esoterische Erfahrung nicht dazu beitrugen, das menschliche Leiden zu mindern. Darum ging es ihm in erster Linie und deshalb hat er die vorgefundenen Lehrmeinungen gänzlich neu interpretiert. Man kann sagen, dass er die brahmanische Lehre von der göttlichen Präsenz im Menschen radikalisiert hat, indem er das Insider-Wissen der Oberschicht jedem zugänglich machte und die ethischen Aspekte der Praxis betonte: Nicht mehr Geburt und sozialer Status bestimmten den Wert eines Menschen, sondern dessen Handeln sowie die je eigene geistige Erfahrung. Das von ihm vermittelte Lehrsystem sollte einerseits eine hilfreiche Orientierung für ein gut geführtes Leben bieten und andererseits den Weg zur Befreiung aufzeigen, der im Prinzip jedem Menschen offensteht.

2.4 Ausbreitung des Buddhismus

Während der(1) Regierungszeit des Kaisers Ashoka (wohl 268–239 v. Chr.) wurde der Buddhismus gefördert; sein Sohn Mahinda soll den Buddhismus nach Sri Lanka gebracht haben, wo sich bis heute der Theravada-Buddhismus als tragende Kulturkraft etablieren konnte. Beim Indienfeldzug Alexanders des Großen (326 v. Chr.) wurden griechische Siedlungen im Nordwesten Indiens gegründet, wodurch es zum Austausch der Kulturen kam. In der Schrift Milindapanha ist eine Diskussion des griechischen Königs Menandros (Milinda) mit dem buddhistischen Mönch Nagasena dokumentiert. Auch die Darstellung des Buddha in der Gandhara-Kultur(1) weist griechische Stilelemente auf. Die eindrucksvollen Buddha-Statuen im Bamiyan-Tal von Afghanistan, die bis zu 53 Meter hochragten, entstanden im 5. und 6. Jahrhundert n. Chr. Sie wurden 2001 von den Taliban zerstört.

Im Osten Indiens – im heutigen Bundesstaat Bihar – wurde spätestens im 5. Jahrhundert n. Chr. die Universität von Nalanda gegründet, die sich zum größten Lehrzentrum der damaligen antiken Welt entwickelte. Etwa 10 000 Studenten wurden von 1000 Professoren unterrichtet. Der Campus umfasste Bauten mit bis zu neun Stockwerken, die Bibliothek hatte angeblich neun Millionen Bücher im Bestand. Im Curriculum lehrte man dort, wie auch in anderen Klosteruniversitäten, buddhistische und hinduistische Philosophiesysteme, sowohl die Traditionslinien des Mahayana als auch des Theravada sowie Medizin. Schüler und Gelehrte aus Tibet und China, Korea und Indonesien studierten in Nalanda und verbreiteten den Buddhismus in ihren Heimatländern. Der Buddhismus verband sich dabei mit den vorherrschenden lokalen Religionen und fügte sich in die entsprechenden Kulturen ein. Die Expansion des Islam sowie interne religionskulturelle Entwicklungen führten allerdings zum Niedergang des Buddhismus in Indien. Nalanda wurde um 1200 fast ganz zerstört, und zahlreiche Mönche und Gelehrte wurden getötet. Der akademische Betrieb kam aber auch danach nicht gänzlich zum Erliegen.

Der Buddhismus hat sich zumeist mit der Kultur der Regionen, in die er eingeführt wurde, verbunden und dadurch eine spezifische kulturelle Prägung erhalten. So wurde der chinesische Buddhismus stark vom Daoismus geformt und der tibetische Buddhismus von der schamanische Bön-Religion(1). In jedem Land und jeder Kultur, wohin sich der Buddhismus ausbreitete, entstanden so verschiedene Ausformungen, mit den dazugehörenden Differenzierungen und Schulenstreitigkeiten. Heute unterscheidet man drei Hauptströmungen(1) des Buddhismus, »drei Drehungen des Rades der Lehre« beziehungsweise »die drei Fahrzeuge«:

Theravada

Mahayana

Tantrayana

2.4.1 Theravada

Der Theravada(1) (Pali: Schule der Ältesten)(1) ist die älteste noch existierende Schultradition des Buddhismus. Er hat sich überwiegend in Südostasien ausgebreitet und besitzt noch heute maßgeblichen Einfluss auf die Kultur der jeweiligen Regionen (Sri Lanka, Myanmar, Thailand, Laos, Kampuchea). Die frühbuddhistische Lehre betont besonders die ethische Lebensführung im Mitgefühl für alle Lebewesen sowie Askese für die Mönche. Die Vier Edlen Wahrheiten(1) und der Achtfache Pfad(2) umreißen das Verständnis von den Ursachen des Leidens und dem Weg zu dessen Überwindung. Die Texte des Pali-Tipitaka (Dreikorb)(1) bilden die theoretischen Grundlagen dafür. Sie werden auch heute noch intensiv studiert und rezitiert. Auch für unsere Zwecke bildet der Pali-Kanon einen guten Überblick. Der Theravada wird ein wenig abwertend und polemisch von den Vertretern des Mahayana-Buddhismus als »kleines Fahrzeug« bezeichnet, weil sich die Theravadins angeblich vorrangig um ihr eigenes Seelenwohl sorgten und die individuelle Befreiung anstrebten, wohingegen das Mahayana die Erlösung für alle intendiere und in seinem »großen Fahrzeug« für alle Platz habe.

2.4.2 Mahayana

Das Mahayana(1)(2) hat sich über China nach Korea, Japan und Vietnam sowie nach Tibet und in die Mongolei ausgebreitet. Im Mahayana gibt es keinen endgültigen Kanon von Schriften; die Lehre passt sich den kulturellen Besonderheiten der Regionen an, in denen sie sich etablieren konnte. So wurde der Buddhismus in China stark durch den Daoismus geprägt, wobei die monastisch geprägte Verzichtsethik in den Hintergrund trat und stattdessen ein Entwicklungsweg betont wurde, der Natürlichkeit, Wandlungsfähigkeit und Spontaneität hervorhebt. Bedeutende Texte des Mahayana sind das Lotos Sutra(1), das Herz Sutra(1), das Diamant Sutra(1), das Vimalakirti Sutra und die Sutras vom Reinen Land. Das Mahayana verfolgt das Bodhisattva-Ideal, dessen Anliegen es ist, die Ruhe des Nirvana nicht eher zu genießen, bis alle anderen Lebewesen auch erwacht und befreit sind; es geht also um aktives altruistisches Handeln. Dazu wird ein vertieftes Verständnis der wechselseitigen Abhängigkeit aller Wesen und Erscheinungen, der Leerheit und des Mitgefühls vermittelt. In Korea und Japan hat sich der chinesische Ch’an-Buddhismus zum Zen weiterentwickelt, wobei dadurch wieder eine ganz eigene Kultur entstand.

2.4.3 Tantrayana

Das Tantrayana(1)(1), (1)auch als Diamantweg bekannt, ist ein Zweig des Mahayana, der sich besonders in Tibet, der Mongolei sowie den kleinen Himalayastaaten ausgebreitet hat. Tantrayana ist kulturell mit dem hinduistischen Tantra verbunden und in Tibet auch von der schamanischen Bön-Religion(2) geprägt. Tantra bedeutet »Gewebe«, es verweist auf die »Sakramentalität« der gesamten Wirklichkeit. Obgleich es auch im Tantrayana verschiedene Schulen und Übungswege gibt, kann man als Hauptanliegen das Streben nach der Erkenntnis der Natur des Geistes bezeichnen. Dieses ursprüngliche, jedem Menschen innewohnende Gewahrsein wird als Buddha-Natur bezeichnet. Im Tantrayana werden Mantra-Meditationen, Visualisationen und körperbezogene Übungen gelehrt, deren Weitergabe im Rahmen von Einweihungen durch spirituelle Meister erfolgt. Für die klinische Anwendung gibt es deshalb Grenzen der Vermittelbarkeit und Anwendbarkeit.

2.4.4 Buddhismus im Westen

Im 19. Jahrhundert begannen (1)sich immer mehr Europäer für den Buddhismus und seine Schriften zu interessieren (z. B. Schopenhauer, Nietzsche, Wagner, Rilke) und die ersten westlichen Mönche wurden ordiniert. So begann man zunächst, das Lotos Sutra (1844) und dann die Texte des Pali-Kanons und anderer Sammlungen zu übersetzen. Aus dem Interesse an östlicher Weisheit entwickelte sich im 20. Jahrhundert ein regelrechter Boom, und es wurde zur Mode, nach Asien zu pilgern und einen Guru, Lama oder Zen-Meister zu suchen. Manches blieb dabei oberflächliche Modeerscheinung, aber nicht wenige Westler ließen sich doch tiefer ein, erlernten verschiedene Meditationsformen sowie die buddhistischen Quellensprachen, übersetzten die Texte und konnten, nachdem sie in ihre Heimat zurückgekehrt waren, ihre Erfahrungen für die westliche Kultur fruchtbar machen. Ihre Erkenntnisse sind in Kunst und Philosophie, in die Psychologie und Kognitionswissenschaften eingeflossen und beeinflussen auch ökologische und ökonomische Debatten. Der Buddhismus hat sich inzwischen als wichtiges Denksystem im Westen etabliert, und wir sind aufgefordert, uns damit zu befassen. Indem wir dies tun, passen wir aber die Lehre unserem Verständnishorizont und unseren Voraussetzungen an. Der westliche Buddhismus hat sich inzwischen zu einer eigenen und eigenständigen Strömung entwickelt; die Methoden des buddhistischen Geistestrainings sind für Psychotherapeuten dabei von besonderem Interesse.

2.5 Der Pali-Kanon

Kurz nach dem Tod des(2) Buddha, so wird berichtet, trafen sich etwa 500 seiner Schüler mit dem Anliegen, die Lehrreden zu sammeln und durch memorierende Rezitationen zu bewahren. Dazu gab es Spezialisten, die dafür verantwortlich waren, bestimmte Textabschnitte auswendig zu kennen. Ein besonders berühmter Gedächtniskünstler war Ananda, der Cousin und Lieblingsschüler des Buddha. Indem die memorierten Texte zusammengetragen wurden, entstand eine erste Ordnung der Suttas (sutras)(1)und der Mönchsregeln (vinaya). (1)(1)Später kam noch der Abhidhamma (abhidharma) hinzu, der(1) die Kommentare und Systematiken der buddhistischen Philosophie umfasst.

Da sich nach dem Tod des Buddha verschiedene Lehrmeinungen und buddhistische Strömungen entwickelten, wurde es notwendig, ein verbindliches Referenzsystem, einen Textkanon, niederzulegen. Dies geschah unter König Vattagamani Abhaya, der von 89 bis 77 v. Chr. in Sri Lanka regierte. So entstand der Pali-Kanon, der die theoretische Grundlage des frühen Theravada-Buddhismus bildete. Es gab auch andere Fassungen in anderen Sprachen, wie zum Beispiel Sanskrit, zentralasiatischen Turksprachen, Chinesisch oder Tibetisch, aber es handelt sich dabei entweder um Fragmente oder sie gelten als weniger ursprünglich als der Pali-Kanon, der deshalb bis zum heutigen Tag in Südostasien als Bezugspunkt gilt. Er wird in den Klöstern und buddhistischen Hochschulen der Theravada-Tradition gründlich studiert, und es gibt auch heute noch Gelehrte, die die umfangreiche Sammlung der Suttas auswendig kennen. Darin drückt sich noch immer die orale Tradition des Umgangs mit Texten aus. Texte sollen nämlich nicht nur kognitiv verstanden, sondern verinnerlicht und beherzigt werden. Nur so können sie eine tiefere Wirkung entfalten. Der gesamte Kanon ist vollständig auf Deutsch übersetzt und als Service des Verlags Beyerlein und Steinschulte online zugänglich: http://www.palikanon.de. Auf diese Fassung beziehen wir uns im Weiteren.

I. Vinaya Pitaka – Ordensregeln (Vin)

Maha Vibhanga – Mönchsregeln(1), vgl. Patimokkha

Bhikkhuni Vibhanga – Nonnenregeln(1)

Mahavagga – größere Unterteilung (Mhv)(1)

Cullavagga – kleinere Unterteilung (CCv)

Parivarapatha – Zusammenfassung

II. Sutta Pitaka – Lehrreden des Buddha

Digha-Nikaya – längere Lehrreden (D, DN)

Majjhima Nikaya – mittlere Lehrreden (M, MN)

Samyutta Nikaya – gruppierte Lehrreden (S, SN)

Anguttara Nikaya – angereihte Lehrreden (A)

Khuddaka Nikaya – kurze Texte

Khuddaka Patha (Khp)

Dhammapada (Dhp)

Udana (Ud)

Itivuttaka – Aphorismen (It, Itv)

Sutta Nipata – Bruchstücke (Sn, Snp)

Vimana Vathu – Götterpalastgeschichten

Peta Vathu – Gespenstergeschichten

Theragatha – Sprüche der Mönche (Thag)

Therigatha – Sprüche der Nonnen (Thig)

Jataka – Wiedergeburtsgeschichten

Maha Nidesha – Kommentare (MNid)

Pathisambhida-Magga – Kräfte der Heiligen (Pts)

Apadana – Erklärungen zur Heiligkeit

Buddhavamsa – Legenden der 24 Buddhas vor Gautama

Cariya Pitaka – Wandlungen

Nettipakarana

Petakopadesha

Milindapanha (Mil)

III. Abhidhamma Pitaka – Abhandlungen, Höhere Lehrreden (Abh)

Dhammasangani (Dhs)(1)(1)

Vibhanga (Vibh)

Dhatukatha(1)

Puggalapannatti – Menschenkunde (Pug)

Kathavatthu – Streitpunkte

Yamaka – Gegensätze (Yam)(1)

Patthana – Bedingungen (Patth)(1)

In der Anordnung der Lehrreden gibt es weder eine Chronologie noch eine den Inhalten folgende Systematik. Die Suttas landeten ihrer Länge nach geordnet in einer der fünf Sammlungen. Ganz pragmatisch wurden die langen Texte in den Digha Nikaya, die mittellangen Texte in den Majjhima Nikaya und die kurzen Texte in den Samyutta Nikaya eingeordnet. Der Anguttara Nikaya umfasst die Texte, die nach numerischen Aspekten gegliedert wurden, und im Khuddaka Nikaya finden sich kurze und »zusammengewürfelte« Texte.

Das Vinaya Pitaka, der Korb der Ordensregeln, umfasst fünf Bücher, in welchen das persönliche und das gemeinschaftliche Leben in Ordensgemeinschaften vorschriftsmäßig geordnet werden. Hier werden der Umgang mit Almosen, das angemessene Verhalten gegenüber Laien und Spendern sowie das Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht geregelt. Auch Speisevorschriften, Vorschriften in Bezug auf persönlichen Besitz, aber auch zur Regelung von Konflikten in der Gemeinschaft und zum Umgang mit gesetzwidrigem Verhalten werden – häufig anhand von ganz konkreten Situationen – erlassen.

Im Sutta Pitaka sind die Reden des Buddha gesammelt, die dieser bei bestimmten Gelegenheiten gehalten haben soll. Diese Textsammlung gibt spätere von der Mönchsgemeinschaft zusammengetragene Traditionen wieder, die aber in ihrem Kerngehalt durchaus auf den historischen Buddha zurückgehen dürften. Doch so, wie die Formulierungen darin gewählt sind, redet keiner spontan; die Gestaltung der Texte lässt vielmehr erkennen, dass sie zum Memorieren gedacht sind und Fragen klären, die sich oft im ganz alltäglichen Leben der frühen buddhistischen Gemeinschaft gestellt haben.

Das Abhidhamma Pitaka ist der jüngste Teil des Pali-Kanons und umfasst die philosophischen und psychologischen Kommentare und Erörterungen zu den Suttas. Abhidhamma heißt wörtlich: »in Bezug auf den dhamma«, wobei verschiedene Aspekte der Lehre in eine systematische Ordnung gebracht werden. Behandelt werden die Prozesse des Erkennens und Selbsterkennens, körperliche Prozesse und Bewusstseinsvorgänge (khandha, skandha), die Vier Edlen Wahrheiten (ariyasacca), das (1)bedingte Entstehen (paticcasamuppada), (1)die Sieben Glieder der Erleuchtung (bojjhanga), (1)der Achtfache Pfad (atthangikamagga), (3)die Stufen meditativer Vertiefung (jhana), (2)(2)die Vier Unermesslichkeiten (brahmavihara) (1)und anderes mehr, auf das noch näher eingegangen werden wird. Die Abhidhamma-Lehre ist(2) für heutige Kognitionswissenschaftler und Psychotherapeuten interessant, da die Prozesse der Konstruktion von Wahrnehmung im Detail beobachtet und aus einer Ersten-Person-Perspektive erforscht werden.

Lesern, die das Denken des frühen Buddhismus(1) tiefer verstehen möchten, seien anfangs der Milindapanha oder die Verse des Dhammapada (beide in: http://www.palikanon.de) zur Lektüre empfohlen. Auch die Suttas (z. B. des Majjhima Nikaya) sind gut lesbar und vermitteln einen lebendigen Eindruck der Lebenswelt zur Zeit des Buddha. Man erkennt, dass viele Fragen und Nöte, welche die Menschen vor mehr als 2000 Jahren umgetrieben haben, uns erstaunlich nah sind.

2.6 Das zentrale Anliegen des Buddhismus

Das zentrale Anliegen des Buddha und des Buddhismus(1) war und ist es, den Menschen dabei zu helfen, ihr Leiden zu überwinden und ein glückliches Leben zu führen. Das Wohlergehen des Einzelnen ist dabei jedoch nicht vom Wohl des anderen oder den sozialen, ökonomischen und ökologischen Kontextfaktoren zu trennen. Die kognitive Ebene der Einsicht und Erkenntnis (panna, prajna) sowie die der(1) Lebensführung (sila, shila)(1)und der meditativen Geistesschulung (samadhi)(1)(1)entwickeln sich dabei in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander und unterstützen einander gegenseitig. Das Ziel dieses Prozesses ist die Transformation einer eingeschränkten und einschränkenden ego-zentrischen Perspektive.

Als maßgebliche Ursache für Leiden gilt das mangelnde Verständnis dessen, was »Ich« genannt wird, vor allem in Bezug auf die existentiellen Zumutungen wie Krankheit, Alter und Tod, die zwar nicht abzuschaffen sind, mit denen aber ein heilsamer und transformierender Umgang entwickelt werden kann. Dem Buddha wird die Funktion eines Arztes zugeschrieben, der in der Ersten Edlen Wahrheit die (1)Symptome diagnostiziert, nämlich dass es Leiden gibt und dass dies universell ist. In der Zweiten Edlen Wahrheit werden die Ursachen des (1)Leidens benannt: Sie liegen in der eigenen geistigen Verfassung. In der Dritten Edlen Wahrheit wird eine Prognose gestellt und die Hoffnung auf Überwindung des Leidens begründet. Und schließlich legt die